Meister Eckhart - Das Brennholz Gottes - Rolf Siller - E-Book

Meister Eckhart - Das Brennholz Gottes E-Book

Rolf Siller

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Beschreibung

Als die Inquisition den berühmten Theologen Meister Eckhart der Ketzerei beschuldigt, ist dies für seine Anhänger unfassbar. Nach seinem Tod sollen seine Schriften vernichtet werden. Doch sein Schüler Conrad von Halberstadt setzt alles daran, das Erbe seines Meisters für die Nachwelt zu erhalten. Er besucht alle wichtigen Stätten, an denen Eckhart gelebt hat, spricht mit Eckharts Weggefährten und sichert den Nachlass. Eine spannende, fundierte Romanbiografie.

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Rolf Siller

MEISTER ECKHART

Das Brennholz Gottes

Romanbiografie

IMPRESSUM

Titel der Originalausgabe: Meister Eckhart

Das Brennholz Gottes

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

Umschlagmotiv: © Stefan Weigand

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80438-0

ISBN (Buch): 978-3-451-06436-4

INHALT

Gegen den Wind

Geißhirteln

Steine

Irrgärten

Armut

Marguerite

Straßburg

Brennholz Gottes

Der Acker des Herrn

Nachwort

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Meister Eckharts Leben und Werk

Zeittafel

GEGEN DEN WIND

NICHTS MEHR SOLLTE SEIN, wie es einmal war. Alles stand zur Entscheidung. Conrad reagierte unvorhersehbar, unerwartet auch für ihn selbst. Plötzlich fand er sich außerhalb des Gewohnten gestellt. Ihm war, als versteckte sich Vertrautes hinter den erstarrten Zügen hölzerner Masken.

Es war der Abend seiner Rückkehr nach Köln. Mehrere Wochen waren sie unterwegs gewesen, und Tag für Tag hatten ihnen Frost, Eis und Schnee zugesetzt. Heute, zum ersten Mal wieder, wärmte die Frühlingssonne die eisige Luft und verlängerte für wenige Minuten die Dauer des Lichts in den Abend hinein. Die Konturen der Dinge und Ereignisse setzten sich deutlicher voneinander ab, präsentierten sich in veränderter Gestalt. Sanft legte sich ein heller Glanz über die Dinge, erhöhte sie und setzte ihnen blanke Lichter auf.

Sie waren nur noch zu dritt, hatten Eckhart zurücklassen müssen, nachdem sie an seinem Krankenlager gewacht und ihn schließlich zu Grabe getragen hatten. Müde waren sie und an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angekommen. An den Fersen und Zehen brachen Frostbeulen auf und ihre Nasenspitzen und Ohrläppchen hatten sich durch die Kälte dunkelviolett verfärbt. Am meisten hatte Johannes gelitten, der Prior. Er war mit seinen fünfundsechzig Jahren am Ende und musste sich den Anstieg, hoch zum Kloster, von seinen Freunden stützen lassen. Schon auf dem Weg von Avignon, die Rhône aufwärts, über die Berge und dann den Rhein entlang, hatten sie immer wieder Ruhepausen einlegen müssen. Der Prior hatte sich übernommen und war den Strapazen kaum mehr gewachsen. Und auch die Kräfte des Nikolaus von Straßburg waren erschöpft, denn als päpstlicher Visitator hatte er sich für das ganze Unternehmen verantwortlich gefühlt und alle wichtigen Entscheidungen treffen müssen. Erfolgreich war es nicht gerade gewesen, gescheitert aber auch nicht. Wann würde sich erweisen, ob sich die Mühe gelohnt hatte? Am Horizont ballten sich dunkle Wolken zusammen und legten sich, soweit der Blick reichte, über kalt glitzernde Felder und Wälder. Immer wieder fragten sie sich, wie es weitergehen würde. Nasskalter Nebel, hart gefrorene Erde und spiegelglattes Eis brachten die Reisenden zum Straucheln, gelegentlich zum Fallen. Der Boden schien ihnen unter den Füßen wegzurutschen. Sie wussten nicht mehr, wo sie sich befanden. Jeder Tritt suchte zögernd nach Halt, bis plötzlich, wie durch Geisterhand, die Umrisse von Mauern, Toren und Türmen vor ihnen auftauchten.

Conrad von Halberstadt stieg mit seinen beiden Freunden vom Treidelweg zur Stadt hinauf, weg von dem großem Strom, an dessen Ufer entlang sie von Basel bis hierher, nach Köln, gegangen waren. Nun überquerten sie den Domplatz, noch immer eine einzige Baustelle, verlangsamten ihre Schritte, um den Fortgang zu prüfen, der während ihrer Abwesenheit erfolgt war. Nicht viel war geschehen, Schnee und Kälte hatten die Arbeiten unmöglich gemacht. Dann aber, ohne sich lange aufzuhalten, strebten sie auf direktem Wege der Klosterpforte zu.

Allein Conrad war noch einigermaßen bei Kräften. Er war, trotz aller Anstrengungen, voller Energie und Unternehmungslust. Den ganzen Weg über hatte er sich ausgedacht, wie er das Erbe seines in Avignon verstorbenen Lehrers und Freundes verwalten, weiterführen und verbreiten könnte.

Im Kloster angekommen fiel ihm nicht weiter auf, dass er und seine Gefährten nicht so freudig, wie erwartet, aufgenommen wurden, ja einige Predigerbrüder ihnen aus dem Weg gingen. Auf dem Weg durch den Kreuzgang blieb er, noch bevor er seine eigene Zelle erreicht hatte, vor der Meister Eckharts stehen. Er konnte sich nicht verkneifen, vorsichtig und leise die Klinke zu drücken, um noch einmal einen Blick auf all die Dinge zu werfen, die auch ihm so vertraut und kostbar geworden waren.

Als Conrad seinen Kopf durch die Türe steckte, wurde er harsch angegangen: «Hier klopft man an, bevor man eintritt!» Conrad zuckte zurück, vergewisserte sich, ob er versehentlich die falsche Türe gewählt hatte. Doch nein, er stand vor Eckharts Zelle, nur wenige Schritte entfernt von seiner eigenen. Bruder Suso trat aus der Tür: «Tut mir leid, du bist gerade erst von der Reise zurückgekehrt und hast die Veränderungen nicht mitbekommen. Da Bruder Eckhart verstorben ist, wurde mir seine Zelle zugewiesen.» «Und wo ist sein Hab und Gut, die Bücher und Handschriften Bruder Eckharts?» «Das weiß ich nicht», bekam Conrad zur Antwort, «da musst du Bruder Andreas fragen, den neuen Subprior, oder am besten gleich Bruder Adalbert, der hat das Zimmer leergeräumt.» Conrad erstarrte. Blankes Entsetzen ergriff ihn. Die Nachricht vom Tod des Meisters war ihm, der diese Botschaft eigentlich erst überbringen sollte, vorweg geeilt. Und was noch erschreckender war: Die Predigerbrüder waren bereits zur Tagesordnung übergegangen. Sie hatten keinen Augenblick gezögert, den Tod des Mitbruders als Faktum zu akzeptieren – oder hatten ihn vielleicht schon vorauseilend erwartet, erhofft, begrüßt –, und seine Habseligkeiten unter sich aufgeteilt. Das Blut wich Conrad aus dem Gesicht, schoss nach dem ersten Erschrecken umso heftiger zurück in seinen Kopf und brachte ihn zum Glühen. Mit holpriger Zunge stammelte er eine Entschuldigung für die Störung, wandte sich ab und schleppte sich niedergeschlagen zu den Räumen des Subpriors.

Der Subprior ließ Conrad nicht vor. Er solle später wiederkommen. Conrad aber setzte sich in eine Fensternische und wartete, um vielleicht doch noch eine Gelegenheit zu finden, Bruder Andreas zu sprechen. Wirr schwirrten ihm dunkle Gedanken durch den Kopf.

Bruder Adalbert kam mit schweren Schritten durch den Gang geschlurft, in der Hand einen dicken Bund klirrender Schlüssel. Conrad näherte sich ihm und fragte nach dem Verbleib von Eckharts Habseligkeiten. Der Schaffner baute sich vor ihm auf, rang mit schwerem Atem nach Luft und entgegnete dann gemächlich, jedoch nicht unfreundlich: «Das ist alles verteilt worden, auf Anweisung des Subpriors.» «Und die Bücher und Handschriften?» «Die Bücher, sofern sie aus der Bibliothek stammten, gingen an diese zurück, die Handschriften aber sind vernichtet worden, auf Anweisung des Subpriors, wie gesagt. Manches habe ich zum Heizen genommen und in den Ofen getan.»

Conrad ließ sich auf die Bank der Fensternische sinken und verbarg sein Gesicht in den Händen. Dann aber, nachdem Bruder Adalbert weitergeschlurft war, raffte er sich auf und ging energisch auf die Räume des Subpriors zu. Trotz des heftigen Protests eines Novizen, der sich im Vorzimmer zu schaffen machte, stieß er die Tür auf und betrat ungestüm die Gemächer von Bruder Andreas. «Wo sind die Handschriften von Bruder Eckhart verblieben?» Bruder Andreas, der sich gerade mit einem Kleriker aus dem bischöflichen Ordinariat im Gespräch befand und an einem Glas Rotwein nippte, blickte ihn entgeistert an und ließ sich besonders viel Zeit, um zu antworten: «Normalerweise lasse ich mich auf solch ungehörige Eindringlinge nicht ein. Doch will ich heute, da du eine anstrengende Reise hinter dir hast und vielleicht aus widrigem Anlass über Gebühr erregt bist, eine Ausnahme machen und deinem jugendlichen Enthusiasmus nicht im Wege stehen, lieber Bruder Conrad. Wie du siehst, bin ich im Gespräch mit Monsignore Einhart, der im Auftrag des Erzbischofs hier bei mir ist, und habe soeben mit ihm über Bruder Eckhart gesprochen. Wie uns zu Ohren gekommen ist, hat unser lieber Mitbruder die Augen für immer geschlossen. Dich, wie ich vernommen habe, hat die göttliche Gnade auserwählt, ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Der Herr zeige sich ihm gnädig und nehme ihn in sein Haus auf. – Erzbischof Heinrich», fuhr er nach einer Pause des trauernden Gedenkens fort, «ließ mir soeben durch Monsignore Einhart mitteilen, dass die Kurie entschlossen sei, den Prozess gegen die von Eckhart vertretenen Irrtümer und Häresien zu einem Abschluss zu bringen. Die päpstliche Entscheidung wird bald eintreffen. Auch wir Brüder vom Orden des heiligen Dominikus machen uns Sorgen um unseren guten Ruf und überlegen, wie wir auf Distanz zu den Irrlehren unserer Zeit gehen können.»

Benommen stand Conrad vor den hohen Herren. Er bemerkte, wie etwas in ihm zusammenbrach, und auch, dass er noch immer das Reisebündel auf dem Rücken trug. Lächerlich kam er sich vor. «Wo sind seine Handschriften?», stieß er gequält hervor. «Tut uns leid», entgegnete der Subprior, wir haben uns gezwungen gesehen, sie aus dem Bestand zu eliminieren.» Nun wandte sich auch Monsignore Einhart, der bis dahin betreten zu Boden geblickt hatte, Conrad zu: «Fürwahr, mit Schmerz tut auch seine Eminenz, der Erzbischof unserer Diözese kund, dass Eckhart, Doktor und Professor der Heiligen Schrift, mehr wissen wollte, als nötig war. Er kehrte sein Ohr von der Wahrheit ab und wandte sich Erdichtungen zu. Verführt durch den Vater der Lüge, hat dieser irregeleitete Mensch, gegen die hell leuchtende Wahrheit des Glaubens auf dem Acker der Kirche Dornen und Unkraut hervorgebracht, schädliche Disteln und giftige Dornsträucher erzeugt. In zahlreichen Predigten vernebelte er den wahren Glauben in den Herzen des einfachen Volkes.»

Die blumige Sprache des Monsignore klang in den Ohren Conrads wie Hohn, da ausgerechnet das, woran niemand zuvor gezweifelt hatte, weder an der Kurie noch zuvor in Köln, Eckhart nun in niederträchtiger Weise abgestritten wurde: seine persönliche Rechtgläubigkeit. Er habe, so war der Monsignore doch wohl zu interpretieren, bewusst Irrlehren verbreitet. Das waren harte Worte, die sich gegen die persönliche Integrität Eckharts wandten. Conrad verschlug es die Sprache. Schritt für Schritt rückwärts gehend, erreichte er endlich die Tür und stürzte aus dem Raum.

*

Conrad verschloss seine Zelle, ließ den Schlüssel von innen stecken und stemmte sich, aufgewühlt und zornig, wie er war, mit dem Rücken gegen die Tür. Niemanden mehr wollte er sehen. Allein sein war alles. Ruhe finden. Sollte er sein Bündel wieder über den Rücken werfen und einfach abhauen, irgendwohin, wo die Menschen redlicher sind? Er ließ sich auf das Bett fallen, versank in einem Meer von Scham, Wut und Tränen, Selbstmitleid und trüben Gedanken, die wie gehetzt durch sein Gehirn jagten. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit und ein langer, traumloser Schlaf bemächtigte sich seiner.

Am nächsten Morgen, der Tag war schon fortgeschritten, raffte sich Conrad auf und entschloss sich, Bruder Johannes aufzusuchen. Er, der Prior, war ja nun wieder zurück und würde das Sagen haben. Er würde schon alles wieder zurechtrücken. Doch vor der Zelle des Priors saßen zwei Laienbrüder und verwehrten den Eintritt. Der Prior, sagten sie, sei krank und noch geschwächt von der weiten Reise. Der Bruder Medikus sei soeben bei ihm, es sei nicht so schnell mit seiner Gesundung zu rechnen. «Ich habe dem Prior aber eine wichtige Nachricht zu überbringen», wandte Conrad ein. Doch die Wächter wehrten entschieden ab: «Du kannst die Nachricht hinterlegen. Auf ausdrückliche Anweisung von Bruder Andreas darf niemand, außer dem Bruder Medikus allein, das Zimmer betreten.»

Conrad unterstellte eine Verschwörung, stampfte empört mit dem Fuß auf. Allein Nikolaus von Straßburg konnte nun noch Hilfe bringen, ein energischer, weitsichtiger Prediger, den er seit den Jahren seines frühen Studiums immer mehr schätzen gelernt hatte. Kein Lektor konnte die kirchliche Dogmatik so kompetent vertreten wie er. Als dann Bruder Nikolaus als Visitator für die Ordensprovinz eingesetzt worden war, hatte er schnell Schwierigkeiten bekommen; Schmeichler scharten sich um ihn und waren zurückgewiesen worden, während Neider ihm, wo sie nur konnten, Steine in den Weg legten. Schließlich war er vom Erzbischof wegen einer vermeintlichen Begünstigung Eckharts angeklagt worden. Nicht zuletzt um diese Vorwürfe aus dem Weg zu räumen, hatte er Bruder Eckhart auf seiner Reise nach Avignon begleitet.

Schon von weitem sah Conrad, dass die Türe des Visitators offen stand. Als er näher trat, um einen Blick in das Zimmer zu werfen, war es leer geräumt. Nur einige wenige Möbelstücke verloren sich in dem kahlen, kalten Raum: ein Bett, auf das ein Sack voll Stroh geworfen war, Tisch, Stuhl, Regal, Betschemel. Nikolaus hatte das Kölner Kloster verlassen, ohne von Conrad Abschied zu nehmen. Es war einsam geworden um den jungen Prediger.

Bruder Adalbert schichtete gerade noch einen Stapel Handschriften, die auf dem Fensterbrett gelegen hatten, aufeinander und wollte sie, beide Arme voll bepackt, forttragen. «Halt!», hielt ihn Conrad zurück und versperrte ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg, «Wo ist Bruder Nikolaus?» «Lass mich vorbei», schimpfte Bruder Adalbert unwirsch, «Bruder Nikolaus ist heute in aller Frühe ausgezogen und abgereist, wahrscheinlich zurück nach Straßburg.» Conrad blickte verdutzt, war dann aber doch geistesgegenwärtig und entschlossen genug, um sich dem Schaffner entgegenzustellen und zu retten, was noch zu retten war: «Lass mir wenigstens seine Handschriften, ich prüfe und versorge sie». «Unmöglich», entgegnete Bruder Adalbert und suchte zur Tür zu gelangen, «auf ausdrückliche Anweisung von Bruder Andreas wird alles, ausnahmslos alles, unter Verschluss gehalten.» Als Conrad nach den Handschriften griff, kam es zum Gerangel. Die Blätter fielen zu Boden und verstreuten sich im Raum. Inzwischen hatte sich, durch den Tumult herbeigelockt, eine Gruppe Neugieriger um sie gebildet. Einige der Ordensbrüder suchten zu vermitteln, andere grinsten hämisch. Letztere waren in der Überzahl, fassten Conrad unter und schleppten ihn, obwohl er sich heftig wehrte, in seine Zelle, verschlossen sie von außen.

Die Träume, denen sich der junge Dominikaner in wohligem Gefühl hingegeben hatte, lösten sich in Luft auf. Seine fein gesponnenen Gedanken verknoteten sich und verklumpten. Er konnte es nicht fassen: Sämtliche Handschriften, die Bruder Nikolaus und Meister Eckhart in ihren Zellen aufbewahrt hatten, drohten vernichtet zu werden.

Noch während Conrad über seine Lage nachdachte, wurde der Schlüssel seiner Tür umgedreht. «Na gut», dachte er, «meine Mitbrüder scheinen sich doch nicht alle einig zu sein. Vielleicht haben sie sich ihren Umgang mit mir inzwischen anders überlegt!» Er ging zu seinem Regal und suchte die wenigen schriftlichen Zeugnisse zusammen, die ihm von Eckhart geblieben waren, die Nachschriften einiger Predigten, das «Buch der göttlichen Tröstung» und das Gutachten aus dem Kölner Prozess. Das war dann auch schon alles. Er versteckte die Handschriften unter seiner Strohmatratze und machte sich auf, um am Brunnen Wasser zu holen und sich endlich frisch zu machen. Doch gerade, als er seine Zelle verlassen wollte, drehte sich der Schlüssel zu seiner Tür. Wieder war er eingesperrt. Gefasst und gelassen kehrte er an das Pult zurück und ordnete Schriftstücke. Nicht viel später drehte sich der Schlüssel schon wieder im Schloss, diesmal vorsichtig, sanft und leise. Die Zelle stand offen. Conrad erhob sich schleunigst, trat in den Kreuzgang, schloss die Türe ab und steckte den Schlüssel ein.

Auf dem Weg zum Brunnen begegnete er einigen Ordensbrüdern, mit denen er bislang einen vertrauten und freundschaftlichen Umgang gepflegt hatte, doch diesmal machten sie einen weiten Bogen um ihn oder beachteten ihn einfach nicht, andere stolzierten höhnisch grinsend an ihm vorbei oder gifteten ihn an: «Deinem Nikolaus ist das Visitieren anscheinend vergangen»; oder «Bleib nur immer schön gelassen! Deine Seele kennt ja ohnehin kein Hier und Jetzt, kein Warum und Weshalb!» Als er sich mit seinem frisch gefüllten Krug auf den Rückweg machte, wurde er angerempelt, so dass der Krug zu Boden fiel und zerbrach. Da kamen andere Brüder auf ihn zu und sprachen ihm Mut zu: «Die Wahrheit lässt sich nicht durch Gewalt und Lügen unterdrücken!»; «Die wahren Freunde Meister Eckharts werden zu dir stehen!»; «Nichts sollte dich in Leid versetzen oder betrüben, denn die Welt kann dir nichts antun!»

*

Conrad schwankte zwischen euphorischen Stimmungen und tiefer Verzweiflung. Manchmal bildete er sich ein, durch seinen persönlichen Einsatz dem Denken Eckharts zum Durchbruch verhelfen zu können und allen Widerständen zu trotzen. Dann wieder versank er in abgründige Hoffnungslosigkeit und vermochte sehr klar die strategische Überlegenheit der Gegner einzuschätzen. In einer solchen Stimmung der Niedergeschlagenheit machte er sich auf, um sich an der frischen Luft die Füße zu vertreten, im Rhythmus der Schritte seine Gedanken zu klären und eine Entscheidung über sein weiteres Vorgehen zu treffen.

Auf dem Weg zum Rhein blieb er an einem Marktstand stehen und betrachtete gedankenverloren die feilgebotenen Waren. Da zupfte ein kleines Mädchen an seiner Kutte. Es mochte nicht älter als acht Jahre sein und schluckte aufgeregt, bevor es ihm eine Nachricht überbrachte: «Ich soll dir sagen, dass du in die Jakobsvorstadt kommen sollst, in etwa zwei Stunden, in die Taufkapelle von Sankt Zeno.» «Wer hat dich denn zu mir geschickt?» «Die Frauen da hinten am Brunnen.» Als sich Conrad umblickte, war niemand auszumachen. «Was soll ich denn da, haben die Frauen etwas gesagt?» «Ja, ich soll sagen, es sei sehr wichtig. – Damit ich das mache, ich meine, dir das ausrichte, haben sie mir diese Muschel geschenkt.» Das Mädchen zeigte ihm auf ausgestreckter Hand eine Jakobsmuschel. Als Conrad nach ihr greifen und sie genauer betrachten wollte, drehte sich das Kind um und rannte davon.

Trotz des Verdachts, möglicherweise an der Nase herumgeführt zu werden, machte sich Conrad auf den Weg zur Jakobsvorstadt. Diese war ein gutes Stück außerhalb der Tore Kölns gelegen, um die Städter vor ungebetenen Gästen oder ansteckenden Krankheiten zu schützen. Denn weder Pilger noch sonstige Reisende, Bettler oder umherziehendes Volk durften die Tore der Stadt passieren und dort nächtigen, es sei denn, die Bürgschaft einer hochgestellten Persönlichkeit konnte vorgelegt werden. Schon mehrfach war es vorgekommen, dass Fremde Krankheiten und Seuchen eingeschleppt und sogar ganze Epidemien ausgelöst hatten, die vielen Bürgern den Tod brachten. Um bittere Erfahrungen mit Räubern, Dieben und anderen Verbrechern zu vermeiden, wurden beim Betreten der Stadt langwierige Überprüfungen oder besondere Genehmigungsverfahren verlangt. Wer in die Stadt wollte, wurde an den Toren überprüft, taxiert und im Zweifelsfall abgewiesen.

In den einfachen Herbergen der Jakobsvorstadt konnten Pilger und umherziehendes Volk vorübergehend unterkommen. Wer hier lebte, war arm und trug seine wenigen Habseligkeiten am bloßen Leib. Viele waren behindert, blind, stumm, taub, geistig verwirrt oder an Armen und Beinen verstümmelt. Sie übernachteten in großen Räumen, die mit Stroh ausgelegt waren, wurden von mildtätigen Frauen notdürftig versorgt, erhielten eine warme Suppe und auf Wunsch seelischen Trost durch ebenfalls umherziehende Feldprediger.

Conrad musste auf den Weg achten, um auf dem festgetretenen Schnee, der geschmolzen und wieder gefroren war, nicht auszurutschen. Hinter den mit Brettern verbarrikadierten Fenstern und Türen der locker verstreuten Katen, Herbergen und Scheunen konnte Conrad gelegentlich den Widerschein eines Feuers bemerken. Ansonsten ahnte er nur, dass sich hier Menschen verschanzt hatten, um die kostbare Wärme, die sie sich gegenseitig gewährten, zu schützen und zu hüten. Furchtsam schaute er sich um, achtete auf jede Bewegung und wurde den Verdacht nicht los, dass hinter den Schlitzen der Fenster und Türen Augen lauerten, die jeden seiner Schritte verfolgten. Doch was konnten diese Menschen von ihm erhoffen, war er doch selbst ohne Hab und Gut – und schlimmer noch: ohne Mut und Zuversicht.

Der Turm von Sankt Zeno, am Rande der Ansiedlung, überragte die übrigen Häuser nur um halbe Mannshöhe. Sein Dach war mit Schieferplatten gedeckt, die jedoch an vielen Stellen beschädigt waren und jedem Wind, Regen und Frost Angriffsflächen boten. Selbst das Kreuz an der Spitze hing schief zur Seite. Dieser Turm vermochte lediglich ein Zeichen der Trostlosigkeit auszusenden. Wer wollte schon hierher kommen, um sich zu besinnen, Gebete zu verrichten, dem Göttlichen zu begegnen? Conrad fröstelte, als er durch die klapprige Holztüre trat. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, feuchter Schimmelgeruch legte sich auf den Atem. Vorsichtig tastend ging er im Halbdunkel des kargen Raumes die schmucklosen Wände entlang. Gegenüber dem notdürftig gezimmerten Podest für den Prediger öffnete sich eine Nische, in der ein Taufbecken stand, in dem das geweihte Wasser gefroren war. Das üppig verzierte, braunrot marmorierte Becken bildete einen eigentümlichen Kontrast zu dem einheitlichen Grau des niedrigen, gedrückt wirkenden Kirchenraumes. Erst als Conrad einige Schritte vorgetreten war, bemerkte er eine Erweiterung der Taufkapelle. Er brauchte Zeit, um seine Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Ungewöhnliche Fresken in erdigen Rot- und Blautönen drohten ihm von den Wänden: unheimliche Bestien, Wölfe und Stiere mit hängenden Zungen, nackte Männer und Frauen, ein Mann mit Hundekopf biss einer Schlange den Kopf ab, eine Frau zog ihre zu Schwimmflossen geformten Beine über den Kopf, ein verwegener Jüngling flitzte auf einem Fisch durch die Luft und wurde währenddessen von einer Seeschlange in die Wade gebissen.

Conrad erstarrte. Ein Schauder des Erschreckens lief ihm über den Rücken, und doch konnte er seinen Blick kaum abwenden, so faszinierten ihn die Bilder. Und dann bemerkte er auch sie, die fünf Frauen, die auf einer Bank an der Wand Platz genommen hatten. Sie saßen regungslos, aufgereiht wie Perlen an einem Rosenkranz. Sein Kommen schienen sie überhaupt nicht zu bemerken, auf jeden Fall nicht zu beachten. Oder warteten sie doch auf ihn? Etwas abgerückt stand einsam ein Stuhl. War er eigens für ihn bereitgestellt? Conrad setzte sich. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frauen, die schwarze Wolldecken um die Schultern gelegt hatten; Tücher hüllten das Haar ein und waren weit nach vorn, über das Gesicht, gezogen. Unter den wärmenden Decken schauten lange graue Kleider aus groben, handgewobenen Stoffen hervor. Die Füße, um die wärmende Lappen gewickelt waren, steckten in einfachen Ledersandalen. Ihm wurde klar, dass die Frauen ehemalige Beginen waren, die, nachdem ihr Stand verboten worden war, ihre fromme Lebensführung im Geheimen beibehalten hatten.

Nur einen Schritt entfernt von ihm befand sich eine etwa fünfzigjährige Frau, die ihr fein gezeichnetes Gesicht dem Taufbecken zuwandte. Vielleicht betrachtete er ihr Profil, das in konzentrierter Sammlung an ihm vorbei schaute, einen Augenblick zu lange, da sie plötzlich einen kurzen verärgerten Blick zur Seite warf und ihn damit zurechtwies. Die junge Frau neben ihr, dem Mädchenalter noch kaum entwachsen, saß aufrecht und steif auf der Bank und ließ ihre großen dunklen Augen unruhig über das Taufbecken, die Wände mit den Fresken und zwischendurch auch über ihn, Conrad, gleiten. Eine ältere Frau mit markanten groben Zügen war etwas auf Abstand gegangen, sie schien, um nicht zu beengt zu sitzen, einen größeren Freiraum zu benötigen. Breitbeinig saß sie auf der Bank und trug als einzige von allen einen langen bunten Rock unter der Wolldecke, keine Kutte. Energiegeladen und doch ganz und gar in sich ruhend, blickte sie vor sich auf den Boden, wartete geduldig und spielte mit den Fingern ihrer festen, großen Hände, die offensichtlich zuzupacken gewohnt waren. Über eine ihrer beiden Hände zog sich, bis unter den Ärmel ihres Kleides, ein dunkelrotes, runzeliges Feuermal. Er hatte die Frau schon irgendwo gesehen. Sie stützte die Hand auf eine prall bepackte Tasche, die sie auf ihrem Schoß abgelegt hatte. Zur anderen Seite, der Außenwand zu, stützten sich zwei Frauen, die sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sahen und ihr sechzigstes Lebensjahr lange überschritten hatten, auf knorrige Buchenstöcke. Mit den einander zugewandten Händen hielten sie sich fest, als wollten sie sich gegenseitig Halt geben und stützen. Beide beugten sich, von lebenslanger Arbeit gedrückt, weit nach vorne. Ihre ganzen Körper, besonders aber die Hände, zitterten leicht, während die Augen, von einem leichten blaugrauen Schleier überzogen, blind in die Ferne blickten.

Die Zeit dehnte sich, ohne dass sich etwas ereignete. Endlich, als hätten sie auf ein geheimes Zeichen gewartet, standen die beiden ältesten Frauen auf, ausgerechnet sie. Mit ihrem Stock schlug die eine kräftig auf den Steinboden, dann begann die andere den völlig überraschten Bruder zu beschwören. «Bruder Conrad», redete sie mit feierlich getragener Stimme auf ihn ein, «du hast einen Auftrag zu erfüllen! Weiche ihm nicht aus! Steh dazu, steh zu dir und der Botschaft deines Meisters, zur Lehre des Bruder Eckhart. Sorge dafür, dass sein Denken in die Geschichte der Menschheit eingehen kann und in der Heilsgeschichte einen immerwährenden Platz einnehmen wird!» – «Und nicht nur sein Denken, sondern auch seine Art zu leben!», unterbrach sie die jüngste der Frauen mit etwas zu hoch klingender Stimme. – «Ja, auch die Art zu leben», wiederholte die Frau, «denn niemand, der Eckhart je gekannt hat, kann an seinem Glauben und der Heiligkeit seiner Lebensführung zweifeln!» Die Frauen starrten durchdringend auf den jungen Mann, blickten durch ihn hindurch, ohne ihn wirklich zu sehen, so dass sich Conrad bedrängt fühlte und nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Sein Herz begann zu flattern, Hände und Stimme zu zittern: «Was erwartet ihr von mir? Wie kann ich gegen die Mächtigen des Predigerklosters, des Ordens, der Kirche aufkommen? Nein, da überschätzt ihr meine Möglichkeiten.» Nun wandte sich ihm die Frau zu, die ihm am nächsten saß, und er erschrak bis in den Grund seiner Seele. Die ihm abgewandte Seite des Gesichts war über und über von Brandnarben entstellt. «Ja, erschrick nur, so sieht ein Gesicht aus, dem in verleumderischer Absicht Gotteslästerung vorgeworfen wurde.» Zurückhaltend und doch eindringlich fuhr sie fort: «Weil ich zu dem stand, was ich einmal als wahr erkannt habe, weil ich die Wahrheit, die unmittelbar aus dem Herzen Gottes kommt, nicht widerrufen habe, musste ich unmenschliche Schmerzen erdulden und hätte beinahe den Feuertod erleiden müssen. Angeleitet durch Meister Eckhart, dem ich oft in Ehrfurcht gelauscht habe, durfte ich die Wahrheit erfahren. Nicht, weil ich ihm blind geglaubt hätte, sondern weil ich nach fleißigem, redlichem Nachdenken vernünftigen Gründen gehorcht habe. Dem Druck der Mächtigen habe ich mich widersetzt, aber auch den oft allzu simplen Glaubensbezeugungen der angeblich Frommen auf den Plätzen und Straßen vieler Städte. Wo alles Sein aus dem Abgrund Gottes in die Seele fließt, gibt es kein Zurück. Bruder Conrad, entziehe auch du dich allen Dingen und Ansprüchen der Welt und schwinge dich mit unbekümmertem Herzen über dich selbst hinaus, so dass auch du in die absolute Unbegreiflichkeit Gottes hineinzureichen vermagst.»

«Ihr macht euch falsche Vorstellungen von der Aufgabe, die ihr von mir fordert», entgegnete Conrad zögernd und mutlos. «Erzbischof Heinrich streut schon jetzt das Gerücht, dass eine Bulle des Papstes unterwegs sei, in der Eckhart als Ketzer verurteilt wird. Bald wird eine solche Anschuldigung von allen Kanzeln Kölns verkündet werden. Beim Generalkapitel des Dominikanerordens gibt es Bestrebungen, auf entschiedene Distanz zu Eckhart zu gehen, sein Denken aus den Gehirnen der Menschen zu löschen, ihn, diesen überragenden Lehrer und Magister einfach totzuschweigen. Sein Denken wird aus allen Bibliotheken und Hochschulen eliminiert werden.»

Conrad, der sich während des Redens vom Stuhl erhoben hatte, wurde immer unsicherer. Schließlich flüsterte er nur noch, bis ihm die Stimme ganz versagte. Tiefe Verzweiflung überkam ihn. Er ließ sich resigniert auf den Stuhl fallen und barg sein Gesicht in die Hände. Da hob die Frau, die zuletzt gesprochen hatte, nochmals an: «Verlier nicht den Mut. Du wirst Freunde finden, die dich unterstützen. Wir sind auf dich angewiesen, denn du hast Eckhart jahrelang begleitet. Wie kein anderer kennst du ihn und seine Wahrheit. Zu viel steht auf dem Spiel, als dass seine Lehre dem Spiel des Erinnerns und Vergessens überlassen werden dürfte. Die Gefahren für das geistige Leben der Menschen drohen nicht von fremden Glaubensüberzeugungen, nicht von den Juden und nicht von denen, die dem Koran folgen und zu Allah beten. Verrat droht vielmehr von denen, die nur das Ihrige suchen oder sich im Wohlgefühl ihrer behäbigen Andacht ausruhen. Sie suchen nichts und bedienen sich Gottes, als wäre er ein Werkzeug. Sie machen aus Gott eine Kerze, um zu suchen, was sie längst gefunden zu haben meinen. Und da sie das Gesuchte gefunden haben, brauchen sie auch die Kerze nicht mehr und werfen sie weg. Andere wiederum nehmen Gott wie eine überflüssige Last, winden ihr einen Mantel um das Haupt und schieben ihn unter eine Bank.»

«Ich selbst habe von Meister Eckhart gehört», meldete sich nun wieder die junge Frau zu Wort, «dass man nicht durch Innerlichkeit, Andacht, süße Verzückung oder besondere Gnade mehr von Gott bekommt als beim Herdfeuer oder im Stall, sonst täte man gerade so…»

«Hört auf, hört auf!», unterbrach Conrad unwirsch, «kann ich dafür, dass ich zu einfach denke, die Wahrheit nicht verstehen kann? Vielleicht entspreche ich ihr einfach nicht.» Er machte nun einen eher jämmerlichen Eindruck und fühlte sich einem massiven Druck ausgesetzt, aufzustehen und davonzueilen. «Warum übernehmt ihr nicht die Aufgabe, die Botschaft Eckharts weiter zu verbreiten? Ihr könnt es doch genauso gut, wahrscheinlich besser, viel besser als ich.» Die Stille, die sich nach diesen hilflosen Forderungen im Raum ausbreitete, schien jeder schnellen Antwort die Luft abzuschneiden, bis endlich leise und zögerlich die Stimme der Frau, die bisher noch nichts gesagt hatte, an sein Ohr drang: «Nein, wir können das nicht. Wir sind Frauen, haben nicht studiert, dürfen keine Ämter übernehmen, manche können nicht einmal lesen und schreiben.» Conrad von Halberstadt bäumte sich nochmals auf: «Wenn ich wenigstens an die Handschriften Eckharts herankäme, aber alles, was sich in seiner Zelle befand, ist weggesperrt. Nichts ist mehr zugänglich, nichts mehr, außer einem kleinen Büchlein, das ich verstecken konnte.»

«Die Zeit drängt!», warf nun die Frau mit dem Feuermal an der Hand ein. Ungeduldig geworden stellte sie sich vor Conrad und redete ihn in herbem, alemannischem Tonfall an: «Überlege dir, wofür du dich entscheidest. Unsere Auffassung kennst du.»

Bei diesen Worten stiegen in Conrad Bilder der Erinnerung auf, so dass sich für einen Moment lang sein Blick im Unendlichen verlor. Er sah sie wieder vor sich, diese Frau mit dem Feuermal, wusste plötzlich, wo er sie schon einmal gesehen hatte, und verfolgte, wie sich in seinem Innern die Szene wiederholte.

Der Friedhof war wie leergefegt. Eine Frau hatte sich vorsichtig dem Grab Meister Eckharts genähert. Einige Gräber weiter hatte sie sich hinter einem Grabstein verborgen gehalten, an einem Gesteck aus Trockenblumen zu schaffen gemacht und aus den Augenwinkeln das Geschehen verfolgt. Sie fror und hatte sich zum Schutz eine abgetragene Wolldecke übergeworfen. Ihr blasses Gesicht durchzogen tiefe Furchen. Unter einem dunklen Kopftuch schaute ein graues Haarbüschel hervor. Darunter blitzte der schwarze Glanz ihrer Augen so brennend hervor, dass, wer lange genug in sie geblickt hätte, darin versunken und verloren gegangen wäre. Über der Schulter hing ein kleines Bündel mit Habseligkeiten. Sie beugte sich über das Grab, barg ihr Gesicht in beide Hände, Tränen rannen über die Wangen und hinterließen, als sie darüberwischte, eine schmutzige Spur. Mit einem tiefen Seufzer hatte sie sich gebückt und sorgfältig all die kleinen Scherben der Tontafel gesammelt, die um das Kreuz verstreut lagen. Über ihre rechte Hand zog sich ein rotes Feuermal, schien den Arm empor zu züngeln, bis es unter dem schwarzen Umhang verschwand. Doch selbst, wenn es gelungen wäre, alle Scherben zu einem Ganzen zusammenzufügen, wer hätte den Text entziffern können?

Was hat die Frau doch gleich gesagt? Conrad schrak aus seinen Gedanken auf und suchte mit großen Augen dem eindringlichen Blick der Frau standzuhalten. Diese hatte abgewartet, bis er wieder zu sich gekommen war, und wiederholte nun ihre letzten Sätze: «Willst du allen Mut und alle Kraft zusammennehmen, um das zu tun, wovon du doch im Innersten selbst überzeugt bist? Oder läufst du feige davon? Wir werden dich unterstützen, so gut wir immer können.» «Odette, sei nicht so streng mit ihm», raunte ihr leise die Frau mit den Narben im Gesicht zu. Doch jene wehrte unwirsch ab, griff in ihre Ledertasche und blätterte energisch durch ein dickes Bündel handgeschriebener Blätter. Daraus entnahm sie ein loses, handtellergroßes Stück Pergament, spuckte auf die Rückseite des Schriftstücks und klatschte es Conrad gegen die Stirn, so dass es kleben blieb. «Hier hast du den Beweis, dass noch nicht alle Schriften Eckharts vernichtet sind! Wenn du so weit bist und wirklich Zeugnis ablegen willst, werden wir sie dir überlassen. In Straßburg kannst du uns finden.»

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sich Odette um und verschwand aus der Taufkapelle, gefolgt von zweien der Frauen. Auch die beiden Alten waren von ihren Stühlen aufgestanden, blieben dann aber hilflos stehen. Heiser rief eine von ihnen Odette zu Hilfe: «Nimm uns mit!», doch da kam auch schon die jüngste der Frauen zurück, fasste eine von ihnen liebevoll an der Hand, die andere hängte sich bei dieser ein, und so verließen die beiden Blinden die Kirche von Sankt Zeno.

Conrad blieb noch lange auf seinem Stuhl sitzen.

*

Es war schon spät in der Nacht, als Conrad in seine Zelle zurückkehrte und sich in sein Bett fallen ließ. Mit letzter Kraft zog er Decken und Kleider über sich, um ein wenig Wärme zu retten. Den Kopf steckte er unter das Kissen. Im Schlaf überfielen ihn schwere Träume: Aus weiter Ferne kamen Frauen auf ihn zu, vielfältiges Stimmengewirr. Sie fuchtelten mit den Armen und redeten auf ihn ein, brüllten ihm ins Ohr und zogen ihm mit einem entschlossenen Ruck das Kissen vom Kopf. – Conrad schreckte auf. Bruder Adalbert stand vor seinem Lager, hatte, ohne anzuklopfen, die Türe zur Zelle aufgestoßen und krächzte mit rauer Stimme: «Sofort zum Subprior kommen!» Und schon verschwand er wieder im Dunkel des Kreuzganges. Die Tür ließ er weit offen stehen; in einer Halterung steckte ein brennender Kienspan und warf gespenstische Schatten an die Wand.

Es brauchte eine gewisse Zeit, bis Conrad endlich zu sich kam, begriff, was Adalbert gesagt hatte. Nach und nach befreite er sich aus den Decken und setzte sich auf den Bettrand. Dann griff er, um etwas Sicherheit und Bestätigung zu erhalten, unter die Matratze. Er tastete und tastete und tastete nochmals. Jäh durchzuckte ihn Entsetzen. Wo waren Eckharts Handschriften? Mit einem Schlag war alle Müdigkeit verflogen. Er schnellte auf, warf die Matratze zurück, doch die Schriften blieben verschwunden. Sein Blick irrte über Tisch und Regal – das genügte. Jemand hatte das Zimmer durchsucht und war fündig geworden. Zorn stieg ihm ins Gesicht.

«Wo warst du?», schnauzte ihn Bruder Andreas an. «Du hast weder an der Komplet teilgenommen noch an den Gebeten während des Tages. Du kehrst erst mitten in der Nacht zum Kloster zurück. Was ist mit dir? Verachtest du so, was du einmal heilig gelobt und versprochen hast?» Conrad ging auf die gestellten Fragen erst gar nicht ein und stellte seinerseits den Subprior zur Rede: «Wer hat mein Zimmer durchsucht und Schriftstücke entwendet?» «Hier stelle ich die Fragen», entgegnete Bruder Andreas. «Erst, wenn meine Frage beantwortet ist!», gab Conrad trotzig zurück, als wäre ihm plötzlich neue Kraft zugewachsen. «Meine Zelle, die ich abgeschlossen hatte, stand bei meiner Rückkehr offen.» Der Subprior reagierte empört: «Glaubst du, dass in diesem Kloster gestohlen wird? Überhaupt werden bei uns Zellen grundsätzlich nie abgeschlossen, es sei denn jemand hat etwas zu verbergen. Bewahrst du verbotene Schriften auf?» Conrad verstummte, wusste nicht weiter, ließ irritiert seinen Blick über das Zimmer gleiten und, wie es der Zufall wollte, über den Tisch des Subpriors. Da lag doch tatsächlich die gestohlene Handschrift, aufgeschlagen, vor ihm. Conrad strich mit zarten Fingern über die Pergamentblätter, griff nach ihnen und wollte sie an sich nehmen. Doch der Subprior legte nun seinerseits die Hand darauf und schwenkte mit der anderen die Tischglocke, um Bruder Adalbert herbeizurufen. «Das wirst du wohl liegen lassen», keuchte er Fassung suchend, unter Aufbietung all seiner Kräfte. Ohne sich weiter auf das Thema einzulassen, fuhr er fort: «Das geht dich überhaupt nichts an. Ich fordere, dass du ab sofort an den Tagesgebeten der Brüder teilnimmst. Vorerst besteht für dich das strengste Verbot, ohne meine ausdrückliche Genehmigung das Kloster zu verlassen.» Bruder Adalbert aber, der inzwischen eingetreten war, wies er an, Bruder Conrad auf seine Zelle zu bringen.

Conrad war schon unter der Türe, als er vom Subprior zurückgerufen wurde: «Noch etwas. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass in der Nacht, bevor Eckharts Zelle geräumt wurde, seine lateinischen und deutschen Schriften entwendet wurden, in böswilliger Absicht. Sie sind nicht wieder aufgetaucht. Falls dir etwas zu Ohren kommt, möchte ich sofort in Kenntnis gesetzt werden.» Dem Subprior entging nicht, wie sich über Conrads Gesicht ein feines, zufriedenes Lächeln zog. «Jetzt verschwinde», rief er ihm unwirsch nach. Conrad von Halberstadt wendete sich langsam um und folgte Bruder Adalbert.

Die Nacht, in die seine Zelle getaucht war, wurde ihm hell und licht. Der flackernde Kienspan reichte aus, um selbst in den hintersten Ecken Dinge klar und scharf in ihren Konturen wahrzunehmen: die Unordnung auf dem Bett, den geöffneten Deckel der Kleidertruhe, durcheinandergeratene Bücher und Handschriften auf dem Bord, die Schreibutensilien und das kleine Messerchen auf dem Tisch. Eine ungewöhnliche Klarheit der Gedanken erfüllte Conrad. Wie von selbst ordneten sich die Ereignisse der vergangenen Tage und zogen nochmals an ihm vorüber.

Wie war es möglich, dass plötzlich eine solche Ruhe und Gelassenheit über ihn kam? Conrad bewegte sich mit bedächtiger Langsamkeit von Gegenstand zu Gegenstand, kreiste die Dinge ein, berührte dies und das, streichelte liebevoll über ein kleines Bild, auf dem die verschnörkelte Initiale seines Namens abgebildet war. Er nahm nochmals ein Buch in die Hände, prüfte eine Feder, ob sie auch sauber gespitzt sei, betastete das Tintenfass, einen hölzernen Löffel, den Trinkbecher und das bestickte Leinentüchlein, das ihm seine Mutter zum Abschied zugesteckt hatte.

Als Conrad mit beiden Händen über seinen Habit strich, der ihm plötzlich eigenartig fremd vorkam, fühlte er in der Innentasche das störrische Stück Pergament, das ihm die fremde Frau an die Stirn geklebt hatte. Ungeduldig zog er den zerknitterten Zettel hervor, strich ihn auf der Tischplatte glatt, setzte sich auf die kalte Sitzfläche des Hockers und begann den Text zu entziffern.

«… denn, wenn Holz entzündet und in Brand gesetzt wird, kommt es notwendigerweise zu einem Kampf zwischen dem Feuer und dem Holz. Sie lassen sich durch nichts beschwichtigen und kommen auch nicht zur Ruhe. Es raucht und prasselt, sie streiten sich und versuchen sich gegenseitig zu bezwingen, bis schließlich das Holz die Natur und das Sein des Feuers ganz und gar angenommen hat, so dass auch es Feuer ist. Erst wenn alle Unterschiede zwischen Feuer und Holz verschwunden sind, beruhigt sich das Feuer, wird still und das Holz schweigt. Ebenso ist auch deine Seele ein Brennholz, ein Brennholz Gottes. …»

Ohne allen Zweifel handelte es sich um Worte Meister Eckharts, ja, um seine Handschrift, mit deren Entzifferung Conrad in den letzten Jahren so viel Mühe gehabt hatte. Nochmals und nochmals ließ Conrad die wenigen Zeilen auf sich wirken, bezog sie auf sich selbst, fühlte sich angerührt und war von Herzen dankbar für die Botschaft, die ihm sein Freund und Lehrer post mortem hatte überbringen lassen. Im rechten Augenblick hatte ihn genau das Wort erreicht, auf das er gewartet hatte. Es war ihm gegen die Stirn geklatscht, traf ihn mitten ins Herz, setzte ihn in Brand, ließ sich nicht mehr beschwichtigen. Es rauchte, prasselte, würde sich nie mehr bezwingen lassen, ja, er würde selbst Feuer werden, sich der unbegreiflichen Erfahrung der Wahrheit aussetzen, bis er ganz und gar von ihr verzehrt sein würde.

Conrad nahm eine Feder zur Hand, schnitt sie sorgfältig zu, tauchte sie in Tinte und begann zu schreiben. Er schrieb, bis der Kienspan heruntergebrannt war und das Dunkel den Raum wieder in Besitz nahm:

An den Prior des Predigerklosters zu Köln

Bruder Johannes von Griefenstein!

Hoch verehrter, lieber Bruder im Herrn,

Bruder Johannes,

Vorbild und Lehrer waret Ihr mir, seit ich Euch kenne; auf unserem gemeinsamen Weg nach Avignon und von dort zurück seid Ihr mir Vater und Freund geworden. Tagfür Tag wurdet Ihr mir wichtiger. Vorbehaltlos respektiere ich Eure Autorität, bedanke mich für Eure liebevolle Zuwendung, die Ihr mir, wie allen anderen Brüdern auch, entgegengebracht habt, wenn ich mit einem Anliegen zu Euch gekommen bin, und verneige mich vor Eurer Frömmigkeit und innigen Demut, in der ich den Widerschein göttlicher Heiligkeit wahrnehme.

Noch immer denke ich gerne an die Zeit zurück, in der Ihr mich in Euren Konvent aufgenommen habt. Jedes Mal, wenn ich Hilfe brauchte, habt Ihr mich unterstützt und gefördert. Ihr auch wart es, der mich zu den abendlichen Gesprächen mit Meister Eckhart geholt hat, daran teilnehmen ließ und mich ermunterte, gelegentlich selbst das Wort zu ergreifen oder Fragen zu stellen. Die Ernsthaftigkeit und Tiefe der Gedankengänge, die ich bei diesen Gesprächen erfahren durfte, ist mir stets gegenwärtig und prägt mein Leben.

Um so schmerzlicher trifft es mich, verehrter, lieber Vater und Freund, und Euch muss es wohl genauso oder noch mehr treffen, dass ich Euch heute um Dispens bitten muss, um Dispens von allem, was ich während meiner Ausbildung zum Predigerbruder im Kölner Dominikanerkloster feierlich gelobt habe: Gehorsam, Armut und Keuschheit. Es gibt eine Reihe triftiger Gründe, die mich zu dem Entschluss gebracht haben, am heutigen Tag dieses Kloster zu verlassen und auch den Orden des heiligen Dominikus. Da ich zugleich auch mein Priesteramt ruhen lassen werde, das ist mir voll bewusst, droht mir der Ausschluss aus der Gemeinschaft der heiligen Kirche, die Exkommunikation.

Um einer solchen Verurteilung zu entgehen, verehrter Vater, bin ich auf Eure ausdrückliche Unterstützung angewiesen. Ich bitte Euch persönlich, als Vorsteher des Kölner Predigerklosters, um Dispens von meinem Stand und allen klösterlichen Pflichten. Weiterhin bitte ich Euch eindringlich, beim Provinzial und Generalmagister des Ordens ein gutes Wort für mich einzulegen. Esgeht mir ja nicht um eine Flucht aus den Versprechungen von Gehorsam, Armut und Keuschheit, an die ich mich nach wie vor gebunden fühle, nicht um eine Lösung der Ordensgelübde, die ich nie als Fesseln erlebt habe, und auch nicht um eine Rückkehr in den Laienstand, um dem Priesteramt den Rücken zu kehren. Ich fliehe nicht aus dem Ordensstand und den Glaubenswahrheiten der Kirche, ich fliehe vielmehr vor den Menschen, die mir die Luft zum Atmen rauben und mir das Verbleiben im Kloster unmöglich machen, die den lebendigen Glauben in starre Formen gießen und aus Gott einen Götzen machen, den sie sich zurechtschnitzen und wie ein goldenes Kalb anbeten.

Durch hektisch überschlagende Luftsprünge und Überschläge der Unvernunft bricht das spirituelle Leben der klösterlichen Gemeinschaft in sich zusammen. Der Glaube begnügt sich mit rührseligen Gefühlslagen, die immer nur rückwärtsgewandt sind, versucht sich in geschlossenen Systemen abzuschotten, wendet sich von dem befreienden Flug der Überzeugungen und Grundsätze unserer großen Lehrer Albert und Eckhart ab. Ihr Denken muss Unterdrückung, Fälschung und Manipulation über sich ergehen lassen oder wird einfach ignoriert. Ihre Schriften werden auf verbotene Listen gesetzt, bald dürfen sie dem Studium nicht mehr zugrunde gelegt werden, ja, nicht einmal mehr gelesen werden. Wo immer man ihrer Bücher habhaft wird, werden sie vernichtet. An die Stelle von Vernunft und Frömmigkeit treten Voreingenommenheit und Irrglaube.

Was der geistigen Welt angetan wird, die uns mit ihren mächtigen Schwingen über die Mühen und Drangsale des Alltags erhebt, sich über ihn spannt, wie ein mächtiges Gewölbe, das Raum gibt für die Erfahrung von Glück und Freiheit, ist eine Sache, eine andere, was den Menschen selbst angetan wird. Schmerz und Leid, so wird nun plötzlich behauptet, führe die Existenz desMenschen in sonderlicher Weise zu ihrer Bestimmung und Erfüllung. Warum nur? Das will mir ganz und gar nicht einleuchten. Die Brüder des Klosters dürfen sich nicht mehr frei bewegen, werden auf Schritt und Tritt gegängelt, zu Duckmäusern erzogen und schleichen nur noch durch die von Vornehmheit erkalteten Gänge, verstummen, kriechen wie Molche durch Morast. Mit wem sie umgehen, was sie lesen und sprechen, alles wird kontrolliert. Die wirklich Frommen, wie die Anhänger und Freunde Meister Eckharts, werden auf die Anklagebank zitiert, erleiden Schmach und Gefangenschaft, bald werden es Folter und Tod sein.

Der intrigante Ankläger Meister Eckharts, Erzbischof Heinrich – entschuldigt bitte meine Wortwahl, aber ich spreche nur die Wahrheit aus –, hat beim Subprior Gehör gefunden, der die Ordenshochschule zu dogmatischer Starrheit verpflichten will. Der Orden sucht mit der Knute Gehorsam zu erzwingen. Wer sich Gott als grausamen Imperator vorstellt, der den, den er liebt, knechtet, der liebt nicht mehr den Gott, den ich liebe.

Hoch verehrter Bruder Johannes, ich hoffe, dass Ihr meinen Schritt versteht, der mich dazu führt, noch diese Nacht meine Ordenstracht abzulegen und das Kloster, ja sogar den Orden zu verlassen. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, mich künftig als Sachwalter Meister Eckharts zu verstehen, mich auf die Wege zu machen, die auch Eckhart gegangen ist, um sein Erbe zusammenzutragen, es, wo immer möglich, zu schützen und mich für seine Verbreitung zu verwenden.

Geliebter Vater und Freund, haltet mein ungestümes Vorgehen meiner jugendlichen Einfalt zugute, seid nicht zu streng mit mir, verzeiht, wenn ich jemanden unrechtmäßigerweise verunglimpft habe oder mich sogar im Irrtum befinden sollte. Segnet mich, wie auch ich immer an Euch denken und für Euch beten werde.

Euer Bruder Conrad von Halberstadt

Im Dunkel der Nacht suchte Conrad seine Habseligkeiten zusammen, hängte seine Ordenstracht an den Haken der Zellentür und schlüpfte in die alten Kleider, die seit seiner Einkleidung in der Truhe lagen. Hemd, Jacke und Hose war er längst entwachsen, so dass nun unter den Hosenbeinen die nackten Waden zum Vorschein kamen und die Arme aus der Jacke weit hervorragten. So warf er sich noch eine dicke Decke über die Schultern, die auf seinem Lager ausgebreitet lag. Er schnürte ein kleines Bündel und blickte noch ein letztes Mal zurück, um von den lieb gewordenen Räumen, der Stille und den Ritualen der Gemeinschaft Abschied zu nehmen. Wie fremd war ihm alles geworden, in nur wenigen Tagen.

Von den Dingen hatte er Abschied genommen, nicht aber von den Brüdern. Die wenigen, denen er sich hätte anvertrauen können, schliefen, und er wollte sie auch nicht in Gefahr bringen, mit seiner Flucht in Verbindung gebracht zu werden. Er schlich durch das Kloster, gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Laudes. Auf Zehenspitzen tastete er sich vorbei an dem schlafenden Laienbruder, der zur Wache vor der Türe des Priors Position bezogen hatte, öffnete leise die Tür und ging zum Bett von Bruder Johannes, der sich unruhig auf seinem Lager hin und her wälzte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Conrad ergriff seine Hand, hielt sie, strich darüber und murmelte ein kurzes Gebet des Dankes, dem, wie von selbst, eine kleine Litanei von Bitten folgte, dann steckte er ihm seinen Brief zwischen Daumen und Finger einer Hand.

Conrad verließ den Raum, das Kloster, die Stadt. Prior Johannes von Griefenstein aber las den Brief nicht mehr. Als der Bruder Medikus eintrat, war Johannes verstorben. Er nahm ihm den Brief aus den Händen und steckte ihn zwischen die Pillen und Instrumente seiner Ledertasche.

GEISSHIRTELN

CONRAD WAR DAS GESPÜR FÜR ZEIT abhandengekommen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er von Köln losgezogen war, wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war, zwei, drei oder gar schon vier Wochen. Noch immer hastete er davon, lief was das Zeug hielt, lief, so schnell er nur konnte, strauchelte, fiel, rappelte sich wieder auf. Bauern hatte er angesprochen, Bettler und Frauen, die selbst nichts zwischen den Zähnen hatten, um einen Kanten Brot oder ein Lager in der Scheune zu ergattern. Nur um Klöster, Kirchen und Pfarrhäuser hatte er weite Bogen gemacht. Die Leute beäugten ihn misstrauisch, wie er daherkam, in seinen zerschlissenen Kleidern, halb erfroren, ausgehungert, übernächtigt. Schließlich hatte er ihnen doch leid getan, hatte trotz ihres Misstrauens so viel zugesteckt bekommen, dass er sich gerade noch aufrecht halten konnte, nicht einfach umfiel, im Unterholz einschlief, um nie wieder aufzuwachen. Hätte sich die Sonne nicht gnädig gezeigt und ihn von Zeit zu Zeit mit etwas Wärme bedacht, Conrad hätte sich nicht durchschlagen können.

Am Tor des Burgfleckens bat er um Einlass: «Conrad von Halberstadt, Bürger der Stadt, hier geboren.» Der Wächter hielt ihn an, taxierte ihn von oben bis unten, stutzte, zögerte, rief schließlich erstaunt: «Mensch, Conrad, bist du es? Hast du dich aber verändert!» Er hätte ihn fast nicht wieder erkannt, ein Spielkamerad aus Kinderzeiten. Neugier regte sich in dem jungen Mann: «Wo hast du deine Kutte gelassen?» Doch Conrad drängte weiter, ließ sich nicht aufhalten, murmelte eine Entschuldigung, die niemand verstehen konnte und auch nicht sollte, eilte zum Haus seines Vaters. Mehrmals atmete er tief durch, bevor er den eisernen Klöppel gegen die Eichentüre fallen ließ.

Umgehend öffnete ein Mann mit schlohweißem Haar die Türe, als hätte er schon auf ihn gewartet. Sie standen sich lange gegenüber, suchten sich wieder zu erkennen, die Zuneigung, Wärme und Innigkeit früherer Tage. Dann stammelte Conrad: «Vater, ich komme, weil…» Doch der Vater ließ ihn nicht weiterreden, ging auf ihn zu und schloss ihn in die Arme: «Jetzt komm erst einmal herein, in die warme Stube.»

Viel Zeit und Ruhe waren erforderlich, bis Conrad endlich wiederhergestellt war. Ein langer, unruhiger Schlaf entführte den Erschöpften und ängstigte ihn mit Furcht einflößenden Traumgestalten. Fiebrige Erregtheit wechselte mit Phasen der Lethargie und Niedergeschlagenheit. Er stützte den Kopf in die Hände und horchte in sich hinein, wanderte stundenlang im Zimmer auf und ab, innerlich aufgewühlt, und trug mit erhobener Stimme den geduldig stummen Wänden Monologe vor. Er suchte seine wirren Gedanken in fahrig skizzierten Zeichnungen zu bannen, brachte sein Wüten, seine Anschuldigungen, Vorwürfe, sein Lästern, Fluchen und Weinen, bis hin zum seelischen und körperlichen Zusammenbruch, in wilden Fetzen zur Sprache, zeichnete sie auf in Chiffren, Runen und absonderlichen Schriftzeichen.

Dem Vater hatte er alles gesagt, was gesagt werden musste. Mehr wollte er offenbar auch nicht wissen. Die ältere Schwester und der jüngere Bruder zeigten sich nur gelegentlich, viel zu sehr waren sie mit sich selbst befasst, den Geschäften und Arbeiten, die sie zu bewältigen hatten, die Schwester bei der Führung des Haushalts mit Mann und vier Kindern, der Bruder mit dem Kontor, das er vor zwei Jahren vom Vater übernommen hatte. Textilien wurden vertrieben, Weißwaren und Stoffe aus Wolle, Leinen, Seide und Barchent, Gewobenes, Gestricktes und Gesticktes, Filz, Garne, Fäden und Knöpfe. Die Mutter war bei der Geburt des Bruders im Kindbett gestorben. Conrad war damals gerade einmal drei Jahre alt gewesen. Die verwitwete Tante Sofie, eine Schwester des Vaters, hatte sich des Haushalts angenommen und die Kinder groß gezogen. Nun war sie selbst verwirrt und bettlägerig und musste vom Vater und einer Magd gepflegt werden.

Schwer lasteten auf Conrad die Ereignisse von Köln, die ihn zur Flucht getrieben hatten. Hatte er sich schuldig gemacht gegenüber dem Orden, dem ewigen Gelübde, gegenüber sich selbst? Oder durfte er sich loben, weil er standhaft zu seinen Überzeugungen gestanden war und Mut gezeigt hatte? Albträume verfolgten ihn bei Tag wie bei Nacht. Wenn er mit jemandem zu sprechen versuchte, schien sich ein grauer Schleier über seine Augen zu legen und eine eigentümliche Distanz und Unbeteiligtheit stellte sich ein. Nicht er selbst sprach, er stand wie neben sich, sah zu, wie eine andere Person mit seiner Stimme redete. Nur wenn es ihm gelang, Klarheit herzustellen, die einzelnen Fäden aus dem dichten Knäuel von Erinnerungen, Hoffnungen und Fantasien zu entwirren, würde er seinen Weg gehen können. Kaum mehr als zwei Monate war es her, dass Meister Eckhart begraben worden war und schon schienen ihm die Ereignisse Jahre zurück zu liegen. Konnte er seinen Ruf noch vernehmen, einen Ruf, der ihn aufrichtete und aus der Enge des Lebens führte? Oder zuckte er schon jetzt zurück, weil ihm das vertraute Antlitz fremd geworden war?

Bei dem Gedanken, dass die Zeit starb und mit ihr der Glaube an ein Leben nach dem Tod, dass der Raum starb und mit ihm der Glaube an einen Himmel, überfiel ihn das blanke Entsetzen. Er scheiterte in dem Bemühen, die Welt und sich selbst zu verstehen, geschweige denn zu erklären. Alles, was er wahrnahm und dachte, und alles, was je wahrgenommen und ausgedacht wurde, überstieg ein offener Horizont von Möglichkeiten. Aus der Zeit- und Ortlosigkeit einer nicht verfügbaren Wirklichkeit brach mit brachialer Wucht eine Totalität in ihn ein und erfüllte ihn mit Schrecken, zugleich aber auch eine Würde, nach der er sich schon immer gesehnt hatte.

Manchmal empfand er seine Gedanken als unerträgliche Last, das andere Mal ließ er sich gelassen auf die schwierigsten Fragen ein. War die Zeit an das Leben gebunden? Fand sein Dasein bei der Geburt ihren Anfang und im Tod ihr Ende? Oder erstreckte es sich über diese Begrenzungen hinweg in ein Sein ohne hier und dort, ohne gestern, heute und morgen? Sollte er nicht eher von einem Nichts sprechen, als von einem Sein? Es gab Momente, da schien Conrad aus der Zeit zu fallen. Ich brauche nicht die Erfahrung des Todes, um mich der Zeitlosigkeit zu versichern. Wenn ich wissen will, wer ich bin, muss ich die Gegenwart des Unbedingten zulassen, hier und jetzt. So hatte es, wenn er sich recht erinnerte, Meister Eckhart formuliert. Das Mögliche schien Conrad präsenter als alle Dinge und Ereignisse, denen er je begegnet war. Sogar sich selbst verlor er aus den Augen, als verdampfte er in die Unendlichkeit eines schwarz-blauen Sternenhimmels.

Der Vater bat Conrad, noch sitzen zu bleiben und sich nicht ständig in seine Kammer zurückzuziehen. Er gehe nicht mehr aus dem Haus, was er ja grundsätzlich verstehen könne, doch müsse er sich endlich klar machen, wie es weitergehen solle. «Was hast du vor?», fragte er ihn, wurde dabei so aufgeregt, dass ihm das Blut ins Gesicht stieg. Sein Vater machte sich Sorgen, Sorgen um die Zukunft, aber auch den Gemütszustand des Sohnes, der zunehmend in Schwermut zu versinken drohte. «In Halberstadt kannst du nicht bleiben, wie ein Lauffeuer hat sich herumgesprochen, dass du den Dominikanern entlaufen bist. Die Leute lästern», sagte er, «du würdest keinen guten Stand in dem Flecken haben, wo jeder jeden kennt.» Er wolle ihm, so führte er aus, sein Erbe auszahlen. Damit könne er neu beginnen, zum Beispiel eine Schreibstube eröffnen oder Unterricht erteilen. Den größeren Teil des Erbes würde natürlich sein Bruder benötigen, um das Geschäft am Laufen zu halten. Aber seine Rücklagen würden ausreichen, um ihm zu einer neuen Existenz zu verhelfen. «Sag mir doch bitte, was du in Zukunft tun willst.»