Sabrina steht Kopf - Rolf Siller - E-Book

Sabrina steht Kopf E-Book

Rolf Siller

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Beschreibung

Wie ist es möglich, in einer Zeit zu leben, in der die gewohnte Ordnung zu zerbrechen droht? Corona, Klimawandel, Natur- und Umweltzerstörung, Krieg, Flucht, Armut. Robert zieht sich in eine Einsiedelei zurück und meditiert, Vincent stürzt sich mit Leidenschaft in seine Arbeit, aber auch in das Abenteuer der Liebe und die von mehreren Schicksalsschlägen gezeichnete Sabrina, Sternguckerin und Lead-Sängerin zugleich, setzt sich in Bewegung, formt die Welt um, indem sie sich selbst und ihr Leben auf den Kopf stellt. Wer neue Wege einschlägt, im Denken und alltäglichen Tun, macht Transformation möglich und schafft Zukunft. Die Novelle von Rolf Siller geht der Frage nach, wie es sich in Unwirtlichkeit leben lässt. Bunte Geschichten, mit Fakten reich unterfüttert, erzählen von der Hoffnung auf ein glückliches Leben. Nachdenklich und elegant werden die Probleme des Alltags zur Sprache gebracht.

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Inhalt

Die Sternguckerin

Nichts mehr, wie es war

Roberts Eremitage

Sich finden und verlieren

Vom Blitz getroffen

Leidenschaft

Die Kunst, Kopf zu stehen

Für Gerlem.

Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte. (Georg Büchner, Lenz)

Die Sternguckerin

Nicht weit von der Domäne entfernt, zwischen Mittel- und Seestraße, liegt das Haus, in dem sie groß geworden ist. Es hat sich nicht viel verändert inzwischen, sieht fast noch genauso aus wie in ihrer Kindheit und vielleicht sogar noch, wie es erbaut worden ist, vor etwa zweihundert Jahren, mit den Giebelfenstern im Dach und dem Laden im Erdgeschoss, heute ein Mobilfunkshop. Es steht unter Denkmalschutz und sieht nach heiler Welt aus. Wenn sie sich zurückerinnert, was in den engen Räumen des Hauses von den Eltern alles erledigt worden war, kommt ihr die Welt, in der sie aufgewachsen ist, irreal vor, irgendwie aus der Zeit gefallen. Und dennoch überwältigt sie, gegen ihre Vernunft, ein wehmütiges Gefühl der Sehnsucht, ein wärmendes Gefühl der Vertrautheit.

Zu ihrem 16. Geburtstag hat Sabrina von ihrem Bruder ein Paket in den Arm gelegt bekommen, dem sie ein in Seidenpapier gewickeltes Instrument entnahm. So spannend und geheimnisvoll war ihr das erschienen, dass ihr noch heute ein leichter Schauer über den Rücken läuft. Die tiefblaue Schachtel war mit Sternchen geschmückt und trug den Schriftzug „Teleskop für junge Forscher“. Sie erinnert sich noch genau, als wäre es erst gestern gewesen. Zitternd hielt sie das schwarze Rohr in den Händen, Tränen überschwemmten ihren Blick, sie war überwältigt und einfach nur dankbar. Als sie den Bruder umarmen wollte, wiegelte er ab und holte ohne Umschweife zu umfangreichen Erklärungen aus, hielt ihr ein Begleitheft vor die Nase, blätterte aufgeregt darin und gab zu jedem einzelnen Teil des Zubehörs einen Kommentar ab. Sabrina verstand kein Wort, so aufgeregt war sie.

Bis heute hängt sie an den schwarz- und silberglänzenden Instrumenten, die er ihr damals schenkte, obwohl sie sich inzwischen ein besseres und lichtstärkeres Teleskop gekauft hat. Noch immer nennt sie ihr erstes Gerät, frei nach Tycho Brahe, „mein goldenes Haar der Berenike“. Brahe hatte das Sternbild erstmals beschrieben.

Als eines der ersten Spiegelreflexteleskope, das damals zu erwerben war, hat das Objektiv einen Hohlspiegel und ist ausdrücklich für Einsteiger zur Beobachtung des Sternenhimmels gedacht. Es besitzt eine 80 Millimeter große Öffnung und eine Brennweite, die bis zu 750 Millimeter reicht. Mit ihm wären sogar fotografische Aufnahmen möglich gewesen, wenn die erweiterte Ausstattung in ihren Besitz gelangt wäre.

Im Haus ihrer Eltern hatte sie das Teleskop auf ein Stativ geschraubt, hinter einer Luke im Dach, und so lange in den Nachthimmel gestarrt, bis ihr die Augen brannten. Die Astronomie wurde zu ihrer Leidenschaft. Es kommt noch heute vor, dass sie unerwartet vom Tisch aufsteht, auch wenn Gäste da sind, und sich mit den Worten verabschiedet: „Ich muss Sterne gucken!“

Freunde schütteln ungläubig den Kopf und wundern sich, dass sie sich von so etwas Romantischem, wie dem Sternenhimmel, in Bann schlagen lässt. Die Sterne seien einerseits etwas für Träumer, so mutmaßen sie, andererseits aber sei die Beschäftigung mit ihnen eine ebenso nüchterne Angelegenheit, wie die Sterne kalt seien. Abstraktes Denken sei erforderlich, ein mehrdimensionales geometrisches Vorstellungsvermögen und, um sich überhaupt solide mit Astronomie befassen zu können, ein naturwissenschaftliches Studium. Es erfordere ein hohes Maß an Ehrgeiz, wenn sie in die komplexen Theorien der Himmelssysteme einsteigen wolle.

Wenn Sabrina solche Äußerungen zu Ohren kommen, meint sie nur, vielleicht etwas vorschnell, dass sich die auftretenden Probleme bisher mit dem Computer immer hätten lösen lassen, so sie denn überhaupt zu lösen seien. Auf die Frage aber, warum sie sich mit einer solchen Vehemenz in die Materie gestürzt habe, antwortet sie lapidar, sie würde sich ansonsten zu Tode langweilen.

Beim Blick ins All laufen Sabrina heiße und kalte Schauer über den Rücken, bringen jeden Wirbel in Schwingung, vom Hals bis zum Steiß. Die faszinierende Schönheit der Sonnen, Monde, Planeten und Sterne in fernen Galaxien und Milchstraßen ruhen nur vermeintlich in sich selbst. All die Gestirne folgen nur scheinbar der Regelmäßigkeit vorgegebener Bahnen. In Sabrinas Teleskop machen sie Sprünge, kurven regellos durch die Unendlichkeit, hin und her, schlagen Purzelbäume und bilden Spiralen, stoßen aneinander, explodieren, versprühen einen bunten Funkenregen, erleuchten alles, was auf den ersten Blick finster erscheint, mit gleißendem Licht.

Die Welt, von der aus Sabrina ins All blickt, erscheint ihr als Heimat, zu der sie immer schon gehört hat, und zugleich als fremdes Land, das sich von der Unendlichkeit des Alls zu distanzieren versucht. Die Erde wechselt ständig ihr Kleid, um mit der Schönheit der Gestirne, zu deren Gattung sie gehört, Schritt halten zu können. Einerseits wetteifert sie mit ihren Geschwistern um die Gunst des Weltalls, das sie erzeugt hat, andererseits konkurriert sie mit ihnen, getrieben von Eitelkeit und Eifersucht, will sich den Titel „Krone der Schöpfung“ erstreiten. Von Jahreszeit zu Jahreszeit wechselt sie ihr Gewand und kokettiert mit dem angeblich privilegierten Platz am Rande der Milchstraße. Bescheidenheit sieht anders aus!

Sabrina sieht sich einer fragilen Welt ausgesetzt, die in ihrer Existenz bedroht ist. Selbst der berauschende Duft in Blüte stehender Linden, unter denen sie so gern sitzt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Holz dürr und spröde geworden ist, tot, und sie bald schon gefällt werden müssen. Es hat viel zu wenig geregnet im letzten Sommer, sodass der Grundwasserspiegel sank und die Bäume verdursten. Jagen erst einmal Herbststürme über das Land, brechen morsch gewordene Äste und zersplittern vertrocknete Stämme. Bäume, die ganz abgestorben sind, fallen samt ihren Wurzelstöcken quer über die Straße.

Manchmal beneidet Sabrina die Sterndeuter um ihre Kunst, für die sie ansonsten ganz und gar nichts übrighat. Nicht, weil sie naseweis in die Zukunft blicken wollte, sondern, weil sie es schlichtweg für notwendig erachtet, Ereignisse vorwegzusehen und vorwegzudenken, um die zerstörerischen Folgen der ausschließlich auf den augenblicklichen Hype gerichteten Lebensgewohnheiten rechtzeitig zu erkennen. Es geht nicht um irgendwelche Beiläufigkeiten, sondern um alles oder nichts. Die eigene Existenz steht auf dem Spiel, mehr noch aber die der Kinder- und Enkelgeneration. Erst die Vorwegnahme künftiger Entwicklungen macht die Konsequenzen menschlicher Lebensstile sichtbar und setzt Energien frei, um auf die Zukunft einzuwirken.

Wenn Sabrina die Entwicklung der Welt beobachtet, bewegt sie sich auf genauso dünnem Eis, wie Astrologen beim Deuten der Sterne. Der Wandel ist nur schwer abzuschätzen. Sie traut den Umfragen und Vorhersagen der Medien nur, wenn sie kritischen Fragen standhalten und zu ihren eigenen Erfahrungen passen. So manche klimatische Prognose aber sieht sie durch eigene Beobachtungen bestätigt: dass Insekten nicht mehr an der Windschutzscheibe des Autos kleben und sie zudem nicht mehr belästigen, dass kein Vogelgezwitscher sie mehr aus dem Schlaf weckt, Kinder keine Gelegenheit finden, im Schnee zu tollen, über Buckelpisten zu rodeln oder auf dem Dorfteich Schlittschuh zu laufen, dass alte und kranke Menschen in den Hitzeperioden des Sommers nach Atem ringen, es keine anhaltende Landregen mehr gibt, sondern nur noch plötzlichen Starkregen, der wiederum zu Überschwemmungen ganzer Landstriche und Dörfer führt.

Für Sabrina nimmt nicht nur der klimatische Wandel traumatische Züge an, sondern auch die technologischen Entwicklungen. Wie gefährdet ist ihr Alltag? Wenn plötzlich der Strom ausfiele, säße sie abends im Dunkeln, ohne Heizung und mit einem Kühlschrank, in dem das Essen verdirbt, sie könnte weder telefonieren noch angerufen werden, weder fernsehen noch am Computer arbeiten. Die Abende würden lang werden und das gesellschaftliche Leben lahmgelegt. An die Auswirkungen eines solchen Stromausfalls auf das Gesundheitssystem und die Wirtschaft darf Sabrina nicht einmal denken, geschweige denn an den Zusammenbruch der Produktion in Industrie und öffentlichem Verkehr.

Beschämt schaut Sabrina auf die vielen Jahre zurück, in denen sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte, wohin die klimatische und technologische Entwicklung führen würde. Ihr Lebensstandard hatte sie fest im Griff und ließ nur zögerlich ein Umdenken zu. Sie hatte es sich in ihrer warmen Stube bequem gemacht und die Füße hochgelegt. Nur manchmal, wenn sie die Zeit gar zu krass totschlug, fiel ihr auf, wie wütend sie auf sich selbst war. Noch jetzt spürt sie den Schmerz.

Heute blickt Sabrina voraus, auf Ereignisse, die auf sie zukommen könnten. Sie plädiert für ein Umdenken und beginnt bei sich selbst, holt im Herbst den Rechen aus dem Schuppen und häuft im Garten das Laub zu einem mächtigen Haufen an. Sie macht ihn winterfest und stellt sich dabei vor, wie er im nächsten Jahr erblühen wird. Die Leute lächeln darüber. Sabrina lächelt zurück und nimmt ihnen den Wind aus den Segeln.

Nichts mehr, wie es war

Die Euphorie, die Sabrina noch am Abend gezeigt hatte, ging über Nacht verloren. Zu Beginn des Jahres breitete sich, rund um den Erdball, ein Virus aus. „Coronavirus“ nannten es die Virologen, weil es das Aussehen einer Krone habe.

In Deutschland wurde die erste Erkrankung am Coronavirus im Betrieb eines Autozulieferers nahe München nachgewiesen. Der Mitarbeiter hatte an einer Schulung teilgenommen, zu der drei chinesische Gäste angereist waren, unter anderem eine Kollegin aus einem Werk in Shanghai. Der Infizierte hatte bei der Schulung mit der chinesischen Kollegin in einem Raum gesessen. Als bei ihm eine Atemwegserkrankung diagnostiziert wurde und der Verdacht auf eine sogenannte „chinesische“ Krankheit fiel, die sehr ansteckend sei, stellte die Firma den Mitarbeitern frei, eigenverantwortlich zu entscheiden, ob sie ihrer Arbeit im Homeoffice nachgehen oder weiterhin in der Firma präsent sein wollten.

Je weiter sich die ansteckende Krankheit ausbreitete, desto mehr reagierte die Bevölkerung mit Angst. In Nachbarländern, wie Spanien, Portugal, Italien, Frankreich und später auch England wütete das Virus in erschreckender Weise. Filmaufnahmen zeigten, wie Leichen mit Hebebühnen in Container geladen wurden.

Sabrina war mit der Krankheit zunächst nicht direkt konfrontiert, bekam deren Auswirkungen dennoch hautnah zu spüren. Ihre alleinstehende Tante, eine gebrechliche Seniorin, wurde zu eben dieser Zeit, wegen eines Oberschenkelhalsbruchs ins Krankenhaus eingeliefert, durfte dort aber, wegen der hohen Ansteckungsgefahr mit dem Virus, nicht besucht werden. Sabrina suchte sie über die Station per Mobiltelefon zu erreichen. Es gab kein Durchkommen. Endlich, am dritten Tag, erbarmte sich eine Krankenschwester und vermittelte einen kurzen telefonischen Kontakt. Die Tante lag weinend im Bett, zusammen mit zwei dementen Frauen und wartete auf die Operation, die bereits mehrfach verschoben worden war.

Die Pandemie war ins Bewusstsein der Menschen eingeschlagen, wie ein Blitz in einen alleinstehenden Baum. Ein langes Grollen und Grummeln hallte nach und schien nicht aufhören zu wollen. Die Pandemie war nicht mehr zu leugnen und ihre Folgen nicht mehr zu übersehen. Würde es jemals gelingen, das Virus zu bezwingen? Sein plötzliches Auftreten war nicht vorhersehbar gewesen, und niemand besaß ein Mittel, um gegen es vorgehen zu können.

*

Über Nacht hatte das Virus die Welt umgekrempelt. Völlig unerwartet. Die Lebensumstände der Familien waren auf den Kopf gestellt, die Art zu denken und Probleme anzupacken.

Mit großer Umsicht beobachtete auch Robert, was um ihn vorging, suchte zu hinterfragen, was ihm fremd vorkam und er nicht in seine Art, die Welt zu betrachten, einordnen konnte. Er wurde zunehmend ängstlich und betrachtete alles, was auf ihn zukam, mit Argusaugen. Unsicher setzte er Fuß vor Fuß, als wolle er bei jedem Schritt abwägen, ob ihn der Boden unter ihm tragen könne. Allein gelassen von seiner Frau, wurde ihm die Zeit lang, die Brust eng, der Alltag unerträglich. Ein intensives Gefühl der Verlorenheit nahm ihm den Atem.

Die Beklemmung wurde durch die Mund-Nasen-Maske verstärkt, die er zum Schutz vor einer Infektion tragen musste. Passanten, denen er begegnete, trugen ebenfalls Masken, und wenn ihm einmal ein Gesicht entgegenkam, das nicht geschützt war, wichen sie sich in weitem Bogen aus. Auch die Nachbarn und zufällige Bekanntschaften, bei denen er immer ein Weilchen stehen geblieben war, um einige Worte zu wechseln, wichen ihm aus und gingen auf die andere Straßenseite. Fußgängerzonen und Geschäftsstraßen waren leergefegt, kaum ein Fußgänger unterwegs, nur einzelne Radfahrer und einige wenige Autos. Eine gespenstische Szenerie.

Ähnliche Szenarien flimmerten Tag für Tag über die Bildschirme und wurden in allen Medien ausgebreitet. Dass eine Katastrophe solchen Ausmaßes über das Land herfallen könnte, hätte sich vor wenigen Tagen noch niemand vorstellen können.

Wer kümmerte sich jetzt noch um die Kranken, Behinderten und Notleidenden? Achtete die Menschen die Würde der anderen auch dann noch, wenn sie selbst in Not geraten waren? Konnten sie weiterhin auf ihre Rechte pochen, sie einklagen? Robert staunte, als er beobachtete, wie in seinem nächsten Umfeld viele Menschen näher zusammenrückten, sich gegenseitig stützten und bei der Bewältigung ihres Alltags halfen.

Andererseits machte das Virus die drohende Klimakatastrophe vergessen und bewirkte, dass die persönlichen Konsequenzen, die jeder Einzelne zu ziehen gehabt hätte, aber auch die dringend notwendigen Entscheidungen, die von der Politik zu fällen gewesen wären, in den Hintergrund rückten. Wer dachte jetzt noch an den Erhalt der Arten von Pflanzen und Tieren?

Robert gingen tausend Fragen durch den Kopf. Würden Luxus und Konsum noch denselben Stellenwert einnehmen wie in der Zeit vor Corona? Würden die Reichen durch das Virus immer noch reicher werden und die Armen immer noch ärmer? Würden sich in einer völlig veränderten Welt noch lebenswerte Perspektiven eröffnen lassen, für alte Leute, Behinderte, Geflüchtete und Außenseiter? Würde er, ein gemeines Mitglied der Bevölkerung, noch genauso wenig mitreden dürfen, bei der Vertretung der eigenen Interessen, wie bisher? Würden Gerechtigkeit und Solidarität noch eine Chance haben? Letztlich stellte sich ihm die Frage nach dem Erhalt und der Weite seines Freiheitsspielraums.

*

Ihre drei Kinder bedeuteten für Anne und Robert, trotz aller Mühe und dem Ärger, den sie natürlich auch verursachten, ein Glückgefühls, auf das sie für nichts in der Welt verzichten wollten. Für sie lohnte es sich, zu leben. Ihr Aufwachsen zu begleiten und zu beobachten war eine Sache, eine andere, nicht weniger spannend, als aus den Kindern Jugendliche und junge Erwachsene wurden, das Loslassen auf dem Weg in eine unsichere Welt. Die Euphorie der Kinder bei der Entlassung in die Freiheit und Selbständigkeit wurde von Seiten der Eltern als Verlust empfunden, auf Grund ihrer Lebenserfahrung Einfluss zu nehmen auf Entscheidungen oder gute Ratschläge. Die frei gewählte Möglichkeit, für Kinder Verantwortung zu übernehmen, die ihr Leben über viele Jahre bestimmt hatte, ging Stück für Stück verloren und damit ein Stück ihres Lebenssinnes.

Kirsten, die älteste, war immer schon Roberts Ein und Alles gewesen. Sie genossen es, Zeit zusammen zu verbringen, durch kalte Bäche zu waten, im Gras einer Wiese zu liegen und sich der Ameisen zu erwehren, die über Arme, Beine und Gesicht krochen, dem Zirpen der Grillen zu lauschen oder den Hummeln, die um die Nase brummten. Kirsten fielen ausgefallene Frage ein, zum Beispiel „Papa, wer wärst du eigentlich, wenn du einen anderen Namen hättest?“ Oder ein andermal forderte sie seine ganze Aufmerksamkeit heraus, als sie Walderdbeeren pflückten, „die schmecken aber salzig“. Robert widersprach und meinte, sie seien zuckersüß. Da antwortete sie: „Wie willst du wissen, dass ich dasselbe schmecke, wie du?“ Robert war sprachlos und wusste nicht, was er antworten sollte. Einmal saßen sie am Waldrand, die Dunkelheit brach schon herein, als Kirsten fragte: „Warum fallen die Sterne nicht herunter?“ Und als Roberts Mutter starb, schmiegte sich Kirsten an ihn und fragte, „Warum müssen Menschen sterben?“ Ein Wort ergab das andere, der Beginn langer Gespräche.

Als Kirsten heranwuchs, sich vom Elternhaus löste und ihre eigenen Wege ging, verschloss sie sich mehr und mehr gegenüber dem Vater. Er bekam vieles nicht mehr mit und erfuhr nur durch Zufall, dass sie sich auf eigenartige Freundschaften eingelassen hatte. Als sie mit ihrem Studium begann, stellte sie Robert