Mel – Wächterin der Dämonen - Laura Cardea - E-Book
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Mel – Wächterin der Dämonen E-Book

Laura Cardea

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Beschreibung

»Ich habe jede einzelne Sekunde des Lesens geliebt.« »Super fesselnd, hab es in einem Rutsch durchgelesen.« »Wow, was für ein Debüt. Ich bin immer noch total geplättet, wie mega dieses Buch geschrieben ist.« »Unbedingt lesen! (Leserstimmen auf Amazon) **Pass auf, in wen du dich verliebst!** Mel ist die jüngste von drei Drillingsschwestern und war schon immer das schwarze Schaf in der Familie. Daher ist das Erstaunen groß, als ausgerechnet ihr, der chaotischen Kunststudentin, das alte  Haus ihrer Großmutter vererbt wird. Doch an dieses Vermächtnis ist eine Bedingung geknüpft, die Mel in eine gefährliche Welt voller Dämonen und Geister führt. Eins dieser übernatürlichen Wesen ist der unergründliche Juri, der auf magische Weise an das Murkwood-Anwesen gebunden ist. Obwohl er ihr das Leben mehr als schwer macht, übt er eine Faszination auf Mel aus, der sie sich kaum entziehen kann…   Mit ihrem Debütroman gewann Laura Cardea den ersten Platz bei der Schreibchallenge »Schreib mit Dark Diamonds« auf Sweek. Mit ihrem hinreißenden Fantasy-Roman schrieb sie sich direkt in alle Juryherzen: »Raffiniert, rasant und romantisch – nicht nur die Story, auch ihre überaus sympathische Protagonistin hat uns von der ersten Seite an für sich eingenommen.« //Dies ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Seitenzahl: 543

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Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Laura Cardea

Mel – Wächterin der Dämonen

Mel ist die jüngste von drei Drillingsschwestern und war schon immer das schwarze Schaf in der Familie. Daher ist das Erstaunen groß, als ausgerechnet ihr, der chaotischen Kunststudentin, das alte Haus ihrer Großmutter vererbt wird. Doch an dieses Vermächtnis ist eine Bedingung geknüpft, die Mel in eine gefährliche Welt voller Dämonen und Geister führt. Eins dieser übernatürlichen Wesen ist der unergründliche Juri, der auf magische Weise an das Murkwood-Anwesen gebunden ist. Obwohl er ihr das Leben mehr als schwer macht, übt er eine Faszination auf Mel aus, der sie sich kaum entziehen kann …

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Vita

Danksagung

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© privat

Laura Cardea wurde seit ihrer Kindheit dazu ermahnt, nicht so viel zu träumen. Statt darauf zu hören, tauchte sie immer wieder in neue Bücherwelten ein. Irgendwann reichte ihr das Lesen nicht mehr und sie erträumte sich eigene Welten. Das Schreiben von Geschichten zieht sich seitdem durch ihr Leben. Neben dem Schreiben studiert sie Medien- und Kulturwissenschaften und arbeitet als freiberufliche Mediendesignerin sowie Bloggerin.

Für Mini,

die mehr an dieses Buch geglaubt hat,

als die Geister des Murkwood-Anwesens

sich ans Diesseits klammern.

KAPITEL 1

»Warum, zur Hölle, hat Großmutter das Murkwood-Anwesen an Melpomene vererbt?« Kalliope, die Älteste von uns Drillingsschwestern, starrt mich mit offenem Mund an. Sie studiert Physik und hat immer das Bedürfnis, jede Kleinigkeit zu hinterfragen.

»Kalliope!«, ruft Thalia, meine andere Schwester. »Achte auf deine Wortwahl!« Sie tippt mit ihren perfekt manikürten Nägeln auf den Holztisch.

Meine Schwestern fluchen so gut wie nie, und wenn es jemand schafft, das perfekte Bild einer selbstbestimmten, erfolgreichen Frau zu erreichen, sind es die beiden. Ich habe keine Ahnung, wie sie bei der Erziehung unserer Mum solche Vorzeige-Exemplare werden konnten.

»Thalia!«, ahme ich sie affektiert nach. »Iss bitte auf, bevor du sprichst. Dieser Frühstücksbrei ist so schon eklig genug, niemand will ihn halb zerkaut in deinem Mund sehen. Und zum millionsten Mal: Nennt mich nicht Melpomene.«

Nur Mum konnte es schaffen, beim Standesamt derart lächerliche Namen durchzubekommen. Hat vermutlich die Mitarbeiter dort mit ihrem Edelsteinpendel hypnotisiert, bis sie ihr erlaubten, uns nach drei griechischen Musen zu benennen. Oder die Leute dort wollten die Frau, die so wirkte, also könne sie stundenlang einen Monolog über den spirituellen Nutzen eines inspirierenden Namens halten, schnellstmöglich loswerden.

Mum schnalzt mit der Zunge, während sie sich über mich beugt, um ein Räucherstäbchen auf den Tisch zu stellen. Patschuli. Sie will mich schon frühmorgens mit dem schlimmsten aller Esoterikdüfte quälen. »Haferspelz ist unfassbar gesund für deine Verdauung, mein Schatz.«

Sie ignoriert mein theatralisches Würgen, dann wendet sie sich Kalliope und Thalia zu.

»Und, Thalia, in dieser Familie darf die Kommunikation frei fließen. Wenn Kalliope das Bedürfnis hat zu fluchen, ist das ein völlig legitimer Ausdruck ihrer Gefühlswelt.«

Seufzend blende ich die Diskussion von Mum und meinen Schwestern aus. Über den Brief meiner Großmutter gebeugt schaufle ich den Rest Ökomüsli in mich hinein. Es klebt an meiner Zunge wie trockene Pappe, trotz Agavensirup und Mandelmilch, und es fällt mir schwer zu schlucken. Für einen Donut würde ich töten. Aber dann würde Mum in Tränen ausbrechen. Nicht wegen der moralischen Bürde, die auf mir lasten würde, sondern weil Zucker für sie die Ausgeburt der Hölle ist. Sie erlaubt uns so gut wie alles, egal ob Piercings, laute Musik, Kunststudium, Gras oder – ihr Lieblingsthema – selbstbestimmte Sexualität. Urgh. Aber wehe, wir halten uns nicht an ihren ganzheitlichen, chakraleitenden Ernährungsplan.

Niemand aus meiner Familie kann glauben, dass meine Großmutter mir das Anwesen vererbt hat. Obwohl sie eine unfassbar seltsame Frau ist, die seit jeher darauf besteht, von uns Muriel genannt zu werden, und immer in schwarzen wallenden Spitzengewändern umherwandelt. Aber mir das Anwesen zu vererben ist sogar für sie einen Tacken zu verrückt. Besonders weil sie noch nicht einmal gestorben ist.

»Können wir jetzt bitte auf das Anwesen zurückkommen?«, beschwert sich Kalliope. »Was hat sie sich dabei gedacht?«

»Ich muss zugeben, dass das superseltsam ist.« Thalia grapscht nach dem Brief, bevor ich ihn festhalten kann. »Oder hat einer von euch jemals das Gefühl gehabt, Großmama könne Melpomene gut leiden? Und diese kryptischen Sätze: ›Du wurdest geboren, um dieses Haus zu säubern, Melpomene.‹ Mel scheitert schon daran, ihr eigenes Zimmer aufzuräumen. ›Es ist an der Zeit, dass dieses Haus dir deinen Weg zeigt.‹ Ich meine, wieso beauftragt sie nicht mich damit, die Bruchbude auf Vordermann zu bringen? Immerhin studiere ich Innenarchitektur. Mel hingegen hat den Geschmack einer Siebzehnjährigen in ihrer Punkrock-Phase.«

Man könnte meinen, meine Schwestern gönnten mir das Erbe nicht. Aber was sie sagen, ist schlicht und ergreifend die Wahrheit. Es ist leicht, sie auf den ersten Blick für aufgesetzte Cheerleader-Typen zu halten, aber ich weiß es besser. Mich kann niemand mit vorgespielter Freundlichkeit täuschen, denn seit ich klein war, sehe ich die Auren anderer Menschen. Um die beiden fließen meistens tropisch blaue Wellen. Wohltuend, heiter, klar. Ich sehe auch jetzt keine Tentakel im trüben Grün der Missgunst, die nach mir und meinem Erbe tasten. Nur einige Funken neugieriges Orange, die versuchen das Geheimnis um Muriels Brief zu verstehen.

»Wenn du magst, helfen wir dir dabei, das Anwesen zu renovieren. Dann kannst du es vermieten und von den Einnahmen deine Kunst finanzieren«, schlägt Kalliope vor. Dann schaut sie schuldbewusst drein. »Bis du von deiner Kunst leben kannst, natürlich. Wir glauben echt an dich!«

Ich stöhne auf. Diese Zuversicht der beiden hätte ich manchmal auch gern. Meistens nervt sie mich aber nur. Wir sind Drillinge, aber nur Kalliope und Thalia ähneln sich. Das war schon immer so. Beide tragen ihr rotblondes Haar kurz geschnitten, was die Instyle als Pixiecut beschreibt und unsere Mum als »flippig-frechen Kurzhaarschnitt«. Meins reicht bis zu meinen Schulterblättern, ist kaum zu bändigen, und seit ich denken kann, färbe ich es mit Mums Hennafarben dunkelrot. Ich fange gar nicht erst von unseren Persönlichkeiten an. Kalliope und Thalia sind Hanni-und-Nanni-Material. Ich bin eher wie eine der Olsen-Schwestern in diesem Film über die ungleichen Zwillinge. Was in Ordnung wäre, wenn wir einfach zwei unterschiedliche Zwillinge wären. Aber das schwarze Schaf von Drillingsschwestern darzustellen, ist ganz schön ätzend. Und ich kann ihnen nicht einmal böse sein. Nicht, wenn sie mich so breit anlächeln – ohne einen Hauch von Missgunst.

»Ich rede zuerst mit Muriel«, beschließe ich und springe vom Stuhl auf. Also ziehe ich Thalia den Brief aus den Händen, stopfe ihn in meinen Lederrucksack – Fake-Leder, denn sonst würde Mum mich umbringen und aus meiner Haut eine Tasche klöppeln – und stampfe aus der Küche.

***

Das Haus von Muriel – das, in dem sie lebt, nicht das modernde Murkwood-Anwesen – ist den meisten ein Dorn im Auge. Zwischen den weißen stromlinienförmigen Bungalows der Neureichen hält ihre Villa aus Ebenholz und gusseisernen Zäunen wacker dem Verfall stand. Die Nachbarn haben vor ein paar Jahren alles versucht, um die Villa abreißen zu lassen, aber Muriel hat vertrocknetes Unkraut vor deren Haustüren geworfen und sie ziemlich überzeugend verflucht. Seitdem ist Ruhe.

Ich kämpfe mich durch den überwachsenen Weg zu ihrer Haustür und nutze den Türklopfer. Sie hasst Klingeln. Keinen Atemzug später starrt mich ihr hageres Gesicht durch den Türspalt an, als hätte sie auf mich gewartet.

»Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man nicht unangekündigt vor der Tür anderer Leute auftaucht?« Sie öffnet die Sicherheitskette und lässt mich herein.

»Meine Mutter hat mir beigebracht andere zu grüßen«, murmle ich. Ich weiß, dass sie mich mit ihren viel zu guten Ohren hört, aber ich kann mir den Kommentar nicht verkneifen.

»Tritt nicht auf das Salz!«, keift sie, während sie in Richtung Salon stöckelt. Ich schaue nach unten, wo ich mit meinen Stiefeln direkt auf der Salzspur stehe, die sie in einem Halbkreis um die Tür gestreut hat. Hastig hocke ich mich hin und schaufele die Lücke im Salz wieder zu. Also besteht Muriel immer noch darauf, ihre Villa vor Dämonen zu schützen. Mit Salz. Einem Würzmittel.

Ich folge ihr seufzend in den Salon. Das wird nicht einfach.

Wenn Muriel einen Einrichtungsstil im Sinn hatte, der Vampirversteck schreit und bei dem sich die Fußnägel kräuseln, war sie erfolgreich. Ich habe nichts gegen düster, ganz im Gegenteil, aber Muriel übertreibt es. An blutroten Damast-Tapeten hängen Gemälde von blassen Aristokraten, bei denen ich mir sicher bin, dass sie keine Vorfahren von uns sind. Auf dem schwarzen Marmorkamin mit den verschlungenen Verzierungen sammelt Muriel Tierschädel, Federn, getrocknete Rosen in Glasglocken und dicke Bücher mit Ledereinbänden. Ich nehme auf der Chaiselongue gegenüber meiner Großmutter Platz, die mit ihrem schwarzen Spitzenkleid und dem ebenfalls schwarzen Schlapphut im dunklen Ohrensessel versinkt. Ihre spindeldürre Hand umklammert die Armlehnen. »Ich habe nicht viel Zeit für deine unbedeutenden Fragen, Kind«, beginnt sie ohne Umschweife.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Wieso? Planst du ein Bankett für deine zahlreichen Freunde?«

Einen Moment lang starrt sie mich aus ihren milchig blauen Augen an, ohne eine Regung zu zeigen. Sie hasst meinen Sarkasmus. Wenn ich es mir recht überlege, hasst sie eine ganze Menge an mir. Aber das nehme ich mir nicht zu Herzen, da sie so ungefähr alles und jeden hasst. Dann schweift ihr abschätziger Blick über mich – von Kopf bis Fuß. »Deine Mutter wieder zu beschäftigt, um dir eine vernünftige Garderobe einzurichten?«

»Es ist ein wenig zu spät, um mich in hübsche Kleidchen zu zwängen. Ich bin erwachsen.«

Ihr Blick bleibt an meinen zerrissenen Strumpfhosen hängen. »Ganz genau. Fast einundzwanzig und läufst immer noch in diesem groben Flickenzeug herum.« So schlimm, wie Muriel es darstellt, kleide ich mich gar nicht. Gut, meine Stiefel haben bessere Zeiten gesehen und ich verstehe, warum eine alte Dame beim Anblick meines Bandshirts und Secondhand-Männerparkas nicht in Verzückung gerät. Aber alles, was ich trage, ist sauber und bedeckt jede kritische Stelle.

Ich zerre den mittlerweile arg zerknitterten Brief aus meiner Tasche. »So schön ich es auch finde, dass du endlich Gefallen an unverfänglichem Small Talk hast, bin ich nicht hier, um nette Konversation zu betreiben.« Ich knalle den Brief auf den Tisch. »Was ist das?«

Ihr Blick bohrt sich in das Papier. »Ein Brief.«

Ich werfe die Hände in die Luft. »Ist das dein Ernst, Muriel? Du schickst mir einen ominösen Brief mit noch ominöserer Nachricht und rückst jetzt nicht mit der Sprache raus, was das soll?«

»Das Anwesen ist eine Bürde unserer Familie, die ich nun nicht länger tragen muss.« Muriel steht auf und tätschelt die Buchrücken in einem Regal, das auf Greifklauen steht.

»Muriel? Wie hoch ist die Hypothek auf der Bruchbude?«, frage ich argwöhnisch. Keiner weiß, wie sie ihren eklatanten Lebensstil finanziert. Ich befürchte, ich bin dem Geheimnis auf die Spur gekommen.

»Auf dem Murkwood-Anwesen liegt keine Hypothek. Aber morgen ist dein einundzwanzigster Geburtstag und bisher hast du in deinem Leben nichts erreicht. Ich möchte, dass du das nächste Jahr nutzt und dich um das Anwesen kümmerst.«

»Ich glaube, Thalia wäre die bessere Wahl, wenn –«

»Nein!«, dröhnt Muriel, ihre Aura wie Gewitterwolken um ihre Silhouette. »Es ist deine Aufgabe. Dein Schicksal.«

Ich schrecke zurück. Trotz ihrer ruppigen Art leuchtet ihre Aura meist wie ein silberfarbener Nimbus, wabert in langsamen, friedvollen Bewegungen um sie herum. Dieser Ansturm von dunklen Wolken und knisternden Blitzen ist neu. Ich habe keine Anleitung, was die Aurafarben- und formen bedeuten, aber das hier ist ziemlich eindeutig.

Dann zerrt sie eine Holzschatulle aus dem Bücherregal, die sie vor mich auf den Tisch stellt. Ihre Aura legt sich wieder, zieht sich zurück zu regengeschwängerten Wolken, und ich atme aus. Muriel öffnet den Deckel und zieht einen gefalteten Stapel Pergament hervor. Doch ich kann nur auf die kleinen Fässchen starren, die darunter zum Vorschein kommen. Farben.

»Das hier ist ein Vertrag und die Urkunde der Grundrechte am Murkwood-Anwesen.« Sie faltet die Papiere vor mir auf, doch mein Blick ist immer noch auf die Farben gerichtet. Bis sie den Deckel zuschlägt und ich hochschrecke. »Ich möchte, dass du dich ein Jahr lang um das Anwesen kümmerst. Für das Jahr werde ich dich finanziell reichlich entlohnen. Dann gehört das Anwesen dir und du kannst damit tun und lassen, was du willst.«

»Und wenn ich es abreißen lasse?«

»Mir soll es gleich sein. Solange du das Haus vorher reinigst.« Sie beharrt auffallend stark auf dieser Reinigung. Argwöhnisch werfe ich einen Seitenblick auf die Staubschichten, die jedes ihrer Möbelstücke überziehen. Meine Vermutung, dass Muriel nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, verdichtet sich.

»Danke, kein Interesse. Falls du es vergessen hast, nicht nur Kalliope und Thalia studieren. Auch wenn du Kunst nicht als Studium empfindest. Ich kann mich wirklich nicht …« Meine Gedanken schweifen ab, weil Muriel die Farbgläschen aus der Schatulle holt.

»Außerdem wird das in deinen Besitz übergehen, wenn du deine Aufgabe erfüllst.«

Ich verenge meine Augen, um im schummrigen Salon besser sehen zu können. Auf vergilbten Schildern stehen Wörter in alter Schnörkelschrift. »Ist das …?«

»Reines Lapislazuli-Pigment. Hundert Gramm. Dein Großvater hat es kaum benutzt.«

»Hundert Gramm? Das ist unbezahlbar!« Ich strecke meine Hände nach dem Glas aus. Selbst im Dunkeln des Salons strahlt der Inhalt tiefblau. Das Pigment muss fast zweitausend Dollar kosten. Aber das andere Glas mit seinem reinweißen Inhalt … »Du hast nicht ernsthaft ein Glas mit Bleiweiß? Das ist hochgiftig! Und für Privatpersonen verboten«, empöre ich mich. Aber das toxische Pigment zieht mich magisch an. Wie wäre es, damit zu malen? Das Lichtspiel, das ich auf eine Leinwand bringen könnte …

»Beides gehört in einem Jahr dir. Wenn du das Murkwood-Anwesen reinigst.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, obwohl meine Entscheidung schon gefallen ist. Das Lapislazuli-Pigment könnte ich mir irgendwann selbst leisten. Aber Bleiweiß ist nur unter strengen Auflagen für die Restauration alter Gemälde erhältlich. Niemand malt mehr damit.

»Alles klar, ich putze deine baufällige Gefahrenzone. Wo muss ich unterschreiben?«

Muriel reicht mir einen Füllfederhalter, dessen Spitze auf dem Pergament kratzt und mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.

***

Ich schaue nach draußen und bekomme einen Schock. Meine Schwestern und Mum bauen den halben Garten mit Partygarnituren zu, sodass nichts mehr von Mums Heilkräuterbeet zu sehen ist. »Wie viele Menschen habt ihr eingeladen?«, schreie ich aus meinem Fenster im Dachgeschoss.

»Dir auch alles Gute zum Geburtstag, Schlafmütze«, ruft Kalliope zurück. Thalia wirft mir Kusshände zu, die ich mit einer rüden Geste quittiere. Meine Schwestern brechen in Gelächter aus und lassen eine Bank auf Mums Fuß fallen. Anstatt vor Entsetzen zu brüllen, atmet sie ihren Schmerz in sich hinein, so wie sie es in ihrer Glückssekte gelernt hat. Ihr Gesicht läuft blau an, die Atemtechnik scheint also nicht sonderlich von Erfolg gekrönt zu sein.

Ich ziehe meinen Kopf rein und bahne mir einen Weg durch mein Zimmer. Meine Möbel vom Flohmarkt versinken unter Klamotten und an jeder freien Fläche drängen sich Leinwände. Leinwände, die ich seit Wochen nicht mehr angerührt habe. Ich trete gegen eine leere Flasche Acrylfarbe, die unter mein Bett schlittert. Keine Ahnung, wieso ich nicht mehr malen kann. Ich hab es auch mit Töpfern, Zeichnen, Modellieren und Mums aktuellem Hobby, für das sie einige Jahre zu spät dran ist – Window Color – probiert. Nichts. Außer dass unser Küchenfenster jetzt aussieht wie ein Kirchenfenster. Ich ziehe in Erwägung, eine Miniaturversion der Sixtinischen Kapelle an die Decke zu bringen, aber bei Mums Kochkünsten würden ihre Kräuterdämpfe und Seitan-Gebräue mein Kunstwerk in wenigen Wochen zerstören.

Ich zerre wahllos ein T-Shirt aus dem Kleiderschrank, eines von denen, auf die ich eigenhändig Bandlogos gemalt habe, und eine von Mums Karohosen aus den Achtzigern. Obwohl draußen die ersten Sonnenstrahlen über die Baumkronen blitzen, werfe ich mir einen ausgeleierten Cardigan über. Es sieht nach einem sonnigen Tag aus, doch ich spüre, dass sich das Wetter wenden wird. Das werde ich vor meinen Schwestern geheim halten, weil sie es gruselig finden, wenn ich so was völlig grundlos behaupte. Und recht behalte.

Dann krieche ich die Holztreppe hinab, bei der ich jeden Moment Angst habe, dass sie einstürzt. Ich beschwere mich oft, aber eigentlich mag ich unser Haus. Es sieht aus wie eine Mischung aus Gewächshaus, Orientzelt und Antiquitätenladen. Und überall hängen, stehen und liegen Mums mythologische Artefakte. Niemand, der sie sieht, würde sie für eine der renommiertesten Mythologie-Professorinnen Amerikas halten. Die meisten tippen auf Waldorflehrerin, Hellseherin oder professionelle Hanfzüchterin. Selbst ich halte es für einen Scherz, dass sie unseren Vater, Muriels Sohn, während einiger Semester Jura kennengelernt hat.

In der Küche rührt Kalliope in einem riesigen Emailletopf. Bei meinem Anblick lässt sie den Holzlöffel in den Topf fallen, zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute, kleine Schwester.«

Ich reibe mir über die Wange. »Wir sind Drillinge, ich bin haargenau so groß wie du.«

»Aber du bist die Jüngste von uns«, flötet sie und wendet sich dem Topf zu.

Es riecht nach Pizzasuppe und mein Magen knurrt. »Tante Mathilda hat aus den Neunzigern angerufen, sie will ihr Rezeptbuch zurück«, necke ich und grinse.

»Das ist einfach die beste Suppe. Wenn du lieber eine fancy Quinoa-Superfoodsuppe willst, bitte. Die Küche ist groß genug.«

»Du machst das schon«, säusle ich und verschwinde schnell durch den Wintergarten nach draußen.

Mum und Thalia decken die Tische. Sie haben sich für ein Bohemian-Motto in Weiß entschieden und wickeln Feenlichter um lange Äste. »Mel, wie viele Gäste kommen für dich? Wir wissen nicht, ob wir noch einen Tisch mehr brauchen«, ruft Thalia.

»Lass mich überlegen. Mit mir müsste es etwa …«, ich lege meine Finger in Denkerpose an mein Kinn, »eine Person sein.«

»Tu nicht so, als hättest du keine Freunde.« Sie bewirft mich mit einem weiß lackierten Tannenzapfen, den ich abwehre.

»Du weißt, dass das hier nicht so ihr Ding ist.«

»O bitte. Ich weiß mit Sicherheit, wie sehr Viper so was mag. Erst vorgestern hab ich sie im Sugar Slice gesehen. Hat sich einen winzigen Cupcake reingehauen.«

»Niemals!«, rufe ich lachend. Keiner würde meine beste Freundin Viper in einem pastellfarbenen Café erwarten.

»Pink Sprinkles Cupcake mit Zimt-Latte. Ich schwöre es!«

Viper ist das genialste Mädchen, das ich kenne. Seit der neunten Klasse trägt sie ausschließlich Smaragdgrün und gibt einen Scheiß darauf, was andere denken. Es würde genau zu ihr passen, sich in einen Cupcake-Laden zu setzen, um anderen Kunden einen Schrecken einzujagen. Oder weil sie einfach Hunger auf zuckersüßes Gebäck hat. Vermutlich beides.

»Sie und Larkin kommen später, wir wollen Pizza essen und ins Kino gehen.«

Thalia lässt die Schultern hängen, und Schuldgefühle kitzeln eine Stelle hinter meinem Herzen. »Hast du so wenig Lust, mit uns zu feiern?«

»Hey, ich bin den ganzen Tag hier, mit Kuchen, Topfschlagen, Geburtstagsliedern und allem, was dazugehört«, versuche ich zu schlichten. »Danach brauche ich was zum Ausgleich. Du weißt, es liegt nicht an euch. Aber ich kann mir nicht den ganzen Abend eure Collegefreunde antun.«

Thalia seufzt. Dann grinst sie. »Na ja, ich weiß von einem meiner Collegefreunde, den du nicht ganz so ätzend findest.«

Ich zwicke sie in die Seite. »Warum fangt ihr immer wieder von Cole an? Nur weil ich einmal gesagt habe, dass er nicht ganz so ätzend ist wie die and…«

»Interessant, dass du sofort an Cole gedacht hast.« Ihr Grinsen wird noch breiter.

Mum eilt zu uns, so schnell es ihre Gesundheitslatschen zulassen. Ihre rotblonde Mähne weht hinter ihr her, verwirbelt sich mit ihrer herbstfarbenen Aura. »Es gibt Neues über Cole?«

»Mum!«, rufe ich.

»Ich habe zwischen euch beiden schon lange diese Energiefelder gespürt! So wie bei mir und meinem Horst. Fühlst du auch diese magische Anziehungskraft seiner männlichen Energie?«

»MUM!«, rufen Thalia und ich zusammen und klatschen uns die Hände auf die Ohren. Wenn Mum sich erst mal über ihren aktuellen Liebhaber in Fahrt redet, kennt sie kein Halten mehr. Und keine Grenzen. Wir alle wissen deutlich mehr über Horsts männliche Energie, als irgendjemand wissen sollte.

»Ich sage ja nur … Wenn du eine Verbindung spürst – und selbst wenn sie nur körperlicher Natur ist –, solltest du deiner Seele keine Zügel anlegen!«

Ich stöhne und stampfe zurück in die Küche.

***

Später am Nachmittag drückt das nahende Gewitter auf meine Schultern, während alle anderen Gäste ihre Arme in der Herbstsonne rekeln. Die Freunde meiner Schwestern, die mit an unserem Tisch sitzen, werfen meinem Cardigan skeptische Blicke zu. An meinen Stil sind sie halbwegs gewöhnt, aber nicht daran, dass ich bei strahlendem Sonnenschein dick angezogen herumlaufe. Die Blicke sind nichts Neues. Trotzdem nervt es.

»Ihr habt so wunderschön dekoriert«, jauchzt Ina, eine Kommilitonin von Thalia, die immer wieder versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl wir absolut nichts gemeinsam haben. Um sie herum sprühen rosa Blüten und ich bin mir nicht sicher, ob das ihre Aura oder ihr penetrantes Rosenparfüm ist, das mich halluzinieren lässt.

»Ich arbeite neben dem Studium als Wedding-Planerin«, witzle ich schulterzuckend.

»Wow, das ist ja Wahnsinn! Toll, das hätte ich nie gedacht!«

Sie nimmt mich wirklich ernst. Mit aller Kraft umklammere ich meine Gabel, um mir nicht an den Kopf zu greifen. Den Monolog über ihre Traumhochzeit blende ich aus. Interessiert mich wirklich null, welche Taubenrasse sie sich wünscht und neben wen sie ihren schwierigen Cousin Tommy setzen möchte.

Stattdessen versuche ich mich aus Coles Blickfeld zu winden, aber zu spät. Er hat mich entdeckt und schlendert in seinen nervigen Chinohosen auf mich zu. Wenn er doch nur nicht diese verdammten schwarzen Haare hätte. Die lassen mich, trotz Poloshirt und Quarterback-Grinsen, schwach werden. Und seine tiefgelbe Aura, die mich an die Ruhe und Inspiration beim Malen erinnert. Für einen kurzen Moment plane ich meine Flucht unter dem langen Tisch entlang, entscheide mich aber, das Treffen über mich ergehen zu lassen.

»Hey, Mel. Nette Party.« Cole lehnt sich an den Tisch neben mir, bis Thalia grinsend aufspringt und etwas von neuer Bowle faselt. Er zögert nicht, sich ihren Platz zu schnappen.

»Ich hab Ina schon erzählt, dass meine Leidenschaft der Hochzeitsplanung gilt.«

Cole lacht. Immerhin begreift er, wenn ich Witze mache. Und seine Aura strahlt heller, während er lacht. Ich zwinge meine Wangen, nicht rot anzulaufen.

»Schön zu sehen, wie sehr du in eurem Motto aufgehst«, sagt er und deutet auf die in Weiß und Creme gekleideten Gäste, dann auf meine schwarz-rote Kleidung.

Jetzt muss ich grinsen. »Meine Schwestern wissen, dass sie mich niemals in etwas Weißes zwängen können. Ich habe eine Sondererlaubnis für schlechten Geschmack.«

»Ich mag deine Klei…«, beginnt er, doch Thalia unterbricht ihn und wirft von hinten ihre Arme um mich.

»Vielleicht sehen wir Mel ja eines Tages im weißen Hochzeitskleid!« Ich spüre die Wimpern ihres zwinkernden Auges an meiner Wange.

»Thalia«, stöhne ich und versuche sie wegzuschieben. O Gott, wieso muss meine Familie immer so peinlich sein? Ich lasse meinen Kopf in meine Hände sinken. Das hier entwickelt sich zum schrecklichsten Geburtstag aller Zeiten. Zum zweitschrecklichsten.

»Ich sag ja nur, so wie du immer von Cole schwärmst?«

Ich springe auf und schüttele sie von mir ab. »Ich habe noch NIE von ihm –«

Natürlich kommt auch noch Mum zu uns. Ihr weißer Kaftan weht um sie herum. »Deine Frustration könnte ein Grund sein, warum du momentan nicht mehr malen kannst. Ein neuer Liebhaber wirkt bei mir immer Wunder«, schwärmt sie und legt Cole zu allem Überfluss eine Hand auf die Schulter. Er sieht fast so peinlich berührt aus, wie ich mich fühle. Das bringt das Fass zum Überlaufen.

»Danke für den fantastischen Geburtstag!« Ich stürme in Richtung Haus, ohne mich umzublicken. Ich sollte sie nicht so anschreien, aber durch jede meiner Venen strömt Zorn. Ich könnte schwören, dass das Herbstlaub auf dem Rasen aufweht, während ich durch den Garten stampfe.

»Komm schon, das war doch nur ein Witz. Sieh doch nicht immer alles so eng«, ruft Thalia mir hinterher.

Ihre Worte stacheln mich nur noch mehr an und ich drehe mich um, während ich rückwärts weiterlaufe. »Ich verfluche diese Party!«, brülle ich ihnen entgegen, und genau in dem Moment bricht der Regenschauer durch die Wolken.

KAPITEL 2

Ich halte nur an, um mir meinen Parka aus dem Flur zu holen, dann stürme ich durch die Haustür hinaus und die Straße hinab, bis ich Seitenstechen bekomme, meine Lunge schmerzt und ich langsamer werde. Ich schiebe meine Kapuze über meinen Kopf, obwohl meine Haare im strömenden Regen sowieso schon triefen. Immerhin sieht so niemand die roten Flecken, die auf meinen Wangen blühen.

Meine Füße tragen mich zum Murkwood-Anwesen, ohne dass ich mich bewusst dazu entschieden habe. Während ich die menschenleere Allee entlanglaufe, schützen mich die dichten Weiden am Wegesrand vor dem Großteil des Regens. Durch ihre Blätter, die an manchen Stellen über meine Schultern streichen, erkenne ich in weiten Abständen die gepflasterten Auffahrten zu anderen Anwesen. Doch die Häuser sehe ich nicht, so weit reichen die Vorgärten.

Endlich erreiche ich die Mauer mit dem schmiedeeisernen Zaun, der zum Murkwood-Anwesen gehört. Das Tor steht einen Spalt weit offen, also zwänge ich mich hindurch. Den Vorgarten hat garantiert seit Jahren niemand mehr gepflegt. Er muss einmal prächtig ausgesehen haben, aber jetzt bedecken Trauerweiden, Bluthaseln und Spitzwegerich den gesamten Garten. Vor Unkraut erkenne ich den Weg kaum vor meinen Füßen, aber ich kämpfe mich tapfer durch das Gestrüpp. Wenn ich schon mal hier bin, will ich das Anwesen auch sehen.

Der eintönige Weg beruhigt mich. Ich hasse es, wenn ich so ausraste, kann mich aber nie bremsen. Erst wenn ich Zuflucht in der Einsamkeit finde, kann ich einen klaren Gedanken fassen. Und dann fühle ich mich mies, weil Thalia und Kalliope genauso unter Mums Peinlichkeiten leiden müssen wie ich. Doch sie können es locker nehmen. Nur ich bin anders – wie immer.

Ich könnte mir einreden, dass ich anders bin, weil ich seit meiner Kindheit Auren sehe. Ich habe mich damals meinen Schwestern anvertraut. Doch sie hielten es für einen Scherz und zerstörten meine Hoffnung, dass sie die gleiche Fähigkeit haben. Dann begannen die Voraussagungen. Nur Kleinigkeiten: das Wetter, wann der Postbote klingelt, wer beim Spielen stürzt, wenn wir nicht aufhören … Aber es reichte, um andere zu beunruhigen.

Und dann machte ich diese eine Voraussagung, die alles änderte. Nach ihr behauptete ich, nichts mehr zu sehen. Jeder war erleichtert, sogar Mum.

Der im Regen auftauchende Eingang zum Anwesen reißt mich aus meinen Gedanken. Zwei bemooste Steinsäulen umrahmen die riesige Tür. Auf dem Treppengeländer lauern zwei Gargoyle-Statuen. Ernsthaft, wer baut so was? Das Anwesen sieht aus wie das übertriebenste Horrorfilmset aller Zeiten. Ich blicke nach links und rechts und kann das Ende des Gebäudes kaum ausmachen. Auch das Dach und der Uhrenturm verschwinden über mir im Regen.

Ich steige die Stufen zum Eingang hinauf und krame in meiner Jackentasche herum – zwischen Taschentüchern, Kaugummipackungen und Haargummis. Dann spüre ich die kalte, glatte Oberfläche des Messingschlüssels, den Muriel mir zugeschoben hat. Ich stecke ihn in das Schloss, doch die Tür öffnet sich nicht. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen rüttle ich am Griff.

Ein Schatten huscht hinter mir durch den Regen. Ich wirble herum, sehe jedoch nichts. Nur die langen Zweige der Trauerweiden, die im Wind umherpeitschen. Ich lache kurz über mich selbst, weil ich mich vor dem Wind erschrecke. Doch die Härchen in meinem Nacken bleiben aufgestellt. Ich wende mich der Tür zu, aber sie bewegt sich immer noch nicht.

Ich werfe mich gegen die verdammte Tür, bis meine Schulter steif ist und schmerzt. Meine Nase läuft wie ein Wasserfall, und meine Finger frieren langsam ein. Nach dem gefühlten hundertsten Mal gebe ich auf.

»Scheißtür«, zische ich sie an und trete als Zugabe fest dagegen. Selbst durch meine Kampfstiefel prelle ich mir meinen großen Zeh. Ich stöhne auf und hinke die Treppenstufen hinab.

Etwas zieht mich weiter, und ich umrunde das Anwesen. Dabei halte ich mich nah an der mit Efeu bewachsenen Wand, um mich vor dem Regen zu schützen. Auf meinem Weg sehe ich nicht viel, nur große, dunkle Fenster, die über mir schweben. Ich lasse meine Finger über die alten Backsteine gleiten. Das Gefühl von vergangenem Leben durchfährt meine Hand, leise, wie ein Flüstern der ehemaligen Bewohner. Endlich erreiche ich die Rückseite des Anwesens und steige eine Treppe hinauf. Nur verschwommen erinnere ich mich an meinen einzigen Besuch vor Jahren, aber hier hinten war ich noch nie. Von der weitläufigen Marmorterrasse aus schweift mein Blick über einen gigantischen See, dessen Oberfläche im Regen seltsam still bleibt. Als würde er jeden Tropfen in die Wassermassen saugen, um seine eigenen Ausmaße zu vertiefen.

Ich fasse mir an den Hals. Der Anblick ergreift mich. Obwohl mir das Wasser in den Stiefeln steht, mir mein Ausraster mittlerweile unfassbar peinlich ist und mein Leben momentan alles andere als optimal verläuft, fällt eine Last von meinen Schultern. Dieser Ort wird etwas verändern. Ich spüre es wie den Regen in meinem Nacken, wie den Wind an meinen eisigen Wangen. Meine Finger sehnen sich plötzlich nach Pinsel und Farbe. Nur weil ich diesen See anblicke?

Ohne darüber nachzudenken, schiebe ich meine Kapuze von meinem Gesicht und schließe die Augen. Die Aura des Ortes streckt farblose, schillernde Finger nach mir aus.

Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus meiner Trance. Hastig ziehe ich es aus der Hosentasche, doch es rutscht mir aus den gefrorenen Fingern. Ich versuche es zu fangen, aber es hüpft wieder und wieder aus meinen Händen, bis ich es kurz vor dem Aufprall auf den Boden zu greifen bekomme.

Ein Kichern hallt durch die Luft, verzerrt durch den Regen.

Ich presse mein Handy gegen meine Brust und schnelle herum. Doch wieder ist niemand zu sehen. Vermutlich ist das schimmelige Haus kurz davor zusammenzubrechen und ich höre die Balken und Wände knarzen. Ich lese die Nachrichten auf meinem Handy, die nacheinander eintrudeln, als hätte ich erst jetzt Empfang.

Besorgte Texte voller Entschuldigungen von Mum und meinen Schwestern, die ich erst mal ignoriere. Schuldgefühle zupfen an meinem Herzen, weil ich ihnen zumindest schreiben sollte, dass es mir gut geht. Aber ich kann mich nicht dazu durchringen. Stattdessen lese ich mit einem Schrecken mehrere Nachrichten meiner Freunde Viper und Larkin, die seit Ewigkeiten auf mich warten. Shit.

Ich stürme den Weg zurück, über den ich gekommen bin. Meine Erkundung muss ich ein anderes Mal fortführen.

***

»Ich hoffe für dich, dass du der Pizzabote bist, denn falls du Mel bist, bringe ich dich um«, zischt Viper, während ich in mein Zimmer stürze. Sie liegt mit geschlossenen Augen auf meinem ungemachten Bett, mitten in einem Haufen frischer Wäsche, die eine meiner Schwestern in mein Zimmer gebracht haben muss. Viper hat sich ihren Kurzhaarschnitt mit dem Mikro-Pony knallorange gefärbt. Zusammen mit dem smaragdgrünen Kleid, das sie trägt, erinnert mich ihr Aussehen an einen Leprechaun, aber ich würde mir eher die Zunge abschneiden, als ihr das zu sagen.

»Ich bringe dich um, wenn du mich noch eine Sekunde länger mit der Irren allein lässt«, murmelt Larkin, der sich mit meinen Kopfhörern auf den Ohren auf dem Architektenstuhl dreht. »Und deine Musik ist Mist.«

»Das denkst du, weil du nur jammernde Indie-Bands hörst.« Ich pelle mich aus meinem durchtränkten Parka und Cardigan, dann fische ich einen Strickpullover aus dem Schrank, den ich mir überwerfe. Ich spüre, dass eine Erkältung im Anmarsch ist, wenn ich mich nicht umgehend wärmer anziehe.

»Sie verstehen meinen Schmerz«, erklärt er theatralisch, setzt die Kopfhörer ab und wuschelt sich durch seine dunkelbraunen Locken.

»Pft, was für ein Schmerz? Du bist der glücklichste Kerl, den ich kenne«, murmelt Viper und rollt sich vom Bett.

»Frag dich mal, warum. Ich bin der einzige Kerl, den du kennst.«

Ich muss lachen, denn Viper kennt wirklich kaum Leute. Wenn ich darüber nachdenke, habe ich sie noch nie mit jemand anderem als uns gesehen. Sie hat eine ziemlich niedrige Toleranzschwelle für soziale Kontakte. Sie ist seltsam, was genau der Grund ist, warum wir uns so gut verstehen.

Aber am seltsamsten von uns ist Larkin. Ein Superhelden-T-Shirt tragender Runningback im Footballteam, der mit jedem befreundet sein könnte – und mit uns abhängt. Es ist nicht so, als hätten wir am College diese absolut stereotypen Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Niemand macht Viper und mich fertig, im Gegenteil. Eigentlich ist jeder ziemlich nett zu uns. Auch Larkins Footballfreunde. Aber man sollte meinen, er hätte nichts mit uns gemeinsam. Tatsächlich ist er der Kleber, der Viper und mich zusammenhält.

»Alles Gute, Mel!«, ruft Larkin und wirft die Arme um mich. Viper seufzt und quetscht sich halbherzig zu uns, denn ihr sind Geburtstage zuwider. Diese patriarchale Tradition zur Stärkung des Kapitalismus kritisiert sie bei jeder Gelegenheit.

»Ich wollte dir nichts kaufen, aber Larkin hat darauf bestanden.« Mit den Worten schiebt sie mir ein schmales, in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen in die Hände.

Ich reiße das Papier auf und öffne die Samtschachtel darin. In ihr liegt ein Brieföffner aus Silber mit einem filigran gearbeiteten Griff. Meine Finger streichen über den schwarzen Turmalin, der in der Mitte des Griffes eingelassen wurde. Er knistert unter meiner Berührung. Ich kenne diesen Brieföffner.

»Du solltest ihn bei dir tragen, um dich gegen Angreifer zu verteidigen!« Vipers Augen blitzen, als könnte sie gar nicht erwarten, dass ich den Brieföffner in einem Duell verwende.

»Eigentlich hat Viper …«, beginnt Larkin flüsternd, doch ich unterbreche ihn.

»Ich weiß. Sie war dabei, als ich den Brieföffner in Hopkins Antiquitätenladen entdeckt habe.« Wir grinsen uns an. Keiner von uns muss aussprechen, dass Viper jedes unserer Geschenke aussucht, nachdem sie uns monatelang beobachtet hat, um das beste Geschenk zu finden. Das würde sie aber niemals zugeben.

Es klopft an meiner Zimmertür, die typische Klopfabfolge meiner Mum. Wenn es eine gute Sache an ihr gibt, dann ist es, dass sie unsere Privatsphäre respektiert. Gut, immer wenn wir Besuch bekommen, versteckt sie vorher heimlich Verhütungsmittel an allen möglichen Stellen unserer Zimmer, aber sie meint es ja nur gut. Auch wenn es superpeinlich ist, wenn man einfach nur mit jemandem lernen will und dir ein Monatsvorrat Kondome aus dem Mäppchen fällt.

Sobald ich sie hereinbitte, steckt sie ihren in ein Seidentuch gewickelten Kopf durch den Türspalt. »Schön, dass du wieder hier bist, Mel! Es tut uns leid, wenn wir dich vor deinem Freund blamiert haben. Thalia hat sich die ganze Zeit Sorgen gemacht.«

»Tut mir leid«, nuschle ich. Klasse, jetzt fühle ich mich schlecht.

»Kein Problem, Schätzchen, jetzt bist du ja wieder hier. Solange du deine Wut nicht unterdrückst, kann dein Chakra frei fließen. Keiner von uns will, dass deine Chakra-Öffnungen verstopfen.« Keiner von uns glaubt, dass Chakra-Öffnungen existieren. »Eigentlich bin ich hier, um dir zu sagen, dass Muriel angerufen hat!«

»Was wollte sie …?«, beginne ich. »Moment mal. Hat sie wirklich hier angerufen, mit einem Telefon? Oder glaubst du nur wieder, ihr hättet durch eure Geisteskräfte miteinander kommuniziert?«

Mum stemmt einen Arm in die Hüfte und blickt mich mit geschürzten Lippen an. »Sie hat mit einem Telefon angerufen. Als würde ich glauben, dass ich mich telepathisch mit deiner Großmutter verständigen könnte.« Sie streicht ihren Flatterrock glatt. »Über die Entfernung klappt das nur mit einer Astralreise. Aber das Level habe ich noch nicht erreicht.«

Die alte Türklingel schrillt durch das gesamte Haus.

»Pizza ist da!«, brüllt Viper und stürmt aus dem Zimmer. Komisch, dass ihre Abneigung gegen fremde Menschen nicht auf Pizzaboten zutrifft.

Ich nehme einen tiefen Atemzug. »Mum, du bist doch nicht immer noch in dieser beknackten Sekte?«

»Wir sind keine Sekte. Wir sind eine Zusammenkunft gleich gesinnter Menschen mit dem sechsten Sinn.«

»Und zahlt jeden Monat einen Mitgliedsbeitrag.«

»Einen Unkostenbeitrag! Die Lichtritter- und ritterinnen haben keinerlei religiösen oder ideologischen Hintergrund und jedes Mitglied behält völlige Autonomie über seine Entscheidungen – ergo sind wir keine Sekte.« Sie blickt mich von oben herab an, mit einem Grinsen in ihren Mundwinkeln. »Wenn du wissenschaftliche Literatur findest, anhand derer du belegen kannst, dass wir eine Sekte sind, nur zu.« Sie weiß genau, wie sehr ich wissenschaftliches Arbeiten hasse.

Ich seufze ergeben. »Alles klar, du hast gewonnen.«

Viper balanciert die Pizzakartons mit einem breiten Grinsen auf ihren Lippen herein.

Mum lächelt mich an. »Also besuchst du Muriel morgen früh? Ich habe ihr gesagt, du hast Zeit.«

Ich starre sie grimmig an. Wieso geht jeder davon aus, dass ich nie etwas zu tun habe? »Vielleicht gehen wir ja doch gleich runter zur Party und ich habe morgen einen Kater?«

Viper schnaubt. »O bitte. Du wirst dir gleich einen Film im Kino ansehen und nach einem Drittel einschlafen.«

Ich reiße ihr die Pizzakartons aus den Händen. »Danke, dass du mir in den Rücken fällst.«

»Perfekt!«, ruft Mum und verschwindet rückwärts durch die Tür. »Dann viel Spaß bei Muriel morgen. Sie klang sehr engagiert.«

***

Ich liege im Bett und starre die Dachschrägen an, lange nachdem die Geburtstagsfeier vorbei ist. Erneut drehe ich mich auf die andere Seite, trete die in meinen Beinen verhedderte Decke weg. Von wegen, ich schlafe nach der Hälfte des Films ein.

Gedanken rasen in meinem Kopf, ohne dass ich einen von ihnen richtig fassen kann. Da ist nur diese innere Unruhe, die mich aufwühlt. Viper und Larkin haben mich nach meiner Flucht zum Anwesen aufgemuntert, aber jetzt kommen die Schuldgefühle wieder hoch. Ich weiß, dass meine Familie mich liebt. Und ich habe kein Problem damit, ein wenig anders zu sein. Ich mag meine Art genauso, wie ich Vipers und Larkins Art mag.

Es ist nur so, dass ich nie ganz zu meiner Familie gehöre.

Die Dinge, die ich spüre, die ich sehe – die ich voraussehe –, schieben sich wie Glaswände um mich, schotten mich von meiner Familie ab. Wie wäre es, wenn ich wie Thalia und Kalliope wäre? Hätte ich heute mit ihnen gefeiert? Hätte ich mit ihren zahlreichen Freunden gelacht? Wäre ich nicht ausgerastet und weggerannt wie ein Kind, wenn ich nicht diese Mauer zwischen uns spüren würde? Selbst Mum … Man sollte meinen, sie wäre begeistert von meinen Fähigkeiten, aber ich habe als Kind schmerzlich gelernt, dass dem nicht so ist. Ihr Hang zum Übersinnlichen beschränkt sich auf Räucherstäbchen und Lichtrituale. Und auch wenn sie immer wieder behauptet, Chakren sehen zu können – sie liegt jedes Mal so daneben, dass es mich an ihrer generellen Menschenkenntnis zweifeln lässt.

»Bist du noch wach?«, wispert eine Stimme.

Ich schrecke im Bett auf. »Thalia?«

Meine Schwester schleicht sich in einem blau-weiß gestreiften Seidenpyjama durch mein Zimmer. Ich starre an mir herab – der gleiche Körper in ein kariertes Männerhemd gehüllt. Thalia hockt sich im Schneidersitz neben mich. Ich bezweifle, dass jemand uns für eineiige Zwillinge halten würde. Selbst jetzt, ohne meinen Eyeliner und roten Lippenstift und ihren zarten Make-up-Look. Was wäre, wenn ich meine Haare abschneiden, die Hennafarbe herauswachsen lassen und mir Klamotten aus Thalias Kleiderschrank picken würde? Es gäbe immer noch diesen Unterschied zwischen uns, den ich nicht erklären kann. Das, was nichts mit Kleidung und Styling und Interessen zu tun hat. Denn auch Thalia und Kalliope unterscheiden sich in gewissen Aspekten. Mum wollte nie, dass wir uns zu sehr aufeinander fixieren und keine anderen Bezugspersonen finden, weshalb sie auch immer auf Einzelzimmer bestanden hat.

Sobald wir alt genug waren, mussten wir einzeln mit ihr in Baumarkt und Möbelgeschäfte, um unser eigenes Zimmer einzurichten. Thalia wählte zartes Veilchenblau als Wandfarbe, Kalliope Pastellgrün, während ich mich für eine Tapete mit Graffiti-Aufdruck entschied. Sie suchten sich hübsche Bettgestelle aus weiß lackiertem Metall aus, immerhin zwei unterschiedliche Modelle, und ich baute mit Mum ein Hochbett, das wie ein Baumhaus aussah. Doch Mums Bemühungen, uns zu eigenständigen Charakteren zu erziehen, funktionierten nur so lange, bis sie schlief. Dann schlichen wir uns wie auf Kommando in eines unserer Zimmer, quetschten uns in ein Bett und kicherten mit Taschenlampen bewaffnet, bis wir übermüdet einschliefen.

Vor ein paar Jahren hat das aufgehört.

Umso mehr überrascht es mich, Thalia neben mir sitzen zu sehen. Ich starre sie an, bis sie mir ein riesiges, schweres Paket überreicht.

»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir mein Geschenk zu geben«, erklärt sie im gleichen Moment, in dem Kalliope durch die Tür schlüpft und dieselben Worte spricht. Wir brechen in Gelächter aus, das wir erfolglos zu unterdrücken versuchen. Dann schlüpft Kalliope auch unter die Bettdecke.

Ich öffne Thalias Geschenk, während ich einen Kloß im Hals hinunterschlucke. Es tut gut, so wie früher zusammenzuhocken. »Schenkst du mir Ziegelsteine?«, keuche ich, während ich den Karton mit aller Kraft hochstemme, um das Papier zu entfernen. Das Ding muss mindestens zehn Kilo wiegen.

Thalia lacht nur.

Dann öffne ich den Karton und hieve tatsächlich einen Stein heraus. Zuerst runzle ich die Stirn, doch dann drehe ich ihn auf meinem Bett und entdecke die zwei Löcher, die sich durch den Feuerstein gebohrt haben. Für einen Moment spüre ich Sand und Wellen unter meinen Fingerspitzen, die jahrhundertelang diesen Stein durchspült haben.

»Ich dachte mir, du kannst damit vielleicht eine Skulptur bauen oder so etwas!«

Ich beuge mich über den Feuerstein, um sie zu umarmen. »Er ist perfekt! Danke, Thalia.«

»Ich wusste, dass er perfekt ist, als mich alle Leute auf der Straße angestarrt haben, während ich ihn nach Hause getragen habe. Wieso schenkt man dir immer die seltsamsten Dinge?«

»Apropros seltsam«, unterbricht uns Kalliope und reicht mir ihr Geschenk, »das hier ist von deiner Lieblingsschwester.«

Sobald ich das Päckchen in der Hand halte, weiß ich, dass es ein Buch ist. Nicht durch meine Fähigkeit, Dinge vorauszuahnen, noch nicht einmal weil Bücher selbst eingepackt immer eine sehr verräterische Form haben. Ich weiß es, weil Kalliope mir immer ein Buch schenkt.

Ein Buch mit indigofarbenem Einband fällt mir in den Schoß und der typische Geruch von altem Papier steigt mir in die Nase. Ein Siegel ist auf dem Cover eingeprägt, ein verziertes Hexagramm, das von einer Banderole mit unleserlichen Buchstaben umgeben ist.

»Es ist ein Grimoire«, strahlt Kalliope. »Steht ganz schön gruseliges Zeug drin, aber dir gefällt es garantiert.«

»Kalliope, das Buch ist wirklich alt!«, hauche ich, während ich eine zufällige Seite mit einem magischen Ritual zum Bannen von bösen Geistern aufschlage. Feingliedrige Buchstaben fließen um eine Grafik in der Mitte der Seite. Das hier ist kein billiger Nachdruck. »Welche Bank hast du überfallen, um das kaufen zu können?«

»Ach, das sieht nur wertvoll aus. Der Typ aus dem Bücherladen hat es mir hinterhergeschmissen. Meinte, das sei nur ein Haufen Humbug, er brauche Platz für Bücher über echte Magie. Aber es passt super in deine Sammlung, oder?«

Es passt wirklich zu meinen antiken Büchern, die ich zu allen möglichen Themen sammle. Ich lasse mich bei meinen Bildern gern von ihnen inspirieren, egal ob Wälzer über Anatomie, biblische Schriften oder Kompendien über essbare Pilze.

Ich werfe mich auch ihr um den Hals. Dann lasse ich mich auf den Bauch fallen und krame unter meinem Bett herum, bis ich ihre Geschenke finde. Beiden drücke ich das gleiche Buch in die Hand. »Ich kam nicht dazu, sie einzupacken«, erkläre ich und streiche mir über den Nacken.

Die beiden hören mir nicht zu, sondern blättern in ihren Fotobänden. Ich habe mich ein paar Monate mit analoger Fotografie beschäftigt, bevor ich mich wieder dem Malen zugewandt habe. Es hat mir Spaß gemacht, aber mir fehlte es, völlig Neues zu erschaffen. Doch es sind so viele Fotos von meinen Schwestern und Mum entstanden, dass ich sie entwickelt habe.

»Oh, Mel, das ist so wunderschön!«, ruft Thalia.

Kalliope schlägt ihr die Hände vor den Mund. »Nicht so laut! Mum schläft!« Doch sofort löst sie ihre Hände von unserer Schwester und blättert weiter. »Sieh dir das an!«, ruft sie dann genauso laut. Sie deutet auf ein Foto von einem besonders heißen Sommertag, als wir versucht haben, einen Pool im Garten aufzubauen. Wir trugen alle einen von Mums luftigen Kaftanen, die sie vor Jahren aus Marokko mitgebracht hatte. Ich schlich mich weg, um ein Foto von den dreien zu machen, wie sie sich gegenseitig mit Gartenschlauch und Rasensprengern vollspritzen, während der Pool vergessen an der Seite lag.

»Wie hübsch Mum ist«, schwärmt Thalia und hält uns die Nahaufnahme von Mum hin, auf der sie an ihrem Mahagonitisch sitzt und Hausarbeiten korrigiert. Sie trägt kein Make-up und ihre Masse an Locken wallt über ihre Schultern. Nur wir wissen, dass sie wie immer beim Korrigieren von Arbeiten nackt ist, was man durch die geschickte Platzierung einer Pflanze und ihrer Haare nicht sieht. Gleichzeitig prusten wir erneut los.

»Wo hast du die Fotoalben gekauft?«, fragt Kalliope. »Die sind superschön!«

Ich druckse ein wenig herum. »Ich hab sie selbst gebunden.«

Meine Schwestern schlagen die Bücher zu und bewundern die Fadenbindung am Buchrücken. Ich habe die Buchdeckel aus Karton in ihren Lieblingsfarben bemalt und dann mit Blumen in Gold und Silber bestempelt. Zusammengehalten wird das Buch von einer japanischen Bindetechnik mit kontrastierenden Fäden.

»Kannst du uns nicht einmal etwas Selbstgebasteltes schenken, das total beschissen ist?«, zetert Thalia lachend.

»Jetzt sind wir wieder wie die doofen Schwestern, die dir nur was kaufen!« Kalliope wuschelt meine Haare durcheinander und ich versuche mich zu befreien. Unser Kampf gipfelt darin, dass wir Thalia aus dem Bett treten und in einen Lachanfall ausbrechen.

»Ich vermisse das«, seufze ich, als wir uns beruhigen und uns Lachtränen aus den Augen wischen.

»Mel, genau so kann es wieder sein. Aber seit Jahren –«

Ich unterbreche Kalliope. »Ich will nicht darüber reden, okay? Nicht heute.«

»Du weißt, dass wir dich genauso lieben, wie wir uns lieben, oder? Auch wenn du dich anders kleidest oder anders –«

»Ernsthaft, können wir das Thema sein lassen?«, fahre ich sie an. Ich will die Gründe nicht hören, warum ich anders bin. Ich will nicht hören, wie sie mir schwören, dass ich ihnen genauso wichtig bin, denn das ist nicht wahr. Vielleicht glauben sie es selbst, behandeln mich nicht absichtlich anders, aber ihre lieb gemeinten Worte können diese unüberwindbare Barriere zwischen uns nicht einreißen.

Beide starren mich einige Atemzüge lang an. Nicht vorwurfsvoll, sondern enttäuscht. Aber ich will diesen Moment bewahren, in dem alles so ist wie früher, und ihn nicht durch einen weiteren Ausraster zerstören. Also ignoriere ich ihre Blicke und den Knoten in meinem Magen, bis sie ergeben seufzen.

»Können wir dann jetzt eine epische Geburtstagsbude bauen und uns danach endlich schlafen legen?«, schlage ich vor. Das war früher unser Ritual an jedem unserer Geburtstage.

Die beiden stimmen entzückt ein, und schon bald rennen wir mit Decken, Bindfäden und Lichterketten durch mein Zimmer. Mum muss unser Getrampel hören, denn ihr Zimmer liegt so wie die meiner Schwestern in der Etage unter uns, aber sie beschwert sich nicht. Die Rechnung werden wir morgen früh bekommen, wenn Mum völlig übermüdet versucht Frühstück zu machen. Doch mit dem kulinarischen Desaster können wir leben.

KAPITEL 3

Muriel nach so wenigen Tagen erneut zu besuchen ist ungewöhnlich. Normalerweise versuchen wir Besuche, so lange es geht, hinauszuzögern. Muriel ist kein schlechter Mensch, aber sie kann einfach sehr schwierig sein.

Doch jetzt hocke ich seit einer halben Stunde in ihrem Esszimmer auf einem Polsterstuhl, der vor Monaten hätte ausgeklopft werden müssen, und kämpfe mit dem trockenen Kuchen.

»Lecker«, sage ich mit vollem Mund, um die Stille zwischen uns zu brechen.

Muriel rümpft die Nase. »Erst schlucken, dann sprechen. Ich suche dir das Rezept raus. Nichts Besonderes, aber besser als dieser Fraß, den eure Mutter euch vorsetzt.«

Ich schlinge den viel zu heißen Tee hinunter, um die staubigen Kuchenkrümel schlucken zu können, und verbrühe mir prompt meine Zunge. Selbst Mum backt besser als Muriel. Aber ich sollte meine Klappe halten, sonst artet das hier in eine derart hitzige Diskussion aus, dass Muriel mich mit ihrem knüppelharten Kuchen bewirft. Das Verletzungsrisiko gehe ich nicht ein.

»Kann ich das Fenster öffnen? Hier muss echt mal durchgelüftet werden«, erkläre ich, während ich schon aufstehe und zum Fenster gehe. Alles riecht nach den getrockneten Kräutern, die vor jedem Fenster und in jedem Türrahmen hängen, nach Mottenpulver und einer Menge Staub, der einem die Tränen in die Augen treibt.

»NEIN!«, keift Muriel ihr Lieblingswort, kurz bevor ich meine Hand an den Fenstergriff legen kann. »Die Fenster bleiben geschlossen.«

»Dir ist schon klar, dass du ab und zu lüften musst, damit hier nicht alles schimmelt?«, frage ich und schlurfe durch staubige Sonnenstrahlen zurück auf meinen Platz.

»Lieber Schimmel, als dass irgendetwas Unerwünschtes reinkommt.« Muriel stiert das Fenster an, als könne sie durch bloße Willenskraft Pollen, Einbrecher, oder was auch immer für sie unerwünscht ist, verjagen.

»Langsam wird mir klar, wieso das Anwesen so verwahrlosen konnte«, merke ich an.

»Das Anwesen verwahrlost, weil ich zu alt bin, um das Theater dort mitzumachen.«

Ich lasse noch zwei Würfel Zucker in den Kräutertee fallen, von denen Mum nie etwas erfahren darf.

»Du besitzt eine Villa und ein gigantisches Anwesen, du musstest noch nie in deinem Leben arbeiten und jeder einzelne der Ringe an deinen Fingern ist mehr wert als Mums Auto. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und behaupte, ein paar Maler und Bauarbeiter sind bei dir finanziell gerade noch so drin.«

Muriel lehnt sich im knarzenden Stuhl zurück und faltet die Hände vor dem Bauch. »Du hältst dich für sehr pfiffig, nicht wahr?«

»Pfiffig genug, um ein Haus nicht so sehr verfallen zu lassen, dass nicht mal die Türen aufgehen.«

Muriel seufzt. »Das finden sie also immer noch lustig«, murmelt sie.

»Wer findet was lustig?«, frage ich, doch sie ignoriert mich. Statt zu antworten, schlurft sie aus dem Raum und ich nutze den Moment, um ein riesiges Stück Kuchen im Tee einzuweichen.

Muriel betritt das Esszimmer mit einer Kette in der Hand, die sie mir in den Schoß wirft. Ich hebe den Anhänger von der Größe einer Visitenkarte hoch, ein silbernes Amulett in Form einer Hand, das bis in die kleinste Ecke mit Symbolen, Schriftzeichen und Zeilen, die nach Bibelversen aussehen, gefüllt ist. Wie bei einem Bettelarmband hängen an jedem Finger mehrere kitschige Figürchen – ein winziger Buddha, ein Tierzahn, ein christliches Kreuz, eine winzige Schatulle aus Keramik und ein Edelstein. Echte Federn baumeln am Verbindungsstück zwischen Anhänger und Kette.

Ich starre das groteske Ding in meinen Händen an. »Was ist das für eine aus Silber gefertigte Abscheulichkeit?«, frage ich entsetzt.

»Dein Geburtstagsgeschenk.«

Ich schaffe es nicht, mich zu bedanken. Zu meiner Verteidigung: Das Amulett wiegt so viel wie etwas, womit die Mafia Verräter in Flüssen versenkt.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Womit habe ich das nur verdient?

»Glaub mir, es ist nötig. Ich will, dass du es immer trägst.«

Ich lasse das Amulett sinken. »Definitiv nein. Tut mir leid, Muriel, aber dieses absurde Objekt geht mir eine Nummer zu weit. Bist du überhaupt sicher, dass man es als Schmuck trägt und nicht verwendet, um … ich weiß nicht, Bären zu fangen oder einen Acker umzugraben?«

»Du hast einen rechtskräftigen Vertrag unterschrieben, laut dem du dich verpflichtest, das Amulett von Tanit zu tragen.«

Sie besitzt die Dreistigkeit, mich überlegen anzugrinsen. Ich glaube, ich sehe zum ersten Mal so etwas Ähnliches wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Und es gefällt mir gar nicht.

»Wie willst du das kontrollieren?« Darüber, was ich noch alles blindlings unterschrieben habe, will ich gar nicht nachdenken. Schlimm genug, dass der übergroße Angelhaken auch noch einen prätentiösen Namen hat. Das Amulett von Tanit. Affig.

»Wenn ich dich auch nur ein einziges Mal ohne das Amulett sehe, egal ob im Anwesen, auf der Straße, beim Duschen, beim Nacktbaden, oder was auch immer ihr Gören heutzutage macht, kannst du dir das Murkwood-Anwesen abschminken. Und du musst mir jegliches Kapital zurückzahlen, das ich dir für die Reinigung des Hauses überlassen habe.«

Ich könnte das Erbe einfach ausschlagen. Jetzt sofort, ohne dass ich dieses Ding tragen oder einen einzigen Finger im Anwesen rühren muss. Aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, das mich hinter dem Murkwood-Anwesen am See überrumpelt hat. Ich kann die Anziehungskraft des Ortes nicht vergessen. Jeder Herzschlag schickt das Bedürfnis durch meine Adern, dort zu malen. Einfach nur dort zu sein. Und was ist schon ein Jahr mit dem Amulett des Grauens, wenn ich danach das renovierte Anwesen für so viel Kohle verkaufen kann, dass ich nie wieder arbeiten muss? Ich könnte mein Leben lang malen, ohne mich über so weltliche Probleme wie Lebensmittel und Altersvorsorge zu sorgen.

»Kann ich es unter meiner Kleidung tragen?«, brumme ich und hänge mir das Zaumzeug um den Hals. Es legt sich schwer an mein Schlüsselbein, kalt und unnachgiebig.

»Solange du es an deinem Körper trägst. Dein anderes Geschenk wirst du auf deinem Konto finden. Falls das nicht reicht, melde dich.«

»Warum soll ich dieses Teil überhaupt tragen?« Ich bezweifle, dass sie mir eine Antwort gibt, zumindest eine, die über kryptische Anspielungen hinausgeht.

»Es soll dich schützen.«

»Wovor? Vor einem Angriff mit einer Panzerfaust?« Ich strecke ihr das Amulett wie einen Schutzschild entgegen.

»Du kannst dich so viel darüber lustig machen, wie du willst. Aber du wirst mir noch dankbar sein.«

***

Auf dem Weg zurück nach Hause treffe ich von allen Leuten, die mir begegnen könnten, ausgerechnet Cole. Und allem Anschein nach mit dem gleichen Ziel wie ich. Das Haus meiner Familie. Wir wohnen recht weit außerhalb in einer Straße voller frei stehender Altbauhäuser mit Gärten. Bei Weitem nicht so prunkvoll wie Muriels Villa, aber auch keine üble Wohngegend. Mum könnte sich von ihrem Gehalt ein schickeres Haus weiter im Stadtzentrum leisten, doch sie wollte lieber mehr Platz und einen großen Garten. Wir reden nie darüber, was sie mit dem Haus macht, wenn wir Drillinge irgendwann ausziehen. Unser Vater ist schon lange weg, trotzdem hat Mum nie wieder geheiratet. Ab und an bringt sie mal einen Freund mit, aber nie etwas Ernstes.

Jedenfalls kommt am Ende unserer Straße nicht mehr viel, was Cole als Ziel dienen könnte. Daher gehe ich davon aus, dass er zu uns will. Für einen Moment plane ich einen Sprung in einen Rosenbusch, um ihm nicht gegenübertreten zu müssen. Aber den ganzen Abend zwischen Dornen zu verharren, bis er wieder geht, ist auch kein grandioser Plan.

Also atme ich tief durch und winke ihm zu, sobald er mich bemerkt. Er bleibt stehen, bis ich die Straßenseite wechsle, dann laufen wir zusammen weiter.

»Wie geht’s?«, fragt er mit einem schiefen Grinsen. Etwas in meiner Magengegend flattert. Definitiv keine Schmetterlinge. Auf keinen Fall. Vielleicht eine einzige klitzekleine Raupe.

»Ganz okay. Hab mich nur total vor einem Freund meiner Schwester blamiert.« Ich schiebe meine Hände in die Taschen meiner Kapuzenjacke.

Er lacht kurz auf und mir wird noch ein wenig wärmer. »Vergiss das einfach, okay? Ich hab auch eine Mutter und zwei ältere Schwestern, ich weiß, wie schräg die sein können.«

»Du hast auch zwei ältere Schwestern?«, frage ich überrascht. Er wirkt eher wie ein älterer Bruder.

»Jep, und wenn deine nur halb so anstrengend sind wie meine, verstehe ich voll und ganz, dass du manchmal einfach nur wegwillst. Ich war so froh, als die beiden endlich ausgezogen sind, aber jetzt vermisse ich sie manchmal. Na ja, seitdem verstehen wir uns besser, also hat es auch was Gutes.« Er wischt sich einige schwarze Haarsträhnen aus der Stirn und der höchste Punkt seiner Wangen färbt sich rosa.

»Du hast sie wirklich gern, oder?« Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Ihm mag es peinlich sein, so über seine Schwestern zu reden, aber ich finde es charmant. Mit ihm zu reden fällt mir erstaunlich leicht. Jedes Mal finden wir leicht von Small Talk, den ich hasse, zu Themen, die mich tatsächlich interessieren.

»Wenn sie mich nicht gerade total blamieren, ja.« Er wirft mir noch ein Grinsen zu, bei dem ich seine Klamotten, die aussehen, als wolle er jeden Moment mit seiner ultrateuren Jacht ablegen, vergessen kann.

Vor unserem Haus bleiben wir stehen, mustern für einige Augenblicke die Wildblumenwiese im Vorgarten, als wäre sie das Spannendste, was uns seit Monaten begegnet ist. »Soll ich Thalia Bescheid sagen, dass du hier bist?«

Jetzt läuft er knallrot an und tritt mit seinen schicken Schuhen gegen einen Kieselstein. Mein Herz schrumpft ein wenig. Mir war nicht klar, dass er Thalia …

»Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass dir das gestern nicht peinlich sein muss.«

Oh. Mit mir will er reden, nicht mit Thalia.

»Na ja, das habe ich ja jetzt. Also …« Er schweift ab und hebt seinen Kopf, um mich aus seinen hellbraunen Augen anzuschauen. So unsicher habe ich ihn noch nie gesehen und mein Herz macht einen Hüpfer. Ich habe nicht vor, mich in ihn zu verlieben oder so, aber ich kann meinen Puls nicht ruhig halten. So ein Mist.

»Er kann gern zum Abendessen bleiben«, ruft Mum aus dem Küchenfenster. Ein Blick in Richtung Haus und ich sehe, wie Kalliope und Thalia schnell von zwei weiteren Fenstern weghuschen. Bitte lass Cole das nicht gesehen haben.

Ich schließe für einen Moment die Augen, um ruhig zu bleiben. Dann blicke ich Cole an. Schlimmer kann es kaum werden, oder? »Möchtest du zum Essen bleiben? Ich kann dir aber nicht versprechen, dass dir etwas annähernd Essbares vorgesetzt wird.«

***

Ich hatte definitiv schon schlimmere Abendessen. Die Linsenbolognese ist genießbar, Mum bekleidet und Cole bleibt bisher auf seinem Stuhl sitzen, anstatt zu fliehen. Er hat Mum sogar ein Kompliment für ihre Einrichtung gemacht, auch wenn er mit seinem beigen Pullunder und der Daniel-Wellington-Armbanduhr absolut nicht in den Raum passt.

»Ihr Bolognese schmeckt herausragend, Miss Adler«, bombardiert er Mum weiter mit Komplimenten.

»Bitte, nenn mich Dhalia. Wir befinden uns menschlich alle auf einer Ebene, kein Grund für Formalitäten«, kontert sie. Sie lächelt ihn viel zu hingerissen an. »Übrigens habe ich heute extra wenig Knoblauch benutzt«, setzt Mum zwinkernd an. »Dann könnt ihr beiden gleich noch –«

»Mum«, warne ich sie betont langsam. Einatmen. Ausatmen. Ich salze meine Bolognese, um Cole nicht ansehen zu müssen.

»Alles klar, peinliche Mum, hab schon begriffen.«

Sie lächelt in die Runde, sodass mir klar wird: Sie hat gar nichts begriffen. Dann wendet sie sich Cole zu und ich ahne Schlimmes.

»Falls Melpomene nicht daran denkt, ich habe einige Verhüterli in ihren Nachtschrank gepackt. Ihr müsst euch vielleicht ein wenig durch ihre Unordnung graben, aber –« Cole lässt den Löffel fallen und starrt auf seinen Teller.

»MUM!«, brülle ich und springe auf, den Salzstreuer so fest in meiner Faust, dass er knirscht. »Kannst du dich nicht ein einziges Mal normal verhalten?«

»Normal ist relativ«, bemerkt Kalliope wenig hilfreich.

»Relativ weit entfernt von dem, was Mum ist«, keife ich sie an. Ich bebe vor Zorn. Das kann doch echt nicht wahr sein. Macht Mum das absichtlich? Lebt sie dafür, mich zu blamieren?

»Du musst nicht fies werden«, zischt Thalia. Ihre Augen blitzen mich an. Sie hat gut reden, Mums blamable Aussetzer treffen schließlich immer nur mich.

Cole springt jetzt ebenfalls auf – mit hochrotem Kopf. Er verknotet seine Finger ineinander. »Ich glaube, ich sollte besser gehen. Danke für das Essen, Miss Adler.« Dann schnappt er sich seine Jacke und rast durchs Esszimmer. Er hält nicht an, sondern dreht sich zur Verabschiedung nur halb zu mir. »Mach’s gut!« Er weicht meinem Blick aus. Dann knallt die Tür ins Schloss.

»Huch, was hat den denn gestochen?«, fragt Mum unschuldig. »Und ich hatte ihm doch das Du angeboten.«

»Er will wahrscheinlich nicht mit einer IRREN per Du sein!«

»MEL!«, rufen meine Schwestern erschüttert und völlig synchron. Natürlich sind sie selbst nach so einer Aktion auf Mums Seite.

»Ich hab doch recht!«, brülle ich. Dann stoße ich mich vom Tisch ab, wobei der Stuhl umfällt. Ich halte nicht an, um ihn aufzuheben.

»Mädels, das schreit nach dem Schwing-Ritual. Jeder holt jetzt tief Luft, findet seine Mitte, schwingt mit den Armen und atmet die ganze Wut heraus. So laut ihr könnt.«

»Keiner hat Bock auf dein beknacktes Lach-Yoga!« Ich knalle meinen Teller in die Spülmaschine und stampfe durch die Küche.

Mum schüttelt mit zusammengekniffenen Augenbrauen den Kopf. »Schwingen und Lach-Yoga sind völlig unterschiedliche Praktiken. Hörst du mir denn nie zu?«

»Ist mir total egal, was du in deiner Sekte lernst!«, rufe ich durch den Flur, dann stürme ich die Treppe hinauf. Ich verbiete meinem schlechten Gewissen an die Oberfläche zu kommen. Nicht dieses Mal.