Night Shadow 2. She Who Alights The Night - Laura Cardea - E-Book

Night Shadow 2. She Who Alights The Night E-Book

Laura Cardea

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Beschreibung

Die das Licht beherrscht … Magisches Finale in Paris.   Du liebst den Mix aus verbotener Liebe, Geheimbünden und historischen Settings? Für Fans wie dich, die romantische Fantasy-Romane für junge Erwachsene suchen, gibt es aktuell nur eins: Laura Cardeas Dilogie Night Shadow. Hier ist der finale zweite Band aus dem historischen Paris an der Schwelle zum 20. Jahrhundert – eine Zeit, in der alles möglich schien, auch für Odette und Eugéne. Licht oder Dunkelheit, Freund oder Feind? Noch immer stecken Odette und Eugéne mitten im Kampf gegen die Nyx. Diese haben inzwischen eine bedrohliche neue Technologie entwickelt. Sie ruft noch mehr machtgierige Männer auf den Plan, die ihre Finger im Spiel haben. Ein Spiel, in dem kaum noch zu erkennen ist, wem die beiden überhaupt noch vertrauen können – außer einander. Dabei weiß Eugéne noch immer nicht, wer Odette in Wahrheit ist. Der historische Stoff, aus dem Romantasy-Träume sind. - Nach Nachtschwarz nun Lichtweiß: Freu dich auf Band 2 der New Adult-Dilogie mit dem Mond-Cover. - Wow-Setting: das historische Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts.  - Für Fans von "Babylon Berlin" oder "Bridgerton", gepaart mit einer originellen Fantasy-Idee. - Mit wunderschön illustriertem Stadtplan, Stammbaum und großem Glossar. - Deine Lieblingsthemen "Girl disguised as boy" und "Forbidden love". - Wieder fesselnd geschrieben von Laura Cardea, der Autorin von "Splitter aus Silber und Eis".

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Über dieses Buch

Nacht für Nacht kämpfen Odette und Eugène in Paris gegen ihre Feinde vom Orden der Nyx. Denn deren neueste bedrohliche Technologie ruft weitere machtgierige Männer auf den Plan, die im Spiel um die Herrschaft mitmischen wollen. Ein Spiel, in dem die beiden kaum noch erkennen, wem sie überhaupt trauen können. Auch weiß Eugène nicht, wer Odette in Wirklichkeit ist. Wird sie sein Vertrauen für immer zerstören, wenn sie ihm die Wahrheit beichtet?

 

 

 

Liebe*r Leser*in,

 

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast,

können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken.

Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person

deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden:

www.nummergegenkummer.de

Schau gern hinten im Buch nach, dort findest du eine Auflistung

der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

 

 

 

Für alle, die ihren Weg noch nicht gefunden haben.

Die Suche kann auch etwas Schönes sein.

Kapitel 1

Garantiert ein Dutzend Nyx lungert auf der Exposition Universelle herum, doch keiner von ihnen erkennt mich. Denn eingeschnürt in die lindgrüne Seidenrobe, mit dem pompösen Hut samt weißer Spitze über den Augen und der Haltung einer reichen Mademoiselle spiele ich wie üblich eine Rolle. Eugène weiß, dass diese Fassade die Nachtschwärmerin in mir verbirgt. Was er nicht weiß – ich verberge dahinter auch die wahre Odette aus dem Prolétariat. Seit unserem Kennenlernen.

»Glaubst du, das ist einer von ihnen?« Eugène deutet mit dem Gehstock nach vorn und sieht aus wie jeder andere schaulustige Monsieur. Eine Massenproduktion in gediegenen, langweiligen Fracks, die das Schauspiel unter der Pavillonkonstruktion aus Glas und Metall beobachten.

»Wäre möglich«, murmle ich, auf meine Seidenschläppchen starrend. Was würde ich nur für Stiefel geben.

»Du hast ihn nicht einmal angeschaut.«

Ich atme tief ein und zwinge meinen Blick hoch zur Bühne.

Zu Sirènes.

Wie ein ölschwarzes Tiefseeungeheuer kauert die Maschine im Schatten des Tour Eiffel. Mit ihren Greifarmen aus Kupferspulen hält sie Menschen gefangen. Mitten auf der Exposition. Arbeiter schnallen die Probanden stundenweise fest, um dem Publikum danach ihre Arbeitskraft in Sechzehn-Stunden-Schichten vorzuführen. Es ist barbarisch.

Und die Besucher sind begeistert.

Die offiziellen Mitarbeiter wissen vermutlich nicht, für wen sie arbeiten. Aber an einen Metallpfeiler gelehnt, spielt ein Kerl mit einer Zigarrenschatulle, und mit jeder Bewegung spannt sein Frack an den sich wölbenden Schultern. Garantiert vom Orden der Nyx. Einer ihrer bulligen Handlager. Von der Sorte, die meine Familie aus unserem Appartement verschleppt haben muss. Papa in dieses Monstrum aus Metall und Kabeln gezwängt –

Ich schlucke die Erinnerungen herunter. »Soll ich probieren, etwas aus ihm herauszulocken? Louise hat mir ein paar ihrer Tricks beigebracht.«

»Wirklich?« Eugène zieht eine Augenbraue hoch. »Vielleicht solltest du die vorher üben? Ich stelle mich großzügigerweise als Versuchsobjekt zur Verfügung.«

Der Nyx klappt die Zigarrenschatulle zu und stößt sich vom Pfeiler ab.

»Also bespitzeln, nicht aushorchen.« Ich bahne mir einen Weg durch die Menge, Eugène auf den Fersen. Zwischen aufgetürmten Frisuren und Zylindern erhasche ich nur flüchtige Blicke auf die Muskelberge des Nyx.

»Ich meine, ich sehe die Vorteile. Dennoch … fühlt es sich nicht irgendwie falsch an?«, murmelt eine bleiche Madame durch zierliche Finger in Spitzenhandschuhen.

Schnaubend quetsche ich mich weiter. Ein paar mögen es barbarisch finden – aber am Ende betrifft Sirènes die Bourgeoisie nicht. Sie werden wegschauen, sobald die Gräuel der Maschine hinter Fabrikwänden stattfinden.

Hitze staut sich unter den Seidenbahnen meines Kleides, obwohl die Frühlingssonne nur schwach flimmert. Verflucht sei dieses neumodische Korsett, das nicht nur die Taille abschnürt, sondern auch das Décolleté nach vorn und das Derrière nach hinten verbiegt, bis man aussieht wie eine aufgeplusterte Taube. Mehr und mehr Menschen kesseln mich von allen Seiten ein. Mein Atem beschleunigt, doch ich komme nicht voran. Hat sich das Publikum auf einen Schlag verdoppelt?

Jemand zerrt mich aus der Falle. Eugène. »Immer noch nicht gut mit Menschenmassen?« Er schirmt mich vom Gedränge ab.

Mein Herzschlag entschleunigt. »Es wäre halb so schlimm, müsste ich nicht diese lächerliche Aufmachung tragen.«

Der Nyx verschwindet zwischen zwei kastenförmigen Gebäuden. Das Panorama Transatlantique und das Maréorama, so groß und klobig, weil es ein ganzes Dampfschiff fassen muss.

»Sollen wir lieber mit der Métro fahren?« Sein Grinsen färbt den betont unschuldigen Ton, während wir weiterdrängen. Er wird mich wohl nie vergessen lassen, dass ich beinahe rückwärts aus der Métro geflohen wäre, als er Louise und mich zum ersten Mal zu seinem Unterschlupf gebracht hat.

Wir durchbrechen den Rand der Menschenmenge und rennen in die enge Gasse zwischen den Gebäuden, wo keine Sonne hinreicht und an dessen Ende der Nyx hinter der Ecke verschwindet.

Als wir auf die breite Avenue de Suffren preschen und gegen die Sonnenstrahlen und den Eisenbahnrauch des Gare du Champ d’Arès anblinzeln, ist er verschwunden.

»Merde!« Eugène stützt sich auf dem Gehstock ab, während ich kaum außer Atem bin. Noch vor Kurzem war es andersherum. Aber sosehr Eugène es auch zu verbergen versucht, jeder Tag zerrt mehr an seinen Kräften, seit er Sirènes nicht mehr benutzt, um sein Schlafbedürfnis auszuschalten.

»Entweder fährt er gerade mit einer Eisenbahn davon – oder er ist dort reingegangen.« Ich zeige zum Globe Céleste, der von Dampfmotoren in der Schwebe gehalten und um seine eigene Achse gedreht wird. Auf dem royalblauen Grund der Himmelskugel funkeln vergoldete Sternenbilder und Tierkreiszeichen.

Eugène richtet sich auf. »Einen Versuch ist es wert.«

Also raffe ich meinen verflixten Rock und haste weiter, über die Fußgängerbrücke zum Globe Céleste. Eugène zerrt sich fluchend den Seidenzylinder vom Kopf, den er nicht, wie von Louise vorgeschlagen, mit Haarnadeln festgesteckt hat.

Vor dem Eingang greift er meinen Arm. »Wir sollten uns vielleicht darum bemühen, ein wenig unauffälliger zu wirken.« Er nickt zu meinem unschicklich hochgerafften Rock, der reichlich Blicke erntet, und streicht sich das zerzauste Haar glatt, bevor er Eintrittskarten kauft. Lange wird unser Sold vom ersten – und letzten – Auftrag der Nachtschwärmer nicht mehr reichen. Ich lasse den Rock sinken und stecke lediglich einen Finger durch die dafür vorgesehene Schlaufe am Saum.

»So hast du doch auch genug Beinfreiheit, oder? Die nähen die Schlaufe da ja nicht grundlos hin.« Eugène reckt mir grinsend den Arm hin. Natürlich müssen wir wie ein junges Ehepaar wirken, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.

»Wirklich großzügig, dass man uns in Kleidern wie diesem ermöglicht, ein paar Tippelschritte zu machen, ohne über die Schleppe zu stürzen. Was kommt als Nächstes?« Ich hake mich unter, ohne in sein Gesicht zu sehen, und wir erklimmen die Treppe ins Innere des Himmelsglobus. »Korsetts, in denen man atmen kann?«

Eugène lacht. Dieses tiefe, beinahe atemlose Lachen, das wie Glühwürmchen in meinem Brustkorb herumschwirrt. »Wenn es nach mir ginge, müsstest du gar kein Korsett tragen.«

»Sondern einen Harnisch?«, raune ich auf der rollenden Treppe, die uns steil hinauf zur Aussichtsplattform trägt. »Und vielleicht ein Holster für Dolche?«

Die Madame zwei Stufen über uns blickt sich pikiert um.

Eugène schenkt ihr ein blendendes Lächeln, bei dem sie sich mit geröteten Wangen zurückdreht, und stupst mich an. »Wollten wir nicht unauffällig wirken?«

»Dann solltest du nicht jeder Frau im Umkreis von zwei Kilometern schöne Augen machen«, platzt es aus mir heraus. Fantastique.

»Oh, bitte, das war heute erst die zweite.«

Ein wenig zu schnell haste ich auf die Plattform. Wer war die erste? »Wenn du die Zahl um der Operation willen heute im einstelligen Bereich halten könntest, wäre das großartig.«

Eugène reckt den Kopf, weil himmlische Orgeltöne durch die Luft schwirren. »Klingt nach Saint-Saëns, aber ich kenne das Stück nicht.« Er dreht uns im Kreis, ein kleiner Tanz zwischen den Besuchern mit in den Nacken gelegten Köpfen. »Ohnehin ist der Kerl nicht hier, also war es das für heute mit unserer Operation. Meinen schönen Augen steht nichts mehr im Wege.« Er hält an und grinst. »Außer dir fällt ein anderer Grund ein, der dagegenspricht, dass ich –«

Ich zerre ihn hinter einen Marmorpfeiler, der uns auch ohne meinen aufgebauschten Rock und den sonnenschirmgroßen Hut nicht verbergen könnte. »Dort ist er!«

Der Nyx lehnt mit den Unterarmen auf dem Geländer, scheinbar fasziniert vom sanft rotierenden Himmelsgestirn aus tiefblauem Seidenpapier und Sternen aus geschliffenem Glas.

»Und du beschattest ihn so unfassbar unauffällig!«, raunt Eugène im übertriebenen Flüstern eines Schauspielers. »Soll ich uns eine Zeitung besorgen und zwei Löcher in die Seiten bohren, durch die du gucken kannst?«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. »Das wäre immer noch produktiver als alles andere, was du heute fabriziert hast.« Die Worte versengen meine Lippen. Ich hätte das nicht sagen sollen, nicht, wo es Eugène so viel abverlangt –

Er lacht, offen und viel zu auffällig für unser Vorhaben. Aber Lachen ist gut. Wenn er lacht, weil er mich aufzieht und ich ihn, denkt er nicht an Schlaf. An Sirènes.

Ein Mann im eleganten Frack tritt neben den Nyx. Sein makellos nach hinten frisiertes schwarzes Haar und diese kultivierte Haltung triefen vor Wohlstand. Jemand, der nicht nur im Arrondissement Le Zeus wohnt, sondern sich für Zeus hält.

»Das könnte spannend werden!« Ich drehe mein Ohr in ihre Richtung. Doch unmöglich, so höre ich nichts. Ich muss näher –

»Merde.« Eugène starrt mich an. »Das ist mein Vater.«

Natürlich ist er das. Ich presse die Lippen aufeinander. »Bist du wirklich sicher, dass er nichts mit –«

»Er hat nichts mit den Nyx zu tun. Nun, nichts mit Sirènes. Sein geschäftlicher Einfluss reicht praktisch bis in jede noch so kleine Pariser Fabrik, also …«

»Vielleicht finden wir trotzdem etwas heraus. Über Projekte, Lieferanten, Kooperationen.« Ich halte Eugène, der losstiefeln will, mit einer Hand auf seiner Brust zurück. »Du bleibst hier!« Als er die Stelle fixiert, wo ich ihn berühre, blicke ich hastig zum Nyx und Eugènes Vater. »Er erkennt ja wohl seinen eigenen Sohn. Auch wenn du ausnahmsweise nicht aussiehst, als hättest du dich mit verbundenen Augen in der Garderobe eines Laientheaters eingekleidet.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelt Eugène. »Und ich kleide mich sicher nicht so, als hätte …« Seine Empörung versickert im Gemurmel der Besucher, während ich davonstakse. Ich bemühe mich um eine träumerische Mimik, als ich an das Geländer stolpere, obwohl die vorbeiziehenden Sternbilder verschwimmen.

»… aber die meisten Besucher sind fasziniert«, beendet der Nyx. Ein Bericht über die Sirènes-Vorstellung?

Monsieur Lacroix streicht sich über das gemeißelte Kinn. »Die meisten Besucher stammen auch aus der Bourgeoisie und sind nicht direkt betroffen.«

Der Nyx schnaubt. »Nun, die Arbeiter aus dem Prolétariat werden sich kaum wehren können, oder?«

»Unterschätzen Sie nicht die Arbeiterschicht!« Monsieur Lacroix hebt einen Zeigefinger. »Die Sans-culottes spielten keine geringe Rolle bei der letzten Revolution. Und als Entrepreneur kaufe ich keine Maschine, die einen Streik unzufriedener Arbeitnehmer nach sich ziehen könnte.« Er neigt den Kopf, ohne dass eines seiner perfekt liegenden Haare verrutscht. »Vielleicht fänden sich mehr Interessenten, wäre die Meinung der Gesamtbevölkerung wohlwollender?«

Die Nyx suchen also schon Käufer für Sirènes. Ich starre auf meine Finger am Geländer. Aber wenn Monsieur Lacroix nicht interessiert ist … Denken andere Großindustrielle ähnlich? Oder will er mit vorgetäuschten Bedenken nur den Preis drücken? Ich sehe auf, um seine Mimik zu entziffern.

Der Nyx starrt direkt in meine Augen. »Belauschst du uns, Fillette?«

Meine Hände verkrampfen, während mein Kopf rattert. Wieso starrt ein Mädchen aus der Bourgeoisie die beiden an? Denk nach! »Ich … habe nur Monsieur Lacroix erkannt. Mein Vater arbeitet geschäftlich mit ihm zusammen. Excusez-moi, Messieurs, ich habe wirklich nicht gelauscht.«

»Tatsächlich?« Der Nyx baut sich vor mir auf. »Wie heißt er?«

»Er –« Ich weiche zurück, erlaube der Panik hochzusteigen. Eine angemessene Reaktion für die Mademoiselle, die ich spiele. »Er heißt –« Meine Stimme verhallt zitternd.

»Monsieur Gerard, nun lassen Sie von dem Mädchen ab.« Eugènes Vater legt eine Hand auf die Schulter des Nyx. »Sie zittert wie ein Reh.«

Gut, er nimmt es mir ab. Ich sollte ihn dankbar anschauen, mit riesigen, glänzenden Augen.

Doch der Nyx starrt mich weiter an. Wenn die Rädchen in seinem Schädel sich noch etwas mehr drehen, tritt Dampf aus seinen Ohren. »Du bist das Mädchen!«, knurrt er schließlich und greift meine Oberarme. »Du belauschst uns! Mit deinen Freunden? Wo sind die Ratten?«

»Monsieur Gerard, bewahren Sie Ihre Contenance!« Die Falten auf Monsieur Lacroix’ Stirn vertiefen sich. »Was hat dieser Tumult zu bedeuten?«

»Au secours!«, rufe ich und winde mich im Griff des Nyx, sodass sämtliche Besucher uns anstarren. Eugène tritt näher, hält dann inne, weil ich sachte den Kopf schüttle. »Dieser Goujat lässt mich nicht los! Au secours! S’il vous plaît!«

Mehrere Männer pirschen heran, während die Mesdames sich die Hände und Fächer vor den Mund halten oder ihre Begleiter in meine Richtung schieben. Noch bevor mich einer von ihnen erreichen kann, schwingt eine tattrige Madame mit grauem Haarknoten ihren Perlmuttgehstock gegen die Schulter des Nyx. »Finger weg, du Filou!«

Ihr Hieb kann nicht wehtun, doch der Nyx starrt mit gerunzelter Stirn zu ihr und lockert seinen Griff.

Ich bohre ihm die Hacke in den Fuß. Trete aus, nach außen panisch, aber wohlgezielt auf die empfindliche Stelle unter seiner Kniescheibe. Er knickt ächzend ein, und ich stürme los, greife Eugènes Ärmel im Laufen. Keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sein Vater ihn erkennt.

»La Fille de Lumière!«, brüllt der Nyx. »Ergreift sie!«

Magnifique, er hat Verstärkung dabei. Wir können nicht kämpfen, nicht zwischen all den Zivilisten. Also hasten wir durch die Menge zur rollenden Treppe – die nur nach oben fährt. Und viel zu vollgestopft mit Menschen ist. »Merde! Wo ist der Ausgang?«, keuche ich.

Der Nyx stößt Menschen zur Seite, die sich lautstark beschweren. Drei andere Männer hetzen hinter ihm durch die Menge. Sie kesseln uns ein.

»Zeit, dein inneres Kind herauszulassen!« Eugène rutscht das Treppengeländer herunter, vorbei an den kreischenden Menschen.

»Könntest du bitte an das Kleid denken, das ich trage!«, kreische ich, doch schwinge mich ebenfalls aufs Geländer.

»Ich kann an kaum etwas anderes denken als an dein Kleid!«

Meine Beine hängen über dem Abgrund – wie viele Meter würde ich fallen, bevor ich den seidenpapierbeklebten Globus durchbreche? Ich schlingere im Rutschen. Kralle mich fester ans Geländer und bremse ab.

Schreie hinter mir – der Nyx schmettert die Menschen aus dem Weg, rennt die Stufen entgegen ihrer Richtung herab. Seine gefletschten Zähne blitzen zwischen den erschrockenen Mienen auf, und dann stößt er einen jungen Vater zur Seite. Seine Tochter gleitet ihm aus dem Armen.

Sie stürzt kreischend über das Geländer.

Ich springe auf die Treppe, ein rasendes Pfeifen in den Ohren, und stürme nach oben. Dieser verdammte –!

»Sie haben das Mädchen!« Eine Hand an meinem Oberarm. Eugène. Tatsächlich, mehrere Besucher zerren das heulende Mädchen zurück auf die Treppe. Eugène zieht mich weiter. »Wir können hier keinen Kampf anfangen!«

Ich stemme mich gegen ihn. Das Mädchen ist so alt wie Jo. Jede Faser in mir will den Nyx mit bloßen Händen zerreißen. Doch würde ich in Jos Nähe so einen Kampf anzetteln? Niemals. Also knirsche ich mit den Zähnen und renne weiter.

Die Menschen machen uns Platz. Oder nur Eugène. Mein Rocksaum verfängt sich in den Stufen. Ich reiße die Schleppe mit bebenden Fingern ab, eile weiter. Hinaus auf die Fußgängerbrücke, wo sich die Menschenmasse etwas lichtet.

»Zum Bahnhof!«, keucht Eugène mit aufbäumendem Brustkorb.

Der Nyx prescht, gefolgt von den anderen drei, aus dem Globe Céleste und zückt eine Pistole. Die Fußgänger hechten aus der Schussbahn.

Er drückt ab.

Die Menge schreit auf, übertönt den Schuss fast. Wir springen zur Seite, knallen gegen das Geländer. Das Getöse nimmt zu, die Menschen drängen zurück zum Eingang, hinter dem sie sich Sicherheit erhoffen.

Es ist so leise, dass ich es unter dem Geschrei nicht hören sollte – doch ein trockenes Knarzen dringt an meine Ohren. Denn ich kenne dieses Geräusch aus L’Hadès. Von dem einen zusammengeschusterten Appartement, das eines Tages einfach entschieden hat, nicht mehr aufrecht stehen zu wollen.

Die Fußgängerbrücke wird unter dem Getrampel einstürzen!

Eugène wirft sich erneut zur Seite, als die nächste Kugel an uns vorbeirast, doch ich zerre ihn weiter. »Ignorier die Schüsse!« Eine Schusswunde können wir überleben. Aber unter Tonnen von Geröll begraben zu werden? Ich erinnere mich zu gut. Schlimmer als das Knarzen des einstürzenden Steins sind die Schreie und Jammerlaute.

Und am schlimmsten – die Stille danach.

Das Brechen von Stein schallt durch meinen Körper. Wir stolpern über die Erschütterungen, durch die aufwirbelnden Staubwolken. Schreie. Ich weiß, was danach kommt, ist schrecklicher. Doch wie kann etwas schrecklicher sein als das? Als diese Ohnmacht, ihnen nicht helfen zu können?

Wir hechten von der Brücke. Ich kann mich nicht umsehen. Ganz egal, ob die Nyx uns verfolgen oder unter Schutt begraben liegen. In ihrem Tod läge kein Fünkchen Erleichterung.

 

Im Unterschlupf lehnen Armand und Jean über dem Mahagonitisch, den wir aus einer der Nischen gezerrt haben, um darauf die Stadtkarte von Paris auszubreiten. Der Mittelpunkt unserer Operation. Armand versucht mit einer Schreibfeder, die er wie einen Dolch schwingt, Jeans Verteidigungshaltung zu durchdringen. »Toussaint Métallurgique liegt in L’Héphaïstos!«

»Wir waren fünf Tage hintereinander dort!« Jean fängt Armands Arme und hebelt die Schreibfeder aus seinem Griff. »Wie kannst du nicht wissen, wo die Firma liegt?«

Eugène lehnt sich an die Brüstung zur Fabrikhalle unter uns und wirft einen Blick hinab auf die stillgelegten Zuckerkessel. »Ihr habt offensichtlich unsagbar Wichtiges zu erledigen. Beglückt ihr uns trotzdem mit einer Minute eurer Aufmerksamkeit?« Da ist mehr Biss in seiner Stimme als üblich.

Die beiden kämpfen einen Moment lang weiter, bis Jean die Schreibfeder zu fassen bekommt und sie Armand entreißt. Triumphierend schnaubend streckt er sie gerade so hoch, dass Armand sie nicht erreichen kann.

Stattdessen pflücke ich sie ihm aus der Hand. »Armand hat recht mit Toussaint Métallurgique. Aber da die Nyx bei Entreprise d’Amboise Automobile Arbeitskräfte für ihre Versuche mit Sirènes angeheuert haben …« Ich zeichne einen Kreis um eine Häusergruppe und beschrifte ihn mit A.A. »Konzentriert euch auf La Déméter, nicht L’Héphaïstos.«

»Also wissen wir, wo Nyx Versuchspersonen aufgegabelt hat. Aber nicht, warum niemandem aufgefallen ist, dass Menschen entführt wurden. Warum keiner der Entführten etwas verraten hat.« Jean seufzt. »Sagt mir, dass ihr erfolgreicher wart.«

Ich zerre mir mit bebenden Händen den übergroßen Hut vom Kopf. Zementstaub bedeckt den Seidenstoff. Vom eingestürzten Fußgängerweg. »Keine offene Ablehnung auf der Exposition. Seit den ersten Protesten halten die Nyx sie wohl mit ihren versteckten Handlangern in Schach. Wir konnten einem von ihnen folgen, doch einer möglichen Zentrale von Nyx sind wir nicht nähergekommen.« Ich schlucke. Menschen sind gestorben. Garantiert. Und wir haben den Unfall ausgelöst. Ich zwinge mich, weiter zu berichten. »Nachdem er sich mit Monsieur Lacroix getroffen hat –«

»Monsieur Lacroix?« Jeans Blick verfinstert sich. »Eugènes Vater? Der den Prototypen von Sirènes entwickelt hat?«

Eugène stößt sich vom Geländer ab, und ein Schatten huscht durch seine Augen. So reizbar ist er selten. Sicher nagt das Unwissen, wie es den Besuchern des Globe Céleste ergangen ist, auch an ihm.

Ich lege die Hand auf seinen Unterarm, bevor er etwas sagen kann. Bin ich zu dankbar für den Themenwechsel? »Ich weiß, wie das aussieht. Aber der Nyx hat mich erkannt, Eugènes Vater hingegen nicht. Anscheinend wollen die Nyx ihm Sirènes verkaufen. Und wenn wir alle Firmen beseitigen wollen, die irgendwie mit den Nyx im Zusammenhang stehen, müssten wir jede Firma in Paris aus der Welt schaffen.«

Armand zuckt mit den Schultern. »Nicht die schlechteste Idee.«

Er scherzt, trotzdem kann ich nicht anders, als ihn anzufunkeln. »Natürlich, brennen wir einfach jede Fabrik nieder. Die Leute aus dem Prolétariat können schauen, wo sie Arbeit finden.«

Armand hebt die Arme. »Du hast natürlich recht. Sowieso sind wir nur zu viert –«

»Zu fünft.« Louise werde weder ich noch einer der anderen je wieder außer Acht lassen. Nicht, nachdem sie vor gut zwei Wochen den Kampf in der Lagerhalle für uns entschieden hat.

»Zu fünft«, bestätigt Armand. »So oder so können wir selbst mit Louise nicht gegen sämtliche Großindustrielle, geschweige denn den gesamten Orden der Nyx angehen.«

»Also sind wir uns weiterhin einig? Wir suchen eine mögliche Zentrale und konzentrieren uns auf die Drahtzieher. Finden wir den Orchestrator und –« Ich blicke zu Eugène, der sich in die Polster einer Récamière fallen lässt. Er selbst verliert kein Wort über seinen ehemaligen Mentor, aber was bringt es, die Wahrheit zu verschweigen? Ich atme tief ein. »Und den Dirigenten. Clément.«

Eugènes Mimik bleibt starr, doch obwohl ein Luftschiff über das Glasdach schwebt, dessen Schatten seine Augen verdunkelt, durchbohrt der Schmerz in ihnen sogar mein Herz. Fühlt er sich betrogen? Im Stich gelassen? Ich wünschte, ich könnte mit ihm darüber reden, ihm Trost spenden. Nur wie beginnt man so ein Gespräch?

Jean beugt sich über die Karte und beschriftet Orte, die im Zusammenhang mit den Nyx stehen. »Die meisten Brüder werden genauso wenig von Cléments Verrat gewusst haben wie wir. Wir könnten auf Mont-Saint-Michel Verbündete finden.«

Ich kaue auf meiner Unterlippe. Weitere Mitstreiter wären fantastisch. Aber was, wenn Clément nicht allein gehandelt hat? »Mit jedem Nachtschwärmer könnten wir uns einen Maulwurf in die eigenen Reihen holen.«

Seufzend sinkt Armand neben Eugène. »Ist es seltsam, dass ich den alten Steinhaufen und die ollen Kuttenträger irgendwie vermisse? Die Abtei war so viele Jahre unser Zuhause.«

Jean schaut von der Karte auf. »Unser Zuhause? Wir wohnen praktisch im Cabaret Déviance, weil du keine Minute länger als notwendig auf Mont-Saint-Michel verbringen –«

Klirrend bricht das Glasdach ein.

Zwischen den unterarmdicken Scherben gleiten drei schwarze Figuren an Stahlseilen herab.

Die Nyx.

Alles um mich herum bricht in Chaos aus. Ein Kaleidoskop aus Bewegungen, Getrampel und Gebrüll. Glassplitter prasseln auf mich, doch ich spüre nichts. Wie konnten sie uns finden?

»Odette!« Eugènes Stimme, weit weg.

Jean und Armand springen mit den Schultern voran durch die Glaswand, stürzen auf das Flachdach nebenan. Unser Protokoll. Wenn die Nyx uns finden, kämpft jeder für sich. Bekommen sie alle von uns in ihre Gewalt, haben wir verloren.

Ein Gewehr richtet sich auf mich. Dahinter ein Mann, dessen Schultern und Oberarme die Nähte seiner Nyx-Uniform zu sprengen drohen. »Auf den Boden!«

Der Nyx vom Globe Céleste. Er hat uns verfolgt.

Ich war so mit dem Unglück beschäftigt, dass ich jede Vorsicht vergessen habe. Jeder Atemzug brennt in meiner Lunge. Es war meine Aufgabe, auf dem Rückweg auf Verfolger zu achten.

»Odette!« Eugène verharrt in der Tür. Entgegen dem Protokoll. Er muss fliehen, um mich später zu retten.

Der Nyx vom Globe Céleste weist die anderen beiden mit einem Ruck seines Gewehrs an, ohne das Zielrohr von mir abzuwenden. »Fasst den Jungen! Ich habe La Fille de Lumière im Griff!«

Die beiden fahren zu Eugène herum. Er rührt sich nicht. Wieso flieht er nicht? Tausendmal haben wir besprochen –

»Ich ergebe mich!«, donnere ich, hebe meine bebenden Arme. Gehe in die Knie. »Bitte, schießen Sie nic–«

Mit der Anspannung meiner gebeugten Knie stoße ich mich ab, haste unter dem Gebrüll des Nyx zur Kommode. Ziehe die Aufmerksamkeit der anderen zwei auf mich, kralle mir meine Nachtschwärmer-Uniform, schlage einen Haken – und schwinge mich über die Brüstung.

Ich stürze in die Tiefe der unteren Stockwerke.

Der brennende Geruch des verkohlten Zuckers verschärft sich. Oder das Mündungsfeuer der Gewehre setzt sich in meiner Nase fest. Ich grapsche nach Halt, finde ein Geländer. Stürze weiter, bevor ich meine Finger darum schließen kann.

Vom nächsten Geländer rutsche ich auch ab, kann meinen Fall jedoch etwas bremsen. Trotzdem rasen spitze Kanten und gehärtetes Metall auf mich zu. Ich kneife die Augen zu.

Nein.

Ich habe oft genug geübt. Aber ich muss sehen, wann ich aufkomme – sonst zerschmettert der Aufprall meine Beine.

Also reiße ich die Augen auf.

Beton unter mir, keine scharfen Maschinenteile! Ich presse die Zähne aufeinander, damit ich meine Zunge nicht durchbeiße. Beine und Füße aneinanderdrücken, Knie leicht beugen, die Anspannung lösen. Meine Muskeln, Gelenke und Bänder reagieren instinktiv, wenn ich nicht panisch gegensteuere.

Mit den Ballen komme ich auf. Ein scharfes Stechen zuckt meine Beine hoch. Ich verliere die Kontrolle. Doch mein zusammengekauerter Körper rollt von selbst nach vorn. Ich muss ihn nur dazu bringen, über eine Schulter abzurollen. Nur das. Egal, wie sehr alles schmerzt. Jeder einzelne Rückenwirbel presst sich in den Beton. Dann bleibe ich liegen.

Für einen Augenblick kann ich nichts als atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.

Ein Stöhnen kommt über meine Lippen. Es fühlt sich an, als säße jeder Knochen am falschen Platz. Aber die Fabrikanlage klärt sich, statt dass ich das Bewusstsein verliere. Ich taste alle Gliedmaßen ab – nichts gebrochen.

Jedes weitere Stöhnen schlucke ich herunter und rapple mich hoch. Getrampel über mir und hinter mir im Treppenhaus. Ich muss raus. Zwischen zwei Kesseln fische ich meine Uniform hervor, dann presche ich zur Fensterreihe gegenüber dem Treppenhaus. Ein eingeschlagenes Fenster. Ich kraxle auf einen Tisch, breche mit dem Ellbogen die Überreste vom Glas aus dem Rahmen und schiebe mich hindurch.

Ich husche über die Straße, dicht gedrängt an die Häuserfassaden, in den Schatten, die die Nachmittagssonne wirft. Viel zu hell. Eugène kann so nicht schattenspringen. Bitte, lass die Nyx mich verfolgen. Er könnte der beste Nahkämpfer der Stadt sein – allein, bei Tag und in seinem Zustand hat er keine Chance gegen sie.

»Hier lang!«, raunt es aus einer Gasse. Armand.

Ich falle ihm in die Arme, und Jean drängt uns tiefer in die Schatten. Sie sind entkommen! Es geht ihnen gut! Ich bin nicht allein!

Ich werfe einen Blick über die Schulter auf die Zuckerfabrik. Ist Eugène entkommen?

»Wir befreien ihn später.« Jean schiebt uns an. »Sie sind zu viele, zu stark bewaffnet. Zu wenig Schatten.«

»Ich weiß«, zwänge ich hervor und folge ihm widerwillig. »Wir halten uns an das Protokoll.« Ein Protokoll, für das ich mich jetzt verfluche.

Das Treppenhaus der Zuckerfabrik explodiert in Flammen und Getöse. Fenster zerbersten, und die Metalltür wird aus den Angeln gerissen.

Eugène schießt durch sie auf die Straße, gefolgt von züngelndem Feuer.

Ich atme auf. Bloß nicht in Tränen ausbrechen.

Armand flucht unter verhaltenem Atem. »Wie bei Hadès’ linkem Hoden hat er sich wieder aus so einer Lage befreit?«

Jean bohrt ihm den Ellbogen in die Seite. »Halte dein Mundwerk im Zaum.« Nicht das erste Mal, dass er darauf achtet, wie sie vor einer Mademoiselle der Bourgeoisie sprechen.

Ich schnaube, weil die geballte Ladung aus Anspannung und Belustigung einen Weg nach draußen sucht. Mit der Redewendung bin ich als gebürtige Bewohnerin von L’Hadès durchaus vertraut – aber das können sie nicht wissen. Denn ich habe ihnen noch immer nicht die Wahrheit gesagt.

Eugène hetzt zu uns und scheucht uns mit wilden Handbewegungen weiter. »Zu den Catacombes!«

Zu viert rennen wir durch die verwinkelten Gassen zwischen den Fabrikhäusern und heruntergekommenen Arbeiterwohnungen von L’Artémis. Das Protokoll war für nächtliche Kämpfe auf Paris’ Straßen gedacht, nicht für diesen Fall.

Eugènes Unterschlupf – zerstört. Das Appartement meiner Familie – in die leere Hülle meines ehemaligen Lebens könnte ich nicht einmal zurückkehren, wenn die Nyx es nicht rund um die Uhr bewachen würden. Madame Bouchard – zu nah an Nyx’ Wachen. Louise’ Hôtel particulier – von Leibwächtern umzingelt. Das Cabaret Déviance – die Nachtschwärmer wissen, wo Armand gearbeitet hat.

Wir können nirgendwohin.

Nyx hat uns jeden Zufluchtsort entrissen.

Kapitel 2

Ich kauere auf der kaum mehr als schulterbreiten Lehmtreppe und starre in die Dunkelheit der Catacombes, in die Eugène vor Minuten verschwunden ist. Meine Hände beben im funzligen Licht, das durch den Türspalt am oberen Ende der Treppe fällt.

Im nächsten Moment stolpert Eugène mit Jean vor meine Füße – weil sie nie zusammen schattengesprungen sind wie wir oder weil ihn die Kraft verlässt? Doch er verschwindet sofort wieder schattenspringend in den Catacombes.

Jean sinkt neben mich und stemmt die Ellbogen auf seine Oberschenkel. »Er kann immer noch nicht schlafen?«

»Wir alle schlafen im Unterschlupf.« Ich streiche mein Kleid über den Knien glatt, was völlig vergebens ist. Zwei Handbreit tiefer hängt die Seide in Fetzen vor meinen Schienbeinen. »Glaubst du, ich ertappe ihn bei heimlichen Nickerchen, wenn ich allein mit ihm unterwegs bin?«

»Nachts vergehen ein paar Stunden, in denen ich nicht mitbekomme, was Eugène treibt. Du weißt schon, weil ich schlafe.«

»Und ich nicht?«, schnaube ich.

Jean lehnt die Schläfe gegen seine Fingerknöchel. »Aber er redet mit dir.«

Ich schnaube erneut, nur dieses Mal schmerzt es in der Brust. »Er scherzt höchstens mit mir. Spricht über die Machenschaften der Nyx. Gestern hat er eine Modezeitschrift auf der Straße gefunden und eine geschlagene Stunde über die neuesten Ergüsse der Grand Couturiers gefaselt. Trotzdem redet er nicht mit mir. Nicht darüber.«

Jeans Mimik bleibt unbeweglich. Doch dann tätschelt er etwas ungelenk meinen Hinterkopf. »Gibt ihm Zeit. Und bürde dir nicht alles allein auf.«

Eugène platzt mit Armand ins Funzellicht und lässt ihn zu schnell los. Armand strauchelt gegen die Steinwand und flucht, während Eugènes Blick zu uns huscht und irgendwo neben meinem Ohr verharrt. Er verzieht den Mund zu einer schmalen, harten Linie.

Merde, hat er gehört, dass wir über ihn gesprochen haben?

»Ausruhen könnt ihr Faulenzer euch später.« Er hält uns je eine Hand hin und hilft uns grinsend auf die Beine. Ich habe mich wohl vertan.

Von ihm angeführt, stiefeln wir die Treppe hinauf und gelangen durch eine Falltür in einen modrigen Keller, der kaum breiter als der Gang unten ist. Wir erklimmen die nächste Treppe ins Erdgeschoss, von wo gedämpfte Stimmen zu uns dringen, laut, hell klingend und irgendwo zwischen Ausgelassenheit und aufgeheizter Debatte.

Ich weiß, wo wir sind, noch bevor Eugène die Tür aufzieht. Und tatsächlich, wir marschieren hintereinander durch den Flur des Appartements von Hubertine Auclert. Der Hauptsitz der Suffragettes. Im vollgestellten Bureau halten sich weniger Frauen und Mädchen als beim letzten Mal auf. Georgette, Katya und Zoé kauern über einem Stoß Papier, alle drei so unterschiedlich, aber mit dem gleichen Funkeln in den Augen.

Zoé bemerkt uns zuerst, und ein sanftes Lächeln schleicht sich auf ihre vollen Lippen. »Wir wussten, dass du wiederkommst.« Ihr Blick flackert zu Armand und Jean. Sie zieht die schnörkellosen Bündchen ihrer Hemdbluse über ihre warmbraunen Hände, und ihr Lächeln verfliegt.

Georgette starrt auf die beiden Fremden herab. »Wirklich, Eugène? Mehr von deiner Sorte?«

Jean, der selten von anderen überragt wird, erst recht nicht von einer Frau, weicht einen Halbschritt zurück.

Armand hingegen starrt Georgette fasziniert an, als wäre sie wahrhaftig eine Titanide mit unverletzlicher Porzellanhaut und einem Lockenberg, der nicht einfach rotblond ist, sondern in Flammen steht. »Von seiner Sorte? Meinen Sie damit Männer im Allgemeinen oder Brüder der Nacht –«

Jean tritt ihm auf den Fuß, und nun belauschen uns sämtliche Frauen im Raum bemüht unauffällig.

»Können wir eine Weile hierbleiben?«, fragt Eugène.

Georgette studiert meinen zerrissenen Rocksaum, dann Eugènes ausgezehrtes Gesicht. »Was heißt eine Weile?«

»Ein paar Tage, bis wir eine andere Unterkunft –«

»Odette kann bleiben.« Katya verschränkt die schmalen Arme vor der Brust und pustet sich eine wirre Strähne aus dem geisterbleichen Gesicht.

»Georgette –«, beginnt Eugène.

»Katya hat recht«, seufzt Georgette. »Ihr könnt euch ein paar Stunden ausruhen. Odette kann so lange bleiben, wie sie will. Aber ich kann keine drei Männer hier schlafen lassen.«

Mehrere Mädchen atmen hörbar auf. Da schimmert eine Dunkelheit in ihren Blicken, die von schwereren Gründen erzählt als die bloße Sittenwidrigkeit männlicher Übernachtungsgäste.

Eugène holt tief Luft, doch ich lege eine Hand auf seinen Arm und schüttle sachte den Kopf. »Wir finden etwas anderes«, murmle ich, bevor ich mich Georgette zuwende. »Merci, wir nehmen das Angebot sehr gerne an.«

Georgettes gemeißelte Gesichtszüge erweichen sich, zum ersten Mal, seit ich sie kenne. Dankbarkeit, weil ich es verstehe. »Katya, zeig ihnen das leer stehende Zimmer im zweiten Stock.« Sie drückt kurz meine Hand. »Falls wir euch auf irgendeine andere Art helfen können, reicht ein Wort von dir.«

Ich lächle, wenn auch etwas zittrig. Denn wohin gehen wir, sobald die Nacht hereinbricht?

Katya dirigiert uns die Treppen hinauf und ist innerhalb von Sekunden in eine hitzige, aber seltsam freundschaftliche Debatte mit Armand über irgendeine Nichtigkeit verwickelt. Die Tür zu einem Kämmerchen tritt sie praktisch auf. »Ich hab noch nie eine Person getroffen, die mich in derart kurzer Zeit so dermaßen nervt«, schnaubt sie in Armands Richtung, während wir ins Zimmer schlurfen. So klein, dass schon ein durchgesessenes Samtsofa, ein matratzenloser Bettrahmen, eine Kommode und ein Paravent mit ausgeblichenem Kranichmotiv es vollstopfen.

Armand wirft sich aufs Sofa, das unter seinem doch eher zarten Gewicht knarzt. »Du hast Eugène getroffen«, kontert er anklagend.

Einen Atemzug lang verharrt sie mit steinerner Mimik. »Ich bleibe bei meiner Aussage.« Ein, zwei Takte gewähltes Schweigen, dann schenkt sie ihm ein schmallippiges Grinsen, das Armand erwidert, und verschwindet in den Flur.

»Reizende Person«, murmelt Armand.

Jean sinkt neben ihn aufs Sofa und runzelt die Stirn. »Kannst du sie gut leiden – oder nicht ausstehen?«

»Muss es eins von beiden sein?«

»Für gewöhnlich schon«, wirft Eugène ein, während er sich auf die Kommode stützt. Warum setzt er sich nicht? Man könnte meinen, er will sich nicht ausruhen.

Armand grinst noch breiter. »Wie gut, dass ich alles andere als gewöhnlich bin!«

Ich umklammere meine Ausrüstung fester. Vielleicht kann Eugène nicht still stehen, so wie ich. Nicht bevor wir einen Plan entwickelt haben. Zuerst muss ich jedoch raus aus diesem Kleid. Wortlos husche ich hinter den Paravent und zerre mir den Stoff über den Kopf.

Auf der anderen Seite wird es seltsam still. Sieht man –? Ich werfe einen hastigen Blick auf das japanische Seidenpapier des Paravents. Die Abendsonne erleuchtet die Muster von der anderen Seite, Eugène sollte also meine sich entkleidende Silhouette nicht erkennen. Oder Jean und Armand, natürlich. Mit warmen Ohren lege ich Hose, Oberteil und Harnisch an. Meine Rüstung. Sie zu tragen, schützt mich nicht nur äußerlich. Sie gibt mir eine innere Stärke. So wie die Nacht. Sicut noctem protegimus, nox nos protegit. Manchmal vergesse ich, warum wir all das durchmachen. Die Nacht beschützt uns – und wir beschützen die Nacht.

Das Credo der Nachtschwärmer – ich weiß, wo wir Zuflucht finden können!

Barfuß trete ich hinter dem Paravent hervor und schließe die letzte Schnalle des Harnisches.

»Nackte Füße!«, jauchzt Armand mit der faszinierten Entrüstung einer ehrenwerten Madame, die zum ersten Mal eine Show im Moulin Rouge sieht. »Quel risque!«

Ich rolle die Augen. Eugène betrachtet die Maserung des Dielenbodens. Würde es Spaß machen, wenn ich zur Abwechslung ihn im Dunklen lasse? Definitiv. Aber ich kann die Aufregung nicht in mir halten.

»Ich weiß, wo wir unterkommen können.« Grinsend angesichts der ungeteilten Aufmerksamkeit, lege ich den Kopf schief. Diese kleine theatralische Pause kann ich mir erlauben, um Eugène zappeln zu lassen. Doch dann hole ich tief Luft. »Das Pariser Quartier der Nachtschwärmer.«

 

»Die sollten passen.« Katya wirft mir ein Paar Stiefel entgegen, das ich gerade so fange.

Während ich sie anziehe, presst Zoé einen Mantel, den sie mir herausgesucht hat, fester an sich. »Sie sind etwas abgetragen, ich hoffe, das stört dich nicht?«

Ich zurre die Schnürsenkel fest und lächle zu ihr hoch. »Sie sind perfekt so. Hast du eine Ahnung, wie viele Blasen man sich in nagelneuen Stiefeln holt, wenn man –« Ich stoppe, bevor Jean auch mir auf den Fuß tritt.

Doch Zoé lächelt, bis die Haut um ihre Augen knittert. »Leidenschaftlich spazieren geht?«

»Wir sind allesamt sehr passionierte Spaziergänger.« Armand wirft die letzten Utensilien in einen Seesack – Decken, Wechselkleidung und Schreibwaren – und schwingt ihn über seine Schulter. »Merci, dass ihr die Sachen entbehren konntet.«

Eugène deutet zur Haustür. »Sollen wir dann? Ich will euch Kinder vor Nachteinbruch im Bett wissen.«

Ich schlinge die Arme um Georgette, Katya und Zoé. »Ein weiteres Mal helft ihr mir aus der Patsche. Und ein weiteres Mal konnte ich mich nicht revanchieren.«

Georgette tätschelt meinen Rücken. »Es reicht, wenn –«

»– ich die unmoralischen Dinge tue, für die man Kleidung wie diese braucht«, ergänze ich grinsend. »Ich habe es nicht vergessen.«

Während Armand und Jean durch die Haustür treten, legt Georgette eine Hand auf Eugènes Schulter. »Gib auf dich acht, Eugène«, raunt sie ihm zu, mit der Eindringlichkeit einer Mutter – oder einer Offizierin. »Mach nichts Unüberlegtes. Nicht unüberlegter als sonst, zumindest.«

Dann laufen wir zur nächsten Haltestelle auf dem Boulevard Voltaire, und ich umklammere den Gurt meiner Tasche zu fest. Den Anflug eines Gefühls angesichts ihrer Vertrautheit, das ich nicht beschreiben kann oder nicht beschreiben will, schlucke ich herunter. Denn etwas anderes wiegt schwerer. Sogar Georgette erkennt es nach kurzer Zeit. Seine Schwäche. Und – seinen Leichtsinn. Schlimmer als zuvor.

Sobald wir im überdachten, im Arbeiterviertel L’Héphaïstos natürlich noch pferdegezogenen Omnibus sitzen, umklammere ich meine ganze Tasche. Jean und Armand tauschen gewisperte Worte aus, während Eugène mit schweren Augenlidern den Kopf ans Fenster lehnt und auf die vorbeirasenden Straßen stiert.

»Du kannst dich ausruhen«, murmle ich. »Wir lassen dich nicht in der Kutsche zurück.« Er sieht zu mir, und ich mühe mir ein Grinsen ab. »So groß die Versuchung auch ist.«

Eugène stupst sein Knie gegen meins, was mich die Beine versteifen lässt. »Wenn ich schon in Dunkelheit und Ruhe nicht schlafen kann, dann erst recht nicht hier.«

»Ich habe nichts von schlafen gesagt, sondern von ausruhen. Du musst nicht Tag und Nacht auf den Beinen sein.« Ich gebe mir Mühe, den Vorwurf aus meiner Stimme zu verbannen.

»Ich kann mich ausruhen, sobald wir im Quartier sind«, winkt er ab. Doch sein sich verhärtendes Gesicht zeigt nur zu deutlich, dass er wie üblich seine Mauer aufbaut.

»Aber wirst du das auch?« Die Frage ist draußen, bevor ich es mir besser überlegen kann.

Eugène starrt aus dem Fenster. »Ich weiß, du meinst es nur gut.« Seine Hände verkrampfen in seinem Schoß. »Doch statt für gut gemeinte Ratschläge solltest du deine Zeit lieber nutzen, um dich um deine Angelegenheiten zu kümmern. Warum du immer noch nicht in dich und dein Lichtwirken vertraust, zum Beispiel.«

Ich presse meine Zunge gegen die Zähne, um ihn nicht anzufahren. Darf nicht zulassen, dass mich seine Worte treffen, egal, wie wahr sie sind. Denn er will von sich ablenken, indem er mir meine Fehler vorhält. Seufzend lehne ich den Kopf gegen den Sitz. Ein Muskel seines Kiefers zuckt, so als wollte er sein Gesicht mit aller Kraft davon abhalten, auch nur einen Muskel zu entspannen.

Eine sanfte Berührung lässt mich die Augen aufreißen.

Als hätte jemand die Welt um mich herum wie ein Bühnenbild ausgewechselt. Das zerfallene Gemäuer des Quartiers, nach außen eine verlassene Abtei, und die heruntergekommene Straße. Wann bin ich eingeschlafen? Eugènes Hand ruht auf meiner Schulter, und er lächelt zu mir herab. Leicht, ein wenig unsicher, entschuldigend.

Beim Aussteigen drücke ich flüchtig seine Hand, forme meine Lippen zu einem stummen »Schon in Ordnung«, und zusammen holen wir zu Armand und Jean auf, die am Tor der Abbaye-aux-Bois herumhantieren.

Wir schreiten durch die leer stehenden Gänge und das geisterhafte Kirchenschiff, steigen hintereinander die verborgene Wendeltreppe hinab. Eugène entzündet das Lampensystem, sodass die Lichter des weitläufigen Tempels nacheinander aufflammen. Mit offenen Mündern und hallenden Schritten wandern Jean und Armand zwischen den schlanken Alabastersäulen entlang. Jean hält vor dem Orrery inne, fährt mit den Händen über die silbernen und goldenen Ringe mit den eingelassenen Planeten.

Armand untersucht in der Nische mit den abgegrasten Büsten einen Haufen Lumpen aus Nachtschwärmer-Material auf dem Boden, dann spaziert er weiter. »Mit ein wenig Arbeit können wir uns im Tempel sicher einrichten.« Er zerrt einen dicken Lederband aus dem dreistöckigen Bücherregal. »Die Bücher scheinen gut erhalten zu sein, vielleicht finden wir Informationen, die uns nützen. Aber das ändert nichts an diesem einen Problem.«

»Die Nachtschwärmer wissen von diesem Quartier.« Jean verschränkt vor den dreizehn Götterstatuen in der Grotte am Ende des Tempels die Arme. »Clément wird eins und eins zusammenzählen und hier nach uns suchen.« Er legt den Kopf in den Nacken und betrachtet das Gesicht der mittleren Göttin. Erkennt er sie am tiefblauen Lapislazuli statt des Alabasters der anderen Statuen? Am beinahe lebensechten, mit Diamanten besetzten Tuch über ihrem Kopf? »Außergewöhnliche Arbeit«, murmelt er. »Auf der ganzen Welt existiert vermutlich keine zweite Statue der Nyx wie diese. Außerhalb des Ordens der Nyx hatte sie kaum kultische Bedeutung.«

Ich trete neben ihn. »Warum?«

»Du kannst zu Zeus beten, zu Poséidon, zu Arès. Um Donner, Unwetter und Krieg verhandeln.« Jean dreht sich zu mir. »Aber die Nacht kommt und geht, beständig, egal, wie viele Opfer du Nyx darbietest, wie sehr du sie bittest, bestichst, anflehst.«

Eugène klopft mir auf die Schulter. »Nun, abgesehen von der Lichtbringerin.«

Ich schnaube und schiebe die beiden fort, um den Statuen den Rücken zuzukehren. »Ich ändere nichts an der Nacht.«

Eugène holt auf und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Dein Lichtwirken ist am nächsten dran. Wenn jemand mit Nyx verhandeln kann, dann du.«

Ich schüttle sachte den Kopf. »Hunderte Industrielle, Regierungsmitglieder und Wissenschaftler, die Lampen entwickeln und aufstellen, mit ihnen die Straßen erleuchten. Wenn sie nicht die Nacht verändern, dann erst recht nicht ich. Egal, wie viele Lampen ich erhelle oder lösche, die Nacht bleibt so, wie sie ist.«

»Ich liebe eine gute Geschichtsstunde so sehr wie ihr alle«, Armand knallt den Seesack auf den Marmorboden, »aber was ist mit unserem Problem? Ihr wisst schon, dass jeden Moment Cléments abtrünnige Nachtschwärmer mit den Nyx hier hereinstürmen können?«

»Ich glaube, momentan gelten eher wir als die abtrünnigen Nachtschwärmer«, murmelt Eugène.

Langsam drehe ich mich im Tempel. Dieser Ort ist zu perfekt, um ihn aufzugeben. Verborgen vor Unwissenden. Ausrüstung, egal, wie spärlich. Licht zu Tag und Nacht. Platz zum Schlafen, für Übungskämpfe. Und, vor allem, Wissen. Die Bücher in den hohen Regalen müssen Geheimnisse bewahren, die unsere maßlose Unterlegenheit ein klein wenig verbessern könnten.

Mein Blick bleibt an der Wendeltreppe hängen. »Wie wäre es, wenn unsere Feinde nur eine Ruine vorfinden? Eine zerstörte Abtei, eine geplünderte Kirche, eine eingestürzte Wendeltreppe.«

Eugène tippt sich ans Kinn. »Sie würden glauben, der Tempel wäre nicht länger begehbar.«

»Weil er das nicht ist.« Jean verschränkt die Arme. »Oder kannst du durch Wände schattenspringen?«

Grinsend presst Eugène seinen Ringschlüssel in eine Vertiefung der Wand. Ein Teil der Vertäfelung gleitet mit einem Klicken auf und legt einen in den Stein gemeißelten Tunnel frei. »Mehrere Gänge der Catacombes führen durch ganz Paris, vergessen?«

»Vergessen, dass auch Clément von den Gängen weiß?«, grummelt Jean.

Ich husche zur Nische mit dem von Dutzenden Stühlen umgebenen Besprechungstisch und wühle im darauf verstreuten Haufen aus Karten. Paris, Frankreich, eine besonders kunstvolle Weltkarte und – Treffer! Triumphierend recke ich die Karte der Catacombes in die Höhe. »Anscheinend mit allen Gängen, nicht nur die, von denen die Öffentlichkeit weiß!«

»Und jetzt was?« Jean runzelt die Stirn. »Wir schmuggeln eine nachgeahmte Karte mit falsch verzeichneten Tunneln bei den Nachtschwärmern ein?«

»Mir gefällt deine unerwartete Kreativität.« Anerkennend nickend deutet Eugène auf Jean. »Aber ich glaube, Odette hat eine etwas radikalere Lösung im Sinn.«

Ich lasse die Karte sich einrollen. »Wir zerstören nicht nur die Wendeltreppe, sondern auch die Zugänge durch die Catacombes. Bis auf einen. Und den manipulieren wir so, dass er eingestürzt aussieht.«

Armand stupst Jean mit der Schulter an. »Das würde es für uns unpraktischer machen. Jedoch sicher.« Er zieht eine Grimasse. »So sicher, wie es eben geht.«

»Jetzt müssen wir nur genug Sprengstoff besorgen, um ein kleines Dorf einzureißen. Mit einem Budget von wie vielen Francs? Oder haben wir bloß noch Centimes übrig?« Jean wirft die Hände in die Luft. »C’est du gâteau!«

Er hat recht. Wie bei Hadès’ Unterwelt kommen wir an Geld – und Sprengstoff? Erschöpfung zeichnet die Gesichter der anderen, während sie wortlos herumwandern. Ich sinke in einen der Stühle und lege den Oberköper auf den Besprechungstisch. Das Pergament der Karten ist so weich unter meinen Händen. Ich schließe die Augen. Weich unter meinen Wangen.

»Louise vermisst dich.«

Ich reibe mir über die Lider und richte mich auf.

Armand hockt auf dem Tisch und schert sich nicht darum, ob er die antiken Karten zerknittert.

»Wann warst du bei ihr?«, murmle ich und zähle in Gedanken die Tage, seitdem ich bei ihr war.

»Vor drei Tagen.« Also habe ich sie noch länger nicht gesehen. Armand knufft meine Schulter, bevor ich in Gram versinken kann. »Es geht ihr gut. Sie ist in Sicherheit. Ich habe es kaum zu ihr geschafft, weil ihr Vater die Wachen verdoppelt hat. Man könnte fast glauben, er wollte nicht, dass sich jemand heimlich Zutritt in ihr Zimmer verschafft.«

Seufzend sinke ich zurück auf den Tisch. So weich. Der Kontrast verschärft das Stechen in meinem Herzen nur. »Ich vermisse sie auch«, flüstere ich. So sehr wie meine Familie. Ohne sie alle fühle ich mich so unendlich allein. Doch das bin ich nicht. Ich habe Eugène, Armand und Jean.

»Solltest du das mir sagen?« Armand hüpft vom Tisch, so energiegeladen, als hätte er zehn Stunden Schlaf dazwischen gemogelt, während wir kurz nicht hingeschaut haben.

»Ich sollte es ihr sagen«, murmle ich ins Pergament. Der Geruch von Büchern, von Wissen. So traumhaft. Aber noch lieber will ich Flieder und überzuckerten Tee riechen. Also springe ich auf und tippe auf die Karte der Catacombes. »Klärt ihr, welche Gänge wir einstürzen lassen. Ich besuche Louise. Und kümmere mich um den Sprengstoff.«

 

Armand hat nicht übertrieben – um das Hôtel d’Amboise patrouillieren doppelt so viele Wachen wie bisher. Ein Glück, dass ich das Dach über die anderen Häuser erreiche. Nur werde ich im schwarzen Manteau und der Nachtschwärmer-Uniform im Licht der Abendsonne an der hellen Sandsteinfassade herausstechen wie eine überdimensionierte Tarantel. Also warte ich ab, bis alle Wachen in eine andere Richtung schauen. Dann gleite ich über die Traufe an der Hauswand hinab und lande auf Louise’ Fensterbrett.

Ich kneife die Augen zusammen, um etwas hinter der reflektierenden Scheibe zu erkennen, doch die Sonne steht zu tief. Vorsichtig klopfe ich ans Glas und werfe einen Blick nach unten. Eine Wache latscht zum Haupteingang, ein Gewehr im Anschlag. Wenn er kehrtmacht, hocke ich genau in seinem Sichtfeld. Ich klopfe dringlicher, presse mich ans Glas.

Wo ist Louise nur?

Vielleicht hätte ich nachts kommen sollen. Der Wachmann lehnt sich gegen das Gittertor und inspiziert die Rue de Lille. Noch kann ich verschwinden. Doch ich beiße mir auf die Unterlippe. Die letzten Jahre habe ich Louise praktisch täglich getroffen – seit unserer Flucht vor ein paar Wochen höchstens dreimal.

Ich zerre das Set Dietriche aus meiner Tasche, mit dem Armand mir Nachhilfe gibt, immer wenn wir ein wenig Zeit haben. Ich habe den Dreh nicht ganz raus, aber das Schloss ähnelt denen, an denen wir zuerst geübt haben. Ein simples Buntbartschloss. Ein Wunder, dass Louise’ Papa es nicht hat austauschen lassen. Ich greife den einfachen Dietrich, der nicht nur aussieht wie ein schief geschlagener Nagel, sondern im Grunde auch einer ist, und atme tief durch. Solange ich nicht die Nerven verliere, ist es eine Sache von wenigen Sekunden.

Langsam schiebe ich den Dietrich ins Schloss. Ich stochere, bis der von innen steckende Schlüssel auf den Parkettboden klirrt. Dann halte ich die Luft an und schiebe den Stift hin und her, um den Bolzen zu erwischen.

Etwas kreischt hinter mir auf. Ich schnelle herum, schwanke auf dem Fensterbrett. Weite Schwingen flattern im Sturzflug direkt vor meinem Gesicht entlang, und ich atme aus. Nur ein Vogel.

Doch auch der Wachmann hat ihn gehört. Er dreht sich langsam um.

Ich muss abhauen. Sofort. Aber etwas in mir fesselt mich an das Schloss. Ich rüttle am Dietrich, bis das Rattern über den Innenhof hallt. Der Wachmann blickt hoch, das Fenster schwingt auf, und ich stürze in Louise’ Zimmer. Atemlos fluchend presse ich mich an die Wand unter dem Fenster.

Louise huscht zu mir – also ist sie hier! – und lehnt sich heraus. »Keine Sorge, Monsieur Fernand! Ich schüttle nur gerade meine Kleider aus! Die werden beim Sticken so staubig!«

Ich schnaube ob der offensichtlichen Lüge, die der Wachmann ihr offenbar abkauft. Die Rüschen von Louise’ spitzen- und perlenbesetztem Abendkleid, das sich eigentlich erst in ein paar Stunden schickt, ersticken mich, und ich schiebe sie zur Seite. Meine Finger krallen sich in den zarten Tüllstoff.

Denn ihr Leibwächter Edwin kauert über Louise’ rosafarbenem Bergère-Sessel. Halb stehend, halb sitzend, als wollte er aufspringen und fliehen.

Er starrt mich an, mit großen Augen, so offensichtlich schuldbewusst, wie er es sein sollte. Während Louise beherzt das Fenster schließt und ich aufspringe, zückt Edwin zögerlich die karierte Schieberkappe. Sein sandbraunes Haar fällt zerzaust in seine Stirn. Zu zerzaust.

»Was bei Dionysos’ verschüttetem Wein tut er hier?« Ich lasse Louise’ Kleid nicht los.

»Er ist mein Leibwächter. Edwin.«

»Edwin Bingley.« Mit einem Räuspern steht er auf und veranstaltet eine komplizierte Mischung aus Verbeugung und Diener, die deutlich macht, dass er sich selten in seinem Leben an Etikette hält. »Sehr erfreut, auch offiziell Ihre Bekanntschaft –«

»Sie haben mich halb bewusstlos aus einem Müllhaufen gezerrt und stehen jetzt ohne Anstandsdame im Schlafzimmer meiner unverheirateten Freundin – also hören Sie schon auf mit den Floskeln. Dafür ist es zu spät.«

Louise umschlingt meinen Arm und strahlt mich an. »Bingley, Odette! Wie in Orgueil et Préjugés!«

»Inwiefern ist ein Roman von Jane Austen eine sinnvolle Begründung, warum er hier mit dir allein ist? Ein Leibwächter bewacht die Zimmertür von außen!« Weil er es wagt, die Hände beschwichtigend zu heben, zücke ich mein Stilett. »Und seine völlige Missachtung gesellschaftlicher Gepflogenheiten und deiner Sicherheit lassen mich an seiner Eignung als Leibwächter zweifeln.«

»Mademoiselle Louise bat mich, ihr bei der Kleiderauswahl für eine Soirée zu helfen. Ich schwöre, ich würde nie etwas tun, das ihre Tugend gefährdet.«

»Oh, also sind Sie nicht nur Leibwächter, sondern auch noch Grand Couturier?«

Seine azurblauen Augen, das einzige bemerkenswerte Merkmal seiner unscheinbaren Erscheinung, funkeln. »Nun, ich habe eine Schneiderlehre begonnen, bevor ich England verließ, um –«

»Schluss jetzt!« Louise tritt mit ausgestreckten Armen zwischen uns. »Alle beide!«

Edwin verstummt sofort. Immerhin hört er auf sie.

»Odette, du schläfst seit Wochen mit drei Männern unter einem Dach.« Louise verschränkt die Arme, während Edwin eine Augenbraue hochzieht. »Du bist die Letzte, die mir Vorträge halten kann.«

»Das ist etwas anderes!«

»Wieso vertraust du mir nicht einfach, dass ich auf mich selbst aufpassen und eigene Entscheidungen treffen kann?« Louise’ Augen werden groß, gläsern und einen Hauch einschmeichelnd. »So wie du?«

Ich presse die Lippen aufeinander. Der Gedanke, dass sie allein ist mit Edwin, aus dem irgendwie gleichzeitig die zwielichtige Energie eines Raufbolds in einer Hafentaverne und die nicht vorhandene Spektakularität eines Buchhalters triefen, lässt mich mit den Zähnen knirschen.

Aber ich kann und will keine Entscheidungen für Louise treffen. »Ich vertraue dir«, murmle ich und blicke zu Edwin. »Und ich vertraue dir. Fürs Erste. Sollte ich jedoch Beschwerden hören, drücke ich Louise höchstpersönlich den größten Stein in die Hand, den ich finden kann.« Ich verschränke die Arme. »Sie kann fantastisch mit Steinen als Wurfgeschoss umgehen.«

Edwin schüttelt seine Schieberkappe aus. »Ich habe gesehen, wie sie eine Bombe als Wurfgeschoss verwendet. Ich weiß, wozu sie imstande ist.« Er setzt die Kappe auf, nur um sie zücken zu können. »Die Abendgarderobe ist gewählt, die Amazonen sind besänftigt, daher verabschiede ich mich. Meine Empfehlungen.« Rückwärts verlässt er Louise’ Zimmer.

Sobald die Tür zufällt, wirble ich zu Louise herum. »Hat er uns gerade Amazonen genannt?«

Louise strahlt. »Fantastisch, oder?«

Für die nächste Frage brauche ich ein paar Anläufe. »Hast du etwa Gefallen an ihm gefunden?«

Sie winkt ab. »Können wir über wichtigere Themen sprechen?«

»Ich wüsste nicht, was wichtiger ist als eine Vielleicht-Tändelei mit deinem Leibwächter!«

»Ich habe herausgefunden, dass Rémy, der Maschinenmensch, zerstört wurde, nachdem du deinen Papa befreit hast.«

Ich knirsche mit den Zähnen. »Das könnte wichtig genug sein, um es weiterzuverfolgen, aber nicht so wichtig, dass du mich von deinem … deinem … Gespielen ablenken kannst!«

»Papa hat meinem Studium zugestimmt!«, brüllt sie mir ins Gesicht.

Ich vergesse, wie man spricht, atmet oder auch nur blinzelt.

Louise nimmt einen dicken Briefumschlag von ihrem Nachttisch, auf dem sie eine Art Schrein für das Schriftstück aufgebaut hat. »An der Faculté des Lettres! Französische Poesie!«

Mit zittrigen Händen nehme ich den Brief entgegen. Er wiegt so schwer wie ein rubinbesetztes Collier. »Poesie?«, stammle ich, während die Buchstaben auf dem Schreiben vor meinen Augen verschwimmen. »Interessierst du dich für Poesie?« Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir je über Poesie gesprochen haben. Vielleicht bin ich nur so überrascht, weil ich seit jeher ausschließlich Naturwissenschaften in Betracht ziehe.

»Poesie ist schon in Ordnung.« Louise wirft sich rücklings aufs Bett. »Das war Papas Bedingung. Etwas, das sich für eine Mademoiselle von Welt schickt. Aber letztendlich ist es völlig egal, was ich studiere. Allein, dass ich studiere, zählt!«

Ich presse den Brief an meine Brust. »Du gehst an die Sorbonne«, hauche ich.

Louise stützt sich auf ihre Unterarme und betrachtet mich eingehend. »Odette«, beginnt sie zart, besorgt und fremd, »wenn du –«

»Du gehst an die Sorbonne!«, juble ich, kreische ich und schmeiße mich auf sie, als wären wir Kinder. Sie lacht unter mir, während ich sie schüttle, weiter juble und diesen Kloß im Hals runterschlucke, bevor ich zu allem Überfluss noch in Freudentränen ausbreche. Dann halte ich still. »Der Brief!« Ich zerre ihn zwischen uns hervor und streiche ihn glatt.

Lachend wischt sich Louise verwirrte Locken aus der Stirn. »Es ist nur ein Stück Papier.«

Ich lege ihn trotzdem zurück auf sein Silbertablett. Das mit Blumen und Perlen verzierte Tablett. Danach presse ich beide Hände gegen meine Brust, dort, wo der Athéna-Anhänger unter meiner Uniform ruht, damit mein Herz nicht herausspringt. Auch für Louise ist es mehr als ein Stück Papier. Und sie hat sich gesorgt, dass mich ihre Neuigkeit traurig macht, weil ich nicht mit ihr studieren kann. Dabei wussten wir doch, wenn überhaupt, würde nur eine von uns dieses Glück haben. Und ich wusste immer, dass sie es sein würde.

Ich greife ihre Hände. »Wann geht es los? Wie viele Kurse hast du? Du musst mir alles erzählen, jedes Detail! Wie die Professeurs sind, welches dein liebstes Seminar ist, wie viele Bücher die Bibliothek fasst, welche Farben sie für die Toilettenfliesen gewählt haben! Alles!«

Louise kichert. »Ganz ruhig, Odette. Mein Studienbeginn verzögert sich, bis Papa die Lage als sicher einschätzt.«

Die Lage, in der sie erst wegen mir gelandet ist. »Ich weiß nicht, wann sich etwas ändert. Wir machen kaum Fortschritte, und die Nyx sind so übermächtig –« Ich schrecke hoch, weil ich sie noch gar nicht auf den aktuellen Stand bringen konnte. Alles nur wegen Edwin! »Sie haben uns zu Eugènes Unterschlupf verfolgt, und wir mussten fliehen. Du darfst also unter keinen Umständen wieder von zu Hause abhauen und dorthin gehen!«

Sie lehnt sich vor. »Ist jemand verletzt?«

»Es geht allen so weit gut. Wir richten uns im ehemaligen Quartier der Bruderschaft ein und sichern den Tempel so, dass niemand außer uns hineinfindet.« Ich verdränge dieses zischende Flüstern, dass ich so etwas allein schaffen müsste. »Dafür brauchen wir deine Hilfe.«

Louise spitzt die Lippen. »Beim Einrichten? Ich meine, ich habe einen makellosen Geschmack, aber findest du nicht, andere Dinge drängen mehr? Wie du dein Lichtwirken kontrollieren kannst, wie ihr die Nyx besiegt, die Menschheit vor Sirènes rettet?«

»Kannst du weitere Sprengkörper besorgen?«

Sie grinst. »Jetzt bin ich eure Waffenhehlerin? Vielleicht brauche ich gar kein Studium, um etwas aus mir zu machen.« Doch ihr Grinsen schwindet. »Papa hat gemerkt, dass zwei Waffen fehlen, und die Schutzmaßnahmen erhöht. Wenn ich erneut in seiner Firma auftauche, kurz bevor Bomben verschwinden –«

Stöhnend lasse ich mich nach hinten fallen. »Natürlich, du kannst nicht wieder von ihm stehlen.«

»Borgen«, korrigiert sie und schwingt sich vom Bett. »Dafür kann ich etwas anderes tun. Mehr darüber herausfinden, ob die Nyx deinen Vater nur zufällig ausgewählt haben. Wie sie erfahren haben, dass er dein Vater ist. Was es mit Rémys Zerstörung auf sich hat. Ob … Ob mein Vater etwas weiß.«

»Die Nyx wollten dich entführen, also gehört er wohl kaum zu ihnen. Trotzdem muss es eine Verbindung geben, über die er selbst nicht Bescheid weiß.« Langsam nicke ich. »Wenn du die herausfindest, wäre das eine große Hilfe.«

»Und ihr braucht Geld, oder?«

»Wir haben fast alles von unserem Auftrag ausgegeben, aber ich lasse mir etwas einfallen.«

Louise hält vor ihrer zierlichen Coiffeuse mit dem drehbaren Spiegel und starrt einen Moment auf die vielen Rougepöttchen, Glasflakons und Pinsel hinab. Ihre Schultern heben sich, so tief atmet sie ein, dann dreht sie sich um und hält mir ihre riesige Schmuckschatulle hin. »Nimm das und verkauf es.«

Ich starre die zierlichen Armreifen, Perlenohrringe und Diamantringe in den zahlreichen Fächern an. Alles, was sie besitzt. Hastig krabble ich vom Bett und schlage die Schatulle zu. »Das kann ich auf keinen Fall –«

»Papperlapapp. Es gibt wirklich Wichtigeres als Schmuck. Und den hier brauche ich nicht mehr.« Louise öffnet die Schatulle, schaufelt händeweise Schmuck auf das Bett und hebt grinsend das Kinn. »Schließlich bin ich bald eine studierte Frau.«

Obwohl mir nach allem anderen zumute ist, muss ich lachen. »Du hast dein Studium noch nicht begonnen, aber bist schon eine Philosophin, die allem Weltlichen und Materiellen entsagt?«

Louise schnaubt und kippt den restlichen Schmuck klirrend aus. »Ich bin bald eine studierte Frau – und kaufe mir meinen eigenen Schmuck!«

»Das musst du auch.« Grinsend stupse ich sie mit der Schulter an. »Dein verarmter Leibwächter kann dir nämlich keinen schenken, wenn du mit ihm durchbrennst.«

»Ich brenne nicht mit ihm durch.« Mit gerümpfter Nase würdigt sie mich keines Blickes. »Jetzt bleibt nur die Frage, wo du Sprengstoff herbekommst. Kennst du jemanden vom Schwarzmarkt?«

»Ich bin arm, nicht kriminell.«

»Mehrmaliger Einbruch bei den Nyx, Zerstörung von Eigentum, Explosionen und Brandstiftung. Das ist nicht kriminell?«

Ich lege den Kopf schief. »Touché. Trotzdem kenne ich niemanden vom Schwarzmarkt. Aber jemand Besseres.« Ihre Säure hat mir schon einmal das Leben gerettet. Mehr als einmal, schließlich habe ich durch die Brandnarbe erkannt, dass Clément der Dirigent ist. »Madame Bouchard.«

Louise nickt langsam mit gerunzelter Stirn. »Kannst du riskieren, zurück in eure Straße zu gehen?«

Ich streiche mir über die Schläfen. Es muss eine Möglichkeit geben, Madame Bouchard zu treffen. Auch für den Fall, dass sie Neuigkeiten von meiner Familie hat. Ich schüttle den Kopf, denn allzu viele Hoffnungen darf ich mir nicht machen. Jede Kontaktaufnahme ist gefährlich. »Sie und Madame Curie kennen sich«, beginne ich langsam. »Eventuell kann ich über Madame Curie ein Treffen arrangieren.«

Louise strahlt. »Das klingt doch nach einem Plan!«

Ich umarme sie zur Verabschiedung, obwohl sich alles in mir danach sehnt, länger zu bleiben. Wer weiß, wann ich sie das nächste Mal sehe.

Ich bin schon beinahe aus dem Fenster, da drehe ich mich noch einmal zu ihr um. »Edwin Bingley«, betone ich den Namen ihres Leibwächters Schrägstrich Vielleicht-Auserwählten kopfschüttelnd. »Du hast Orgueil et Préjugés immer gehasst.«

Sie grinst mich nur an und zieht ihre Vorhänge zu.

 

Mit so geballter Faust, dass meine Knöchel weiß hervortreten, klopfe ich an die Tür zu Madame Curies Schuppen in der École Municipale de Physique et de Chimie Industrielles. Der hölzerne Verschlag scheint in den letzten Wochen noch mehr zusammengesackt zu sein, und durch die rußverschmierten Sprossenfenster kann ich keinen Blick ins Innere erhaschen, auch wenn diesiges Licht aus ihnen in den finsteren Hinterhof fällt. In der Luft liegt der vertraute, beißende Dunst aus Kohle und Chemikalien ihrer Experimente. Meine Nase protestiert, aber mein Herz pocht ein wenig schneller.

Madame Curie schwingt die Tür auf und wischt sich über die Stirn, wo eine schmale Rußspur zurückbleibt. »Ja, bitte?« Ein schwacher Hauch von Irritation zeichnet sich in den Linien um ihren Mund ab – weil ich sie aus der Arbeit gerissen habe? Ich gehe einen Schritt zurück, um sie keine Sekunde länger zu stören, doch ihre Augen weiten sich, und die irritierten Linien weichen einem seichten Lächeln. »Odette! Wie schön, dich zu sehen!« Sie hält die Tür auf, dann runzelt sie die Stirn. »Ich sollte pikiert sein, unangemeldeten Besuch zu empfangen, oder?«

»Ich verrate nichts, wenn Sie nichts verraten.« Hastig betrete ich ihr Laboratoire. Je schneller ich aus dem Sichtfeld der Dutzenden Fenster bin, desto besser. Sicher arbeiten hier nachts auch andere Wissenschaftler und Studenten.

»Abgemacht.« Madame Curie dreht die grellblaue Flamme eines Bunsenbrenners niedriger. »Warum besuchst du mich?«

Gaslampen erhellen den beengten Raum, sodass der radioaktive Schein all ihrer Exponate unsichtbar bleibt, dafür nimmt mir das warme Licht ein wenig meiner Befangenheit. Sie ist eine Frau der Rationalität und Effizienz. Wenn ich bei jemandem direkt zum Punkt kommen kann, dann bei ihr. »Ist es möglich, dass Sie ein Treffen mit Madame Bouchard arrangieren?«

Regungslos sieht sie mich an und verschränkt die Arme. »Es ist wohl sinnlos zu fragen, wieso du sie nicht einfach besuchst?«

Sie gaukelt Ahnungslosigkeit vor. Ich weiß nicht, wie viel sie weiß, über die Nyx oder die Nachtschwärmer. Und ich weiß im Grunde nichts über die mysteriöse Verbindung zwischen Madame Bouchard und Madame Curie. Ich weiß nur, dass die beiden Teil irgendeiner Organisation sind. Vermutlich. Falls ich die Hinweisfetzen richtig interpretiere. Also spiegle ich ihre verschränkten Arme. »Müssen Sie überhaupt fragen?«