The Lesson of Curses (Chronica Arcana 1) - Laura Cardea - E-Book
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The Lesson of Curses (Chronica Arcana 1) E-Book

Laura Cardea

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Beschreibung

**Tritt ein in Prags verborgene Welt der Magie** Mathea liebt Sarkasmus, Geld – und ihre Ruhe. Doch als Helle Magie in ihr erwacht, muss sie ihre geordnete Existenz als Jurastudentin aufgeben und die nervtötend harmonische Univerzita Mystika e Magie in Prag besuchen. Und als wären feministische Magier und Hippie-Nixen nicht genug, entbrennt zum so begabten wie hochmütigen Warlock Atlas eine unwiderstehliche Rivalität. Der Haken: Er gehört zur verfeindeten Academia Sinistra. Dort versucht sich wiederum die Hexe Ellie ihren Platz zu erkämpfen, obwohl sie sich eigentlich nur von alldem fort wünscht – wäre da nicht Astra, dank der sie ihre übermächtigen Kräfte zu verstehen beginnt. Als an einer der beiden Akademien ein Fluch entdeckt wird, müssen die vier zusammenarbeiten. Doch was, wenn die Feindschaft zwischen Schatten und Licht niemals überwunden werden kann? Endlich Lesenachschub von Erfolgsautorin Laura Cardea! Bildgewaltig, atmosphärisch und ein Setting zum Verlieben! //Dies ist der erste Band der mystisch-magischen Romantasy »Chronica Arcana«. Alle Romane der fesselnden Academy-Fantasy: -- Band 1: The Lesson of Curses -- Band 2: The Secret of Ink -- Band 3: The Book of Seals//

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ImpressDie Macht der Gefühle

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Laura Cardea

Lesson of Curses

Mathea liebt Sarkasmus, Geld – und ihre Ruhe. Doch als Magie in ihr erwacht, muss sie die nervtötend harmonische Univerzita Mystika e Magie besuchen. Und als wären feministische Magier und Hippie-Nixen nicht genug, entbrennt zum begabten wie hochmütigen Warlock Atlas Oserov eine ­unwiderstehliche Rivalität. Der Haken: Er gehört zur verfeindeten Academia Sinistra. Dort will die sanfte Ellie dem Studium und der charmanten Hexe Astra entkommen. Als ein Fluch auf Mathea entdeckt wird, müssen die vier zusammenarbeiten. Doch was, wenn die Feindschaft zwischen Schatten und Licht niemals überwunden werden kann?

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Vita

Danksagung

© privat

Laura Cardea wurde seit ihrer Kindheit dazu ermahnt, nicht so viel zu träumen. Statt darauf zu hören, tauchte sie immer wieder in neue Bücherwelten ein. Irgendwann reichte ihr das Lesen nicht mehr und sie erträumte sich eigene Welten. Das Schreiben von Geschichten zieht sich seitdem durch ihr Leben. Neben dem Schreiben studiert sie Medien- und Kulturwissenschaften und arbeitet als freiberufliche Mediendesignerin sowie Bloggerin.

Für Jani,

du weißt, warum.

Aber einige andere wissen es noch nicht, also: Du bist eine fantastische Testleserin, Ansprechpartnerin, Lektorin, Unterstützerin und Freundin.

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Laura und das Carlsen-Team

In meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir nicht vorstellen können, in einem Wirbelsturm aus glitzerndem Feenstaub und rosa Schmetterlingen zu sterben. De facto handeln meine Albträume selten vom Sterben. Eher von Stuhlkreisen, in denen sich jeder auf besonders witzige Weise vorstellen soll, um das Eis zu brechen. Dabei würde ich das Eis gern intakt halten. Oh, erst vor ein paar Tagen träumte ich von einer Eisdiele, in der ich Very Berry Pastel Passion aussprechen musste. Schweife ich ab?

Stöhnend atme ich ein. Ich schweife ab.

Kein Wunder, wenn bei jedem Atemzug Schmerzen durch mich hindurchschießen, als wären all meine Knochen gebrochen. Vielleicht halluziniere ich, um es erträglicher zu machen. Genauso wie den Gestank nach Fichten, Moderwasser und Brennnesseln. Warum ich ausgerechnet halluziniere, in einem Britney-Spears-Musikvideo von 1999 gefangen zu sein, ist mir ein –

Mathea, reiß dich zusammen.

Wie bin ich hier gelandet, in einer Pfütze, die mir die Kleidung an die Haut pappt? Etwas sticht in meinem Rücken, Äste vielleicht. Brennnesseln, die meine Haut Blasen werfen lassen. Oder gebrochene Knochen. Und diese Schmetterlinge in Glitzerwolken schwirren vor meinen Augen herum.

Keine Ahnung, warum ich hier bin. Oder wo hier ist. Aber ich muss Hilfe rufen. Doch statt Worten kommt ein Husten aus meiner Kehle hervor, bei dem jede Rippe einzeln von meiner Wirbelsäule bricht. Wirkliche Angst flößt mir jedoch ein, dass ich meinen Kopf nicht mehr spüre. Oder die Schmetterlingsflügel, die in mein Gesicht peitschen.

Bestimmt ein Genickbruch. Endet nicht so oft im Tod, wie man denkt. Aber vermutlich schon, wenn man mit zerschmetterter Halswirbelsäule tief im Wald einen Abhang hinunterpurzelt.

Hey, eine vage Erinnerung! Bringt mir nur nichts mehr.

Ich werde sterben. Das spüre ich.

Gut. Augen schließen, still halten. Ich verlasse die Welt nicht röchelnd, augenrollend und mich windend. Man findet mich gefasst schlafend vor, nicht als zerrupfte Marionette.

Und ich bin bereit.

Sicher, ich habe meine Ziele nicht erreicht. Wie auch, mit einundzwanzig, mitten im Jura-Studium, für das ich die letzten Jahre nur mit Lernen verbracht habe? Ich bereue nichts. Auch wenn andere behaupten würden, ich mache mir damit etwas vor. Menschen, die predigen, man solle jeden Tag wie seinen letzten leben. Was für ein Quatsch. Täten das alle, würde die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung in Zustände wie bei The Purge ausarten. Nein danke. Lebe jeden Tag, als würdest du noch neunzig Jahre leben und nicht in Altersarmut enden wollen.

Hörst du, bärtiger alter Knacker, oder wer auch immer mich in Empfang nimmt? Ich bin bereit für den albernen Tunnel und das klischeehafte Licht.

Doch etwas kitzelt an meinen Schläfen. Dabei habe ich doch eben nichts mehr gespürt? Mit größter Mühe öffne ich die Augen. Die Schmetterlinge. Verdammt. Wortwörtlich. Die Hölle existiert – und sie ist pink und glitzert. Das empfinde ich nun doch als ungerecht. Natürlich war ich kein sonderlich liebenswerter Mensch. Gleichzeitig auch kein schlechter. Nur jemand, dem Zwischenmenschliches wenig zusagt. Aber die Hölle? Weil ich in Frieden gelassen werden wollte und andere dafür auch in Frieden gelassen habe?

Der Schmerz ebbt ab wie eine flache Welle, die nur Schaum hinterlässt. Kein gutes Zeichen. Egal. Ich bin bereit. Bereue nichts. Nur, dass da diese armselige Stimme ganz tief in mir flüstert.

Sie fragt, ob das wirklich alles war.

Tatiana stiert den staubigen Glaskolben mit dem menschlichen Herzen an. »Ellie? Sicher, dass wir im richtigen Museum sind?«

»Natürlich.« Ich halte ihr meine Eintrittskarte unter die Nase. »Da. Alchemie-Museum.«

»Jakub hat das Speculum Alchemiae empfohlen.« Sie stöhnt. »Ellie. Steht dort dieser Name?«

»Ist doch egal.« Ich tippe eine vergoldete Waage an. Plastik. »Hauptsache, Alchemie.«

»Nicht egal, wenn wir offensichtlich abgezockt werden.« Tomáš, der im schummrigen Licht geisterblass aussieht, wirft einen Blick auf die knorrige Angestellte, die starr in einer Ecke steht. »Das Einzige, was alt genug ist, um aus einem echten Alchemistenlabor zu stammen, ist sie.«

»Sei nicht so gemein.« Ich lächle die Frau an, die nicht einmal blinzelt. Ihre Augen sind so trüb wie die Flüssigkeit in den Reagenzgläsern. »Ich finde sie süß.«

»Du findest alles und jeden süß. Sogar Baba Jaga da drüben.«

»Sie ist keine Hexe.« Ich ergreife das oberste Buch eines Stapels – doch es klebt an den anderen. Attrappen. Ohne Tatianas Grinsen zu beachten, drehe ich mich zu Tomáš. »Hexen existieren nicht.«

Er streicht sich eine Locke, rot wie die seiner Schwester Tatiana, aus der Stirn. »Dachte ich auch. Bis vor zehn Minuten.«

Hinter der nächsten Ecke starrt mich eine Fratze an. Ich schrecke zurück, muss dann lachen. Eine Wachsfigur. Köstlich!

»Ich hab in der vierten Klasse realistischere Figuren aus Pappmaschee gebastelt.« Tatiana pustet Staub aus dem schütteren Haar des Alchemisten. »Ich hab geglaubt, dass dieser heruntergekommene Vergnügungspark aus den Siebzigern für dich der größte Spaß deines Lebens war. Oder als du geschworen hast, dass du das wässrige Gulasch in dieser überteuerten Kaschemme genießt. Hab dir sogar abgenommen, dass dir der Bungeesprung Spaß gemacht hat, egal wie sehr du geheult hast. Aber du kannst nicht ernsthaft behaupten, diese Bruchbude gut zu finden!?«

»Sie haben aus wenigen Mitteln das Beste gemacht!«

»Können wir einfach gehen? Die Frau macht mir Angst.«

»Natürlich!« Ich bahne mir einen Weg durch die Regale und hinter mir schmatzen ihre Schritte auf dem Parkett.

Im Foyer nicke ich dem Kassierer zu, der uns keines Blickes würdigt. O nein, kränkt ihn unser abrupter Aufbruch? Ich krame in meiner Tasche, um zumindest Trinkgeld in das Glas vor ihm zu werfen, doch Tatiana zerrt mich nach draußen, dann über die schmale Kopfsteinstraße Nerudova.

Hier, wo Touristen von alten Gebäuden bewacht zur Prager Burg hochpilgern und von überteuerten Lokalen und Souvenirläden angelockt werden, drängen sich noch mehr Menschen als sonst. Normalerweise liebe ich es, die historischen Hauswappen an den barocken Steinfassaden zu entdecken. Drei Geigen, wo Instrumente gebaut wurden, der goldene Löwe einer alten Apotheke, die zwei griesgrämigen Sonnengesichter, wo der Schriftsteller Jan Neruda gelebt hat. Doch heute klammere ich mich an Tatiana. »Wollen die alle zur Burg?«

»Davor findet eine Demo statt.« Tomáš schirmt mich vorm Getümmel ab, während wir die Nerudova hinaufstaksen.

Die zwei haben wohl doch mehr mitbekommen als gedacht. Einerseits wird mir warm ums Herz, weil ich sie nicht so eingeschätzt habe. Aber gegen die Verbundenheit meiner Familie – meiner ehemaligen Familie – wirkt wohl jede andere Beziehung wie eine flüchtige Bekanntschaft.

»Gegen den Krieg, hab ich gelesen.« Tomáš schiebt uns durch eine Lücke zwischen den Demonstrierenden.

Andererseits dreht sich alles beim Gedanken, mit ihnen über tiefere Themen zu sprechen als das beste Bier von Prag und wofür wir unser Geld vom Aushilfsjob ausgeben.

Tatiana schnaubt. »Weiß ja nicht, wie es helfen soll, wenn ein paar Gutmenschen ihre Banner rumwedeln.«

»Es ist wichtig zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind.« Ich verknote meine Hände. »Sollen wir uns ihnen anschließen?«

»Ich dachte, du hast Agoraphobie?«, fragt Tomáš.

»Ago-was?«

»Angst vor Menschenmengen«, entgegnet er, als wäre das etwas, das ich kennen müsste. Müsste ich das kennen?

»Mir ist nur etwas unwohl, weil ich das nicht gewohnt bin.«

»Hab ich dich Landpomeranze je gefragt, wie wenige Einwohner in deinem Hundert-Seelen-Dorf Vílov leben?«, fragt Tatiana.

»Ich glaube, um die vierzig«, murmle ich. »Aber ich habe nur in der Nähe von Vílov gelebt.«

»In der Nähe von einem Dorf mit vierzig Bewohnern existiert noch etwas anderes, wo man leben kann?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Wollt ihr jetzt auf die Demonstration oder nicht?«

Tomáš hält an der Ecke eines der farbenfrohen Reihenhäuser. »Kann mir Besseres am freien Nachmittag vorstellen.«

»Auf keinen Fall.« Tatiana betrachtet ihre perfekt manikürten Nägel.

»Dann bis morgen?« Ich greife nach dem Riemen meiner Tasche. »Wir haben die gleiche Schicht, oder?«

»Grummelige Bürotiere vorm ersten Kaffee, das große Los.« Tatiana deutet zum Print auf dem Canvasstoff meiner Tasche. »Steinpilze? Wo findest du solche Modelle immer?«

»Eigentlich sind das Gallenröhrlinge. Die Unterseite der Kappe ist rosa. Beim Steinpilz wäre sie –«

»Und damit steht fest, was wir morgen machen.« Lachend zieht Tatiana Tomáš mit sich. »Wir müssen dringend shoppen gehen.«

Sie winken mir zu und verschwinden zwischen Spaziergängern.

Seufzend stiefle ich hoch zur Burg. Ich bin zufrieden mit meiner Tasche. Andererseits – mit Tatiana einzukaufen, ist immer ein kleines Abenteuer. Aber bei jedem von uns ist das Geld schon Mitte des Monats knapp. Unter anderem, weil sie alles mitmachen, was ich ausprobieren will.

Da mich mittlerweile von allen Seiten Menschen anschieben, kämpfe ich mich zum Rand der Menge vor. Als ich mich an der Mauer der Aussichtsplattform abstütze, von wo aus sich die roten Ziegeldächer der uralten Häuser, die grün angelaufenen Kupferkuppeln und die Terrassengärten des Stadtteils Malá Strana über die Hänge erstrecken, atme ich tief ein. Herbstluft. Herbe Noten vom Laub. Es ziert das Blätterdach des hinter den Dächern ansteigenden Hügels Petřín jeden Tag in größeren Tupfern. Dazwischen ragt der Aussichtsturm hoch, dessen Wendeltreppe Tatiana und Tomáš schon Dutzende Male erklommen haben. Trotzdem haben sie mich letztes Jahr, ein paar Monate nach meiner Ankunft in Prag, nach dem Marsch den Hügel hoch auch noch auf den Turm begleitet. So wie zu allen Attraktionen, die ihnen von Schulausflügen zum Hals heraushängen. Die Geschwister sind gute Freunde. Sie sind nur nicht meine Freunde. Nicht wirklich. Niemand würde mit mir befreundet sein wollen, wenn sie wüssten –

Heftig schüttle ich den Kopf. Ich bin wegen der Demo hier!

Gelächter und Gespräche weichen Protestrufen. Mein Magen rumort, als hätte ich einen Gallenröhrling statt eines Steinpilzes verspeist. Doch es fühlt sich falsch an, am Rand herumzustehen. Ich will die Demonstration erleben. Mit all ihrer Enge, dem Gebrüll, dem Geruch von Schweiß und Edding, der aufgeheizten Stimmung im frösteligen Herbstdunst.

Also umklammere ich meine Tasche und stürze mich in die Menge. Nach vorn, wo eine junge Frau mit ausgewaschener grüner Farbe in den Haaren in ein Megafon brüllt. Mein Herz macht einen Hüpfer. Ich öffne den Mund, doch bekomme keine Worte heraus. Egal wie sehr ich es will, so sein will wie die grünhaarige Frau, wie die anderen.

Jemand kichert. »Mal schauen, ob wir diese lahme Mahnwache ein bisschen ausufern lassen können!«

Eine junge Frau schiebt mich so fest zur Seite, dass ich auf den Boden stürze. Ihr hüftlanges schiefergraues Haar und die ebenso fahle Haut, glatt und schimmernd wie nasser Lehm, lassen mich stutzen. Eine große, schlaksige Person, die nach glimmendem Salbei riecht, steigt über mich, um der Schönheit zu folgen. Ich muss aufstehen. Doch ich kann nur die zweite Person anstarren. Nicht, weil die markanten Gesichtszüge mit den buschigen Brauen und den über weite blassrosa Wangenknochen gesprenkelten Sommersprossen irgendwo zwischen feminin und maskulin schweben. Sondern weil am Ansatz der streichholzkurzen hellbraunen Haare Hörner sprießen.

»Komm schon, Astra.« Die gehörnte Person dreht sich um. »Oder wir verpassen den größten Spaß!«

Ich schüttle den Kopf. Sicher nur ein Kostüm.

»Der Spaß fängt grundsätzlich erst an, wenn ich ankomme«, entgegnet die Dritte, anscheinend Astra, von der ich nur noch breite Schultern und das blassblonde Haar ihres Hinterkopfes erkenne, bevor sie in der Menge verschwinden.

Mit zusammengebissenen Zähnen rapple ich mich auf die Knie. Jemand trampelt auf meine Hand. Wimmernd reiße ich sie an die Brust. Nicht so schlimm. Drei Atemzüge, dann vergeht der Schmerz. Doch alles verdunkelt sich, wie in einem Wald bei Nacht, nur dass statt sich wiegender Bäume überall Beine herumstampfen. Ich starre meine Finger an. Steh auf!

Todesangst schwappt über mich. So jäh wie ein Regenschauer, der sich anschleicht, weil man zu versunken darin ist, eine Krone aus Gänseblümchen zu flechten. Ich kauere mich zusammen wie eine Kellerassel. Ich reagiere über. Das weiß ich. Dennoch schießt mit jedem Atemzug ein Schmerz durch mich, als würde ich Feuer einatmen.

Ein Knie rammt gegen meine Schläfe, hart.

Ich werde sterben. Das spüre ich.

Schluchzend bohre ich meine Finger in meine Oberarme. Reiß dich zusammen, du stirbst nicht! Du musst nur aufstehen. Mein Atem geht abgehackt. Ich sterbe nicht. Meine Muskeln schaffen es nicht, Luft in meine Lungen zu ziehen. Ich sterbe nicht. Jemand schreit so gellend, dass ich die Hände auf die Ohren pressen will. Sie gehorchen nicht. Ich will nicht sterben. Lange Finger schweben vor mir. Weißblondes Haar, mondblasses Gesicht. Hände stoßen mich. Dahinter Hörner, Lehmhaut.

Plötzlich bin ich jünger. In einem Fichtenwald, auf dem Boden, in einer Pfütze, Äste in meinem Rücken. Sie stehen über mir, mit diesen Augen im Blassgrau eines bewölkten Tages, so anders als meine. Warum hören sie nicht auf mir wehzutun? Bevor ich ihnen –

Mein Körper bäumt sich auf. Ich brülle, während sich meine Wirbelsäule nach hinten verbiegt. Hitze und Kälte pochen durch jede Faser meines Körpers. Menschen stieben in alle Richtungen. Weg von mir. Der klebrige Geruch von Fichten und Brennnesseln verstopft meine Nase. Energie peitscht um mich, frisst sich in meine Haut.

Dann stehe ich. Nein. Meine Zehenspitzen pendeln ein paar Zentimeter über dem Boden. Ich schwebe. Wie eine Marionette an Fäden. Und ich schreie, schreie, schreie.

»Ich glaube, sie wacht auf!«, brüllt eine Stimme in mein Ohr. Schmerz explodiert in meinem Hinterkopf. Ein rundes, panisch verzerrtes Gesicht, gerahmt von einer kastanienbraunen Lockenmähne, flackert vor meinem inneren Auge auf. Wer –?

»Sie ist bleicher als ein Gespenst. Meinst du, sie hat was eingeschmissen?« Zuckerwatteparfüm attackiert mich und die Stimme erklingt noch näher. »Hallo? Ich bin Grace! Kannst du mich hören?« Das Gebrüll lässt mich zusammenzucken, doch sie fährt fort. »Bei Dextra, wen sollen wir rufen? Profesorka Hruška? Profesor Nekovář? Oder direkt –?«

»Ich bin immer so blass«, presse ich krächzend hervor.

»Sie ist wohlauf!« Ein Eisklotz wischt mir den Pony aus der Stirn. Ich hasse es, wenn jemand meinen Bob angrabbelt.

»Wohlauf würde ich nicht gerade sagen.« Endlich kann ich meine Augen öffnen. Das panische Gesicht ist verschwunden und Gott sei Dank auch die Schmetterlinge. Dafür erblicke ich etwas nur infinitesimal weniger Schlimmes.

Eine junge Frau mit Hasenohren. Und ein Mann, eher ein Junge, mit türkisen Haaren und Feenflügeln. Sie lächeln mich an wie die verdammten Frauen von Stepford.

Was, wenn das hier der zweite der neun Kreise der Hölle aus Dantes Inferno ist? Ich stöhne beim Gedanken daran, was mich in den anderen erwartet.

Doch dann klärt sich der Raum hinter ihnen – eine Kreuzung aus mittelalterlichem Lazarett und Sci-Fi-Labor, mit einer Reihe weißer Betten an der Längswand – und langsam beschleicht mich die Ahnung, dass ich gar nicht gestorben bin. Aber was soll dann das höllische Ensemble einer drittklassigen Laientheaterproduktion von Ein Sommernachtstraum? Ich hatte nie zuvor Halluzinationen – also umso mehr Grund zur Sorge.

»Jemand muss meine Psychotherapeutin anrufen«, befehle ich, aber mein Hals macht ein Wimmern daraus. »Ihre Nummer lautet –«

»Du brauchst keine Psychotherapeutin.« Die mit den Hasenohren und Haut vom selben warmen Braun wie die Ohren, vermutlich Grace, schiebt ein Kissen unter meinen Rücken, und eine Mischung aus Winseln und Brüllen entgleitet mir.

Sie zuckt die Schultern. »Eher eine Osteopathin.«

Ich sehe mich um. »Wo bin ich?« Auf einem Holztisch liegen Kräuterbündel, deren herber Duft in der Luft wabert. Bitte keine Klinik für alternative Medizin!

»Im Krankensaal der Univerzita.« Der Junge mit den Flügeln deutet um sich. »Profesor Nekovář hat dich hergebracht. Du wärst beinahe gestorben, aber deine Schmetterlinge haben dich gerettet! Was hast du allein im Wald getan, so weit von deinem Zirkel entfernt?«

»Was meinst du mit Univerzita? Und Zirkel? Wer ist Profesor Ne-« Diese absurden Namen … Grauen sackt in meinen Magen. »Ist das hier eine dieser Comic Conventions?«

»Eine Späterwachte!« Der Feenjunge reißt die Augen auf. Er trägt Kontaktlinsen, die seine Iriden zu groß erscheinen lassen. »Du weißt nichts von der Arkanen Welt?«

»Von eurem Fantasieland habe ich, wie neunundneunzig Prozent aller Menschen, noch nie gehört. Also könnt ihr bitte –«

»Das hier ist echt!« Grace zerrt an ihren langen Ohren. Kein Reif löst sich aus ihrem Haar. O Himmel, sie hat die Dinger festgeklebt.

Moment mal. Vorsichtig taste ich meine Rippen ab. Sie waren gebrochen. Wieso spüre ich nichts, außer …?

»Wieso zur Hölle trage ich dieses Nachthemd?« Mit spitzen Fingern hebe ich das rüschenbesetzte Monstrum an.

»Das ist ein Kleid! Von mir! Ich wollte nicht, dass du in dieser düsteren Kluft aufwachen musst. Warst du auf einer Beerdigung?« Grace deutet auf einen durchnässten Berg schwarzen Stoffes auf dem Nachttisch.

»Das ist meine normale Kleidung!« Oder war meine normale Kleidung. Ich kann die zerschlissenen Mesh-Ärmel meines liebsten Foxblood-Samtkleides kaum ansehen.

»Oh.« Sie blickt betreten drein und tätschelt meine Hand. »Wenn das so ist, möchte ich dir mein Kleid gern schenken. Du siehst sehr niedlich darin aus!«

»Ich sehe aus wie ein viktorianischer Geist!«

»Wegen deiner Trauermiene. Wenn du wieder lächeln kannst, siehst du aus wie eine viktorianische Porzellanpuppe!«

»Eine Geisterpuppe«, murmle ich.

Grace grapscht schon wieder nach meinem Pony. »Und ich bin sicher, diese weißen Strähnen, die wohl durch den Schock entstanden sind, kann man so schwarz wie den Rest färben.«

»Das ist absichtlich so gefärbt, und –« Ich schlage ihre nun meinen Kopf streichelnde Hand fort. »Hört zu. Mir ist egal, ob ihr glaubt, in Mittelerde, Narnia oder Univerzita zu sein. Kehrt nur bitte kurz in die Realität zurück. Ich hatte einen Unfall!«

»Das hier ist die Realität! Wir sind Arkane!«, jauchzt Grace. »So wie du! Nur selten bleibt das arkane Erbe so lange verborgen, aber du beginnst jetzt ein –«

»Überfordere sie nicht!« Feenjunge bohrt ihr den Ellbogen in die Seite. »Späterwachte brauchen Feingefühl!«

Ächzend lasse ich den Kopf ins Kissen sinken. Wieso hört mir niemand zu? Oder liegt das Problem bei mir? »Könnt ihr bitte jemanden holen, der ein MRT von meinem Kopf macht?«

»Du brauchst kein MRT. Was auch immer das ist.« Feenjunge lächelt mich an. »Deine Magie hat dir schon das Leben ge-«

»Könnt ihr endlich mit eurem Schmierentheater aufhören?«

»Sie wird nicht glauben, dass Magie existiert«, erklärt Grace.

Ich mache eine erleichterte Armbewegung. »Danke!«

Feenjunge nickt und hebt seine Hände. »Wir müssen es ihr also zeigen.«

»Ich will kein einstudiertes Gefuchtel sehen, sondern medizinisches Fachpersonal!«, fauche ich. »Nur weil du bei Dungeons & Dragons einen heilkundigen Kleriker-Elfen spielst, bist du kein medizinisches Fach-«

Aus seinen Handflächen sprühen türkise Funken, die in Wirbeln in die Luft steigen. Und zu mir gleiten. Bevor ich den Arm wegziehen kann, legen sich die Partikel um meinen Unterarm, über den sich ein langer Kratzer zieht. Vom Fall?

Schmerz explodiert zusammen mit abgehackten Bildern in meinem Kopf. Erinnerungen. Nadelwald, matschiger Abhang, das sinkende Gefühl des Fallens. Ich ächze, doch auf meinem Unterarm verwickeln sich Spuren aus Wärme und Kälte. Der Funkenwirbel tänzelt über den Ratscher.

Und die Wunde schließt sich.

»Wie …«

»Er ist eine Fee, so wie ich.« Grace sieht hastig zu ihm. »Natürlich nicht genauso wie ich. Schließlich ist er –«

Der Feenjunge tritt ihr auf den Fuß.

Grace räuspert sich. »Das ist das Werk seiner Heilmagie. Aber du bist bald in der Lage, dich selbst zu heilen. Wenn du fertig mit dem Studium der arkanen Künste bist.«

»Nein«, bringe ich hervor.

»Natürlich wirst du das können! Denn du bist etwas ganz Besonderes! Etwas Wunderschönes! Etwas Zauberhaftes!«

»Ich bin sicher nicht zauber… Was bitte sollen arkane …« Ich kneife mir in die Nasenwurzel.

»Du kannst mit Schmetterlingen kommunizieren, Knospen erblühen lassen, auf Lichtungen tanzen und –«

»Eine Disney-Prinzessin.« Ich schwinge die Beine über die Bettkante. »Du behauptest, ich sei eine Disney-Prinzessin.« Wo ist die versteckte Kamera?

Grace’ Lächeln wird breiter. »Etwas viel Zauberhafteres.«

Halbherzig deute ich in Richtung des Feenjungen, stehe auf und suche jede Ecke des Raums ab. »Eine Fee wie er?«

»Noch besser! Eine Víla!«, verkündet sie, als hätte ich im Lotto gewonnen.

Ich drehe mich langsam im Kreis. Hier sind keine Kameras.

»Mir ist schlecht«, würge ich und stolpere zurück.

Feenjunge ergreift meinen Arm, bevor ich stürze. Mein Blick wandert zu seinen spitzen Fingernägeln, die er mit Glitzerlack verziert hat, neben dem Ratscher auf meinem Arm. Von dem nur eine rosa Verfärbung übrig ist.

»Trink das, dann geht es dir besser.« Grace hält mir eine Phiole mit brauner Flüssigkeit unter die Nase.

»Bleibt weg mit eurem homöopathischen Mist!« Ich grapsche nach meiner Tasche und schlüpfe in meine Schuhe, die neben dem Bett stehen.

»Kein Grund, so fies zu sein!«, klagt Grace. »Wir wollen nur helfen. Ein wenig mehr Dankbarkeit wäre –«

Ich presche nach draußen. Durch einen Flur, in dessen Bogenfenstern Grüppchen junger Menschen herumlungern, die eindeutig zu viel Filz, Strick und Jute tragen. Die spitzen Ohren, Fangzähne und unnatürlich gefärbten Augen ignoriere ich. Stattdessen fische ich mein Handy hervor.

»Wir wollten dir keine Angst einjagen!« Das Rascheln von Feenflügeln verfolgt mich. Kitschige Plastikflügel aus einem Spielzeugladen natürlich.

»Ich habe keine Angst«, gebe ich zähneknirschend zurück und öffne Google Maps. Dann sehe ich über die Schulter auf das mitleidig verzogene Gesicht von Feenjunge. »Ich muss nur kurz frische Luft schnappen«, setze ich betont zögerlich hinterher.

Er eilt an meine Seite. »Der Haupteingang ist direkt den Flur runter.«

Viel zu gutgläubig.

Ich haste weiter, er mir dicht auf den Fersen, während auf dem Display quälend langsam die Straßen einer Stadt laden. In einer mehrstöckigen Vorhalle werfe ich mich gegen das schwere Eingangsportal, das mühelos aufgleitet. Goldenes Licht bricht durch Baumkronen, blendet mich, und ich stolpere eine ausgefächerte Treppe hinab.

Feenjunge greift nach meinem Arm. »Setz dich kurz!«

Ich reiße mich los und stampfe weiter. Ein Blick auf mein Handy verrät, dass ich in Prag bin. Wie zur Hölle bin ich von Deutschland nach Tschechien gekommen?

»Warte, wenn du dir die Beine vertreten willst, begleite ich dich! Sonst findest du nicht wieder zurück.«

Das ist der Plan, Feenjunge.

Auch, weil mich die Karte in einem Waldstück auf einem Hügel namens Petřín verortet. Wo kein so großes Gebäude eingezeichnet ist wie das, aus dem ich gekommen bin. Ich sehe nicht zurück. Ignoriere die nagende Neugier, während ich die kaskadenartige Treppe hinabstiefle, die sich den bewaldeten Hügel hinunterschlängelt. Doch wie kann all das sein? Ist an ihren Behauptungen …

Nein. Ich gehe schneller.

»Ver-versuchst du etwa wegzulaufen?« Er klingt betrogen. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber es ist real! Schau, wie ich fliege!«

Ich rucke zu ihm herum. »Wehe, du springst die Trep-«

Er springt. Gleitet über mehrere Stufen hinweg durch die Luft. Ich stöhne, denn ich werde bei ihm bleiben müssen, bis ein Krankenwagen es den Berg heraufschafft, so verlangen es die sozialen Gepflogen-

Feenjunge schwebt vor mir. Seine Perlmuttflügel schimmern im Goldlicht, zart wie die von Libellen.

Das kann nicht sein. Aber ich sehe es klar und deutlich. Also entweder leide ich wirklich an Halluzinationen oder …

Mit pochendem Herzen kralle ich die Finger in seinen rosa Oversized-Pullover und zerre ihn auf den Boden. »Wenn dich jemand sieht, sperrt man mich gleich mit in irgendein geheimes Forschungsinstitut!«

»Niemand kann uns sehen. Schutzmagie lenkt Spaziergänger über Wege, die um die Univerzita herumführen.« Dann blitzen seine spitzen Zähne hinter seinen zu einem Lächeln verzogenen Lippen hervor. »Heißt das, du glaubst, dass die Arkane Welt existiert?«

Ich schiebe mich an ihm vorbei. »Meinetwegen.«

»Fantastisch! Ich wusste, ich hab ein Händchen für den Umgang mit Späterwachten.«

Schnaubend tippe ich mein Ziel in den Routenplaner ein. Nur ein paar Minuten Fußweg. Egal ob das real ist oder nicht, ich lasse es hinter mir. Schnellstmöglich.

»Und ich wusste, du verirrst dich!« Er eilt mir zur Seite. »Zur Univerzita müssen wir wieder hoch.«

»Ich gehe nicht zurück zur Univerzita.«

»Prag kannst du dir ansehen, wenn –«

»Ich gehe nie wieder zurück zur Univerzita.«

»Du musst.« Seine Flügel zittern. »Deine Kräfte müssen geschult werden. Und du hast kein Portemonnaie dabei« – aha, sie haben also meine Tasche durchwühlt –, »deshalb kannst du dir Hotel, Flug oder Essen nicht leisten. Wohin willst du in deinem Zustand?«

»Dorthin, wo jede Person gehen sollte, die in ein fremdes Land entführt wurde.« Ich atme aus, denn der Wald lichtet sich. »Zur deutschen Botschaft.«

Goldlaub wirbelt aus dem Nichts auf und drängt mich zurück. Daraus tritt eine weißhaarige Riesin hervor, die Blätter von den Bäumen pflücken könnte.

»Mathea Seymour, Tochter des Víla- und Menschengeschlechts.« Sie hebt ihre in Farbe und Textur einer Baumrinde gleichende Hand und das cremeweiße Leinen ihrer flatternden Kleidung raschelt. »Ich muss Ihnen das Verlassen des Universitätsgeländes verwehren.«

Jemand zieht mich zu Boden. »Banshee? Hexe?«

Ich schlage um mich. Die aus mir herauspeitschende Energie zerschlitzt die Ärmel eines Mantels. Meine Augen rollen zurück und für einen Atemzug erscheint das bleiche Gesicht einer jungen Frau vor mir. Blut und Zweige in ihrem akkurat geschnittenen Bob, der Hals seltsam verrenkt. Die Augen glasig, leer, so wie damals bei –

Ich brülle, bäume mich auf und verscheuche das Trugbild.

Arme schlingen sich um mich. »Du musst mir helfen, wenn ich dir helfen soll. Rusalka?«

Blut färbt die Fetzen einer Bluse unter dem Mantel. Das Wüten in mir schwillt an. Ich verletze sie.

Eisige Finger zwingen mich sie anzusehen. »Ich heiße Astra. Eine Warlock.« Sanfte Haut, kantige Züge, volle Lippen und volle Brauen. »Und du bist eine Hexe, oder?« Wirres blassblondes Haar umspielt ihr Kinn.

Ich schüttle den Kopf, presse die Lippen aufeinander, um das Brüllen zurückzuhalten.

»Was dann?«

»Ni-nichts«, wimmere ich.

Ein verschwommener, gehörnter Kopf taucht hinter Astras Schulter auf. »Sie weiß nicht …?«

Die Schönheit mit den grauen Haaren legt ihre ebenso graue Hand auf die andere Schulter. »Eine Späterwachte?«

Dieser Name, Astra … die Hörner … die Dritte mit der grauen Haut … eben habe ich sie schon –

»Verscheucht die Gregalen!« Astra wendet sich wieder mir zu. »Du weißt nicht, was du bist?«

Ich ächze, sehe verschwommene Gesichter, auf mich gerichtete Handykameras, dann Sterne. »Es tut so weh!«

»Ich kann dir helfen! Nur muss ich … du musst vorher –«

Die gehörnte Person verpasst Astra einen Klaps auf den Kopf. Rote Striemen tauchen auf ihrer Hand auf. »Nicht die Zeit, dich um Konsens zu sorgen! Sie verletzt alle!«

Ich umklammere Astras Arm. »Bitte, mach, dass es aufhört!« Jede Silbe sticht im Kopf. Ich darf niemanden verletzen. Nicht noch mehr verletzen. »Dass ich aufhöre!«

»Valix«, knurrt Astra. »Verscheuch. Die. Gregalen. Bevor hier Jäger auftauchen.«

Valix wendet sich ab, doch erstarrt. »Zu spät.«

Die verschwommene Silhouette der Grauhaarigen kämpft sich durch die Gaffer. »Arkane Jäger! Gleich bei uns!« Sie zerrt an Astras Arm. »Überlass die Späterwachte ihnen!«

Astra reißt ihren Arm aus dem Griff der anderen. »Diese Späterwachte ist eine Sinistra. Eine von uns.«

Mein Stöhnen dröhnt in meinem Kopf. »Hilf mir. Bitte!«

Astra nickt. Dann presst sie die Lippen starr auf meine. Das dunkle Wüten, der Schmerz und Astras Gesicht – mehr existiert nicht. Bis sich die Energie zurückzieht, meine Brust hinaufkriecht, über meine Lippen rinnt wie schmelzendes Eis.

Die Welt wird klarer um ihre schlanke, aber breitschultrige Silhouette.

Ich keuche. Mit dir stimmt etwas nicht, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Nein. Das wollte ich nicht.

Ich schüttle den Kopf, blinzle den Dunst weg. »Habe ich jemanden verletzt?« Etwas Klebriges sickert aus meinem Mund. Blut.

In einer eleganten Bewegung kommt Astra auf die Füße und hält mir die Hand hin. Lange Finger, beinahe makellose Haut, wären da nicht leichte Schwielen. »Nun, verletzen liegt in deiner Natur, also –«

Meine Gesichtszüge müssen entgleisen, denn sofort furcht sich ihre Stirn. »Du hast niemanden ernsthaft verletzt. Weißt du wirklich nicht, dass du eine Sinistra bist?«

»Nein.« Meine Eingeweide verdrehen sich. Aber ich habe niemanden verletzt. Nicht ernsthaft.

»Ich bin Astra«, informiert sie mich zum zweiten Mal, als bestünde irgendeine Chance, dass ich mir ihren Namen nicht gemerkt habe. »Studentin im zweiten Jahr der Academia Sinistra, Präfektin, Kapitänin der –«

Valix und die Grauhaarige stoßen Astra und mich weiter.

»Hör auf dich zu profilieren«, knurrt Valix. »Wir müssen weg. Außer du hast Lust auf eine Anhörung des Arkanen Rats!«

Schwere Schritte nähern sich, Kampfstiefel auf den Klinkersteinen. Ich kauere mich weiter zusammen, doch Astra greift nach meiner Hand und zieht mich auf die zittrigen Beine. Sie ist groß. Natürlich ist für mich quasi jeder groß. Umso seltsamer, dass es mir bei ihr auffällt. Nein, seltsam ist, dass ich mich mit so einer Lappalie beschäftige, wo –

»Komm mit«, raunt Astra.

Meine Gliedmaßen, die sich zuvor geweigert haben, setzen sich in Bewegung. Ohne mein Zutun. Außerdem nehme ich alles wie durch einen warmen Nieselregen im Sommer wahr. »Wie machst du …« Meine Stimme bricht.

Denn seltsame Energie wabert durch die Menge, irgendwie suchend. Hungrig.

Astra und die anderen beiden legen an Tempo zu und ich folge viel zu bereitwillig. Dann werfe ich einen Blick zurück. Zwei Gestalten pirschen durch die Menge. Wie Raubtiere. Ihre Uniformen schimmern in den hellen Grautönen der Wölfe, die man nur hoch im Norden findet, und der aalglatte, fließende Stoff verhüllt nicht, was darunter liegt. Die Muskeln eines Grauwolfes beim einen, die ausdauernde Zähheit eines Schakals bei der anderen.

»Wie wäre es mit etwas Deckung, Val?«, fragt Astra.

Valix nickt, macht eine weite Geste mit beiden Armen und Rauch wabert aus dem Nichts hervor. Dunkler, dichter als normaler Rauch. Er steigt zu einer Wand zwischen uns und den wolfartigen Jägern auf, aber nicht schnell genug, um das Aufblitzen silbriger Waffen und mir unbekannter Utensilien an den Ledergürteln unserer Verfolger zu verbergen.

»Wir riskieren alles für irgendeine Späterwachte«, speit die Grauhaarige, als wir in eine Gasse preschen.

»Die Unverschleierte muss hier irgendwo sein!«, bellt jemand hinter uns. Die Unverschleierte – soll das ich sein?

Ich will den dreien nicht folgen, aber noch weniger will ich in die Fänge dieser Jäger geraten. Also renne ich mit ihnen davon. Durch die verwinkelten Gassen der Malá Strana, zwischen hohen Barockhäusern, die das Herbstlicht in Sonnenblumengelb, Koralle und Gold entflammen lässt und in denen ich mich auch nach über einem Jahr hier noch regelmäßig verirre.

Aber Astra navigiert uns, ohne innezuhalten, durch das verzweigte Labyrinth. »Eigentlich sollten wir dich direkt in die Academia bringen, aber …«, sie betrachtet mich von der Schleife in meinen Locken über den Flickenrock bis zu den Streifensocken aus Wollresten, »dich sollten wir behutsam vorbereiten.«

»Worauf?« Die Locken kleben mir bereits im Nacken, als wir endlich langsamer werden. Weil wir die Jäger abgehängt haben? Ich falle etwas zurück, meine Hand locker in Astras. Wenn ich renne, kann ich entkommen. Diese seltsamen Minuten vergessen. Die Energie. Dunkle Energie.

Astras seidiges blondes Haar flattert hinter ihr her, so wie ihr Dufflecoat. Dessen Ärmel tiefe Risse zieren. Ich war das. Ich habe sie verletzt. Und die anderen beiden. Einen Atemzug lang presse ich die Augen zu. Ich muss sichergehen, dass es ihnen wirklich gut geht.

Dann halten wir auf einer Brücke zur Insel Kampa am Moldauufer und Astra öffnet ein Eisentor in der Mauer.

Ich weiche zurück und werde prompt von mehreren Menschen angerempelt. Ich war so oft auf der Insel. Im Park der Südhälfte genauso wie hier im Norden, wo die Häuser bis an die plätschernde Čertovka ragen, deren Lauf die Insel von der Malá Strana trennt. »War hier schon immer ein Tor?«

Astra sieht grinsend zu mir. »Nur wenn du von ihm weißt.«

»Ich verstehe nicht –«

»Das U Sedmi Čertů darf nicht jeder betreten.«

»U Sedmi …« Ich erstarre. »Bei den sieben Teufeln?«

Stöhnend tritt die Grauhaarige durch das Tor auf den Steg der Wassermühle aus schwarz angelaufenem Holz. Valix folgt ihr. Nur ich mache einen weiteren Schritt zurück.

»Bloß eine Kneipe. Du wirst nicht wirklich sieben Teufel antreffen.« Astras Augen, klar und blass wie Bergkristall, funkeln. »Wenn wir Glück haben, sind es ein oder zwei. Komm schon.« Sie marschiert durchs Tor, ohne sich umzudrehen. Ist es wohl gewohnt, dass andere ihr anstandslos folgen.

So wie ich, unerklärlicherweise. Als würde etwas sämtliche Gegenwehr in mir dämpfen. Prasselnder Sommerregen in meinem Kopf, warm und wohlig. Genau wie zuvor, als sie mir sanft befohlen hat mitzukommen.

Neben einer Goblinstatue springt die Grauhaarige vom Steg. Japsend schlage ich mir die Hand vor den Mund, doch sie fällt nicht in die Čertovka. Sie balanciert, trotz der Stiefel mit den höchsten Absätzen, die ich je gesehen habe, auf einem Stein, der wie das Tor zuvor nicht da war.

Ich sollte schockierter sein. Aber seltsam gelassen beobachte ich, wie sie losspaziert, gefolgt von Valix. Dort, wo ihre Sohlen auf Wasser treffen, tauchen weitere Steine auf und versinken hinter ihr wieder.

Auch Astra springt vom Steg, aber dreht sich mit ausgestreckter Hand zu mir. »Ich helfe dir nur dieses Mal. Du musst lernen, dich allem unerschrocken zu stellen.«

So versteinert wie die Goblinstatue starre ich sie an. Kann ich einfach …? Eine Decke aus Ruhe legt sich auf mich. Dann ergreife ich ihre Hand. Und springe. Kreischend.

Astra stützt mich, bevor ich bäuchlings in der Čertovka lande. »Das mit dem Unerschrocken üben wir noch.«

Schwankend folge ich ihr zu einer hohen Mauer am Ufer, wo Efeuranken bis ins Wasser hängen. Wieso folge ich ihr? Es ist, als hätte sie mich mit einem Bann belegt.

Die Ranken gleiten wie die Theatervorhänge im Stavovské divadlo zur Seite. Sie legen eine violette Tür mit opulenten Beschlägen und wild angebrachten Türklopfern frei. Sieben Teufelsfratzen. Gehörnte Ungeheuer, Schönheiten mit leeren Augenhöhlen, verformte Totenschädel, in deren Nasen und Mäulern Eisenringe stecken. Astra klopft mit dem mittleren.

Die Tür schwingt auf. Astra schiebt mich sanft in einen Gewölbekeller mit Dutzenden Nischen. Am stützenden Gerippe aus Ebenholzbögen hängen schwere Samtvorhänge, im Violett des Safts zerquetschter Brombeeren. Kronleuchter aus Gebeinen tauchen die spärliche Kundschaft in Schummerlicht.

Eine Frau, die sich bücken muss, um mit dem Kopf nicht an die Gewölbedecke zu stoßen, zieht ihren gigantischen Mantel aus. An der Bar sitzen bleiche Damen und Herren, die an Gläsern mit tiefroter Flüssigkeit nippen. Schnell klammere ich mich an Astras Mantelärmel.

»Vampire«, flüstert sie und führt mich an vermummten Figuren an einem Holztisch vorbei. In der Oberfläche glimmen Zahlen und Buchstaben, wie bei einem Ouija-Brett.

»Was ist eben passiert?« Panik kratzt direkt unter der Oberfläche, doch bricht nicht hindurch.

»Deine Kräfte sind erwacht. Sehr spät, aber kommt vor.« An einer Rittertafel sitzen Gäste vor dampfenden Kaffeetassen, giftgrünem Kuchen und etwas, das ein Teller Erde zu sein scheint. Zwei Frauen mit Narben an den stark behaarten Armen winken Astra zu. Sie grüßt zurück, doch hält nicht an. »Ich vermute, du bist eine Hexe.«

Ich erstarre vor der Sitzecke, wo sich Valix und die grauhaarige Schönheit auf senffarbenen Cocktailsesseln niederlassen. »Wieso?«

Die Grauhaarige zieht ein Menü zwischen zwei als Kartenhalter zweckentfremdeten Kristallkugeln hervor.

»Rusalkas und Banshees bleiben meist unter sich. Aber bei Hexen vermischt sich das arkane Blut oft mit dem von menschlichen Partnern, sodass sich die Veranlagung manchmal erst nach Generationen zeigt.« Astra zerrt ihren Mantel von den breiten Schultern. »Wovor hattest du so große Angst?«

Ich studiere das Muster des verschlissenen Seidenteppichs, dann das von den schlanken Kerzen auf den schwarzen Lack des Couchtisches tropfende Wachs. »Ich weiß es nicht.«

»Die Menschenmenge?«

»Vermutlich?«

»Angst vor ein paar Menschen«, schnaubt die Grauhaarige. »Sie kann keine Sinistra sein.«

»Peninnah«, Astra zieht eine Augenbraue hoch, »soweit ich weiß, hast du Angst vor Gewittern.«

Elegant wischt Peninnah eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Hast du je stundenlang während eines Gewitters auf Hausvorsprüngen gehockt?«

Valix deutet auf mich. »Was machen wir mit dem Rehkitz?«

»Die kannst du noch nicht mal als Rehkitz bezeichnen«, Peninnah verschränkt die grauen Arme, »die ist erst ein Ei.«

»Säugetiere entstehen nicht aus Eiern«, seufzt Astra.

Peninnah deutet ein Würgen an. »Entschuldige, dass ich mich nicht mit euren bizarren Fortpflanzungsarten beschäftige.«

»Was glaubst du eigentlich, wie lange du noch mit deiner Ich-bin-eine-Gargoyle-Ausrede durchkommst?«

Gargoyle? Ich starre Peninnahs Gesicht an, fahlgrau, so interessant wie makellos. Aus Stein gemeißelt. Moment, sie war es, die –

Ich japse. »Du hast mich geschubst!«

»Geschubst?« Sie stößt ein Lachen aus.

»Wegen dir habe ich –«

»Täubchen«, Peninnah tippelt mit langen Nägeln auf den Couchtisch, »all das ist passiert, weil du deine arkanen Kräfte nicht im Griff hast.«

Ich starre auf ihre Hände, durch deren Grau sich tiefrote Striemen ziehen. Übelkeit steigt in mir auf.

Astra klopft auf den Platz neben sich. »Du solltest etwas essen. Peninnah lädt uns ein.«

Diese zieht Astra prompt die Karte über den Kopf.

»Was? Du bist steinreich.«

»Und du nicht, oder was?«

»Sag bitte, du hast es verstanden?« Astra wendet sich an Valix. »Steinreich.«

»Haha, ja, sehr lustig.« Valix streicht sich durch die streichholzkurzen Haare.

Sie tun, als wären die letzte Stunde, Hörner, graue Haut, Blut trinkende Gestalten, zerstörerische Kräfte normal.

Die Panik durchbricht nun doch die Oberfläche und schnürt mir den Hals zu.

Bis Astra sachte mein Handgelenk umfasst. »Setz dich«, murmelt sie, ihre Berührung und Stimme wie Watte.

Ich gehorche.

Peninnah blickt auf Astras Hand. »Heute so freigebig mit diesen Kräften?«

Astra hält mir die Speisekarte unter die Nase. »Alles ist fantastisch.«

Ich starre die verschwimmenden Buchstaben an, bis sie einer nach dem anderen an ihren Platz huschen. Suppen, Česnečka mit extra Knoblauch, Kulajda, auch vegan. Hauptspeisen, die mir schon beim Lesen schwer im Magen liegen. Buchty mit Vanillesauce. Süße Makové nudle, bei denen ich dachte, Tatiana nähme mich aufs Korn, bis die Nudeln in Butter, Mohn und Puderzucker vor mir standen. Ich drehe die Karte um. Fremde Schriftzeichen mit tschechischer Übersetzung. Maulwurfskuchen, Schwarzerde, pestizidfrei. Süße Knedlíky mit Tollkirschenfüllung, die wirklich lecker kling-

»Die Seite besser nicht«, merkt Astra an.

Ich wende sofort die Karte, runzle dann die Stirn. »Du lässt mich das tun, oder?«

»Ich zwinge dich zu nichts.« Wird Astras Nase rot? »Nur ein Schubs in die richtige Richtung.«

»Hast du das auch getan, um mich aufzuhalten?«

Sie grinst. »Du meinst den Kuss?«

»Das war kein Kuss!« Meine Wangen glühen.

»Stimmt, es war meine Kraft.«

Ich starre sie an. »Bist du auch eine Hexe?«

»Warlocks sind technisch gesehen Hexen, also ja. Aber das war keine Warlockkraft.«

»Was für eine denn da–«

»Müsstet ihr nicht in der Schule sein?« Eine Frau mit hellbrauner Haut und mahagoniroten Haaren, an den Schläfen von Grau durchzogen, stützt sich auf die Lehne von Peninnahs Sessel. Die Seitenschlitze ihres schwarzen, knöchellangen Rocks reichen bis zu ihren ausladenden Hüften.

»Wie oft noch, Radka?«, stöhnt Peninnah. »Wir gehen nicht mehr zur Schule, sondern auf die Academia.«

Radka winkt mit dem Tablet ab, auf dem ein The-Devil-Made-Me-Do-It-Sticker klebt. Dann verengt sie die Augen und die zarten Falten daneben vertiefen sich. »Du bist neu. Hast du einen Namen?«

»Ähm, Ellie.«

»Ellie?« Astras Ton lässt mich aufschauen. »Die Abkürzung für Eleonora? Elphaba? Elysia?«

»Einfach nur Ellie. Ellie Novotná.«

Die vier starren mich an, als hätte ich behauptet, Hans Wurst oder Rosa Schlüpfer zu heißen.

»Nicht mal Elena?«, murmelt Peninnah schwach. »Mit Elena könnte ich leben«

Radka stößt mit dem Knie gegen den Tisch. »Eure Bestellung!«

Hastig starre ich auf die Karte.

»Eine große Kofola und zum Essen Meruňkové knedlíky. Aber nicht mit dem Marillenmus sparen!« Astra legt die Hände zusammen. »Und kannst du ein klein wenig Feenstaub auf die Knödel geben?«

»Nein.« Radka sieht zu mir.

»Für mich das Gleiche, bitte«, platze ich heraus, damit ich die anderen nicht mit Aussuchen aufhalte.

»Kofola schlägt Cola um Längen, oder?« Astra tätschelt meine Schulter und ich nicke, statt zuzugeben, dass ich die tschechische Variante noch nie probiert habe.

»Das Übliche«, raunt Valix.

»Kokoskuchen mit Löffel statt Gabel, glutenfrei. Und Goldene Milch, Mandelmilch, extra Ingwer und Ahornsirup statt Zucker«, bestellt Peninnah.

Die Bedienungen in anderen Cafés würden ihr die Karte um die Ohren schmettern, doch Radka tippt die Extrawünsche kommentarlos ins Tablet, bevor sie davonschreitet.

Ich sehe über den Kartenrand zu Astra. »Kann ich gehen, wenn ich gegessen habe?«

»Fragst du gerade ernsthaft nach meiner Erlaubnis?«

»Du hast gesagt, ich muss zu dieser Academia.«

»Stimmt.« Astra lehnt sich auf ihre nach außen fallenden Knie. Automatisch will ich die Haltung rügen, zu dominant ist die Erziehung meiner Eltern. »Aber wer sagt, dass du auf uns hören musst?«

Ich ziehe die Schultern zu den Ohren.

»Du bist vielleicht stärker als wir drei zusammen.«

»Ganz sicher nicht!«

Peninnah hält mir ihre zerschrammte Hand vor das Gesicht. »Die habe ich wegen dir. Ungeübt und unter Astras Einfluss. Du hast uns da ganz schön dunkles Zeug gezeigt. Ich wäre beeindruckt, wenn du nicht …«, sie deutet mit perfekt manikürten Fingern von Kopf bis Fuß auf mich, »so lieb aussehen würdest.«

»Ich danke dir!«, entgegne ich lächelnd.

Sie rümpft die Nase, als hätte ich ihr Maden in den Schoß geworfen und ihr Satinkleid ruiniert. »Kein Kompliment.«

Radka pfeffert Marillenknödel und ein Totenkopfglas vor mich und ich zucke zusammen. Dann folgen die Speisen der anderen, am Ende eine Schale mit Tomatensuppe, die Valix mit einem verrenkten Arm abschirmt.

Radka schnalzt mit der Zunge. »Schäm dich nicht für das, was du bist!«

»Tu ich nicht. Aber ich muss es nicht jeder zartbesaiteten Neuerwachten direkt auf die Nase binden, oder?«

Radka starrt mich kurz an, zuckt dann zustimmend mit dem Kinn und schwebt davon. Die anderen langen zu. Eigentlich ist mir nicht nach Essen. Aber der erste Bissen aus fluffigem Hefeteig und süß-säuerlichem Marillenkompott schickt ein Kribbeln von meiner Zunge durch meinen ganzen Körper. »Es schmeckt fantastisch!«

Astra lacht. »Hast du gedacht, nur weil Dämonen den Laden führen, schmeckt das Essen mies?«

Ich lasse die Gabel sinken.

»Bitte verschone uns mit der Dämonen-und-Magie-existieren-nicht-Nummer.« Peninnah stellt pikiert ihre Tasse mit einem Knochenfinger als Henkel ab.

»In dir schlummern arkane Kräfte des Pfads der Linken Hand. Sinistras Pfad. Das, was Unwissende gemeinhin dunkle Magie nennen.« Astra wendet ein Stück Knödel im Puderzucker. »Aber an der Academia wirst du lernen, dass das stereotype –«

»Sinistra – das bedeutet finster. Unheilvoll.« Ich umklammere meine Kofola. Die Existenz von alledem kann ich nicht leugnen, sosehr ich es auch will. Aber … »Ich bin kein böser Mensch. Und trage keine bösen Kräfte in mir.«

»Wir sind nicht böse.«

»Es hört sich aber ganz danach an.«

»Du tust, als wäre es etwas Schlechtes, finster und unheilvoll zu sein.« Astra überschlägt die langen Beine. »Wenn du deine Kräfte annimmst, wirst du merken, dass es Vorteile bietet. Verlockungen. Vergnügen.«

In eine Welt mit Dämonen, Magie und anderen sinisteren Dingen gehöre ich nicht. Ich muss diese dunkle Energie nicht annehmen. Ich will sie vergessen, will niemanden verletzen. Meine Handflächen brennen, als würde ich glühende Kohle umklammern. Nicht verletzt werden.

»Du hast keine Wahl, auch wenn du es nicht wahrha-«

»Eigentlich hast du eine Wahl.« Peninnah grinst. »An der Academia studieren – oder dich vor dem Arkanen Rat verantworten. Deren Jäger dich ohne uns längst gefasst hätten. Wir können dich immer noch ausliefern. Der Rat wird keine andere Wahl haben, als dich wegzusperren.«

Mein Glas knirscht und ich knalle es auf den Tisch. »Das glaube ich nicht.«

Sie starren mich mit offenen Mündern an.

»Du hast gesagt«, ich deute auf Astra, »Ruslakas und Bungees bleiben unter sich.«

»Rusalkas und Banshees.«

»Werden sie dafür auch ins Gefängnis geworfen?«

»Nein«, entgegnet Astra gedehnt. »Weil sie es verstehen, sich bedeckt zu halten.«

»Das kann ich doch auch tun.«

»Ist ein Anfall wie in Der Exorzismus von Emily Rose deine Vorstellung von sich bedeckt halten?«

Vielleicht hat sie recht. Aber ich kann ihre Welt nicht betreten. Schließlich habe ich mir gerade erst mein Leben in Prag aufgebaut. Eine Wohnung ergattert. Einen Job gefunden. Tatiana und Tomáš kennengelernt, deren Normalität mir plötzlich so verlockend vorkommt. Aber dafür darf ich diese Dunkelheit in mir nie wieder zulassen – bevor sie all das zerstört. »Ich kann das nicht. Will das nicht.«

»Was ist die Alternative?«, fragt Astra. »Vor dem Arkanen Rat fliehen? Dann können wir dich auch direkt ihren Jägern ausliefern.«

Ich erschaudere beim Gedanken an die wolfsartigen Gestalten. »Was würden sie tun, wenn sie mich erwischen?«

»Das willst du nicht herausfinden.« Astra beugt sich näher. »Komm mit zur Academia Sinistra. Du wirst es nicht bereuen.«

Ich stolpere aus dem Laubwirbel in ein kapellenartiges Büro mit Längswänden aus rankenüberwucherten Bücherregalen. Beinahe übergebe ich mich auf den Holzboden. »Ich bin davon ausgegangen, dass wir Ihr Büro zu Fuß aufsuchen.«

Die Riesin schreitet auf ein Spitzbogenfenster zu, das die Rückwand einnimmt. Seine Flügel stehen offen und die noch seltsam sattgrüne Eiche draußen raschelt. »Entschuldigen Sie.« Vor dem Schreibtisch am Fenster faltet sie die knorrigen Hände. »Als Rektorin bin ich eine viel beschäftigte Frau.«

»Die Rektorin dieser … Univerzita?« Ich inspiziere ihren weißen Kaftan. Sie kleidet sich eher wie die Rektorin eines prätentiösen Wellnessresorts.

»Die Univerzita Mystika a Magie. Für alle, die den Pfad der Rechten Hand beschreiten. Dextras Pfad.« Sie sinkt in eines der Sofas in der Raummitte. »Ich bin Rektorin Aigeiros.«

Ich verharre vor dem Couchtisch, auf dem ein Bonsai neben einem Buch mit griechischen Buchstaben steht.

»Das alles muss sehr viel für Sie sein.«

»Wie sind Sie darauf nur gekommen?«

Zwischen ihrer Leinenhose und den goldenen Römersandalen blitzt Baumrindenhaut hervor. »Ich merke, Sie müssen die Situation erst auf sich wirken lassen.« Die Rinde kriecht ihren Hals hinauf und verliert sich zum Kiefer hin. Doch ihre Gesichtshaut erinnert an poliertes, marmoriertes Olivenholz. »Bitte, setzen Sie sich, atmen Sie, finden Sie Ihre Mitte.«

»Weder muss ich die Situation auf mich wirken lassen noch meine Mitte finden. Ich will nur, dass Sie mir sagen, was Sie sagen wollen, damit ich verschwinden kann.«

Rektorin Aigeiros faltet die Beine zum Schneidersitz. »Sie schlagen wegen der überfordernden Situation um sich. Ich fasse es nicht als Angriff auf.«

»Fantastisch.«

Sie sieht mich an, bis ich mich setze. »Nicht alle Arkanen sprechen gern darüber, welcher Art sie angehören. Wir respektieren das. Gleichzeitig möchte ich ein Umfeld schaffen, in dem ein freier Umgang möglich ist. Deshalb gehe ich offen damit um, was ich bin. Eine Dryade.«

»Ein Baumgeist.«

»Ich weiß, Späterwachten fällt es oft schwer zu glauben, dass Wesen wie wir existieren, aber –«

»Nein, nach allem, was ich gesehen habe, glaube ich, dass Baumgeister, Feen und Hasenmädchen existieren. Aber«, ich blicke auf den kümmerlichen Bonsai, »Sie? Ein Baumgeist?«

»Das ist ein Freizeitprojekt.« Ihre braun gemaserten Wangen nehmen eine rötlichere Nuance an. »Ich versuche mich an der Gärtnerei – ohne meine Dryadenkräfte einzusetzen.«

»Gut, dass Sie eine Magieschule gegründet haben, keine Baumschule.«

»Nicht ich habe die Univerzita vor fast siebenhundert Jahren gegründet. So alt bin ich auch nicht. Außerdem sind wir keine Magieschule. Wir sind eine Univerzita für alle Arkanen, nicht nur magische.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen magisch und arkan?«

»Das können Sie im Studium herausfinden.«

»Diese ganze Schmetterlinge-und-rosa-Glitzer-Nummer ist nichts für mich.«

»Die Univerzita bietet zahlreiche Möglichkeiten.« Sie deutet auf das Buch zwischen uns. »Ich zum Beispiel erforsche momentan Erwähnungen der Dryaden in antiken Werken.«

Ich mustere die griechischen Buchstaben. »Homers Odyssee?«

»Sie sprechen meine Muttersprache?«

»Nur eine Vermutung aufgrund der Ähnlichkeit mancher Buchstaben zu unserem Alphabet.«

»Eine gute Auffassungsgabe! Optimal für ein Studium!« Sie ist hartnäckig, auf diese unterschwellig perfide Lachyoga-Lehrerinnen-Art.

»Ich studiere bereits.« Und werde all meine bisherige Arbeit sicher nicht mit einem Studium hier zunichtemachen.

»Sie als vor Lebenshunger sprudelnde Frau haben sicher Tausende Träume. Welche Berufung haben Sie gewählt?«

»Steuerberatung.«

Eine Brise zerzaust Rektorin Aigeiros’ weiße Locken. »Ich bin sicher, Sie haben Gründe, solch eine trockene Arbeit …«

»Ich möchte im Homeoffice mit möglichst wenig Kundenkontakt arbeiten und ein vorteilhaftes Verhältnis von Verdienst und Zufriedenheit erlangen.« Bevor sie versuchen kann mir einen erfüllenderen Job einzureden, fahre ich fort. »Laut einer Umfrage des Statistischen Berichtssystems für Steuerberater sorgen Homeoffice, Überstundenvergütung, Urlaubstage, Digitalisierungsgrad sowie intrinsische Faktoren für eine hohe Zufriedenheit.«

»Sie haben sich hohe Ziele gesteckt.« Bedächtig steht sie auf und die Brise weht durch ihre Haare wie eine Böe durch Baumkronen, die ein drohendes Gewitter ankündigt. »Ich wünschte, Sie entschieden sich freiwillig für den richtigen Weg. Ich halte Zwang für etwas, das das Erblühen der Knospen junger Geister hemmt.«

Ich rutsche auf dem Sofa vor ihr zurück.

Rektorin Aigeiros tritt mit ihren ellenlangen Beinen über den Couchtisch. »Kann ich Ihre Hände berühren?«

»Mir wäre ehrlich gesagt lieber –«

»Tun Sie mir den Gefallen und danach können Sie gehen.«

Ich recke ihr meine Hände entgegen. »Wenn das alles ist, was es braucht.«

Sie umfasst meine Finger, ihre Haut so spröde wie Baumrinde. »Schließen Sie die Augen, bitte.«

Ich gehorche. »Ich atme aber nicht durch mein Herz-Chakra und bete Namastes herunter oder Ähnliches.«

Rektorin Aigeiros hebt unsere Hände an. »Sie glauben nicht an die Heilkraft dieser uralten Lehren?«

»Studien bestätigen eine gesundheitsfördernde Wirkung«, murmle ich, seltsam eingelullt von … von … »Aber ich fühle diesen westlichen, trendigen Abklatsch solcher Praktiken nicht. Und hatte erwartet, eine Einrichtung wie diese hätte etwas mehr Feingefühl, was –«

»Wenn Sie am wertschätzenden Umgang mit den Wurzeln des Yoga interessiert sind, Profesorka Priya Chandra hält den Workshop Yoga und kulturelle Aneignung.«

»Danke, mir reicht diese Selbstfindungsreise.«

»Normalerweise geht es schneller. Ihr Geist ist eine harte Nuss. Verzeihen Sie den Dryaden-Humor.« Rektorin Aigeiros lässt unsere Hände sinken. »Nach einem Nahtoderlebnis sind Menschen meist offener mit ihren Sehnsüchten.«

»Ich habe keine Sehnsüchte. Ich habe Ziele.«

»Das spürte ich.« Als sie in einem der Regale nach einem Buch greift, weichen die um die Einbände geschlungenen Ranken zurück. »Ein Studium an der Univerzita öffnet Ihnen auch Türen in der Welt der Gregalen.«

»Gregale?«

»Vom lateinischen gregalis, also –«

»Herde? Von gemeiner Art? Von gewöhnlicher Sorte?« Ich schnaube. »So bezeichnen Sie alle, die anders sind als Sie?«

Die Rektorin betrachtet mich eingehend. »Ich spürte auch, dass sich tief in Ihnen eine gewisse Sorge versteckt. Mit einem Studium bei uns müssten Sie nicht um Ihre Zukunft bangen. Vor allem nicht wegen einer misslungenen –«

»Ich habe aber kein Interesse daran, Reiki-Heilerin zu werden!« Mein Herzschlag pocht in meinen Ohren. Misslungene – Sie weiß von – Ich balle die Fäuste.

Die Rektorin hält mir das aufgeschlagene Buch entgegen. »Das sind die Universitäten, mit denen die Univerzita Mystika a Magie zusammenarbeitet. Wir bieten Kurse an, die den Fokus auf die Verknüpfung arkaner mit gregalen Fähigkeiten legen.«

Tief durchatmend löse ich meine Fäuste. Keine Blöße geben. Auch wenn mich plötzlich Müdigkeit überkommt. Schwindel. »Sollten Sie den ganzen Magiekram nicht geheim halten?« Ich blicke auf die Liste. »Waren die Hexenverbrennungen nicht Lehre genug? Oder …« Cambridge, die National University of Singapore, das MIT, Tōkyō daigaku, Caltech, Universidad de Buenos Aires – »Sogar Harvard?«

Sie lächelt wissend. Verdammt. »Wir können auch Praktika vermitteln.« Sie schlägt eine Seite mit Firmen auf, aber auch Forschungseinrichtungen, Non-Profit-Organisationen – und große Anwaltskanzleien. Oh, sie ist gut. »Natürlich nur für besonders vielversprechende Studierende. Sind Sie so eine Studentin, Mathea Seymour?«

Sie ist wirklich gut. »Sie können Gedanken lesen?«

»Ich bin eine magische Empathin. Das heißt, ich kann –«

»Das war mehr als Einfühlungsvermögen.« Meine Knie zittern, sicher von ihrem Herumwühlen in meiner Seele, sodass ich auf das Sofa sinke. »Ist das überhaupt erlaubt?«

Sie setzt sich auf die Armlehne mir gegenüber. »Hier die Fakten: Der Arkane Rat weiß bereits über Sie Bescheid und wird prüfen, ob Sie Ihre Kräfte beherrschen. Wenn nicht, ist die Gefahr zu groß, dass sie unkontrolliert ausbrechen. Dann steckt der Arkane Rat Sie ins Gefängnis.«

Ich bohre mir die Finger in die Unterarme. »Lassen Sie mich raten – es gibt eine magische Alternative?«

»Der Rat gewährt Ihnen einen Aufschub der Prüfung, wenn Sie hier lernen, Ihre Kräfte zu kontrollieren, und das Studium nach drei Jahren erfolgreich abschließen. Die Arkanen der Univerzita weisen sehr unterschiedliche Lebensläufe auf – manche studieren vorher in der Gregalen Welt, manche danach, manche kommen in höherem Alter zu uns, manche kehren zu den abgelegenen Wohnorten ihrer arkanen Art zurück, manche stürzen sich direkt ins Arbeitsleben. Auch Sie können Ihr vorheriges Studium nach der Univerzita fortsetzen. An der Harvard Law School vielleicht? Der kleine … Zwischenfall in Ihrer akademischen Laufbahn wird vergessen sein.«

Sie hat gespürt, was mir wichtig ist, und schneidert ihre Argumente auf mich zu. Sie manipuliert mich.

Und das kann ich respektieren.

Ich reibe mir über die Stirn und stöhne resigniert.

Sie lächelt. »Willkommen an der Univerzita Mystika a Magie.«

Erschöpfung schwappt über mich, doch ich halte mich aufrecht. »An meinen Zukunftsplänen ändert sich nichts.«

»Lernen Sie in den nächsten drei Jahren, Ihre Kräfte zu beherrschen. Dann ändert sich – Mathea!«

Das Büro stellt sich auf den Kopf.

Auf der mit dreißig Statuen geschmückten Karlsbrücke, die sich über die Moldau spannt, quetschen wir uns durch die Touristenmassen, passieren den gotischen Brückenturm und steuern auf das Klementinum zu. Abgesehen von seinen enormen Ausmaßen ist dessen Äußeres aus strengen Fassaden, drei Kirchen und vier Innenhöfen für ein Barockgebäude unauffällig – vor allem zwischen all den Sehenswürdigkeiten der mittelalterlichen Altstadt Staré Město.

»Ich dachte, hier befindet sich die Nationalbibliothek?«

»Das denken die Gregalen. Ihre Steuern finanzieren das Gebäude. Aber sie setzen seit hundert Jahren keinen Fuß mehr hinein.« Astra grinst. »Mal wird umgebaut, mal gibt es eine Überflutung, ein Feuer, immer irgendein Grund, warum das Klementinum für die Öffentlichkeit gesperrt ist.«

Über dem Portal prangt ein Banner mit der Aufschrift Solve et Coagula, über das ein rußschwarzer, doppelköpfiger Adler aus Stein wacht. Als Peninnah und Valix hindurchtreten, blitzen seine goldenen Klauen und Schnäbel auf. Dann schmilzt er.

»Wirklich beeindruckend ist die Schutzmagie unserer Rektorin«, fährt Astra fort, während ich zum Adler starre, dessen Rumpf sich in einen Löwen verwandelt. »Sie lässt die Menschen glauben, dass sie die Nationalbibliothek besucht haben. Dass sie Konzerte im Spiegelsaal gehört haben.«

Die Köpfe und die vorderen Klauen bleiben die des Raubvogels. Eine Chimära – ein Greif?

Astras Lachen dringt in meine Ohren. »Manche Menschen glauben sogar, sie würden hier arbeiten.«

»Ihr spielt mit dem Bewusstsein anderer?« Ich gehe einen Schritt zurück. »Ich hab es mir anders über-«

Astra stößt mich durch das Tor.

Stolpernd drehe ich mich um, will nach draußen preschen, doch eine der älteren, rot-weißen Trams rattert dort entlang, wo ich zuvor stand.

»Du bist eine Hexe. Nicht unsterblich.« Grinsend schiebt Astra mich durch einen Innenhof mit knorrigen Robinien. Mal wieder eine invasive Art für Tschechiens Ökosystem. »Der Hof der Scholares – so nennen wir die Studierenden der Academia –, um den die meisten unserer Zimmer liegen.«

Überall wandern Menschen in streng geschnittenen schwarzen Uniformen umher. Die Scholares? Eine Uniformierte springt aus dem zweiten Stock auf die Schultern eines Studenten. Sie verwickelt ihn in einen Kampf, bei dem sie von umstehenden Scholares angefeuert werden. Andere sitzen auf Ästen, wandern mit Bücherstapeln in den Armen durch den Bogengang in den nächsten Innenhof.

Und sie beobachten mich. Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, hinter Klauen und Pranken. Sie lachen. Kein Wunder, ich steche heraus wie eine knallrote Plastiktüte auf einer Schneewiese. Doch es ist mehr als Gespött. Etwas Düsteres wabert in der Luft. Der umschlagende Luftdruck vor einem Gewitter. Bösartige Magie.

Ich gehöre nicht hierher.

»Natürlich gehörst du hierher.« Astra schlingt einen Arm um meine Schulter.

Habe ich das laut gesagt? Sie lässt im nächsten Hof los, wo Valix und Peninnah warten. Ein winziges Mädchen kommt auf uns zu und ich zucke zusammen. Ihre Augen glühen wie Feuer.

»Es gibt keinen Grund, Angst zu haben«, erklärt Astra.

Und tatsächlich, das Mädchen lächelt. Was ist nur los mit mir, dass ich sie wegen ihres Aussehens verurteile, statt –

Sie stellt mir ein Bein.

Quiekend stolpere ich nach vorn. Valix hält mich fest.

Peninnah schnaubt. »Für Ellie gibt es offenbar schon einen Grund.«

Astra bohrt ihr den Ellbogen in die Seite. »Das war nur ein alberner Streich. Sie verkraftet das.«

Durch einen Durchgang sehe ich dicht gedrängte Menschen. Dort muss es zurück in die Staré Město gehen.

Ich könnte wegrennen.

»Sie gehört zu uns«, erklärt Astra seltsam stolz.

Sie gehört zu uns. Mein Herz macht einen quälenden Satz, denn das wäre das erste Mal. Ich habe diese Worte zuvor gehört, ein Mal, von ihr, doch das war eine Lüge. So wie jetzt. Ein falsches Versprechen. Renn los! Raus aus den so trügerisch warmbeigen Gemäuern. Weg von Astras trügerischer Wärme und den verlockenden Worten, die mich in den Abgrund der Academia zerren sollen. Doch ich trotte ihnen hinterher. Wieder das Werk von Astra? Oder weil ich weiß, dass die Alternative schlimmer wäre? Die Jäger, der Arkane Rat – ich muss mitspielen, bis ich einen Weg finde, beidem zu entkommen.

»Wir müssen sie dringend rausholen aus diesen«, Peninnah deutet von oben bis unten auf mich, »Wohlfahrtsspenden.«

»Das sind keine Spenden!« Ich löse meine Finger aus meinem Cardigan, bevor er ausleiert. »Ich habe sie secondhand gekauft.«

»Das trägst du freiwillig?«

Astra drückt eine Eingangstür auf. »Ich finde es reizend. Aber du brauchst die Uniform so schnell wie möglich. Ich fürchte, wer hier zum Anbeißen aussieht, wird aufgefressen.«

»Im übertragenen Sinne?« Schluckend blicke ich in den Hof mit den Scholares. Hörner, Schlangenschuppen, Klauen, blutrote Augen. Reißzähne. »Astra!« Ich haste hinter ihnen eine Marmortreppe hinauf. »Im übertragenen Sinn, oder?«

Im kahlen, düsteren Flur dröhnt es.

»Der Haushaltsflügel«, erklärt Astra und deutet auf die eng stehenden Türen. »Schneiderei, Waschraum, Werkstatt.«

Hinter der einzigen offenen Tür sitzen sich zwei Frauen auf röhrenden Waschmaschinen gegenüber. Nein, sie schweben. Mit über einer Kristallkugel ausgestreckten Händen.

»Scrying«, murmelt Astra. »Das Dröhnen hilft ihnen, unsere Sphäre zu verlassen.«

»Sky-was?«

Astra tritt durch eine andere Tür in einen mit Stoffrollen und Garnspulen vollgestellten Raum. Durch Sprossenfenster fällt Nachmittagssonne auf einen Schneidertisch, über den sich ein grauhaariger Gentleman beugt. Zwischen seinen hellbeigen erhobenen Händen schweben goldenen Nähnadeln.

»Monsieur Bellerose!«, ruft Astra.

Die Goldnadeln klirren auf den Tisch. »Jetzt kann ich von vorne anfangen!«, bellt er. Naserümpfend bedenkt er mich mit einem Blick. »Wer ist das? Und warum bringt ihr sie zu mir? Nicht, dass sie es nicht nötig hätte, aber …«

»Das ist Ellie.«

Monsieur Bellerose schreitet mit einem Maßband bewaffnet zu mir. »Eine neue Sinistra, drei Wochen nach Semesterbeginn?«

»Eine Späterwachte.«

Er misst mich vom Scheitel zu den Zehen und bekreuzigt sich beim Anblick meiner selbst gestrickten Socken. »Rektorin Sýkorová hat sie zum Studium zugelassen?«

»Jep«, flötet Astra, »wir waren eben bei der Anmeldung.«

Japsend hole ich Luft. »Ich war nicht bei –«

»– beim Examen«, beendet Valix. »Die Rektorin empfand die Uniform als dringlicheren Punkt.«

»Nachvollziehbar.« Monsieur Bellerose schält mich aus dem Mantel, dann hilft er mir auf ein von Spiegeln umgebenes Podest und plötzlich ist es zu spät.

Ich will die Lüge aufklären. Aber die Angst vor einer wer weiß wie aussehenden Strafe lässt meinen Mund austrocknen, während jeder meiner Körperteile vermessen wird.

»Welche Modelle dürfen es sein?« Monsieur Bellerose hievt am anderen Ende des Raums eine Stoffrolle vom Regal.

Aber wer misst dann –?

Das Maßband gleitet von allein um meine Hüften. Gleichzeitig schwebt ein Katalog vor meiner Nase und blättert sich langsam um. Dutzende Kleidungsstücke, tintenschwarz und streng geschnitten. Geknöpfte, ab der Taille ausgestellte Kleider, schmal geschnittene Anzughosen, Hemden mit hohen, steifen, spitz zulaufenden Kragen, einreihige Jacketts …

»Ich dachte, es ginge um eine Uniform?«

»Wir sind kein angestaubtes Internat in der Pampa, wo dauerabwesende Eltern ihre schwer erziehbaren Zöglinge deponieren«, schnaubt Peninnah. »Wir haben Stil.«

Astra reißt den Katalog an sich. »Wenn es dir egal ist, suche ich etwas aus!«

»Nein, ich –« Schwerer schwarzer Tweed formt sich um meine Schultern zu einer Art Umhang. Schwebende Goldnadeln stecken den Stoff ab. Wie in der Szene von Dornröschen