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**Zwei Schicksalspaare, für immer verbunden** Die Tore zur Anderswelt stehen offen und die verbannten Dämonen drohen nicht nur Prag zu überrennen, sondern die gesamte arkane Welt zusammenbrechen zu lassen. Nur Ellie kann sie kontrollieren, aber dafür muss sie ihre Vergangenheit, vor der sie so lange geflohen ist, akzeptieren – und zu dem werden, was sie nie sein wollte. Dieses Vermächtnis stellt die Beziehung mit Astra auf die bisher härteste Probe. Auch Mathea und Atlas kämpfen für ihre gemeinsame Zukunft und suchen angesichts der dunklen Bedrohung nach einer Lösung. Doch die scheint ausgerechnet aus den Reihen ihrer Feinde zu kommen. Und wenn die Grenzen zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse immer mehr verschwimmen – wem ist dann noch zu trauen? Endlich Lesenachschub von Erfolgsautorin Laura Cardea! Bildgewaltig, atmosphärisch und ein Setting zum Verlieben! //Dies ist der dritte Band der mystisch-magischen Romantasy »Chronica Arcana«. Alle Romane der fesselnden Academy-Fantasy: -- Band 1: The Lesson of Curses -- Band 2: The Secret of Ink -- Band 3: The Book of Seals//
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ImpressDie Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Laura Cardea
The Book of Seals
Zwei Schicksalspaare, für immer verbunden
Die Tore zur Anderswelt stehen offen und die verbannten Dämonen bedrohen nicht nur Prag, sondern die gesamte arkane Welt. Um sie zu kontrollieren, muss Ellie endlich ihre Vergangenheit akzeptieren – und zu dem werden, was sie nie sein wollte. Dies stellt die Beziehung mit Astra auf die bisher härteste Probe. Auch Mathea und Atlas kämpfen für ihre gemeinsame Zukunft und suchen angesichts der Bedrohung nach einer Lösung. Die scheint ausgerechnet aus den Reihen ihrer Feinde zu kommen. Doch wenn die Grenzen zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse verschwimmen – wem ist dann noch zu trauen?
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Vita
© privat
Laura Cardea wurde seit ihrer Kindheit dazu ermahnt, nicht so viel zu träumen. Statt darauf zu hören, tauchte sie immer wieder in neue Bücherwelten ein. Irgendwann reichte ihr das Lesen nicht mehr und sie erträumte sich eigene Welten. Das Schreiben von Geschichten zieht sich seitdem durch ihr Leben. Neben dem Schreiben studiert sie Medien- und Kulturwissenschaften und arbeitet als freiberufliche Mediendesignerin sowie Bloggerin.
Für alle,
die den Mut aufbringen,
einen anderen Weg einzuschlagen
als gedacht.
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Laura und das Carlsen-Team
Hinweis:
Am Ende dieses Buches ist eine Übersicht der Figuren und wichtigsten Wesen aufgeführt.
Ich liebe den Sommer. Selbst die engen Gassen Prags voller Abgase und Touristen macht er erträglich. Doch sobald ich aus dem deckenhohen Fenster der Academia Sinistra auf den blühenden, verzauberten Innenhof schaue, überkommt mich wieder dieser Drang.
Ich will alle Blumen ausreißen.
Die Blumen verdiene ich nicht, genauso wenig wie die Sonne oder die Ruhe, während alle Scholares über ihre Bücher gebeugt lernen, oder die Zuckerreste der Buchty vom Frühstück, die noch auf meinen Lippen kleben.
Denn ich habe zugelassen, dass die Wächter der Wiederkehr Mathea entführen. Und egal wie oft ich es versuche, ich erreiche sie nicht über die mentale Verbindung zwischen uns.
In meinem Kopf hallt nur das Klirren wider. Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Es bringt nichts. Trotzdem höre ich, wie der Spiegel in Tausende Scherben zerbricht, nachdem Ivan Mathea hindurchgestoßen hat.
Mathea ist fort. Weil ich sie nicht retten konnte. Weil ich sie nicht über unsere Verbindung erreichen kann. Weil …
Moment.
Ich reiße den Blick vom blühenden Innenhof los und nehme die Hände von den Ohren. Aber nicht, um mich wieder meinem Text zu widmen. Stattdessen werfe ich einen Blick auf Magister Lorcan, der bis auf die breiten Schultern im maßgeschneiderten Hemd und die Spitzen seiner kurzen Locs hinter der arkanen Tageszeitung Za Svítání verborgen ist.
Über unsere Verbindung kann ich Mathea vielleicht nicht finden. Was meine arkanen Kräfte betrifft, bin ich jedoch nicht mehr so hilflos wie vor einem Jahr. Es gibt andere Wege.
Also öffne ich den Verschluss des Pendels um meinen Hals, halte es unter dem Tisch in einer Hand und schließe die Augen. Atme ruhig ein und aus, so wie ich es mit Astra geübt habe. Ein und aus. Ein und aus. Arcanima sammelt sich hinter meinem Herzen. Ich stelle mir Matheas Gesicht vor. Blasse, spitze Züge, eingerahmt von tintenschwarzem Haar, die platinblond gebleichten Strähnen ihres geraden Ponys inzwischen sicher etwas herausgewachsen. Kein schwarzer Kajal wie sonst um ihre Augen. Augen blassgrau wie ein Regentag, aber nicht wie die von ihnen, nicht ganz, sondern …
Einatmen, ausatmen. Nur an Mathea denken.
Wie sie ihren Mund verzieht, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Die Augen verdreht, wenn sie genug von den Albernheiten anderer hat. Wie sie lächelt, ganz selten. Ich sehe sie vor mir.
»Ouga Anasigan«, flüstere ich, damit mich niemand der anderen Scholares hört.
Meine Arcanima sammelt sich hinter meinen geschlossenen Lidern. Der Druck in meinen Augäpfeln steigt, doch ich atme weiter. Ruhig. Energie fließt durch meine Finger in das Pendel und sollte es jeden Moment zum Ausschlagen bringen.
Doch es passiert nichts. Dank des Trainings mit Astra und der Sigille auf meinem Oberkörper, die sie mir in einem Warlock-Ritual gegeben hat, verliere ich nicht wie früher die Kontrolle, aber ich schaffe es auch nicht, Mathea zu finden. Kein ausschlagendes Pendel, das mir zeigt, in welcher Himmelsrichtung sie sich befindet. Ich sehe nicht, was sie sieht, nicht einmal verschwommen. Ich spüre sie nicht.
Unsanft stupst mich jemand an. Khadija, die ihre vollen Augenbrauen eng zusammenzieht.
»Hör auf, bevor dich die angestaute Arcanima ernsthaft verletzt!«, zischt sie.
»Ich kann es kontrollieren.«
Sie deutet von meiner Nase auf mein Buch vor mir. »Offensichtlich nicht.«
Blutstropfen sickern in das Pergament. Ist das …? Ich fasse mir ins Gesicht. Nasenbluten.
Ren, der am Tisch vor mir sitzt, dreht sich mit raschelnden Krähenflügeln um und reicht mir ein Stofftaschentuch. Er verengt vor Sorge – oder Missbilligung? – derart die Augen, dass zwischen den langen schwarzen Haarsträhnen in seinem Gesicht nur noch die beinahe schwarzen Iriden sichtbar sind. Doch er schweigt. Wie ich es von dem meist wortkargen Karasu-Tengu gewohnt bin.
Kurz schaue ich zu Magister Lorcan, der immer noch hinter seiner Tageszeitung verborgen ist. »Danke«, murmle ich dann und nehme das Taschentuch.
Khadija schnaubt. »Wer benutzt heutzutage bitte noch Stofftaschentücher?«
»Jemand, dem die Umwelt nicht am Arsch vorbeigeht.« Wortkarg, bis Khadija ihn aus der Reserve lockt, wie nur sie es kann.
»Wenn das so ist, lass mich dir doch einen Antrag zur Immatrikulation an der Univerzita besorgen, Krähenjunge.«
»Ich hatte dich für schlauer gehalten, was dieses Schwarz-Weiß-Denken bezüglich Sinistras und Dextras betrifft. Du weißt schon, dass das Ziel von uns Sinistras nicht die Zerstörung unseres Planeten ist, Rauchmädchen?«
»Jaja. Zügellosigkeit und andere Sünden sind nicht ganz so erfüllend, wenn die Welt um uns in Flammen aufgeht. Trotzdem heißt das nicht, dass du herzensguter Ritter die Welt mit so lachhaften Methoden wie Stofftaschentüchern zu retten versuchen sollst.«
Mit meiner freien Hand greife ich nach Khadijas, während ich mit der anderen das Taschentuch gegen meine Nase drücke. »Streitet euch bitte nicht.«
»Also direkt zwei Immatrikulationsanträge«, entgegnet sie.
Vorne am Pult raschelt es. »Novotná, Veselá, Nomura.« Magister Lorcan blättert die Zeitung um, ohne aufzublicken. »Raus.«
Khadija und Ren stehen grummelnd auf.
Ich hingegen erstarre. Nur eine einzige Stunde zu verpassen kann an der Academia dein Untergang sein. Spätestens zu den Semesterabschlussexamen, wenn wir nicht nur schriftliche Tests bestehen müssen, um weiterstudieren zu dürfen, sondern uns auch noch mit den anderen Scholares messen.
Ich umklammere die Tischplatte. »Es war meine Schuld!«, kommt es piepsig aus mir heraus, »Ren und Khadija haben mir nur geholfen, weil ich Nasenbluten –«
Energisch blättert Profesor Lorcan zur nächsten Seite. »Sie schwächeln also, während Nomura und Veselá … Mitleid zeigen?« Er sagt es so, als würde der Arkane Rat für Mitleid die Höchststrafe verhängen. »Schade, dass die Freizeit von Ihnen dreien schon mit Strafarbeiten für Ihre Eskapaden im letzten Semester gefüllt ist. Sonst hätte ich das gern übernommen. Aber wie wäre es, wenn ich aus drei Monaten Strafarbeit vier mache?«
»Was? Nein, bestrafen Sie bitte nur mi-«
»Fünf Monate. Und jetzt verschwinden Sie, bevor es sechs werden.«
»Herzlichen Dank, Ellie«, murrt Khadija und zerrt mich hinter sich her zur Tür, die Ren offen hält.
Mihai Dumitrescu grinst so genüsslich wie gehässig, während er sich im Stuhl zurücklehnt, um unseren Auszug zu begutachten, als wäre es eine festliche Parade. Alle Scholares wissen, dass wir bestraft wurden, auch wenn der Grund für die Strafe streng geheim gehalten werden soll: unser unerlaubtes Betreten der Anderswelt. Die Existenz der Anderswelt.
»Darf er unsere Strafarbeit überhaupt anpassen?«, flüstere ich auf dem leeren kalkweißen Flur.
Khadija lässt mich los. »Du kannst ja gern eine offizielle Beschwerde bei Rektorin Sýkorová einreichen, wenn du so scharf darauf bist, dich mit ihnen anzulegen.«
»Bist du wütend?«
»Ich würde dich anflehen, mich von Medica-Personal untersuchen zu lassen, sollte ich das je nicht sein.«
»Heißt das … ja?«
Khadija rauscht durch die Tür in unser Zimmer, das wir uns seit Anfang des neuen Semesters teilen. Man könnte meinen, nach dem überfüllten Schlafsaal im ersten und zweiten Semester, in dem man wortwörtlich um sein Bett kämpfen musste, wäre das ein Privileg. Denn eigentlich bekommen nur die Scholares mit den besten Abschlussprüfungsnoten Zweierzimmer, während sich die anderen je nach Ergebnissen immer überfülltere Unterkünfte teilen müssen. Aber unser Zimmer … na ja, es als Zimmer zu bezeichnen ist allein schon wohlwollend. Abstellkammer trifft es eher.
»Sie kriegt sich schon wieder ein«, reißt Ren mich aus den Gedanken und hält mir eine lackierte Holzbox mit weißen, mehlbestäubten Teigkugeln unter die Nase. »Erdbeer-Mochi?«
Ich starre vom Konfekt zu Ren und lasse meinen Blick über die düstere Miene hinter langen Haaren und die dunkle Uniform gleiten, durch deren Aussparungen am Rücken seine raschelnden Krähenflügel ragen.
»Selbst gemacht.« Beherzt beißt er ab und im weichen Teig kommt eine von dunkelroter Paste umhüllte Erdbeere zum Vorschein. »Ohne die Zusatzstoffe, die Astra dir mit ihrem Industriezeug unterjubelt.«
»Selbst gemacht von dir?« Ich kann mir den Krähendämon, so wie eigentlich die meisten Scholares der Academia, beim besten Willen nicht beim Backen von Süßspeisen vorstellen.
»Keine Sorge, sind nicht vergiftet.« Er pustet sich Mehl von den Fingern. »Gift ist nicht das bevorzugte Mittel meiner arkanen Art, wenn wir jemanden auslöschen wollen.«
Auslöschen. Ist es das, was die Wächter mit Mathea vorhaben? Ich erzittere so heftig, dass ich die Arme um mich schlinge. Oder haben sie das bereits getan?
Spüre ich sie deshalb nicht mehr?
Nein. Nein, Mathea lebt. Das weiß ich. Sie muss.
Aber die Wächter tun ihr wer weiß was an, während ich hier im Schutz der Academia über Strafarbeiten und japanische Süßigkeiten nachdenke, nur weil die Dozierenden beider Institutionen uns das befohlen haben. Genauso wie der Arkane Rat, deren Jäger dabei waren, als wir in der Anderswelt gerettet wurden. Wie könnte ich ihre Befehle danach ignorieren? Ich habe mich ja nicht einmal getraut zu fragen, wie sie von unserem Ausflug erfahren und vor allem einen Weg in die Anderswelt gefunden haben.
»Also, willst du jetzt ein Mochi oder nicht?«
Mein Magen dreht sich. »Keinen Hunger.«
Bevor er antworten kann, folge ich Khadija in unser beengtes Zimmer. Die zwei so unterschiedlich dekorierten Hälften mit dem durchgesessenen Sofa unter dem windschiefen Fenster in der Mitte verschwimmen vor meinen Augen, sodass ich mich auf mein knarzendes Bett setze. Selbst wenn ich Hunger hätte – etwas so köstlich Aussehendes wie seine Mochi habe ich genauso wenig verdient wie das ausschweifende Frühstück heute Morgen, mein warmes Bett in einem Zweierzimmer, die schicke Uniform und all die anderen Annehmlichkeiten. Denn selbst unsere Abstellkammer von Zimmer und die Strafarbeiten sind immer noch tausendmal besser als alles, was Mathea durchmachen muss.
Ich muss sie finden. Bevor es zu spät ist. Ganz egal, ob ich dabei Regeln breche und Befehle missachte.
Und ich weiß, wer mir helfen kann.
Ich warte, bis das lichtdurchflutete Foyer der Univerzita leer ist. Dann schleiche ich zur größtenteils ungenutzten Treppe in das Kellergeschoss. Mit jeder Stufe sinkt die Temperatur und unten angekommen schüttelt es mich, denn die unterirdischen Korridore sind eiskalt, feucht und düster. So anders als der Rest des Schlosses mit den stets von Lachen und Wärme erfüllten Gemäuern. Als wäre die Universität auf dem Gerippe einer jahrhundertealten Krypta erbaut worden. So etwas hätte ich höchstens in der Academia erwartet.
Vor allem die Kerker.
Alles in mir schreit danach, auf der Stelle kehrtzumachen. Die Luft ist drückend, wie früher in der Höhle, in der sie mich eingesperrt haben. Ich schüttle den Kopf. Niemand sperrt mich ein. Ich bin freiwillig hier. Also recke ich den sachte mit Licht pulsierenden Edelstein in die Luft, dem ich in Alchemia III meine Magie eingeflößt habe. Dann taste ich mit meiner Arcanima nach der einzigen Aura hier unten. Dort. Schwach flackernd wie eine Kerze unter einer Glasglocke, die die Flamme langsam erstickt.
Nekovář.
Mit angespannten Schultern bahne ich mir einen Weg durch die verworrenen Gänge. Cordelia meinte, Magie sorge dafür, dass Gefangene hier unten wie in einem Labyrinth ohne Ausgang herumirren, sollten sie aus ihrer Zelle ausbrechen. Hoffentlich passiert das mit unerlaubten Besuchern nicht auch. Deshalb konzentriere ich mich nur auf Nekovářs Aura, zu der mich meine Arcanima führt. Einfacher – und sicherer – wäre es, mit ihm per Ouga Anasigan zu reden, doch die Schutzmagie macht das unmöglich. Ich muss ihm gegenüberstehen, um mit ihm zu sprechen. Hier unten, wo ihn die Jäger des Arkanen Rates eingesperrt haben, nachdem die anderen Wächter im Kampf fliehen konnten. Denn das wichtigste Ziel des Rates war unsere Rettung, nicht die Festnahme der Wächter. Nur Nekovář, durch Astra seiner Víla-Kräfte beraubt, konnte nicht entkommen. Er hat es nicht einmal versucht.
Als ich irgendwann Nekovářs Kerkerzelle erreiche, atme ich auf. Ich habe mich nicht verirrt.
Doch mein Herz hämmert wie wild. Tief unter der Erde sind die Wände der Zelle aus unverziertem Stein gefertigt. Wie in der Höhle. Auch hier hängt modrige Feuchtigkeit in der Luft, während das matte Licht einer einzelnen Funzel die Zelle nur spärlich erhellt. Das Licht. Es gibt Licht, anders als in der Höhle. Darauf konzentriere ich mich. Und auf das, was es erleuchtet. Hinter Metallstäben, die unnötig sind, weil sich surrende, undurchdringliche Arcanima über die gesamte Wandöffnung spannt, hockt er auf einer Pritsche.
Nekovář.
Ich schnappe nach Luft, weil er … nicht so aussieht wie erwartet. Seine Kleidung ist faltenfrei, die Hände ruhen auf den Knien, seine dunkelblonden Locken sind ordentlich, nicht zerrauft von schlaflosen Nächten. Ruhig und gefasst, so wie ich es an seiner Stelle nie sein könnte, wie ich es selbst vor den Gitterstäben nicht bin. Gleichzeitig wirkt er nicht wie der düster im Verlies kichernde, Pläne schmiedende Schurke, der er sein sollte.
Er blickt auf. Falls er überrascht ist, lässt er es sich nicht anmerken. Eine Weile inspiziert er mich aus blassgrauen Augen. Anders als das Grau von Matheas Augen erinnert mich seine Farbe schmerzvoll an die Vílas meines Zirkels. Dann atmet er hörbar ein. »Du musst mich hassen.«
Etwas schlummert hinter der Fassade aus Gefasstheit. Etwas, das droht an meinem Herzen zu zupfen, weil ich seine Situation nur zu gut kenne. Ist es Angst? Ungewissheit? Einsamkeit?
Ich wende den Blick ab, bevor ich mich vor lauter Mitleid für diesen Mann übergebe. Mathea würde etwas Bissiges entgegnen. Vielleicht, dass man keine Divinatio beherrschen muss, um zu erahnen, dass ich Hass für ihn empfinde. Oder ein spitzes Was hat mich bloß verraten?. Doch ich bin schon froh, wenn ich eine Silbe herausbekomme. »Ja.«
Leise lacht er. »Ich und die anderen Vílas, die du kennengelernt hast, werfen kein gutes Licht auf unsere arkane Art, was?«
Ich starre ihn an. Er weiß, was mein Zirkel mir angetan hat? Meine Eltern? Doch statt der Erinnerung an glühendes Eisen und noch schmerzhaftere Beschimpfungen flammt etwas anderes in mir auf. »Mathea hat ein gutes Licht auf die Vílas geworfen.«
Wieder lacht er, als hätte ich einen besonders amüsanten Witz erzählt. Oder als wüsste er etwas, das ich nicht weiß. »Hat sie das?«
»Mathea ist eine bessere Víla, ein besserer Mensch als Sie und jede einzelne Víla meines Zirkels zusammen. Und ausgerechnet Mathea haben Sie den Wächtern der Wiederkehr auf dem Silbertablett serviert?«
»Sie als guten Menschen zu bezeichnen ist etwas weit aus dem Fenster gelehnt, oder? Selbst wenn ich mich in ihr …« Er schüttelt den Kopf und lässt ihn in seine Handflächen sinken.
Ich kann ihn nicht zu lange ansehen, weil ich nicht weiß, ob das ungute Gefühl in meinem Magen überkochender Hass oder Mitgefühl ist. Stattdessen fallen mir die Spuren ehemaliger Gefangener ins Auge. Rätselhafte Symbole und Botschaften, eingeritzt in den kalten Stein, erzählen genauso von Hoffnung wie von Verzweiflung.
Nekovář sieht wieder hoch. »Warum bist du hier, Ellie Schovajsa?«
»Novotná«, beharre ich zähneknirschend.
»Richtig. Novotná. Den Nachnamen hast du gewählt, um den Beginn deines neuen Lebens in Prag zu markieren, vermute ich?«
Ich bin nicht hier, um seine Fragen zu beantworten. Mit verschränkten Armen, die verbergen sollen, wie sehr meine Hände beben, trete ich näher an das Gitter. »Wohin wurde Mathea gebracht?«
Langsam steht er auf. »Dutzende Dozierende und Verhörexperten des Arkanen Rats haben das nicht aus mir herausbekommen, und du denkst, ausgerechnet du bist dazu imstande?«
Ich sage nichts. Stattdessen hebe ich leicht die Hände und lasse Arcanima in meine Handflächen gleiten. Lasse sie wachsen und wachsen, bis sie den ganzen Korridor bis zur Gewölbedecke ausfüllt. Arcanima, glühend rot wie Flammen, so viel von meiner sengenden Wut verwebe ich mit ihr.
Seine Augen weiten sich. »Beeindruckend«, merkt er an. »Für eine späterwachte Hexe. Aber nichts im Vergleich zu den Arkanen, die mich in den letzten Wochen verhört haben.« Nekovář deutet auf die schimmernde Barriere aus Arcanima zwischen uns. »Und die kannst du genauso wenig durchdringen wie ich.«
Ich lasse meine Arcanima abflachen. Doch in mir wächst rasch etwas anderes heran. Der Drang, ihn dort zu treffen, wo es schmerzt. »Immerhin habe ich meine Kräfte noch.«
Nekovářs Hand zuckt zu seiner Brust, als hätte Astra ihm nicht nur seine Víla-Kräfte entrissen, sondern sein Herz. »Salz in meine Wunde. Hat Mathea schon so sehr auf dich abgefärbt? Ihre Dunkelheit?« Er starrt mich an, fast schon begierig. Will er eine Bestätigung, dass Mathea das ist, was er vermutet? Dass sie die Welt vergiftet?
Die Genugtuung gebe ich ihm nicht. »Wenn jemandes Dunkelheit dafür verantwortlich ist, dann Ihre.«
Oder meine eigene. Sie schlummert schon immer in mir, nur dass noch keine einzelne Person sie so sehr herausgekitzelt hat wie Nekovář.
Ich schüttle den Kopf. So darf ich nicht mehr über mich denken. Dieser Selbsthass, die Zweifel, die Angst vor meinen Kräften haben mir nie geholfen, sondern mich nur aufgehalten. Ich will mich so sehen, wie Astra mich sieht. Dann und nur dann habe ich eine Chance, Mathea zu finden und zu retten.
»Du solltest nicht hier sein.« Nekovářs Murmeln holt mich aus meinen Gedanken. Langsam wie ein alter Mann setzt er sich auf die Pritsche, den Rücken zu mir gedreht. »Bald wird jemand mit meinem Abendessen kommen.«
Ich atme durch. »Wohin hat Ivan Mathea gebracht?«
»Du kennst Ivans Namen?« Noch immer hat er das Gesicht abgewandt. »Natürlich«, setzt er leise hinterher. »Er gehört deinem Zirkel an.«
Ivan gehörte ihm an. Bis er ihn verließ, weil er die Entscheidung der Ältesten, mich nicht zu verbannen, missbilligte. Wie er wohl zu den Wächtern gestoßen ist? Vielleicht weiß Nekovář …
Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht auf seine Ablenkung einzugehen. So schnell darf ich nicht nachgeben.
Ich stürze zu den Gitterstäben und umklammere sie. »Was ich in der Bibliothek der Anderswelt gesagt habe, war ernst gemeint! Vílas sind keine grausamen Wesen. Sie sind nicht grausam. Sie waren überzeugt davon, etwas Gutes zu tun, indem Sie Mathea ausschalten.«
Sein ganzer Körper versteift sich.
»Aber es gibt einen anderen Weg.« Ich glaube nicht, dass er ein guter Mensch ist. Nicht mehr. Doch ich muss ihn davon überzeugen, dass ich es glaube. Denn noch immer will er das Richtige tun. Bei unserer letzten Begegnung konnte ich das nicht ausnutzen, aber vielleicht jetzt. »Helfen Sie mir, Mathea zu finden. Helfen Sie, sie aufzuhalten, ohne dass Blut vergossen werden muss.«
»Wie Jaro, der die Jahreszeiten schuf, um den Krieg zwischen unseren vier Göttern zu beenden?«, wiederholt er höhnisch, was ich in der Anderswelt zu ihm gesagt habe. Doch das Zittern seiner steifen Muskeln und die in seiner Hose vergrabenen Finger strafen seinen Ton Lügen.
Ich dringe zu ihm durch.
»Sie haben sich in der Anderswelt Matheas Entführern in den Weg gestellt«, erinnere ich ihn daran, was ich selbst am liebsten vergessen wollte. »Tief in Ihnen glauben Sie, dass man ihr helfen kann, oder?«
»Ich wollte nicht, dass die Wächter sie in die Finger bekommen, weil deren unsanfte Behandlung die Endbringerin erwachen lassen könnte.«
»Angenommen Mathea ist wirklich die Endbringerin – wenn wir ihr helfen, können wir verhindern, dass sie die versiegelten Tore der Anderswelt öffnet und die Níghul, Anzud und anderen Dämonen auf die Menschheit loslässt.«
»Selbst wenn dem so ist«, langsam dreht er sich zu mir, wieder gefasst, »weiß ich trotzdem nicht, wo sie ist. Ich kann dir nicht helfen.«
»Sie können!« Ich rüttle an den Gitterstäben, so wie ich am liebsten ihn schütteln würde.
»Nein.« Wie zu Beginn unseres Gesprächs schlummert etwas hinter der Fassade aus Gefasstheit. Doch was auch immer es ist, Angst, Ungewissheit oder Einsamkeit, jetzt weckt es in mir kein Mitleid mehr, sondern nur noch Wut. Wut, weil ihn diese Gefühle genauso zurückhalten, wie sie mich mein Leben lang zurückgehalten haben.
Irgendwo in den Untiefen des Kellerlabyrinths klappert eine Tür.
»Geh«, befiehlt Nekovář.
Ich umklammere die Gitterstäbe nur fester. »Es muss etwas geben, was Sie wissen. Wer zu den Wächtern der Wiederkehr gehört. Wo ihr Hauptsitz ist. Was sie mit Mathea vorhaben. Irgendetwas!«
Schritte, noch weit entfernt, doch sie kommen näher.
»Sie werden dich bestrafen, wenn sie dich hier finden.« Wieder nur Gleichgültigkeit.
Ich schlage so fest gegen die Eisenstäbe, dass die Energie des Arcanimawalls durch meine Knochen schießt. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und eile los.
Am Ende des Korridors halte ich inne. »Wenn Sie helfen könnten – würden Sie es tun?«
Stille dröhnt in meinen Ohren. Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter. Nekovář starrt durch mich hindurch.
Das Gefühl hinter seiner Fassade … weder Angst noch Ungewissheit oder Einsamkeit. Ist es … Reue?
Ich zittere. Der feuchte, raue Stein bohrt sich in meinen Rücken. Den gleichen Schmerz spüre ich noch in meinen Seiten, auf denen ich es diese Nacht immer nur ein paar Minuten ausgehalten habe. Aber auch mein Rücken macht nicht mehr lange mit. So ging es jede der … wie viel Nächte waren es noch gleich? Sie zu zählen fällt mir schwer, da nur spärliches Licht in die Höhle fällt und mich die Wächter zu den unregelmäßigsten Zeiten aus dem Schlaf zerren.
Ich umklammere die Kristallkette mit der Übersetzungsmagie, die ich in Kutná Hora von Atlas …
Nein, nicht an ihn denken.
Es ist seltsam, dass sie mir die Kette nicht weggenommen haben wie alles andere. Eine fantastische Möglichkeit, mich als Gefangene zu entmenschlichen. Deshalb nennen sie mich auch nie beim Namen. Andererseits sprechen sie Tschechisch. Ohne die Übersetzungsmagie würden wir uns also nicht verstehen. Und sie wollen, dass ich sie verstehe.
Denn so können sie mir sagen, ich sei keine Gefangene. Gefangen nehmen sie nur diejenigen, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen, und ich habe schließlich noch kein Verbrechen begangen. Noch nicht.
Sie sagen, ich sei hier, um dieses Verbrechen zu verhindern. Verbrechen, Verfehlung, Sünde, Missetat, Gräuel – sie haben Dutzende Worte für das, was ich angeblich tun werde. Ich, die Endbringerin. Vor ein paar Monaten hätte ich darüber schallend gelacht.
Natürlich war ich kein sonderlich liebenswerter Mensch. Gleichzeitig auch kein schlechter. Nur jemand, dem Zwischenmenschliches wenig zusagt. Aber die Hölle?
Ich schüttle den Kopf, denn ich vermische Erinnerungen. Die Hölle – das war eine andere Situation. Als ich während meines Nahtoderlebnisses voller rosa Schmetterlinge und Glitzer dachte, es ginge mit mir zu Ende.
Versuch es noch mal, Mathea.
Natürlich war ich kein sonderlich liebenswerter Mensch. Gleichzeitig auch kein schlechter. Nur jemand, dem Zwischenmenschliches wenig zusagt. Aber die Endbringerin? Ich? Weil ich in Frieden gelassen werden wollte und andere dafür auch in Frieden gelassen habe?
So ist es richtig. Und ja, vor ein paar Monaten hätte ich über den Vorwurf, eine gewissenlose, Höllenhunde aus der Anderswelt befreiende Dämonengebieterin zu sein, gelacht.
Jetzt lache ich nicht mehr.
Rational gesehen weiß ich, dass es Unsinn ist. Dass Nekovář mir all das in der Bibliothek der Anderswelt nur erzählt hat, um mich zu verunsichern.
Schritte.
Sie kommen.
Ich stemme mich hoch, obwohl all meine Muskeln protestieren. Das Knarzen der Tür kündigt das Licht an, und doch sticht der gleißende Schein der Fackel in meinen Augen. Trotzdem reiße ich nicht die Hände vors Gesicht. Ich muss sie im Blick behalten.
Wie so oft, seit ich hier bin, betritt die elfenhafte Frau in fließendem Gewand die Höhle. »Bist du wach, Unreine?«
Mein Herz pocht bis in meine Kehle, doch ich weigere mich, zu antworten. Auf die Beleidigung zu reagieren.
Sie seufzt. »Das schon wieder. Man sollte meinen, nach zwei Wochen wärst du zur Vernunft gekommen.«
Zwei Wochen also. Sollte mich das überraschen? Vielleicht. Aber ich habe mein Zeitgefühl verloren, sodass sich zwei Wochen weder zu lang noch zu kurz anhören. Was werden meine Eltern denken, wenn ich ihnen nicht mein zweiwöchentliches Update per WhatsApp schicke, das wir ausgehandelt haben, bevor ich für mein Jura-Studium umgezogen bin? Ich hoffe, sie unterbrechen ihre Geschäftsreise nicht. Solange sie sich irgendwo am anderen Ende der Welt aufhalten, sind die Wächter keine Gefahr für sie.
»Steh auf«, befiehlt die Frau mit weicher Stimme, die mir bis ins Mark fährt.
Ich stehe auf. Verzehre mich danach, ihr zu gehorchen. Wie kann das sein?
»Folge mir.« Sie dreht sich um und ihr langes weißblondes Haar surrt in einer fließenden Bewegung durch die Luft wie Seide.
Ich knirsche mit den Zähnen, doch auch gegen den Befehl kann ich mich nicht wehren. »Du bist eine Víla, oder?«, krächze ich, während ich ihr durch die Tür nach draußen folge.
Mondlicht fällt in zarten Streifen durch die üppigen Baumkronen und erleuchtet den Weg durch den Wald. Es schimmert auf ihrem Haar und ihrem Gewand. In der Encyclopedia Arcana könnte ihr Foto neben dem Eintrag für Víla stehen.
Natürlich antwortet sie nicht.
Als wir am Rand der Lichtung entlanggehen, um die sich die Höhlen, Kochstellen und Gärten reihen, werfen mir auch die anderen immer wieder Blicke zu. Scheu – oder voller Abscheu? So oder so, es besteht kein Zweifel. Das hier ist ein Víla-Zirkel.
Ellies Víla-Zirkel.
Der Gedanke erfüllt mich mit brodelnder Wut. In Ellies Visionen, die sie mit mir geteilt hat, habe ich am eigenen Leib gespürt, was sie ihr angetan haben. Würde ich den gleichen Hass verspüren, wenn ich es nicht selbst durchgemacht hätte? Vermutlich nicht. Es wäre mir vielleicht nicht egal, welchen Schmerz sie Ellie zugefügt haben, schließlich habe ich nichts davon, wenn andere leiden. Aber berührt hätte es mich auch nicht sonderlich. Nekovář hatte recht. Ich bin selbstsüchtig. Und diese Gleichgültigkeit in mir …
Vielleicht bin ich tatsächlich die Endbringerin.
»Beherrsche deine Emotionen, Unreine«, befiehlt die Víla.
Als würde mich jemand fingerschnipsend hypnotisieren, verpuffen die Wut, die sich überschlagenden Gedanken und die Panik.
Mit steifen Gliedmaßen und leerem Kopf folge ich ihr in eine der anderen Höhlen. Die Tür in der schmalen Felsöffnung sieht so neu wie provisorisch aus. Ich glaube, sie ist erst hier, seit Ivan mich aus der Anderswelt hergebracht hat.
Die Víla deutet auf den Holzstuhl, der vor dem vage an einen Altar erinnernden Marmorklotz steht. »Nimm Platz.«
Als wüsste ich nicht, was man von mir erwartet. Was sie tun, wenn ich nicht gehorche. Ich habe keine Wahl. Und doch. Ich beiße die Zähne aufeinander und bewege mich nicht vom Fleck.
Wieder seufzt sie. »Du lernst nicht dazu, oder?«
»Ich weiß, dass du mich zwingen kannst. Aber ich tue nicht freiwillig, was du willst. Da musst du schon deine Kräfte einsetzen.«
»Nimm Platz«, wiederholt sie, ihre Worte verflochten mit Arcanima.
Von allein setzt sich mein Körper auf den Stuhl. Vor mir liegt wie immer das schwarze Buch mit dem Buchschnitt aus sich abschälendem Blattgold. Es trägt keinen Titel. Doch anders als andere ledergebundene Bücher verbirgt der fleckige Einband nicht, woraus er geschaffen ist.
Tierhaut.
Es schüttelt mich, ein Prickeln vom Nacken bis in die Zehen. Doch so wie jedes Mal kann ich nicht anders, als zu gehorchen.
Ich schlage die erste Seite auf und lasse meinen Blick über die Buchstaben gleiten. Harte Striche wie steinzeitliche Kerben in Höhlenwänden. »Ich verstehe die Sprache, in der das Buch verfasst ist, nicht!«
»Irrelevant.«
»Ich halte das für extrem relevant, wenn es meine Aufgabe ist, ein verfluchtes Geheimnis in diesen Zeilen zu entziffern!«
»Lies das Buch. Von vorne bis hinten.« Sie schlägt die Tür zu.
Ich kann mich nicht einmal umdrehen, um zu schauen, ob sie sie abschließt oder mit Magie verbarrikadiert. Denn mein Blick klebt auf der Seite. Zeile für Zeile gehe ich den Text durch. Minutenlang, stundenlang, ohne Pause. Kein Wort verstehe ich. Hunger, Schmerz, Durst, Kälte, alles zehrt an mir, doch nichts davon so stark wie der arkane Befehl, zu lesen. Keine Beschäftigung für meinen dröhnenden Kopf, außer die Zeichen anzusehen, eins nach dem anderen, als müsste ich sämtliche Strichcodes im Supermarkt auswendig lernen. Es ist eine Art der Folter, die ich mir nicht hätte erträumen können.
Stunde um Stunde um Stunde.
Auch Nekovář hat sich als Sackgasse herausgestellt. Sonderlich überrascht bin ich nicht.
Zwei Tage nach meinem heimlichen Besuch bei ihm steht die erste Stunde meiner Strafarbeit an, und ich flüchte quasi aus Khadijas und meinem Zimmer. Um mich zu beruhigen, häkele ich nämlich auf Cordelias Empfehlung hin in jeder freien Minute, weshalb Khadija droht, mich mit dem nächsten unförmigen Versuch, den ich in unserem beengten Raum drapiere, zu erwürgen. Vielleicht lenkt mich ja stattdessen die Strafarbeit eine Weile von diesem Reinfall ab.
Im Hauswirtschaftsflügel der Academia Sinistra steht die Tür von Monsieur Bellerose’ Schneideratelier offen. Aus dem Raum dringt das metallische Schnappen mehrerer Scheren, das Flattern von durch die Luft fliegenden Stoffballen und die Flüche von Monsieur Bellerose, der mit dem Rücken zu mir vor einem Haufen aus schwarzen Uniformen steht.
Ich weiß, dass Astra als Strafarbeit in der Bibliothek aushelfen muss – bei organisatorischen Aufgaben, nicht beim Schleppen von Büchern. Peninnah klagt in einer Tour darüber, wie sehr ihre Maniküre unter der Arbeit in Magistra Redfernes Alchemia-Garten leiden wird. Khadija muss als persönliche Assistentin von Rektorin Sýkorová jeden ihrer Wünsche erfüllen, was der Dschinn mehr als widerstrebt. Atlas spricht nicht mal über seine Strafarbeit, also will ich mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es bei ihm ist. Sie alle trifft die Strafe auf ganz spezifische Art.
Nur was für eine personalisierte Hölle mich im Schneideratelier erwartet, konnte ich noch nicht erkennen.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen. »Monsieur Bellerose?«
»Ich nehme keine kaputten Uniformen mehr an!«, bellt er. »Keine Ahnung, was ihr Scholares in zwei Wochen Semesterferien mit eurer Kleidung anstellt, aber langsam reicht es!«
»Ich bin wegen der Strafarbeit hier.«
»Richtig. Das habe ich verdrängt. Warum auch immer Rektorin Sýkorová der Meinung ist, auch mich für die Vergehen von euch Scholares zu bestrafen.« Monsieur Bellerose winkt mich herein. »Können Sie Scheren schärfen?«
Zaghaft bahne ich mir einen Weg durch die fliegenden Scheren und Nähnadeln zu ihm. »Mit Magie?«
Er schnauft. »Oder Stoffballen tragen? Bei der Menge müssen sie händisch einsortiert werden.«
Ich betrachte die Ballen, die kreuz und quer im Raum verteilt liegen und schweben. Vor den Regalen stauen sie sich wie Autos bei einem Verkehrschaos.
Monsieur Bellerose lässt von den Uniformen ab und studiert mich. »Ellie Novotná, die späterwachte Hexe. Bei deiner Statur wohl eher kein schweres Tragen. Eine Anhörung vor dem Arkanen Rat wegen einer zusammengeklappten Scholaris kann ich nicht auch noch gebrauchen.«
»Was soll ich dann –«
»Und noch immer kein Sinn für Mode, wie ich mit Bedauern feststelle.«
Ich ziehe die geblümte Patchwork-Weste enger um mein ebenfalls geblümtes Volantkleid. Für beides habe ich vor Kurzem einen großen Teil meines Gehalts aus dem Café Perla ausgegeben. Sieht es wirklich so schlimm aus? Nein!
Ich recke das Kinn. »Mir gefällt, was ich trage!«
»Ich schätze, es wäre noch schlimmer, würden Sie etwas tragen, das Sie selbst hässlich finden.« Er deutet auf den Boden. »Sammeln Sie die Nähnadeln auf. Manchmal verlieren sie ihre Magie, bevor ich sie aufladen kann.«
Ich nicke und mache mich ans Werk.
Dutzende Nadeln klemmen in den Spalten des Parketts, rollen unter Tische und Regale oder kullern immer mal wieder zu Boden.
Während ich eine nach der anderen aufhebe, vergräbt sich Monsieur Bellerose wieder in seinen Stoffbergen.
Und ich ärgere mich über mich selbst. Wenn ich mich trauen würde, die Strafarbeit zu schwänzen, könnte ich die Zeit zum Trainieren nutzen. Ich könnte weiter mit Astra daran arbeiten, meinen Aufspürzauber zu verbessern, um Mathea zu suchen. Stattdessen krieche ich über den Boden. Meine Hand ballt sich immer fester um die Nadeln, die ich bereits aufgesammelt habe. Tatenlos lasse ich Tag für Tag vorüberziehen, während Mathea wer weiß was durchmacht.
Doch nicht nur ich. Astra hilft mir beim Training, ja, aber ansonsten macht sie so weiter wie bisher. Khadija, Ren, Valix, Peninnah, genauso wie Matheas Freunde von der Univerzita – niemand handelt. Selbst die Dozierenden nicht.
Ich beiße die Zähne zusammen. Wir sind nur Scholares, noch nicht komplett ausgebildet, aber die Lehrkräfte – sie sollten …
»Scholaris Novotná!«
Ich schrecke auf und stoße mit dem Kopf gegen die Tischplatte.
»Reißen Sie sich zusammen. Wenn jetzt noch die überkochende Arcanima irgendeiner Scholaris diese Altkleidersammlung an Uniformen zerfetzt …«, er streicht sich über die schweißnasse Stirn. »Nun, wenn Sie schon die Kontrolle verlieren müssen, tun Sie mir wenigstens den Gefallen und lassen Sie direkt alles in Flammen aufgehen. Dann muss ich zumindest nichts mehr davon zusammenflicken.«
Mir den Kopf reibend stehe ich auf und wische mir mit der freien Hand über die Augenwinkel. Kommen die Tränen vom Kopfstoßen oder haben sie sich bereits davor angekündigt? Ich darf mich doch nicht mehr in diesen Gedanken verlieren!
Monsieur Bellerose seufzt und seine Mimik wird etwas sanfter. »Die verschwundene Studentin der Univerzita war Ihre Freundin?«
»Sie ist meine Freundin.«
»Natürlich.«
Mehrmals streicht er den Wollstoff des Umhangs vor sich glatt, obwohl seine Magie schon längst jede Falte beseitigt hat. »Ist sie … Hat man schon etwas von ihr gehört? Wo sie sein könnte?«
Ich umklammere die Nadeln. Ist das ehrliche Sorge in seinem Blick – oder ist er nur auf den neuesten Tratsch aus? Ich schüttle den Kopf.
»Gar nichts?«
»Nein«, presse ich hervor.
Sein Blick verliert an Mitgefühl und gewinnt an Neugierde. »Aber die Dozierenden der Univerzita müssen doch –«
»Falls die Dozierenden etwas herausgefunden haben, halten sie es offenbar nicht für nötig, mich einzuweihen!« Meine Fäuste zittern.
Langsam faltet er den Umhang zu einem ordentlichen Päckchen, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Und Sie selbst unternehmen nichts?«
Das Schneiden der Scheren wächst in meinen Ohren zu einem Rauschen an. Ein hohes Klingeln überlagert es, fährt durch meine Schläfen, sorgt dafür, dass sich alles an mir zusammenzieht. »Ich würde, wenn ich könnte!«
»Vielleicht hat es einen Grund, dass niemand sie aufspüren kann. Vielleicht ist sie schon –«
»Nein!« Ich hole aus, um gegen den Tisch zu schlagen oder Monsieur Bellerose zurückzustoßen, alles, um diese brodelnde Wut in mir loszuwerden. Doch die Wut bricht in Form von Arcanima aus mir hervor.
Und die Nähnadeln in meiner Hand schießen auf Monsieur Bellerose zu.
Einen Wimpernschlag lang denke ich, dass er es verdient hat. Dann stürze ich zu ihm. Wie konnte ich nur?
Monsieur Bellerose hebt die Hand und die Nadeln erstarren in der Luft.
Ich will aufatmen, doch meine verdrehten Eingeweide verhindern das.
Im Gegensatz zu mir wirkt er wenig mitgenommen. Beiläufig wedelt er mit der Hand und lässt so die Nähnadeln in eine kleine Schachtel auf dem Tisch gleiten. »Ich lasse Sie also händisch Nadeln aufsammeln, obwohl Sie mit Ihrer Magie in der Zeit drei Aufgaben hätten erledigen können?«
Ich kralle meine zitternden Finger in meine Weste. »Monsieur Bellerose, ich … es tut mir … ich wollte nicht …«
Was, wenn er das Rektorin Sýkorová meldet?
Unter meinem Zeigefinger zerreißt ein Faden des Patchworkstoffes und die sich schlagartig lösende Spannung schreckt mich auf. Was ist los mit mir? Ich hätte ihn beinahe verletzt und mein erster klarer Gedanke ist, welche Folgen das für mich haben könnte? Erneut prickeln Tränen in meinen Augenwinkeln.
Plötzlich blickt Monsieur Bellerose entsetzt drein. »Schon gut! Es ist ja nichts passiert! Bitte kein Heulanfall in meiner Schneiderei.«
Ich schlucke, mehrmals, doch jedes Mal wird der Kloß in meinem Hals größer.
»Es war ohnehin meine Schuld! Ich hätte Sie nicht zu diesem delikaten Thema ausquetschen dürfen!«
Hätte er nicht. Schuld habe dennoch ich. »Ich gebe schon mein Bestes, es zu kontrollieren«, murmle ich und greife mir an die Brust. Dort, wo sich unter dem Kleid die Warlock-Sigille über meine Haut zieht. Sie sollte diese Ausbrüche verhindern. Hat sie einige Wochen lang auch. »Ich trainiere weiter, damit so etwas nicht mehr passiert. Und es tut mir wirklich leid, dass ich Sie angegriffen habe.«
Ein Lachen schallt durch die Schneiderei. »Einen Angriff würde ich das nicht gerade nennen.« Sein Lachen verklingt und seine Mimik wird wieder ernster. »Haben Sie sich je gefragt, wieso das Thema Mathea Sie so sehr berührt, dass Sie die Kontrolle verlieren?«
Weil ich schwach bin. Zu schwach, um die Kraft zu kontrollieren. Ich umklammere meinen Oberkörper.
Das ist es nicht wirklich, oder?
Schließlich habe ich jahrelang die Kontrolle behalten. Auch jetzt laufe ich nicht durch die Gegend und greife wahllos Leute an.
Es passiert, weil mir Mathea wichtig ist.
Natürlich macht es das nicht richtig. Aber wenn ich die Kontrolle nicht aus Boshaftigkeit oder Zügellosigkeit verliere, sondern weil ich nicht ertrage, dass es einer mir wichtigen Person schlecht geht, kann ich damit arbeiten. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich muss bloß einen Weg finden, meine Gefühle richtig einzusetzen.
Ich lasse von meiner geschundenen Weste ab und blicke zu Monsieur Bellerose auf. »Danke!«, sage ich aus tiefstem Herzen.
»Wofür?« Er wirkt irritiert.
»Ihre Hilfe!«
»Welche Hilfe?«
»Dabei, zu erkennen, warum mich Matheas Schicksal so sehr berührt, dass ich …« Ich stocke. »Woher wissen Sie, dass die verschwundene Studentin Mathea heißt?« Obwohl der Vorfall in der Anderswelt geheim gehalten werden sollte.
Monsieur Bellerose verengt die Augen. Dann lacht er. »Sie glauben ernsthaft, dass sich so etwas an der Academia Sinistra nicht in Rekordzeit herumspricht? Mich würde es wundern, wenn auch nur eine einzige Person noch nicht mitbekommen hat, was in der Anderswelt passiert ist.«
Ich schüttle vehement den Kopf. »Niemand von uns hat ein Wort darüber verloren!«
»Sie sind naiver, als ich dachte, wenn Sie das denken.«
»Meine Freunde würden nicht …«
Beschwingte Schritte schallen von der Treppe hoch. Dann schreitet Astra in die Schneiderei, als wäre sie hier, um den Preis für die Bravura anzunehmen. Sie streicht sich durch das blassblonde Haar und schenkt uns das Lächeln eines Filmstars. »Genug Strafarbeit für heute!«
Monsieur Bellerose schnalzt mit der Zunge. »Nehmen Sie die Späterwachte schon mit.« Er beäugt Astras Outfit bestehend aus einem weiten Vintagehemd, das sie auf Höhe ihrer Taille nachlässig in die schwarze Leinenhose gesteckt hat, einem Gürtel mit Silberschnalle in Form eines Auges und mal wieder einem neuen Paar Loafer. Als hätte sie davon nicht schon Dutzende. »Am besten direkt in eine Boutique, um sie neu einzukleiden.«
Ich schnappe nach Luft. »Meine Weste habe ich im gleichen Secondhandshop gekauft wie Astra ihr Hemd!«
»Hauptsache, Sie bringen die Weste nie wieder in einen Secondhandshop zurück, damit kein weiterer Mensch mit dieser Stoffverschwendung gestraft wird.«
Astra zuckt grinsend mit den Schultern. »Ich kann ja mal versuchen, Ellie aus der Weste herauszuholen.« Ihr Grinsen wird breiter.
Mir steigt Wärme in die Wangen.
»Ich bitte darum«, sagt Monsieur Bellerose, der sich schon wieder seinem Uniformhaufen zugewandt hat. »Verschwinden Sie endlich.«
Mit gespitzten Lippen zerre ich Astra auf den Flur. »Ich verstehe deine Anspielungen ganz genau!«
»Welche Anspielungen?«, fragt sie unschuldig.
Ich kneife sachte in ihren Oberarm, was sie nur zum Lachen bringt. Ich hingegen kann für ein paar Atemzüge meine Hand nicht von ihr nehmen. Ist sie noch muskulöser geworden? Vermutlich, weil sich zu ihrem Volleyballtraining jetzt auch noch ein paar Kämpfe gegen die Wächter der Wiederkehr gesellt haben.
Hastig lasse ich von ihr ab, bevor in mir Bilder aufsteigen, wie sie ihr Versprechen bezüglich der Weste wahr macht.
Wir durchqueren den Innenhof der Academia, wo sich im Schatten der hohen Fassaden einige Scholares tummeln. Die meisten haben die Umhänge ihrer Uniformen in den Zimmern gelassen, so warm ist es. Als wir wieder ins kühle Innere der Academia gehen, würde ich lieber zurück nach draußen und den Nachmittag mit ihnen in der Sonne verbringen. Nicht unbedingt, weil ich die Scholares so ins Herz geschlossen habe. Sondern weil Astra und ich stattdessen …
»Was seufzt du so?« Astra öffnet die Tür zum Natura-Kursraum, in dem wir trainieren, da die Mosaikfenster, die die Elemente der Ars Arcana Natura darstellen, überkochende Magie absorbieren. »War die Strafarbeit bei Bellerose so schrecklich?«
»Es war ganz okay«, stelle ich selbst etwas überrascht fest. Mein Ausbruch war schlimm, die Arbeit an sich jedoch nicht. »Ganz okay?«, murrt Astra. »Weißt du, wie viele Einträge zu Ausleihen und Rückgaben ich gestern durchackern musste? Offensichtlich bist du Rektorin Sýkorovás Liebling.« Dann neigt sie den Kopf. »Wenn es nicht die Strafarbeit ist, warum seufzt du dann? Hast du immer noch so eine Abneigung gegen das Trainieren?«
Kopfschüttelnd stelle ich meine Tasche ab. »Lass uns einfach anfangen.«
Astra hebt ihre Hand und lässt grinsend Flammen zwischen ihren Fingern tanzen. »Schauen wir mal, was du gelernt hast.«
Tief einatmend lasse ich mit einer Handbewegung einen sanften Strudel aus Arcanima um mich herum entstehen.
Der Übungskampf beginnt. Astra schleudert Flammenbälle in meine Richtung – nein, nicht mehr nur in meine Richtung. Direkt auf mich. Das ist neu. Sie schont mich nicht länger.
Ich antworte mit Arcanimastößen, die ihre Flammen zerstreuen.
Mit unzufriedener Mimik lässt Astra die Hände sinken. »Du nutzt immer noch pure Arcanima, statt sie in eines der Elemente zu verwandeln.«
»Das ist einfacher. Und effektiver.«
»So lernst du nie, deine Kräfte wirklich zu kontrollieren. Und darum geht es doch, oder?«
Ich knirsche mit den Zähnen. Eigentlich geht es mir darum, Mathea zu finden. Wie die Elemente zu beherrschen mir dabei helfen soll, verstehe ich nicht.
»Komm schon, versuch es noch einmal.« Astra beschwört die Flammen erneut herauf. Sie tanzen durch die Luft, während ich zurückweiche und die Magie in mir erwecke.
Durch die Luft. Hmm. Luft ist Arcanima am ähnlichsten, oder? Ich muss den Strudel aus Arcanima nur in einen Strudel aus Luft verwandeln.
Doch sosehr ich es auch versuche, wieder löscht ein Strom aus Arcanima Astras Flammen.
»Okay, so geht das nicht.« Astra tritt vor mich. »Was ist los?«
Ich presse die Lippen aufeinander und lasse ein paar leichte Brisen Arcanima über den Steinboden fegen, um die Aschereste einzusammeln. »Es ist nur …« Auf keinen Fall soll Astra denken, ich wäre undankbar für ihre Hilfe. Aber wenn ich meine Gefühle verberge, würde sie das sicher noch mehr verletzen. Also blicke ich auf. »Seit wie vielen Wochen trainieren wir jetzt? Training, Training, Training. Aber es …«
Astra sieht mich erwartungsvoll an. »Aber was?«
Ich werfe die Hände in die Luft. »Es reicht nie aus!«
»Was erwartest du denn?« Sie lacht. »Dass du nach zwei Wochen Training die Wächter im Alleingang ausschalten kannst?«
Sie versteht es nicht. Natürlich, Mathea ist ihr nicht so wichtig wie mir. »Dass ich zumindest irgendetwas für Mathea tun kann!«
Astra tritt näher zu mir und umfasst sanft meine Wange. Die Mosaikfenster werfen ihr Farbenspiel der Elemente auf ihr Haar und die im Sommer nicht mehr ganz so blasse Haut. »Wir können aktuell nichts tun. Das weißt du. Also wieso quälst du dich?« Sie streicht mit dem Daumen über meinen Wangenknochen und das reicht beinahe aus, um alle Sorgen dahinschmelzen zu lassen.
Aber nur beinahe.
Mathea bedeutet ihr nicht so viel, aber … ich schon, oder?
Entschlossen packe ich ihre Hand an meiner Wange. »Was würdest du tun, wenn sie mich statt Mathea mitgenommen hätten?«
Ihr Daumen erstarrt. Sie sieht mich an, als hätte ich ihr eines der bestgehüteten Geheimnisse der Arkanen Welt anvertraut. Dann verengt sie die Augen und umfasst auch meine andere Wange. »Ich würde nicht ruhen, bis ich dich und jeden Einzelnen von ihnen gefunden hätte.«
Die Dunkelheit in ihrer Stimme und ihrem Blick erschreckt mich nicht wie bei den anderen Sinistras. Sie lässt Wärme in mir erblühen. »Ich will das Gleiche für Mathea tun.«
»Sollte ich eifersüchtig sein?«
»Ich würde das Gleiche für dich tun.« Mehr sogar.
Astra beugt sich herab und küsst mich. Kurz, aber nicht unbedingt sachte. Als ob sie ahnt, dass noch Worte hinter meinen Lippen schlummern, die sie herauslocken will.
Erst als wir uns voneinander lösen, merke ich, dass ich meine Finger in ihre Oberarme grabe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schon wieder ihre Arme. Ich blicke von ihren Armen zu ihren Augen, dann hastig auf ihr Kinn und sofort weiter zum Fenster mit der im Mittagslicht glühenden Flamme für das Element Feuer.
»Ich verstehe, was du meinst.« Astra zieht mich an der Taille näher, bis meine Schläfe an ihrer Schulter ruht. »Ich versuche einen Weg zu finden. Vielleicht mehr bei Sýkorová herauszufinden. Oder in der Univerzita.«
»Danke«, flüstere ich gegen ihr Schlüsselbein.
»Und vergessen wir nicht, dass es noch den geringfügig weniger talentierten Zwilling gibt. Rede mit Atlas. Es gibt sicher einige offene Spuren, die er verfolgen will.«
Ich lache. »Wetten, er hat es irgendwie geschafft, aus der Suche nach Mathea ein Bravura-Projekt zu machen?«
»Ich gehe keine Wette ein, die ich verliere.« Sie lacht ebenfalls. Das reicht schon, um all die Sorgen fortzuwehen. Zumindest kurz. Gleichzeitig gibt es mir neue Sicherheit. Ich werde mit Atlas reden. Aber ich kann mehr als das tun, indem ich es noch einmal bei Nekovář versuche.
Er weiß mehr.
Ob er es nun zugibt oder nicht.
Zum zweiten Mal seit meinem Übungskampf mit Astra schleiche ich mich zur Univerzita. Letztes Mal hat Nekovář wie beim ersten Mal nichts gesagt, doch so schnell gebe ich nicht auf.
Als ich das Eingangsportal aufstoßen will, gleitet es ohne mein Zutun auf.
Atlas steht vor mir.
»Was tust du hier?«, fragen wir gleichzeitig.
Er deutet über seine Schulter ins Innere der Univerzita. »Ich habe mit Rektorin Aigeiros gesprochen.«
»Über Mathea?«
»Unter anderem.«
Früher als gedacht, aber wenn ich ihn schon mal treffe … »Astra meinte, ich soll mit dir reden, weil du sicher auch versuchst sie zu finden.«
Die Muskeln um seine Augen zucken.
Ich verknote die Hände. »Vielleicht können wir gemeinsam mehr erreichen?«
Atlas fängt sich offenbar wieder, denn er zeigt keine weitere Regung.
»Bist du zu höflich, um zu sagen, dass ich dir keine Hilfe wäre?«
Er verengt die Augen. »Du hast noch immer nicht gesagt, warum du hier bist.«
»Ich … besuche jemanden.«
»Wen?«
Ahnt er etwas? Nein, das kann nicht sein. Andererseits … seine klaren Augen scheinen jede Fassade durchblicken zu können. »Cordelia, Ursula und die anderen natürlich!« Ich umrunde ihn und stemme hastig die Tür auf. Besser, ich gebe ihm nicht noch mehr Zeit, mich zu durchschauen. »Mathea ist nicht meine einzige Freundin! Dann bis später!«
»Du bist die seltsamste Sinistra, die mir je untergekommen ist.«
»Sagt der Typ, der mit der seltsamsten Dextra zusammen ist«, flüstere ich, kurz bevor die Tür zwischen uns zufällt.
Doch Atlas folgt mir ins Foyer und greift nach meiner Schulter, bevor ich in die Massen an Studierenden flüchten kann. »Ich glaube nicht, dass du keine Hilfe wärst.«
Ich starre auf seine Hand. Hat er mich überhaupt schon mal berührt? Oder, wenn ich es mir recht überlege, irgendwen anders? Selbst wenn er kämpft oder mit Mathea interagiert … Ist er einfach nicht der Typ dafür? Oder liegt es am Incubus-Erbe? An der fehlenden Kontrolle?
Er zieht die Hand weg, als könnte er mir auch diese Gedanken vom Gesicht ablesen.
»Es ist nett, dass du das sagst«, murmle ich.
»Ich meine es ernst. Du kannst vermutlich genauso viel ausrichten wie ich.« Er räuspert sich und blickt drein, als würde er innerlich mit sich ringen. »Finden wir zusammen heraus, wie viel genau das ist.«
Er will mir helfen. Und, noch wichtiger, er will meine Hilfe.
Mit gerümpfter Nase weicht er zurück. »Bitte strahl mich nicht so an, als wolltest du mich in deine Liste von Freunden aufnehmen.«
Ich zeige auf meinen Mund. »Das geht gerade so als mildes Lächeln durch, also mach dir nicht direkt in die Hose.«
»Ich mochte dich mehr, als du noch nicht unter Astras schlechtem Einfluss standest.«
»Tatst du nicht«, entgegne ich nun doch breit grinsend. »Und du bist gar nicht so furchteinflößend, wenn man dich kennenlernt.«
»Ich habe auch nie behauptet, ich sei furchteinflößend.«
»Machen wir später einen Termin aus, okay?« Ich blicke über meine Schulter zur Treppe in den Keller. Gerade ist das Foyer leer, weil der nächste Kurs bald beginnt. »Jetzt muss ich aber los!«
»Es wäre effizienter, wenn wir direkt –«
Ich flitze los in Richtung Gang, der in den Innenhof mit dem Gewächshaus Hydrangea führt, wo Cordelia und Ursula nun ohne Mathea wohnen. Ich sollte sie hiernach wirklich besuchen, um zu sehen, wie sie zurechtkommen. Im Foyer erklingen Schritte und hinter der nächsten Mauer luge ich ums Eck. Er ist weg.
Also schleiche ich zur Treppe, stelle sicher, dass wirklich niemand hier ist, stakse hinunter und laufe durch die verworrenen Gänge bis zu Nekovářs Zelle.
Er sitzt auf dem Boden, an die kahle Pritsche gelehnt. »Ich weiß, was ich getan habe, war falsch«, raunt er ohne Umschweife und ohne mich anzusehen.
»Seit wann?«
»So was ist selten eine plötzliche Erkenntnis, sondern meist ein Prozess. Dieses schleichende Gefühl, das einen nicht loslässt.«
Das ist eine Lüge. Aber wenn er mir abkauft, dass ich ihm glaube, könnte es ihn gesprächiger machen. »Ich kenne das Gefühl.«
»Du bist die Einzige, die mit mir redet.«
»Weil ich Informationen aus Ihnen herausbekommen will.« Zu offensichtliche Lügen würde er definitiv durchschauen.
Er lächelt seicht und sieht für einen Moment wieder aus wie der gutmütige, zerstreute Dozent, der er einst war. Nein, den er gespielt hat. »Viele Arkane wollen Informationen aus mir herausbekommen. Du bist die Einzige, die wirklich mit mir redet. Das ist … nett.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Du meinst das nicht nett, schon klar. Aber für mich ist es eine Ablenkung in dieser tristen Zelle.«
»Ob Mathea so eine Ablenkung bekommt, wo auch immer sie ist?«
Nekovář lehnt den Kopf an die Pritsche. »Ich hoffe es«, flüstert er in einem Ton, als wäre es nicht für mich bestimmt. Oder es ist kalkuliert und soll mein Mitgefühl wecken.
Ich strecke die Hand aus, um einige der Steinchen auf dem Boden mit einem Lufthauch anzuheben. Nichts passiert.
»Natura?«
Ich presse die Lippen aufeinander.
»Du musst keine Luft erzeugen. Sie ist überall um dich herum. Nimm ihre unsichtbaren Ströme wahr. Deinen Atem.«
Ich will ihn ignorieren. Doch das sind klarere Anweisungen, als Astra sie mir je gegeben hat. Ich kann nicht anders, als mich auf meinen Atem zu konzentrieren, der die stehende Luft im Kerker kaum wahrnehmbar aufwirbelt.
»Visualisiere, wie sich deine Arcanima mit der Luft verbindet. Nicht bloß ineinander verschlungen, sondern so, dass sich deine Energie in ihr auflöst wie Zucker in heißem Wasser. Nähre die Luft mit deiner Magie.«
Tief atmend kanalisiere ich meine Arcanima. Sie ist ein leises Flüstern um mich herum, das langsam anwächst. Dann setzt sich die Luft vor mir in Bewegung.
»Gib der Luft eine Richtung«, weist Nekovář mich an. »Lenke sie mit deinem Willen.«
Konzentriert schicke ich die Luft zum Boden und lasse sie die Kiesel umhüllen. Mit einem Ruck meiner Finger hebe ich die mit Arcanima durchsetzte Brise an – doch die Steinchen wackeln nur etwas, ohne zu schweben. Enttäuscht atme ich aus. »Mist.«
»Haben dich deine Eltern nicht besser erzogen? Ich dachte, alle Vílas legen Wert auf gutes Benehmen.«
»Entschuldigung.« Ich funkle ihn an. »Ich meinte natürlich Scheiße.«
Er lacht so schallend, dass es von den Wänden widerhallt. Nicht die Reaktion, die ich mir von ihm erhofft habe, immerhin ist er selbst ein Víla. Als er endlich fertig ist, sieht er mich an, irgendwie weich und warm und verständnisvoll, wobei ich mir am liebsten die Augen ausreißen würde. »Manchen von uns Vílas tut es gut, den Zirkel zu verlassen.«
»Haben Sie Ihren Zirkel verlassen?«, frage ich, bevor mir einfällt, dass ich kein Interesse an ihm und seinem Leben habe.
»Nicht wirklich freiwillig. Aber gleichzeitig irgendwie schon. Davon kannst du sicher ein Lied singen.«
Kann ich.
Er summt ein paar Töne, die mir bekannt vorkommen. Sie erzählen von Regentropfen, sprießenden Samen und den ersten Lauten neugeborener Wildtiere. »Ein Lied, das klingt wie unsere Lobeshymnen an den Frühlingsgott Jaro.« Die Melodie wird bitter. »Gleichzeitig wie die Klagelieder, wenn wir einen von uns für immer verabschieden müssen.«
Jeder Ton kriecht wie ein Insekt unter meine Haut. Ich schüttle mich. Wie kann er das Gefühl, das mich erfüllt, seit ich vor meinem Zirkel geflohen bin, nur so perfekt in Worte fassen?
»Für dich fühlt es sich genauso an«, stellt er fest.
»In uns mag das gleiche Lied sein.« Ich stehe auf, um ans Gitter zu treten. »Aber ich glaube nicht, dass unsere Stimmen miteinander harmonieren, würden wir es singen.«
Nekovář lacht. »Metaphern passen nicht wirklich zu dir. Diese dramatische Dunkelheit«, er macht eine ausladende Handbewegung, »passt nicht zu dir. Was für eine Überraschung.«
»Ich verstehe Sarkasmus«, murre ich. »Auch wenn ich auf Sie zu einfach gestrickt wirke.«
»Im Gegenteil. Das, was du fühlst, was mit dir geschieht, ist zu komplex, um es in einer bloßen Metapher auszudrücken.«
Was soll das schon wieder heißen?
»Ich weiß, wie ihr Mathea finden könnt.«
Ich sehe mit hämmerndem Herzen hoch.
Langsam steht er auf. Dann kommt er näher. Zum ersten Mal. »Du kannst sie finden.«
Keinen Schritt gehe ich zurück, egal wie groß der Drang ist. »Ich habe es Hunderte Male versucht.«
Vor den Gittern hält er an. »Dann hast du es nicht wirklich versucht.«
»Natürlich habe ich das!«
»Du unterdrückst deine wahre Macht noch immer.«
»Nein!« Wut treibt mir Tränen in die Augenwinkel. »Ich akzeptiere meine Kräfte! Die Dunkelheit! Weil sie mir hilft, andere zu beschützen! Ich bin nicht mehr wie früher!«
In seinen Augen schimmern Belustigung und … Neugier? »Sag, wie lief dein Examen in der Spiegelkapelle ab?«
»Ellie?«, erklingt plötzlich Astras Stimme hinter mir.
Ich wirble zu ihr herum.
Sie steht im schwach beleuchteten Kerkergang. »Was tust du hier?«
»Ich …«
Hinter ihr gleitet Cordelia in ihrem Rollstuhl über den unebenen Boden, an ihrer Seite Ursula und Bob.
Ich weiche zurück und pralle gegen die Gitterstäbe.
Cordelia bremst neben Astra. »Studierende dürfen nicht hier unten sein. Vor allem keine Scholares der Academia Sinistra.«
Ich sehe zwischen den vieren hin und her. »Wieso seid ihr hier?«
Astra fixiert Nekovář hinter mir. »Atlas meinte, dass du dich seltsam verhältst und Geheimtreffen mit Cordelia und Co abhältst.«
Verräter.
Ich dachte, wir wären uns ein bisschen nähergekommen, und dann verpetzt er mich keine halbe Stunde später. »Geheimtreffen? Cordelia und die anderen sind meine Freunde!«
»Aber du hast dich nicht mit ihnen getroffen!«
Cordelia, Bob und Ursula nicken zustimmend.
Nekovář räuspert sich. »Sie wollte nur herausfinden, ob ich mehr über Mathea weiß. Egal wie oft sie mit leeren Händen abgezogen ist.«
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht!«, fahre ich ihn an.
»Du warst mehrmals hier?«, keucht Astra.
»Ich … es waren nur zwei oder drei …«
Astra verzieht das Gesicht, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. »Du weißt, dass ich bei jeder Art von Einbruch in die Univerzita dabei bin!«
»Ich weiß auch, dass du mich vor ihm hättest beschützen wollen.«
Nickend stupst Ursula Astra in die Seite. »Da hat sie recht.«