Melange ohne - Ursula Heinrich - E-Book

Melange ohne E-Book

Ursula Heinrich

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Beschreibung

Der große Krieg geht zu Ende, jedoch nicht früh genug für Max, der von der Front zurückkehrt. Aber nicht nur die Donaumonarchie bröckelt, auch Max‘ Welt gerät aus den Fugen. Dr. Stefan von Brühl, ein Freund der Familie, steht plötzlich unter Mordverdacht. Das droht auch Max zum Verhängnis zu werden, hat er diesem doch durch einen leichtsinnigen Gefallen ein Alibi verschafft. Um Stefans und auch die eigene Haut zu retten, wird der Gymnasiast zum Detektiv. Doch ist Stefan tatsächlich unschuldig?

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Ursula Heinrich

Melange ohne

Roman

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild –

Imagno/Archiv Setzer-Tschiedel, Bildhinweis: Warteschlange

vor einer Filiale der Anker Brotfabrik, Wien, um 1918.

ISBN 978-3-8392-5808-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Feldgrau wohin man sah. Der gesamte Zugverkehr diente fast ausschließlich dem Militär. Alles war grau, sogar der Himmel war wolkenverhangen und trüb. Bozen zeigte sich von seiner unfreundlichsten Seite, und Max konnte es nicht abwarten, von hier wegzukommen.

Immerhin hatte es zu regnen aufgehört, nur der Bahnsteig schimmerte noch dunkel und feucht. Ein paar Kameraden hatten sich unter dem Vordach des Bahnhofs zum Schlafen gelegt, ihre Bündel als Polster unter den Kopf geschoben. Sie warteten auf Züge, die sie nach Hause brachten, in alle Winkel der Monarchie, bis nach Ungarn, Galizien und Mähren.

Max wartete auch. Nur noch dreißig Minuten trennten ihn von der Zugfahrt nach Wien. Dreißig Minuten und ein übereifriger Korporal.

Dieser wollte Max’ Papiere sehen, und das war ein Problem. Steckten doch Stefans Dokumente in seiner Tasche und auch Stefans Urlaubsschein. Darauf zumindest prangte keine Fotografie, und vielleicht gab sich der Korporal damit zufrieden.

Der Korporal studierte das Papier auffallend lange. Seine buschigen blonden Augenbrauen trafen sich über der Nase zu einem dicken Balken. Endlich sah er auf. Er musterte Max’ Krücken.

»Verwundet?« Davon stand nichts auf dem Schein.

»Auf der Treppe gestolpert.«

Alle Ärzte, die Max je getroffen hatte, und das waren in letzter Zeit mehr gewesen als ihm lieb war, hatten mit Fachausdrücken nur so um sich geworfen. Wollte er als Mediziner glaubwürdig erscheinen, brauchte es etwas, das nach Latein klang oder Griechisch, und vor allem plausibel.

»Articulare Distortio des …« Er stockte. Max und Latein, das war immer schon ein Trauerspiel gewesen. Sein Griechisch war kaum besser. Wie schon in der Schule löste sich das Wenige, das er wusste, schlagartig in nichts auf, sobald er anfing, nervös zu werden.

Genu? Genus? Gona? Besser er sagte irgendetwas, als zu lange zu zögern.

»… des Knies«, erklärte er lapidar. »Das Bein darf nicht belastet werden.«

Mit etwas Glück verstand der Korporal nicht viel von Medizin. Sein Blick blieb jedoch skeptisch.

»Die Identitätskarte«, verlangte er nun doch.

Max saß gehörig in der Bredouille. Anmaßung eines Offiziersrangs war bestimmt ein Vergehen.

Wann war die Armee nur auf die unselige Idee gekommen, Dokumente mit Fotografien zu versehen? Eine einfache Personenbeschreibung wie braune Haare, braune Augen hätte ihm keinerlei Probleme bereitet.

Das Foto war zwar blass und abgegriffen, und die Uniform, die darauf zu sehen war, war die, die Max trug, dennoch war es offensichtlich, dass es nicht Max war, den dieses Foto zeigte.

Er kam der Aufforderung nicht sofort nach, hantierte erst ungeschickt mit seinen Krücken, alles, um Zeit zu schinden. Seine Augen wanderten zur Bahnhofsuhr. Der Zeiger war vorgerückt. Nur mehr siebenundzwanzig Minuten, dann würde sein Zug den Bahnhof verlassen.

Max betete sonst nie, aber er richtete ein Stoßgebet nach oben. Er musste in diesen Zug einsteigen, er hatte seine Familie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen.

Max dachte ständig an daheim. Es war stets dasselbe Bild, das er vor Augen hatte. Ein Sonntagnachmittag im Winter, es roch nach Keksen und Süßigkeiten, die schon seit Jahren nicht mehr auf den Tisch gekommen waren. Bratäpfel, manchmal roch es nach Bratäpfeln. Seine Mutter lag auf der Chaiselongue und las. Sein Vater saß über Papieren, mit denen er immer »gleich fertig« war. »Nur noch ein paar Minuten«, die dann zu Stunden wurden. Meist war auch Fritz dabei und kurbelte am Grammophon oder döste in seinem Sessel, um sich von einer langen Nacht zu erholen.

Max’ Hand wanderte unwillig zu seiner Tasche.

Bitte, lass mich nur nach Hause fahren! Das war alles, was er wollte.

Sein Zug wartete am Nebengleis, noch leer, die Türen geschlossen.

»Legitimieren Sie sich.« Das klang bereits sehr ungeduldig. Der Korporal hielt die Hand ausgestreckt, in Erwartung eines Dokuments. Seine Fußspitze tappte im Stakkatorhythmus auf den Boden. »Ich habe nicht ewig Zeit.«

Blut rauschte in Max’ Ohren. Der Korporal glaubte ihm nicht. Einen solchen Ton hätte er niemals angeschlagen, wenn er überzeugt davon wäre, mit einem Offizier zu sprechen.

»Guten Morgen … guten Morgen, Leutnant Garger … einen schönen guten Morgen … endlich ist der schauderhafte Regen zu Ende, vielleicht zeigt sich doch noch die Sonne … einen wunderbaren guten Morgen…« Max riss den Kopf herum, diese Stimme kannte er doch. Dr. Wegscheid! Wieviel Pech konnte man auch haben? Jetzt flog der Schwindel garantiert auf.

Der Korporal folgte sichtlich irritiert Max’ Blick.

Max nahm die Hand von der Tasche. Die Identitätskarte konnte ihn auch nicht mehr retten. Die Lederriemen seines Rucksacks schnitten unangenehm in seine Schultern. Seine Hände fühlten sich feucht an, ein dünnes, kaltes Rinnsal lief seinen Rücken hinunter.

Dr. Wegscheid schlenderte indessen gemächlich näher, den Spazierstock in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen. Er zog den Hut, begrüßte Bekannte und nickte dem einen oder anderen zu, den er passierte. Als würde er sonntags auf der Ringstraße promenieren und nicht auf einem lausigen Militärbahnhof.

»Einen schönen guten Morgen wünsche ich.«

Der Korporal ergriff natürlich die Gelegenheit. »Guten Morgen, Herr Doktor. Wenn ich einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen darf.« Das hörte sich mit einem Mal viel höflicher an. »Sie können mir sicherlich Auskunft über einen Ihrer Kollegen erteilen.«

»Aber ja. Ja, selbstverständlich.« Dr. Wegscheid lächelte immer noch. »Wie geht es Ihrer Schulter, Jamek?«

Korporal Jamek ignorierte die Frage und drehte den Urlaubsschein in seinen Händen. Er sah auf Max und wieder zurück auf den Schein. »Ist das hier Assistenzarzt Stefan von Brühl? Können Sie das bestätigen?«

Max umklammerte die Krücken so fest, als wollte er sie mitten durchbrechen. Sein Kopf fühlte sich leicht an und schwindelig. Versuchen sich herauszureden, glattweg zu lügen, das alles war zwecklos. Dr. Wegscheid kannte ihn. Es gab nichts, was er noch tun konnte.

Was würde nun passieren? Außer dass er seinen Zug verpasste. Ob ihm Arrest drohte? Oder, viel schlimmer noch, die sofortige Versetzung an die Front? Alles, nur das nicht. Sein Herz schlug heftig gegen die Rippen.

Er sah auf den Zug, dessen Türen gerade geöffnet wurden.

Ein Wunder, das war es, was er jetzt brauchte.

Dr. Wegscheid zögerte unmerklich, vielleicht eine Sekunde oder zwei. »Das steht ja so auf Ihrem Zettel«, sagte er und spähte auf den Schein. »Ich versichere Ihnen, der junge Mann ist mir bestens bekannt.«

Das stimmte sogar. Max hatte Wochen im Lazarett verbracht.

Der Korporal schüttelte irritiert den Kopf. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Der versöhnlichere Ton, den er daraufhin anschlug, fiel ihm sichtlich nicht leicht. »Dienst ist nun einmal Dienst und Sie werden sicher verstehen, dass ich so meine Zweifel hatte. Sie sehen recht jung aus …«, wandte er sich wieder an Max. Mit einer lauen Entschuldigung, aus der weiterhin Skepsis klang.

Dr. Wegscheid seufzte. »Meine Ärzte werden immer jünger. Wir brauchen sie so dringend, sogar Studenten schicken sie uns schon. Wenn das so weitergeht …« Er seufzte noch einmal. »Halbe Kinder, und je älter ich werde, desto jünger kommen sie mir vor. Geht Ihnen das nicht auch so, Jamek?«

Der verzog das Gesicht, ohne auf Dr. Wegscheids Frage einzugehen. Widerstrebend gab er den Urlaubsschein zurück. Max ließ ihn augenblicklich in der Tasche verschwinden.

»Der Zug fährt von Gleis 2 ab.« Korporal Jamek salutierte widerstrebend. »Gute Heimreise«, fügte er als Nachsatz an, bevor er sich mit festem Schritt und ohne sich umzusehen entfernte.

Max umklammerte die Krücken nicht mehr ganz so fest. Sein Herz klopfte immer noch schnell, jetzt aber vor Freude.

»Danke. Vielen Dank.« So viel Erleichterung ließ sich nur schwer in Worte fassen. Er konnte nach Hause fahren, endlich Bozen verlassen.

Dr. Wegscheid rieb sich den Nasenrücken. »Ich würde gern wissen, wobei ich Ihnen gerade geholfen habe. Bei welcher Scharade? Und was mich brennend interessiert, wo befindet sich mein Assistenzarzt? Wo ist Stefan?«

»In Eichgraben.« Dort stand das Sommerhaus von Stefans Eltern. Stefan war auf dem Weg dorthin, und falls er noch nicht angekommen war, würde er es jedenfalls in Kürze erreichen.

Nun rieb sich Dr. Wegscheid den Spitzbart. »In Eichgraben? Seit wann? Hat ihn denn niemand im Lazarett vermisst?«

»Im Lazarett hat er sich vor zwei Tagen krankgemeldet.«

»Und warum, wenn ich mir das erlauben darf zu fragen?«

»Wegen einer Hochzeit.«

»Stefan heiratet?« Das schien den Doktor doch zu überraschen. Die blassblauen Augen wirkten riesig hinter den dicken Gläsern seiner Nickelbrille.

»Nicht er«, beeilte sich Max aufzuklären. »Seine Schwester.«

Und wenn es nach Stefan ging, auch die nicht. Deswegen hatte es dieser so eilig gehabt, abzureisen. Weil er regelrecht davon besessen war, diese Hochzeit zu verhindern.

»Sein Urlaubsschein gilt aber erst ab heute.«

Eine Tatsache, der sich Max durchaus bewusst war.

»Unerlaubte Absentierung. Mit etwas bösem Willen könnte man es als Desertion betrachten.« Dr. Wegscheid zuckte mit den Schultern. »Es sind schon Soldaten wegen geringerer Vergehen vor einem Standgericht gelandet. Das ist kein dummer Bubenstreich.«

»Stefan ist mit meinen Papieren gereist.«

Vor zwei Tagen war Max aus der Armee entlassen worden, vorübergehend, um sich in häusliche Pflege zu begeben. Das hatte er Stefan zu verdanken. »Ist auch in meinem Interesse«, hatte Stefan behauptet. »Der Fritz verzeiht mir das doch nie, wenn ich nicht dafür sorge, dass du so rasch wie möglich nach Hause kommst.«

Da steckte möglicherweise ein Körnchen Wahrheit drin. Max’ Bruder war Stefans bester Freund seit Max sich erinnern konnte. Aber für einen jungen Assistenzarzt war es bestimmt nicht einfach gewesen, sich gegen die Obrigkeiten durchzusetzen und Max’ Entlassung zu erreichen. Max hatte es schließlich oft genug miterlebt, wie Soldaten zurück an die Front geschickt wurden, noch ehe ihre Verwundungen ausgeheilt waren. Er war Stefan etwas schuldig. Nur deswegen war er bereit gewesen, zwei Tage länger im verhassten Bozen auszuharren.

Dabei hatte er gehofft, dass keiner der Chargen die Papiere unter die Lupe nehmen würde. Max war nur einer von vielen. Zahlreiche Soldaten reisten zurück von der Front. Militärische Ordnung wich allmählich dem Chaos, und überall wuchs die Überzeugung, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war. Nach vier Jahren war das ganze Reich kriegsmüde. Nur laut sagen durfte man das natürlich nicht.

Dr. Wegscheid schüttelte den Kopf, strich einmal mehr über den Bart. »Max, Sie schauen wie ein Schulbub aus. Und Sie hätten auch besser die Schulbank drücken sollen, statt an der Front zu dienen. Sie in einer Leutnantsuniform? Mich wundert es nicht, dass das dem Jamek nicht recht koscher vorgekommen ist.« Noch ein Schulterzucken. »Außerdem passt Ihnen die Uniform gar nicht. Die Hosenbeine sind zu kurz und die Ärmel auch.«

Ein kleines Stück, das stimmte. »Ich könnte ja gewachsen sein.«

Die Mundwinkel des Doktors zuckten. »Korrekt, Max. Sie könnten vielleicht noch ein wenig gewachsen sein. Aber mein fünfundzwanzigjähriger Assistenzarzt, der ganz bestimmt nicht.«

Er klopfte mit seinem Spazierstock auf den Boden und schloss für einen Moment die Augen. »Wo ich gerade Ihren Hals aus der Schlinge gezogen habe, frage ich mich, ob Sie nicht auch etwas für mich tun könnten. Nichts Kompliziertes. Nur ein Brief für meine Verlobte daheim in Wien. Ich habe wenig Vertrauen in die Post, in die Feldpost noch weniger. Außerdem ist der Inhalt … nennen wir es doch der Einfachheit halber privat. Es wäre mir schon sehr geholfen, wenn Sie ihn persönlich überbringen könnten.«

»Das mach ich gern.« Max streckte die Hand nach dem Brief aus.

»Am besten, ich begleite Sie zum Zug bevor Sie ein weiteres Mal aufgehalten werden«, bot sich Dr. Wegscheid an.

Er war auch beim Einsteigen behilflich. Stufen, Krücken und ein Bein, das die lange Zeit am Extensionsgalgen noch übelnahm, erwiesen sich als ausgesprochen ungünstige Kombination. Dass Max bis auf einen vollgestopften, alten Rucksack, der aus allen Nähten platzte, kein Gepäck besaß, machte es wiederum ein wenig leichter.

Erschöpft ließ er sich auf die Sitzbank fallen. Das war wirklich knapp gewesen.

Er fühlte sich seltsam. Ein bisschen wie ein Ballon, aus dem die Luft gewichen war, und trotzdem voller Erwartung. Heute musste er noch bis Salzburg und morgen nach Eichgraben. Dort würde er Stefan treffen und Kleidung und Papiere tauschen. Dann ging es heim!

Max konnte es gar nicht richtig glauben. Nur zwei Tage noch, dann hatte der Albtraum ein Ende.

Fürs Erste kam er bis nach Wörgl, wo es umsteigen hieß, und bis der nächste Zug einfuhr, war reichlich Zeit.

Zeit, die Max totschlagen musste, obwohl er darauf brannte, sich wieder auf den Weg zu machen. Was sollte er hier auch tun? Wohl nicht spazieren gehen. Sein Bein protestierte bei der geringsten Belastung, und dass es viel zu sehen gab, wäre gelogen gewesen. Einige Häuser, eine Kirche und die Berge rund herum. Das Alpenpanorama hatte für Max an Idylle verloren, von den Bergen hatte er mehr als genug.

Eine kleine Gruppe von Kameraden war mit ihm ausgestiegen. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die slawisch klang, Ruthenisch oder Polnisch vielleicht. Wäre es Böhmisch gewesen, hätte er wahrscheinlich ein paar Brocken verstanden. Am besten kannte er die Schimpfwörter, die Rosa ausstieß, wenn etwa der Kuchen im Rohr anbrannte.

Ein paar Schritte machte er nun doch, auf dem Bahnhof zu warten, erschien, bei näherer Betrachtung, als wenig verlockend. Immerhin, er brauchte nicht sehr weit zu gehen, gleich hinter dem Bahnhof stieß er auf ein Hotel.

Die Wirtsstube war leer, bis auf ein paar knorrige alte Männer, die in unverständlichem Dialekt über leeren Schnapsgläsern disputierten. Über einen zusätzlichen Gast zeigte sich der Wirt nicht sonderlich erfreut. Vielleicht lag es auch an seiner Uniform, jedenfalls hatte Max nicht das Gefühl, willkommen zu sein. Außerdem war das Angebot außerhalb der Essenszeiten eingeschränkt, zu den Essenszeiten wahrscheinlich auch. Es gab nur Knödel oder Suppe. Allerdings, wie viel Auswahl brauchte es schon, wenn es Knödel gab.

Knödel! Max lief das Wasser im Mund zusammen. Ein Teller großer, dampfender Tiroler Knödel, das wäre ein Traum. Und bei einem Traum blieb es dann auch. Was Max nicht besaß, war eine Karte für den Verbrauch von Mehl und Brot, und Knödel nur gegen Karte, darauf beharrte der Wirt. Er ließ nicht mit sich reden, blieb also nur die Suppe. Schwer zu sagen, was für eine Suppe es war. Die Hauptzutat war Wasser, und das schmeckte man.

Da war es nicht verwunderlich, dass sein Magen noch immer hungrig knurrte, als Max die Reise fortsetzte. Leider war er das Gefühl gewöhnt.

Das Rattern der Räder wirkte einschläfernd und brachte Max zum Gähnen. Aber um einzunicken, dazu war er viel zu aufgeregt. Jeder Meter, den der Zug rollte, brachte ihn näher an Wien heran, näher nach Hause.

Es war Abend, als er in Salzburg ankam, und wieder hatte er Glück. Ein Gasthof, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt, der keine Wucherpreise für die Gästezimmer verlangte, mehr wollte er nicht.

Das Zimmer war klein, mit einem Fenster auf die Straße und abgenutztem Mobiliar, aber peinlich sauber und die Bettwäsche roch frisch. Sogar Blumen, Astern oder etwas Ähnliches, von Blumen verstand Max nicht allzu viel, standen in der Vase auf dem Tisch.

Das Bett, auf dem er saß, hing in der Mitte durch, doch das war nicht so schlimm. Es tat gut zu sitzen. Max war mühsam ein Stockwerk hochgestiegen, er verspürte kein Bedürfnis, das ein weiteres Mal auf sich zu nehmen. Was wohl hieß, dass er den Abend hier auf dem Zimmer verbringen würde.

Kleine Dampfwolken stiegen aus einem Häferl1 Kaffee, das auf dem Nachttisch stand. Kein richtiger Kaffee, den gab es schon lange nicht mehr. Max wusste kaum noch, wie der schmeckte, aber Hauptsache, das Gebräu war heiß und schmeckte nach etwas anderem als Wasser.

Heiß war es. Viel zu heiß, um davon zu trinken. Ein paar Minuten würde er den Kaffee noch stehen lassen müssen. Das aber brachte Max auf eine Idee.

Er zog Dr. Wegscheids Brief aus der Tasche. Warum wollte der gute Doktor wohl die Zensur umgehen?

Die Vorstellung, dass jemand wie Dr. Wegscheid pikante Zeilen zu Papier brachte, erschien ihm geradezu absurd und machte ihn gleichzeitig neugierig. Der Mann wirkte so gesetzt und so alt. Zugegeben, er hatte kaum graue Haare, nur vereinzelt in seinem Bart, und Falten auch nicht. Höchstwahrscheinlich war Dr. Wegscheid noch keine vierzig Jahre. Aber vierzig war nun nicht gerade jung, seine Mutter nur ein paar Jahre älter. Sich vorzustellen, dass seine Eltern … das war ein Gedanke, den wollte Max nicht weiterverfolgen. Bei Dr. Wegscheid war das etwas anderes.

Sicherlich, es gab so etwas wie ein Briefgeheimnis, der Doktor hatte Max vertraut, und schlicht und einfach, man tat so etwas nicht. Man las nicht fremde Post. Andererseits, wer sollte es erfahren?

Max hielt den Briefumschlag über den Kaffee, die Verschlussseite nach unten. Er hegte durchaus Zweifel, ob das bisschen Dampf ausreichen würde, um den Klebstoff zu lösen. Doch den Versuch war es wert. Langsam bewegte er das Kuvert hin und her, legte es zuletzt auf dem Tassenrand ab. Wenn nur der Kaffee nicht zu rasch auskühlte, besonders warm war es nicht im Raum.

Aber vielleicht … es sah so aus als hätte er Glück. Die Gummierung löste sich zum Teil. Die leichten Wellen im Papier fielen hoffentlich nicht weiter auf. Notfalls konnte man sie damit erklären, dass der Brief in der Tasche zerknittert worden war.

Vorsichtig versuchte er den Brief zu öffnen, löste Stück für kleines Stück voneinander, ganz ohne zu zerreißen. Bloß nicht zu fest anziehen. Lieber hielt er den Brief noch einmal über den Dampf.

Nur noch ein kurzer Ruck und das Kuvert war offen.

Max zog den Brief heraus und begann sofort zu lesen. Las ihn gleich noch ein zweites Mal. Der Inhalt war nicht, was er erwartet hatte. Mehr politisches Manifest als Liebesbrief. Wer schrieb so etwas seiner Verlobten? Und was die Botschaft betraf …

1 Tasse

Kapitel 2

Stefan hatte versprochen ihn abzuholen, und aus Salzburg hatte Max zur Sicherheit ein Telegramm geschickt. Trotzdem, weit und breit kein Stefan zu sehen, und auch niemand, den er geschickt haben könnte.

Max stand am Bahnhof, und er wartete. Er wartete dort ziemlich lange, bis er begriff, dass niemand kommen würde. Irgendetwas war passiert. Stefan ließ einen sonst nicht im Stich. Wenn nur seine Reise glattgegangen war. Max konnte hier nicht länger stehen bleiben und Zeit verlieren. Er musste wissen, ob Stefan gut angekommen war, am liebsten sofort, wie eine Schar von Ameisen kribbelte ihn seine Ungeduld.

Außer Max hatte niemand den Zug in Eichgraben verlassen. Bis auf einen gelangweilten Wärter war der Bahnhof verwaist, und er machte den Eindruck, als blieben die Reisenden bereits seit Langem aus. Auf Sommerfrische fuhr man nicht mehr.

Max hievte den Rucksack auf den Rücken, um sich auf den Weg zu machen. Er hatte den Bahnhof gerade erst verlassen, da rollte ein schwerer, mit Fässern beladener Wagen heran. Eine Mitfahrgelegenheit, die kam wie gerufen! Max rief dem Kutscher zu, doch der drehte rasch den Kopf zur Seite und trieb die Pferde an. Hätte der nicht stehen bleiben können und Max mitnehmen, das kleine Stück nur? Das hätte ihn kaum Zeit gekostet. Er hatte nicht einmal nachgefragt. Dass Max nicht sehr gut laufen konnte, das musste er gesehen haben. Die Krücken waren wohl nicht unsichtbar. Max fluchte vor sich hin.

Wäre Max nicht auch noch in die falsche Straße eingebogen, wäre der Weg nicht ganz so weit gewesen. So war er außer Atem und sein Bein schmerzte, als er endlich das Sommerhaus der von Brühls erreichte. Im Vergleich zu mancher Prachtvilla im Wienerwald schnitt es bescheiden ab. Aber es gab einen Garten, eine Laube und eine verglaste Holzveranda im ersten Stock, von der die Farbe blätterte.

Zuerst schien es nicht so, als ob ihn jemand einlassen wollte. Dann aber hörte er leise Schritte. Die Haustür öffnete sich zögerlich und gab den Blick frei auf ein bekanntes Gesicht. Schmal und blass mit rotgeheulten Augen. Dunkelbraune, widerspenstige Locken waren in einem Knoten zusammengefasst, aus dem sich die meisten Strähnen gelöst hatten. In einem wilden Gewirr von Locken fielen sie bis zur Taille.

An Luises Taille blieb sein Blick haften. Dass ihm Stefans Schwester persönlich öffnen würde, damit hatte Max nicht gerechnet. Noch weniger damit, sie in anderen Umständen anzutreffen.

Er stammelte eine Begrüßung, dann gingen ihm die Worte aus.

Offensichtlich hatte kein einziger der Briefe, die Stefan von seiner Familie erhalten hatte, Luises voreheliches Missgeschick erwähnt. Wegen der Schande vielleicht, weil man über so etwas nicht sprach. Als ob es weggehen würde, wenn man es totschwieg.

Die Hochzeit war keinen Tag zu früh angesetzt. Luises Kleid bauschte sich unterhalb der Brüste, die Max nicht annähernd so üppig in Erinnerung hatte, und dennoch gelang es nicht, die fortgeschrittene Wölbung ihres Bauchs zu verhüllen.

Max schluckte. Er versuchte krampfhaft seinen Blick abzuwenden, nicht in einem fort auf ihr ausladendes Dekolletee zu starren. Schließlich blickte er an ihr vorbei ins Innere des Hauses. Er fixierte den räudigen ausgestopften Marder, der aussah, als hätte er schon einiges an Sägespänen eingebüßt, an seinem Ehrenplatz an der Wand. Alles, um nur nicht wieder zu Luise zu schielen.

Er war nicht sicher, was unhöflicher war. Sie anzustarren oder sie gleich gar nicht anzusehen. Irgendwie hatte er das Gefühl, er konnte es nicht richtig machen.

»Stefan hätte dich abholen sollen«, brach Luise das Schweigen, ihre Stimme war belegt, »aber er ist noch auf der Gendarmerie.«

Gendarmerie? Was in aller Welt hatte Stefan auf der Gendarmerie zu suchen?

Die Papiere, schoss es Max durch den Kopf. Oh, mein Gott, die falschen Papiere. Er fühlte wie sein Puls hochschnellte und das Blut in seinen Kopf stieg.

»Sie möchten nur mit ihm reden, haben sie gesagt.« Es klang, als spräche sich Luise selbst Mut zu.

Max sah sie an und wartete. Er brauchte nicht lange zu warten, den von Brühls lagen die Gefühle auf der Zunge. Außer Peter vielleicht, Peter war die Ausnahme.

Luise schniefte und ihre Lider zuckten. Sie würde doch nicht wieder weinen? Bitte nicht. Wenn Mädchen weinten, fühlte Max sich hilflos. Aber sie zog nur ein zusammengeknülltes Taschentuch aus ihrer Rocktasche und schnäuzte sich. Dann rieb sie sich die Augen. »Sie glauben, er hat Edgar erschossen. Ich … ich verstehe nicht, warum sie das glauben können.« Jetzt fing sie doch zu weinen an.

Stefan? Stefan sollte jemanden erschossen haben? Unmöglich. Vollkommen unvorstellbar.

Aber kein Wunder, dass Luise so mitgenommen war. Max fischte sein eigenes Taschentuch hervor und drückte es ihr in die Hand. Ihre Finger waren kalt, klamm und zitterten.

Ein Mord, erst langsam sickerte in Max’ Bewusstsein, was das bedeutete. Aber mit Stefan hatte das doch bestimmt nichts zu tun.

Stefan hatte seine Fehler. Er konnte unglaublich stur sein, nicht bereit, von seiner Meinung abzuweichen, auch dann nicht, wenn er auf dem Holzweg war. Von Dingen, die ihm wichtig waren, ließ er nicht ab, bis er erreichte, was er wollte, oder daran scheiterte. Das war es aber auch, was ihn zu einem guten Arzt machte. Stefan war nicht fähig, jemandem etwas anzutun, der rettete viel lieber Leben.

Es traf Max wie ein Schlag. Edgar, hatte Luise gesagt. Edgar Maienbach, so hieß doch ihr Verlobter. Dass Luise weinte, war gar nicht wegen Stefan.

Luise hatte sich sehr rasch zurückgezogen. Ihre Mutter hatte er nicht zu Gesicht bekommen, und ihrem Vater war Max’ Anwesenheit zu diesem Zeitpunkt so gar nicht recht. Die letzten eineinhalb Tage hatten Herrn von Brühl zugesetzt. Sein Gesicht wirkte fahl und grau und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Von dem Mord sprach er als einem »familiären Unglücksfall«, nichts ahnend, dass Max längst wusste, was geschehen war. Ein paar unverbindliche Floskeln, und die unvermeidliche Frage, wie es Max denn gehe, ohne dass er wirklich an der Antwort interessiert gewesen wäre, danach ließ er Max allein zurück.

Fast allein. In einer Ecke des Raums saß Peter, über ein Schachbrett gebeugt und in eine Partie gegen sich selbst vertieft.

Max wog nur kurz ab, ob es denn taktlos sei, Peter auf den Mord anzusprechen. Die Neugier siegte.

Peter sah von seinem Schachbrett auf. Recht unwillig, so hatte Max den Eindruck. Vielleicht sollte er Peter doch in Ruhe lassen, schließlich war vor Kurzem der Verlobte seiner Schwester gestorben, und sein Bruder stand unter Mordverdacht.

Nur ein paar Fragen, beschloss Max, dann würde er Peter nicht länger quälen. Auf diese Fragen hätte er verzichten können. »… man kann noch nichts sagen«, lautete die Antwort, »… du weißt, wir hatten einen Todesfall, und die Ermittlungen sind gerade erst angelaufen …«

Max war um nichts schlauer als zuvor.

Der Versuch, das Dienstmädchen auszuhorchen, war ebenso gescheitert. Max hatte sich entschieden, die Gelegenheit zu nutzen, als sie ihm eine Tasse Tee servierte. Doch das Mädchen trat einen Schritt zurück, sah ihn ausdruckslos an und meinte: »Tschuldigung, aber dazu kann ich nix sagen.« Sie tauchte auch nicht wieder auf, um nachzufragen, ob er noch etwas wünschte.

Der Tee war beinahe farblos, schmeckte dünn und fad, aber wenigstens war er süß. Allerdings hatte Max noch immer Durst, als seine Tasse leer war. Das Dienstmädchen hatte er offensichtlich verscheucht. Jetzt überlegte er, ob er sich auf die Suche nach der Küche machen sollte. Doch dazu kam er nicht mehr.

»Max!« Stefan betrat mit langen Schritten den Salon, um ihn zu begrüßen. Für jemanden, der den halben Tag auf einem Gendarmerieposten verbracht hatte, schien er nur wenig erschöpft. Er wirkte munterer, als ihn Max im Lazarett erlebt hatte, da hatte ihn die Arbeit regelrecht ausgezehrt, allerdings unruhig und erregt. Er ließ sich neben Max auf einen der Polstersessel fallen. »Bin ich froh, dass du es gut bis zu uns geschafft hast.« Er klang erleichtert. Stefans Finger nestelten hektisch an seinem Kragen. »Das alles ist ein gewaltiges Desaster. Aber das hätte ich mir denken können, dass der vermaledeite Maienbach nicht einmal sterben kann, ohne ringsum Chaos zu verbreiten. Die Luise …«, er sah Max an, »du hast Luise gesehen, oder?«

Max nickte.

»Hurra.« Das galt dem Kragen, den Stefan endlich in der Hand hielt. »Sie hat dir sicher erzählt, was geschehen ist?«

»Hat sie.«

»Sie nimmt das sehr mit. Und keiner …«, Stefan wurde laut, ohne dass er sich dessen bewusst wurde.

So laut, dass sein Bruder von seinem Schachspiel aufsah, für einen Moment, dann beugte er sich wieder nach vorn und verschob einen der Bauern.

»… keiner hat es für Wert befunden, mir mitzuteilen, dass ihr dieser Kretin ein Kind angehängt hat«, setzte Stefan aufgebracht fort. »Mich wundert nur, dass er den Anstand besessen hat, um ihre Hand anzuhalten. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, der schert sich einen Dreck darum, was für ein Elend er hinter sich zurücklässt. Wahrscheinlich ist er nicht mehr ausgekommen, wo doch die Väter, seiner und meiner, einander gut kennen. Nein, ich kann nicht sagen, dass ich besonders traurig bin, dass er jetzt tot ist. Aber die Umstände sind katastrophal.

Zu allem Überfluss behaupten die Gendarmen, dass der elendige Mistkerl mit meiner Waffe erschossen wurde. Wenn sie mir nachweisen könnten, dass ich auch geschossen habe – was für ein abwegiger Gedanke –, dann hätten sie mich auf der Stelle verhaftet. Obwohl sie der Mangel an Beweisen ja auch sonst nicht hindert, jemanden einzulochen.« Stefan drehte den Kragen in beiden Händen, wieder und immer wieder, so lange, bis er knickte. »Wäre ich irgendein dahergelaufener Landstreicher, hätten sie mich mit Vergnügen in den Kerker gesteckt. So sind sie gerade noch höflich geblieben – Herr Doktor, können Sie sich denn nicht erinnern? Herr Doktor, wie ist es abgelaufen? – Verdammt noch einmal, woran soll ich mich denn erinnern, ich habe geschlafen. Wie ich den Maienbach zu Gesicht bekommen habe, war der schon seit Stunden tot.«

Max schaute ihn an, überlegte, ob er nachhaken sollte, aber das war nicht nötig, Stefans Redefluss war noch lange nicht versiegt. Vielleicht war er froh, endlich einen Zuhörer zu haben, der nicht jedes seiner Worte gegen ihn zu verwenden versuchte. Außerdem sprach Stefan immer zu viel.

»Gestern Früh war es, da hat die Hanni den Maienbach gefunden, tot im Garten. Die Hanni hat wie am Spieß geschrien, aber die Hanni schreit auch, wenn sie eine Maus sieht. Ein fürchterliches Frauenzimmer, aber kochen tut sie halt himmlisch. Na ja, wenn etwas zum Kochen da ist.

Ich bin erst in der Nacht nach Hause gekommen, der Zug hat mitten auf der Strecke fünf Stunden Aufenthalt gehabt. Das musst du dir vorstellen, eingepfercht wie in einem Viehwaggon, so voll war es in meinem Abteil, und nichts ging weiter. Eine mühsame Geschichte.

Wie mich dann das Geschrei von der Hanni aufgeweckt hat, habe ich mir gedacht, soll sie doch schreien, ich schlafe weiter. Ich verlasse doch nicht mein warmes Bett, nur weil der hysterischen Person ein Nagetier über die Zehen krabbelt.

Aber dann brach gleich darauf ein Riesentumult aus. Mein Vater hat gegen die Tür gehämmert und er hat geradezu panisch gerufen, dass ich schnell mit runter in den Garten kommen soll. Der Maienbach braucht dringend einen Arzt, hat er gesagt, dem geht es nicht so gut.«

Stefan ließ den malträtierten Kragen los, oder was davon noch übrig war, und rieb sich die Schläfen. »Nicht gut war eine Untertreibung. Was sich mein Vater vorgestellt hat, das ich noch tun kann, ist mir ein Rätsel. Der Maienbach ist im Gras gelegen, ein Loch säuberlich in die Stirn geschossen. Ich habe gemacht, was mein werter Herr Vater von mir wollte, seinen Puls gefühlt, die Atmung kontrolliert. Aber natürlich war das zwecklos, eine Komödie, bloß um die Nerven von meinem Vater und der Hanni zu beruhigen.

Gleich nach der schlechten Nachricht hat Maienbachs Familie ihre Sachen zusammengepackt und ist in den nächsten Gasthof übersiedelt. Keine Minute länger wollten sie in unserem Haus zubringen, das kann ich verstehen.

Gegen Mittag haben die Gendarmen schließlich wie die Berserker das Haus gestürmt und alles auf den Kopf gestellt. Sie sind durch den Garten getrampelt und durch alle Zimmer gepoltert. Und die Fragen, die sie gestellt haben. Warum mein Dienstrevolver unten beim Eingang neben meinem Mantel hing? Neben deinem, eigentlich. Wo der Rest meiner Uniform war? Die Frage war ein bisserl unangenehm. Ob mir denn nicht klar war, dass den Revolver jeder hätte nehmen können? Du meine Güte, es waren ja keine Kinder im Haus und auch keine Fremden.

Immer wieder sind sie auf den verfluchten Revolver zu sprechen gekommen.«

Revolver, hat er gesagt? Keine neue Steyr-Pistole, sondern der alte »Rast & Gasser«? Na ja, im Lazarett brauchte Stefan wirklich keine Waffe.

»Kruzitürken, ich weiß nicht, was sie von mir wollen, so ein Revolver gehört zur Offiziersausstattung. Aber in erster Linie bin ich doch Arzt, ich bin mir nicht mal sicher, wie man das verfluchte Ding eigentlich lädt.«

Warum musste er immer gleich übertreiben? Wahrscheinlich hatte auch Stefan Schießübungen in der Schule gehabt. Und selbst falls nicht, es hätte ihn niemand zum Dienst in die Etappe geschickt, ganz ohne Ausbildung.

Laden war einfach. Ladeklappe zurück, Patrone rein, Abzug betätigen, die nächste Patrone.

Schießen war schwierig. Wenn das Ziel keine leblose Scheibe war. Max konzentrierte sich auf Stefans Worte, bevor seine Gedanken abzudriften begannen.

»Mir war nicht einmal klar, dass er überhaupt geladen war. Ich hätte Stein und Bein geschworen, dass sich keine Patronen darin befunden haben. Muss aber wohl so gewesen sein, sonst wäre der Maienbach nicht tot.« Stefan stützte den Kopf in beide Hände. »Bloß ich war es nicht. Ich weiß nicht, was ich tun muss, dass die Gendarmen das in ihre Dickschädel bekommen.«

»Keine Angst, sollten unsere ehrenwerten Dorfgendarmen nicht zur Vernunft gelangen, besorge ich dir einen guten Anwalt, da habe ich die besten Verbindungen. Dann ist die Sache in null Komma nix vom Tisch.« Zum ersten Mal meldete sich Peter zu Wort.

»Ich brauche keinen Anwalt.«

»Jeder Mensch braucht einen Anwalt«, sagte Peter, der zukünftige Anwalt, bevor er sich wieder über das Schachbrett beugte.

»Hat keiner den Schuss gehört?«, fragte Max.

»Der Maienbach ist weit hinten gelegen, hinter der Laube, an der Grenze zum Wald. Ich habe einen Knall gehört, so etwa um drei. Vielleicht war es auch halb vier. Sind halt Wilderer, habe ich mir gedacht und weitergeschlafen. Wilderer sind hier nicht selten.« Stefan hatte den Kopf gehoben und starrte an Max vorbei, in die Finsternis des Gartens. »Die Luise nimmt es schwer, sie hat nie recht glauben wollen, was für ein widerwärtiges Subjekt der Maienbach doch war.«

»Das hättest du nicht jedem auf die Nase binden sollen, für welchen Abschaum du ihn hältst«, meldete sich noch einmal die Stimme aus dem Abseits.

»Da hat der Peter recht.«

»Der Peter hat doch immer recht.« Immerhin brachte Stefan ein schwaches Grinsen zustande. »Und wenn er nicht recht hat, dann beharrt er so lange auf seinem Standpunkt, bis der andere verunsichert nachgibt. Der wird ein erstklassiger Rechtsverdreher.«

»Was ist denn an dem Maienbach so schlimm gewesen?« Es war nicht das erste Mal, dass Max ihm diese Frage stellte.

»Frag den Fritz«, wich Stefan auch diesmal aus, um gleich darauf das Thema zu wechseln: »Wie ist es dir mit der Heimfahrt ergangen?«

Diesmal kam Max nicht um die Antwort herum. Er erzählte von dem Zwischenfall mit Korporal Jamek und wie ihm Dr. Wegscheid zu Hilfe gekommen war.

Was Max Unbehagen verursachte, war die Tatsache, dass er die Nacht wohl oder übel in Eichgraben verbringen musste. Nicht gerade angenehm, wenn man sich unwillkommen fühlte. Nur Stefan schien es recht zu sein.

Kapitel 3

Schon am Westbahnhof, wo Max den Zug verließ, herrschte Geschiebe. Stoßende, drängelnde Menschen, die sich um die wenigen Fahrkarten anstellten, die es zu kaufen gab. Heimkehrer von der Front, Kranken- und Verwundetentransporte und jede Menge Helfer, allen voran Gruppen von Schülern, leicht an den Kappen des Schülerhilfskorps zu erkennen. Nur die jüngeren wirkten noch eifrig. Ein Knirps schien regelrecht enttäuscht darüber, dass Max gar keine Hilfe brauchte. Auch die Dienste der Gepäckträgerinnen, die robust die Männerarbeit übernommen hatten, nahm er nicht in Anspruch, viel war von seinem Gepäck nicht übrig.

In der Elektrischen war nicht weniger Gedränge. Die erste Straßenbahn musste Max fahren lassen. Die war so voll, dass die Passagiere in Trauben an den Trittbrettern hingen. Früher hätte er versucht, sich noch dazuzuquetschen, aber mit seinem Bein und mit den Krücken war nicht daran zu denken.

Bis die nächste Tram in die Station einfuhr, verging fast eine Ewigkeit. Auch diese war überfüllt, nicht ganz so schlimm wie die davor. So wie wahrscheinlich auch die nächste und alle, die noch kommen würden. Max schob also und drängte, was blieb einem auch andres übrig. Die Hoffnung auf einen Sitzplatz ließ er gleich wieder fahren. Wer einen solchen hatte, der gab ihn nicht wieder her. Der Passagier neben ihm hatte nur einen Blick auf Max geworfen und rasch ein Buch aus seiner Jackentasche hervorgekramt, in das er nun tief versunken blickte. Wenn er nicht gerade aufsah, um sich zu überzeugen, dass Max leider noch immer nicht verschwunden war.

Max hatte die Krücken mit einer Hand gefasst, mit der anderen hielt er sich fest. Es war so eng gepackt, dass man sich kaum bewegen, geschweige denn umfallen konnte. Wie Sardinen in der Dose. Dann war da außerdem der beißende Geruch nach altem Schweiß und zu lange getragener Wäsche, der das Atmen schwerer machte. Max vergrub die Nase in seinem Ärmel.

Er konnte nur ein kleines Stück von der Straße sehen, die an ihnen vorüberzog. Vor den Geschäften und Kriegsküchen standen die Leute um Waren und um Essen an. Irgendwie schienen die Schlangen noch länger geworden zu sein.

»Entschuldigung, ich muss da raus.«

Es war als hätte ihn niemand gehört. Freiwillig machte ihm keiner Platz, blieb also wieder nur Schieben und Pressen.

»Ich steige da aus.«

Oder vielleicht auch nicht, denn der Herr im Anzug blockierte den Ausstieg. Er schnaufte empört, als Max Ellenbogen und Krücken einsetzte, und wich nur so viel, dass sich Max mit Mühe vorbeipferchen konnte.

Auf dem Trottoir atmete er durch. Jetzt war es nicht mehr weit, bis er zu Hause war.

Das schwere Haustor schien noch mehr Widerstand zu leisten als gewöhnlich. Max lehnte sich mit der Schulter dagegen und drückte es auf. Er blieb stehen und blickte auf den Gang und auf die breite Treppe. Leises Klaviergeklimper drang aus dem zweiten Stock nach unten. Beethovens Für Elise. Alles wie immer. Als wäre er von der Schule heimgekommen oder von einem Lichtspieltheater, ein ganz normaler Nachmittag.

Max’ Augen juckten. Das war das Haus, in dem er aufgewachsen war. Das Stiegenhaus, in dem er als Kind Verstecken gespielt hatte, das Stiegenhaus, von dem er jeden Winkel kannte. Er blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und machte einen Schritt ins Haus.

Kaum war das Tor ins Schloss gefallen, flog auch schon links die Tür, die zur Hausmeisterwohnung führte, auf. Frau Papousek musste so etwas wie einen sechsten Sinn besitzen, als hätte sie hinter der Tür gewartet.

Max hatte gerade erst zu einem »Grüß Gott« angesetzt, da rief sie schon: »Der Maxl!«, so laut, als wollte sie es dem ganzen Haus mitteilen, was durchaus möglich war. »Der Maxl is wieder da! Pepi, der Maxl is da!«, rief sie jetzt auch in ihre Wohnung hinein. Aus dem Halbdunkel kam nur unbestimmtes Brummen. Um Herrn Papousek aus seinem Refugium zu scheuchen, brauchte es schon etwas Spektakuläres. Ein mittleres Erdbeben, vielleicht, oder eine eingeschlagene Fensterscheibe, wie Max als Verursacher einer solchen bezeugen konnte. Ansonsten bekam man ihn nur alle paar Wochen zu Gesicht, wenn er für Herrn Kommerzialrat Kettler die Miete kassierte. Und einmal im Sommer, wenn er die Ranken an der Gartenmauer stutzte. Und natürlich dann, wenn man nach der Sperrstunde nach Hause kam, und ihn für das Öffnen der Haustür bezahlen musste.

Frau Papousek stützte sich auf dem Besen ab, den sie als Alibi mit auf den Gang genommen hatte. Schließlich war es nie die Neugierde, die sie aus der Wohnung trieb. Es gab immer so viel zu tun.