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Das Ansteigen der durchschnittlichen Lebenserwartung konfrontiert immer mehr Menschen mit der Diagnose Demenz. Das stellt Angehörige und Betroffene gleichermaßen vor neue Aufgaben. Die degenerative Erkrankung verlangt nach Verständnis und Geduld, denn das Leben von und mit demenzbetroffenen Menschen ist mit vielfältigen, komplexen und schwierigen Herausforderungen verbunden. Das betrifft in besonderer Weise diejenigen, die in Liebes- oder Arbeitsbeziehungen mit ihnen verbunden sind. Christian Hawellek und Ursula Becker beschreiben, wie die videobasierte Marte-Meo-Methode auf konkrete und wertschätzende Weise Handlungsoptionen aufzeigen kann, die helfen, den alltäglichen Umgang mit demenzbetroffenen Personen respekt- und würdevoll zu gestalten.
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Seitenzahl: 84
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Leben.Lieben.Arbeiten
SYSTEMISCH BERATEN
Herausgegeben von
Jochen Schweitzer und
Arist von Schlippe
Christian Hawellek/Ursula Becker
Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen – die Marte-Meo-Methode
Mit 4 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Matyas Rehak/shutterstock.com
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-90124-4
Inhalt
Zu dieser Buchreihe
Vorwort von Arist von Schlippe
IDer Kontext
1Vorbemerkung
2Was ist Demenz?
Ein Begriff rückt ins allgemeine Bewusstsein
Erfahrungen von Betroffenen und Mitbetroffenen
Die medizinische Sicht auf Demenz
IIDie systemische Beratung
3Was ist zu tun?
Die Pflege von Menschen mit Demenz
Marte Meo in der Arbeit mit Demenzbetroffenen
Systemisches Denken und Marte Meo
Salutogenese – eine Orientierung für unterstützende Hilfen
Erfahrungen mit Marte Meo in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz
Den Menschen mit Demenz in den Blick nehmen
•Marte Meo – Selbstvertrauen und Handlungssicherheit ermöglichen: Erster Fallbericht
Eine Zwischenbilanz: Die Erfahrungen mit Marte Meo in der Wohngemeinschaft einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit Demenz
•Marte Meo – verschüttete Fertigkeiten aktivieren: Zweiter Fallbericht
•Marte Meo und herausforderndes Verhalten: Dritter Fallbericht
•Marte Meo und traumatische Erfahrungen: Vierter Fallbericht
4Evaluation
5Fazit
IIIAm Ende
Literatur
Der Autor und die Autorin
Zu dieser Buchreihe
Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwer machen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.
Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.
Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.
Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.
Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Vorwort
Marte Meo begegnete mir vor etwa zwanzig Jahren zum ersten Mal. Ich war begeistert, mit dem Ansatz verzweifelten Eltern zu helfen, die nicht wussten, wie sie mit ihren als schwierig erlebten Kindern umgehen sollten. Die Möglichkeit mit Hilfe der »unbestechlichen« neuen Video-Technologie nicht nur über das Geschehen zu sprechen, sondern das beklagte Verhalten und die elterlichen Reaktionen darauf unmittelbar rekonstruieren zu können, ermöglichte eine völlig andere Art von Gesprächen. Sie wurden eher zu einem Coaching für Eltern und erlaubten es oft sehr schnell, zu deren Anliegen vorzustoßen.
Der durch und durch konstruktive Grundtenor des Vorgehens hat mich schnell fasziniert: Es wurde – und wird – nicht nach Defiziten gesucht, nicht nach etikettierenden Diagnosen, sondern danach, welcher Entwicklungsbedarf in dem jeweils auffälligen Verhalten des Kindes zu sehen ist. Anschließend wird geschaut, wo – und sei es nur in kleinen Ansätzen – im elterlichen Verhalten Momente erkennbar werden, in denen diese konstruktiv auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen und das Kind ein Signal der Erleichterung, des Verstandenwerdens oder der Freude zeigt. Man sieht das in den Videos oft beeindruckend schnell und die moderne Technik macht es möglich, das angehaltene Bild mit dem lächelnden Kind durch Makrofunktionen auch noch vergrößert zurückzuspiegeln. So entsteht rasch eine Arbeitsatmosphäre, die von freundlicher Sachlichkeit gekennzeichnet ist, die auch in den schwierigsten Situationen nach Ansätzen von Ressourcen sucht und diese letztlich immer auch findet (und seien sie noch so klein).
Über die Jahre hinweg ist der Ansatz immer professioneller geworden und in viele Felder psychosozialer Arbeit vorgedrungen. Die Idee, dass in vielen Fällen eine Coaching-Beziehung auf Augenhöhe zahlreiche Problemstellungen befriedigend lösen kann, ist in vielfältigen Kontexten bestätigt worden. Insbesondere gilt dies, wenn von den Ratsuchenden nicht in erster Linie umfangreiche psychotherapeutische Unterstützung gewünscht wird.
Ein besonderer Kontext ist in diesem Zusammenhang Demenz. Hier ist es zwar besonders schwer, Augenhöhe herzustellen. Doch zeigen die Erfahrungen in diesem Umfeld, wie oft auch schwierige Verwicklungen sich auflösen, wenn elementare Rahmenbedingungen verwirklicht werden, durch die Menschen, die komplexe soziale Situationen nicht durchschauen können, Sicherheit und Orientierung vermittelt wird. Ganz ähnlich wie bei kleinen Kindern geht es hier um eine freundliche Form des Führens, durch die Vorhersagbarkeit und Klarheit vermittelt werden: es geht nicht um Unterordnung und Gehorsam, sondern darum, die Kooperationsbereitschaft des menschlichen Gegenübers mit seinen Beeinträchtigungen anzusprechen. Denn ein Mensch mit Demenz hat zwar einen Teil seiner Fähigkeit, die Welt gedanklich zu erschließen und sich in ihr zu orientieren, verloren, auch mehr oder weniger große Bereiche seines Gedächtnisses, zugleich aber bleibt er zu Emotionen fähig, insbesondere kann er auf für ihn undurchschaubare soziale Konstellationen mit zum Teil heftigen Gefühlen reagieren. Dieses Buch macht sehr explizit deutlich, dass gerade deshalb emotionale Sicherung für demente Menschen so wichtig ist, ein Bewusstsein, sich unabhängig von seinem Verhalten »als geliebt, berührt, gesehen und wahrgenommen« zu erleben. Es gibt jenseits aller schmerzlichen Verluste etwas, das diesen ganz konkreten Menschen ausmacht und was die Autoren als unauslöschlich beschreiben.
Mit dieser Grundhaltung kann dann in dem besonderen Kontext Demenz sehr professionell daran gearbeitet werden, genau diese Bedingungen herzustellen. Das Medium Video ermöglicht es den Pflegekräften, sich peu à peu mit sich selbst auseinanderzusetzen und konkrete Schritte zu gehen, die die Beziehung zu den Gepflegten auf eine stabile Basis stellen. Dadurch, dass von Demenz Betroffene – wie Kleinkinder – so unmittelbar positiv reagieren, wenn die hinter ihrem schwierigen Verhalten stehenden Bedürfnisse erkannt werden, ist die Chance groß, dass sich konstruktive Dynamiken entwickeln, die von allen Beteiligten als beglückend erlebt werden.
In diesem Sinn wünsche ich dem Buch von Christian Hawellek und Ursula Becker eine breite Leserschaft, die sich von den Möglichkeiten von Marte Meo überzeugen und damit letztlich auch persönlich verändern lässt.
Arist von Schlippe
I
Der Kontext
1Vorbemerkung
Ein Text, der sich die Aufgabe stellt, die Möglichkeiten systemischer Hilfen für die Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen1 zum Thema zu machen, passt ausgezeichnet zu einer Buchreihe mit den Überschriften »Leben. Lieben. Arbeiten«.
Unter allen drei Schlagworten lassen sich besondere Herausforderungen der Situation von Menschen mit Demenz ausmachen.
Leben: In ihrer Lebensgestaltung und -bewältigung sind sie in unterschiedlichem Maße auf die Sorge und Fürsorge ihrer Umgebung angewiesen. Damit gehen für alle Beteiligten viele Fragen, erhebliche Herausforderungen und Konflikte einher; z. B. die Frage, wie viel Autonomie den Betreffenden in konkreten Situationen zugestanden wird und werden muss. Wie wird Verantwortung übernommen, abgenommen, zugesprochen bei kleineren oder auch größeren Entscheidungen? Wer entscheidet etwa über größere finanzielle Ausgaben, über Umzug oder Verbleib in der Wohnung oder über das Steuern eines KFZ? Welche Entscheidungen müssen einvernehmlich getroffen werden und welche gegebenenfalls gegen den Willen der Betroffenen? Wie kann den Wünschen der Betroffenen entsprochen werden und wie können gleichzeitig die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder im Blick behalten werden?
Hinter all diesen Fragen in ihren individuellen und spezifischen Ausformungen steht die allgemeinere Frage danach, wie ein Leben zu seinem Ende hin mit Achtung, Würde und Respekt für alle Beteiligten so gestaltet werden kann, dass Wohlbefinden und Lebensfreude darin noch einen angemessenen Platz finden können.
Lieben: Lebensgeschichten sind über weite Strecken hinweg Liebesgeschichten. Schon Sigmund Freud hat Lieben und Arbeiten als die zentralen menschlichen Lebensaufgaben herausgestellt – wenn diese gelingen, gelingt das Leben.
Die Schicksale und Verläufe der Liebe prägen wesentlich den Gestaltungswillen und die Antriebskräfte der Menschen. Die Liebe hat sehr unterschiedliche Prägungen. Sie beginnt mit der Eltern-Kind-Liebe, die sich im frühen Bindungsgeschehen ausdrückt und ein Leben lang in unterschiedlichen Beziehungen sowohl einen Widerhall wie auch eine eigene Prägung erhält. Das, was Liebe ausmacht, dehnt sich auch aus auf die Liebe zum Beruf, zur Musik und zu allem, was eine nachhaltige innere Berührung und ein Berührt-Werden erlaubt.
Menschen mit Demenz verlieren ihre kognitiven Fähigkeiten, ihren Orientierungssinn und Teile ihres Erinnerungsvermögens, nicht aber ihre Fähigkeit zu fühlen und damit die Befähigung, liebevolle Gefühle zu hegen. Gleichzeitig sind sie in ganz besonderem Maße darauf angewiesen, sich als geliebt, berührt, gesehen und wahrgenommen zu erleben – trotz ihrer und mit ihren Einschränkungen und in dem, was sie ausmacht und was unauslöschlich ist.
Arbeiten: