Metallstadt - Abraham Merritt - E-Book

Metallstadt E-Book

Abraham Merritt

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Beschreibung

Nur mit seinem chinesischen Diener unternimmt der (dem Leser schon aus Abraham Merritts Roman ›Der Mondteich‹ bekannte) Botaniker Dr. Goodwin eine Expedition, um die Flora des zentralasiatischen Berglandes zu erforschen. In einem nur durch einen tunnelartigen Zugang erreichbaren Hochtal stoßen sie auf eine uralte Straße, eine verfallene Festung – und auf die Geschwister Ruth und Martin Ventnor. Die beiden befinden sich auf der Flucht vor Männern eines rätselhaften Bergstammes, die die persische Sprache von vor über 2000 Jahren sprechen. Plötzlich erscheint eine stolze Schöne, die sie in ein gewaltiges Tal geleitet, in dem eine 1500 Fuß hohe, aus purem Metall bestehende Stadt aufragt – Schauplatz von Leidenschaft und lebensgefährlichen Abenteuern. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 469

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Abraham Merritt

Metallstadt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger

FISCHER Digital

Inhalt

Bibliothek der phantastischen Abenteuer [...]Die HauptpersonenPrologI Das Tal des blauen MohnsII Das Zeichen im FelsIII Ruth VentnorIV Metall mit einem GehirnV Der ZermalmerVI Norhala von den BlitzenVII Gestalten im NebelVIII Die Trommeln des DonnersIX Das FlammenportalX »Du Hexe, gib mir meine Schwester zurück!«XI Der MetallkaiserXII »Ich will dir wieder Frieden geben!«XIII Die Stimme aus der großen LeereXIV »Frei! Aber ein Monstrum!«XV Das Haus von NorhalaXVI Bewußtes Metall!XVII YurukXVIII Zur Senke der StadtXIX Die lebende StadtXX Vampire der SonneXXI Metallische PhantasmagorieXXII Die Halle der EntstehungXXIII Yuruks VerratXXIV RuszarkXXV CherkisXXVI Norhalas RacheXXVII »Die Trommeln des Schicksals«XXVIII Ruths RasereiXXIX Norhalas UntergangXXX Durchgebrannt!XXXI Schlacke

Bibliothek der phantastischen Abenteuer Herausgegeben von V. C. Harksen

Die Hauptpersonen

Dr. Walter Goodwin

amerikanischer Naturforscher, der in fernen Ländern seltene Pflanzen sucht und phantastische Abenteuer findet

Dick Drake

ein junger Amerikaner auf Alleingang in Zentralasien

Martin Ventnor

Ruth Ventnor

ein amerikanisches Geschwisterpaar auf Jagdexpedition im Hindukusch

Norhala

ein geheimnisvolles Mädchen von königlicher Abkunft aus altpersischem Geschlecht

Yuruk

ein boshafter Eunuch, ihr Diener

Cherkis

Abkömmling altpersischer Krieger, grausamer Usurpator der verborgenen Stadt Ruszark

Der metallene Kaiser

Herr der Metallstadt, Norhalas Beschützer, ein unirdisches Wesen

Der Hüter der Kegel

Rebell gegen den Kaiser, ebenfalls ein unirdisches Wesen

Prolog

Bevor ich den folgenden Bericht in Händen hielt, hatte ich Dr. Walter T. Goodwin, seinen Autor, noch nie zu Gesicht bekommen.

Nachdem das Manuskript, das seine Abenteuer in den prähistorischen Ruinen von Nan-Matal, einer Insel der Karolinen, beschreibt, mir durch den Internationalen Wissenschaftlerverband zur Durchsicht, Überarbeitung und volkstümlichen Aufbereitung zur Verfügung gestellt worden war, hatte Dr. Goodwin Amerika wieder verlassen. Er erklärte dazu, er stünde immer noch unter dem Eindruck der Erlebnisse in der Südsee, leide zu sehr an Depressionen, um für Rückfragen oder eine sonstige Zusammenarbeit zur Verfügung zu stehen, die unweigerlich Erinnerungen an die wecken würden, die er so sehr liebte und von denen er aller Wahrscheinlichkeit nach für immer getrennt war.

Wie ich erfuhr, hatte sich Dr. Goodwin in einen entlegenen Teil Asiens begeben, um dort seinen botanischen Studien nachzugehen. Man mag sich daher meine große Überraschung vorstellen, als der Präsident des Wissenschaftlerverbands mich eines Tages benachrichtigte, ich möge Dr. Goodwin zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Ort treffen.

Durch meine lange Arbeit an den MONDTEICH-Papieren hatte ich mir natürlich in Gedanken ein Bild vom Autor gemacht. Ich habe auch seine botanischen Fachbücher gelesen, die ihn weit über alle seine amerikanischen Fachkollegen erhoben, und die dort enthaltene amüsante Mischung aus außerordentlich sachlichen und genauen Beobachtungen und minuziös akkuraten, gleichwohl poetischen Beschreibungen hatten mein Bild von einer eigentümlichen, aber besonderen Persönlichkeit nur vervollkommnet. Als ich ihm dann gegenüber stand, gratulierte ich mir im stillen dafür, ein so zutreffendes Bild gezeichnet zu haben.

Der Mann, den mir der Präsident des Verbands vorstellte, war kräftig, gerade gewachsen, jedoch etwas kleiner als der Durchschnitt. Er hatte eine breite und eher niedrige Stirn, die mich ein wenig an den verstorbenen Magier der Elektrizität, Dr. Steinmetz, erinnerte. Unter den waagrechten Brauen leuchteten klare, nußbraune, listige, weise und auch humorige Augen. Augen, wie sie sowohl zu einem Tatmenschen wie auch zu einem Träumer gepaßt hätten.

Ich schätzte ihn kaum älter als vierzig. Der kurz getrimmte, spitz zulaufende Bart konnte das feste Kinn und den geraden Mund nicht verbergen. In seinem dichten, schwarzen Haar fanden sich weiße Sprenkel. Dünne Streifen und kleine Punkte aus glänzendem Silber, die merkwürdig metallisch leuchteten.

Sein rechter Arm hing in einem straffen Verband vor der Brust. Als er mir die Linke zum Gruß reichte, ging eine überraschende Scheu von ihm aus. Ich drückte seine Finger und wurde von einer eigentümlichen, doch angenehmen Wärme durchströmt. Ein Gefühl wie kribbelnde Elektrizität.

Der Präsident schob Goodwin mit sanfter Gewalt in den Sessel zurück.

»Dr. Goodwin hat sich noch nicht vollständig von gewissen Nachwirkungen seines letzten Abenteuers erholt«, erklärte er mir. »Doch dazu wird er Ihnen später mehr berichten. Möchten Sie, Mr. Merritt, in der Zwischenzeit bitte diesen Bericht lesen?«

Er reichte mir einen Stapel Papiere, und während ich sie studierte, spürte ich Dr. Goodwins Blick auf mir; suchend, abwägend, abschätzend. Als ich meinen Blick wieder hob, entdeckte ich in seiner Miene einen neuen Ausdruck. Alle Scheu war von ihm gewichen, und seine Augen strahlten nichts als Freundlichkeit aus. Offensichtlich hatte ich seinen Test bestanden.

»Akzeptieren Sie, Sir?« fragte der Präsident mit dunkler, herzlicher Stimme.

»Ob ich akzeptiere!« rief ich. »Aber natürlich. Es ist mir nicht nur die größte Ehre, sondern auch ein außerordentliches Vergnügen, mit Dr. Goodwin zusammenarbeiten zu dürfen.«

Der Präsident lächelte.

»In diesem Fall besteht für mich kein Grund«, erklärte er, »noch länger hierzubleiben. Dr. Goodwin hat ein Manuskript dabei, in dem alles steht, was für Sie als Grundlage wichtig sein dürfte. Ich lasse Sie beide nun allein, damit Sie alles Notwendige in Ruhe erörtern können.«

Er verbeugte sich, nahm seinen altmodischen, mit Seide überzogenen Bowler-Hat und seinen drolligen und massiven Ebenholzstock auf und zog sich zurück. Dr. Goodwin wandte sich gleich an mich.

»Ich möchte mit meiner Geschichte an der Stelle beginnen«, erklärte er nach einem Räuspern, »an der ich Richard Drake in dem blauen Mohnfeld traf, das wie ein riesiger Gebetsteppich den grauen Fuß des namenlosen Berges überzieht.«

Die Sonne ging unter, Schatten fielen, die Lichter der Stadt erwachten zum Leben, und während der nächsten Stunden erdröhnte New York im Nachtleben. Aber ich hatte nur Ohren für das bizarre, betäubende Drama einer unbekannten Lebensform, für die unbekannten Wesen, unbekannten Mächte und für das unüberwindliche menschliche Heldentum, die in den verborgenen Tälern und Höhlen eines unerforschten Teils von Asien aufeinandergetroffen waren.

Der Morgen dämmerte bereits, als ich Dr. Goodwin verließ und nach Hause ging. Und dort las ich noch für Stunden in seinem unvollständigen Manuskript, bevor ich es beiseite legte und mich zur Ruhe begab. Es wurde ein sehr unruhiger Schlaf.

A.Merritt

I Das Tal des blauen Mohns

In diesem gewaltigen Schmelztiegel des Lebens, den wir die Welt nennen – und in einem größeren Maßstab das Universum –, liegen die Geheimnisse dicht beieinander und sind zahllos wie die Sandkörner an den Gestaden der Ozeane. Sie hängen aufgereiht an einer unvorstellbaren Kette wie die Sonnen im All. Oder sie kriechen atomisch klein in langer Parade unter dem betrachtenden Auge am Mikroskop. Sie marschieren beständig ungesehen und ungehört neben uns her und rufen uns an, fragen immerzu, warum wir taub sind für ihre Rufe und blind sind für ihre Wunder.

Hin und wieder fällt der Schleier von den Augen eines Menschen, und er sieht … kann von seiner Vision berichten. Doch die, die nicht gesehen haben, ziehen ungläubig die Brauen hoch, wenn sie solches hören, oder verhöhnen den Mann gar. Und wenn seine Vision unerhört groß war, verfolgen die anderen ihn, bis sie ihn vernichtet haben. Denn je größer das Geheimnis ist, desto weniger wollen die Menschen vom Wahrheitsgehalt wissen. Was die geringeren Geheimnisse angeht, so mag ein Mann ruhig Zeugnis davon ablegen.

Natürlich gibt es auch hierfür einen Grund. Das Leben ist ein Ferment, und darauf und darüber wirken ganze Legionen von Kräften ein, die hier etwas hinzufügen und dort etwas fortnehmen, die erkannt werden und unbekannt bleiben, von denen man weiß und von denen man nie hören wird. Und der Mensch, bloß ein Atom in diesem Ferment, klammert sich verzweifelt an alles, was ihm Halt zu geben scheint. Daher begrüßt er nicht den voller Freude, der ihm diesen Halt zu nehmen droht, gar beweist, daß der Betreffende sich nur an einem geknickten Strohhalm festhält, ohne ihm gleichzeitig einen festeren Stock anzubieten.

Die Erde ist ein riesiges Schiff, das seinen Weg durch die unermeßliche Weite des Raumozeans pflügt. Und in dem sind merkwürdige Strudel, verborgene Untiefen und gefährliche Riffe! Und dort blasen die unberechenbaren Winde des Kosmos.

Wenn zu den Reisenden auf diesem Schiff jemand kommt und schreit, daß die Seekarten falsch seien, aber nicht erklären kann, wie sie neu gezeichnet werden sollen, kann man verstehen, daß diesem Rufer nicht die Herzen zufliegen; nein, ganz gewiß nicht! So mag es nicht verwundern, daß die Menschen vorsichtig geworden sind, wenn es darum geht, von Geheimnissen zu künden. Wenn man nun weiß, daß viele die Wahrheit um ein Geheimnis in ihrem Herzen verborgen halten, weiß man auch, daß diese am meisten an das glauben, von dem als einzige zu wissen sie überzeugt sind.

 

Das Fleckchen Erde, an dem ich mein Lager aufgeschlagen hatte, war von einzigartiger Schönheit. So atemberaubend, daß es einem die Brust mit Schmerzen füllte, während gleichzeitig davon eine Ruhe und Beschaulichkeit ausging, die wie ein heilender Nebel alle Schmerzen und alle Pein von einem nahm.

Seit Anfang März war ich unterwegs. Inzwischen war es Mitte Juli geworden. Und ich trank auf dieser einsamen Reise – nicht aus Saumseligkeit oder weil ich eine heimliche Anlage dazu hatte, denn beides ist mir fremd –, sondern um den großen Kummer zu stillen, der mich seit meiner Rückkehr von den Karolinen im letzten Jahr fest im Griff gehalten hatte.

Es besteht kein Grund, hier länger auf diesen dunklen Punkt einzugehen, denn davon ist genug geschrieben worden[*]. Auch will ich hier nicht die Gründe für meine Rastlosigkeit aufzählen, denn die sind all jenen bekannt, die von meinem großen Abenteuer gelesen haben. Auch besteht kein Anlaß, hier in aller Ausführlichkeit die Schritte und Stationen meiner jüngsten Expedition aufzulisten, nach denen ich schließlich in diesem Tal des Friedens angelangt war.

Es mag ausreichen zu erwähnen, daß ich eines Nachts in New York in meinem sicherlich erfolgreichsten Werk blätterte, »Die Mohnpflanzen und Primeln im südlichen Tibet«, das Ergebnis meiner Reisen während der Jahre 1910–11. Dabei kam ich zu dem Schluß, in dieses entlegene, verbotene Land zurückzukehren. Dort, wenn überhaupt irgendwo, mochte ich etwas finden, das mich vielleicht vergessen ließ.

Schon lange wollte ich eine bestimmte Pflanzenform in allen ihren Mutationen studieren, die an den südlichen Hängen des Elburs zu finden sind; Persiens Gebirgskette, die sich von Aserbeidschan im Westen bis nach Chorasan im Osten erstreckt. Von dort aus wollte ich das Vorkommen dieser Gattung im Hindukusch und an den Böschungen des Transhimalajas verfolgen; jenes weitgehend unerforschte Bergmassiv, dessen Gipfel höher sind als die im Himalaja, in dem sich tiefere Schluchten und steilere Hänge finden als sonstwo auf der Welt, und das erstmals von Sven Hedin bereist und mit Namen versehen wurde, als er auf seiner großen Reise nach Lhasa, der Hauptstadt von Tibet, unterwegs war. Danach wollte ich über die Pässe zum See Manasarowar, wo, der Legende nach, der sonderbare, leuchtende Purpur-Lotus wachsen soll.

Ein ehrgeiziges Projekt, ohne Zweifel mit Gefahren mehr als beladen. Aber man sagt, Verzweiflung im Herzen lasse sich am besten durch verzweifelte Wagnisse bekämpfen. Und solange mir keine Nachricht zukam oder ich von allein eine Idee hatte, wie ich zu denen gelangen konnte, die mir so sehr am Herzen lagen, würde nichts und niemand den Schmerz in meinem Herzen stillen können.

Da ich offen gesagt nicht damit rechnete, daß eine solche Botschaft oder Idee kommen würde, scherte ich mich wenig darum, wie meine Expedition ausgehen mochte.

In Teheran hatte ich einen höchst ungewöhnlichen Diener für meine Reise gewonnen. Mehr noch, er war mir Gefährte, Berater und Übersetzer.

Er hieß Chiu-Ming und war Chinese. Seine ersten dreißig Jahre hatte er in dem großen Lama-Kloster Palkhor-Choinde bei Gjangtse, südwestlich von Lhasa, verbracht. Warum er von dort fortging und was ihn nach Teheran verschlagen hatte, habe ich ihn nie gefragt. Für mich war es allerdings ein Glücksfall, daß er Tibet verlassen und ich ihn in Persiens Hauptstadt getroffen hatte. Er erwies sich als der beste Koch im Umkreis von zehntausend Kilometern um Peking.

Fast drei Monate waren wir nun schon unterwegs: Chiu-Ming, ich und zwei Ponys, die mein Gepäck trugen.

Wir waren über Bergstraßen gereist, auf denen einst der Marschtritt der Heerscharen des Darius und der Satrapen widergehallt hatte. Die ausgebauten Straßen der Achaemeniden und die Wege der zahllosen gottgleichen, drawidischen Eroberer, vor denen so viele Völker gezittert hatten.

Wir waren über uralte persische Pfade marschiert; über die Straßen, auf denen die Armeen von Alexander dem Großen tief ins persische Weltreich eingefallen waren; der Staub unter unseren Füßen stammte von den Knochen der Makedonier, der Griechen, der Römer und der anderen Völker des Altertums. Die Asche der flammenden Kriegszüge der Sassaniden … heute festgetreten von einem amerikanischen Botaniker, einem chinesischen Koch und zwei tibetanischen Ponys. Wir waren durch Schluchten gekrochen, deren steile Wände einst das Echo auf das Geschrei der Ephtaliden, der Weißen Hunnen, zurückgeworfen hatten, die ihrerseits den Stolz der Sassaniden gebrochen hatten, bis auch sie vor den einfallenden Turkvölkern in den Staub sanken.

Über die Straßen und Wege von Persiens Stolz, Persiens Scham und Persiens Tod liefen wir vier: zwei Männer und zwei Tragtiere. Vierzehn Tage lang hatten wir keinen Menschen angetroffen, geschweige denn ein Anzeichen menschlicher Siedlung ausgemacht.

Wild gab es in dieser Gegend reichlich; die nötigen Kräuter mochte Chiu-Ming nicht jeden Tag finden, aber an Fleisch mangelte es uns nie. Vor uns erhoben sich etliche mächtige Gipfel.

Wir befanden uns irgendwo dort, wo der Hindukusch in den Transhimalaja übergeht.

An diesem Morgen waren wir aus einem zerklüfteten Engpaß herausgekommen und in dieses verwunschene Tal gelangt. Obwohl es noch früh war, hatte ich hier mein Zelt aufgeschlagen und beschlossen, erst am nächsten Tag weiterzuziehen.

Das Tal war konisch, eine Riesentasse, die mit Ruhe angefüllt war. Ein besonderer Geist schwebte über dem Ort: gelassen, majestätisch und unwandelbar. Die ungetrübte Ruhe, die nach dem Glauben der Burmesen über den Orten liegt, an denen Buddha geschlafen hat.

Am östlichen Ende erstreckte sich die kolossale Böschung des namenlosen Berges, durch dessen Schluchten wir gestern noch gekrochen waren. Auf seinem Kopf saß eine silberne Kappe, die mit blaßgrünen Smaragden verziert war: die Schneefelder und Gletscher des Gipfels. Weit im Westen schloß ein weiterer grauer und ockerfarbener Titan mit seinem immensen Leib das Tal ab. Im Norden und Süden verlief der Horizont zwischen Himmel und Erde in einem Chaos aus Zinnen in allen Formen: gewunden und lang und dünn, wie Kirchtürme, wie Festungstürme oder wie Kuppeldächer. Jede einzelne funkelte wie ein Diadem aus grünem und silbernem Eis und Schnee.

Das Tal war mit einem dicken Teppich aus blauem Mohn bedeckt. Weit und ungebrochen und leuchtend wie der Morgenhimmel im Juni breitete sich die Blütenfläche aus. Kilometer um Kilometer wogten sie sanft im Wind, vom Weg an, den wir gekommen waren, bis zu dem, den wir noch nehmen wollten. Sie nickten, beugten sich zueinander hinab, schienen sich etwas zuzuflüstern, um dann den Kopf wieder zu heben und wie ein dichtgedrängter Schwarm azurblauer, kleiner Elfen etwas keck, aber vollkommen angstfrei in die Gesichter der edelsteinhaft glitzernden Riesen zu sehen, die ringsherum standen, um sie zu beschützen. Wenn eine sanfte Brise durch die Mohnblumen fuhr, kam es einem so vor, als verbeugten sie sich vor ihr wie vor unsichtbaren, eilenden Geistererscheinungen.

Wie ein gewaltiger Gebetsteppich aus Saphir und Seide erstreckte sich das Mohnfeld bis zum grauen Fuß des Berges. Zwischen dem südlichen Rand des Mohns und den dichtgedrängten Gipfeln erstreckte sich eine Reihe von altbraunen, niedrigen Hügeln, die an müde, alte Männer in braunen Roben erinnerten, die sich vor einer Gottheit hingekniet hatten; mit gebeugtem Rücken und den Kopf zwischen ausgebreiteten Armen verborgen, die Handflächen auf dem Boden und die Stirn in den Staub gepreßt; die typische Gebetshaltung der asiatischen Völker.

Ich ertappte mich ständig bei der Vorstellung, sie würden sich erheben. Während ich einmal auf die Hügel starrte, erschien ein Mann auf einer der gebeugten Felsschultern; er tauchte so abrupt, so unvermittelt auf, wie das im sonderbaren Licht dieser Höhenlagen immer wieder zu beobachten ist. Während er stehenblieb und mein kleines Lager absuchte, tauchte mit der gleichen erschreckenden Plötzlichkeit ein beladenes Pony neben ihm auf, das von einem Tibeter geführt wurde. Der erste Mann winkte mit einem Arm und marschierte dann den Hang herunter.

Während er näher kam, studierte ich ihn. Ein junger Mann von sehr großem Wuchs, fast ein Meter neunzig; ein energischer, männlicher Kopf mit dickem, unbezähmbarem Haar; ein gerades, glattrasiertes Gesicht.

»Ich bin Dick Drake«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus. »Eigentlich Richard Keen Drake. Bis vor kurzem noch als Uncle Sams Pionier in Frankreich.«

»Ich bin Dr. Goodwin.« Ich schüttelte freundlich seine Hand. »Dr. Walter T. Goodwin.«

»Der Botaniker Goodwin? Dann sind Sie mir kein Unbekannter!« rief er. »Ich kenne jedes Ihrer Bücher. Mein Vater hat Ihr Werk sehr geschätzt. Sie kennen ihn sicher: Professor Alvin Drake.«

Ich nickte. Das war also Alvins Sohn. Ich wußte, daß der Professor vor einem Jahr gestorben war, kurz bevor ich meine Reise angetreten hatte. Aber was hatte seinen Sohn in diese Wildnis getrieben?

»Sie fragen sich sicherlich, wie ich hierhergelangt bin,« sagte er. »Keine große Geschichte. Als der Krieg zu Ende war, hatte ich den unwiderstehlichen Drang, etwas ganz anderes zu machen. Und mir fiel nichts Abgelegeneres ein als Tibet. Wollte schon immer mal dahin. Also brach ich auf. Entschied mich unterwegs, einen Abstecher nach Turkestan zu machen. Tja, und jetzt bin ich hier.«

Mir gefiel dieser junge Riese auf Anhieb. Ohne Zweifel hatte ich unterbewußt schon lange gespürt, daß mir ein weißer Reisebegleiter fehlte. Während ich ihn in mein kleines Lager führte, fragte ich mich, ob er wohl Lust hatte, sich mir anzuschließen und sein Glück zu wagen.

Ich kannte das Werk von Professor Drake sehr gut. Obwohl man von Alvin Drake – einem etwas zu trockenen, gewissenhaften und arbeitsbesessenen Mann – nie erwartet hätte, einen solchen Hünen von Sohn zu zeugen, sagte ich mir, daß die Vererbung, ähnlich dem Herrn, mitunter auf mysteriösen Wegen ihre Wunder vollbringt.

Dick hörte fast ehrfürchtig zu, wie ich Chiu-Ming instruierte, was ich gern zum Abendbrot hätte. Der Junge verfolgte mit freudigen Augen, wie der Chinese sich gleich darauf über seine Töpfe und Pfannen hermachte.

Wir redeten nicht viel, zumeist Oberflächliches, bis das Mahl zubereitet war. Wir tauschten Neuigkeiten und Gerüchte aus, wie es Reisende zu tun pflegen, die sich an so abgelegenen Orten wie diesem hier begegnen. Die Begeisterung des jungen Drake wuchs mit jedem Bissen von dem, was der Chinese auf kunstvolle Weise zusammengestellt hatte.

Endlich seufzte der Junge und zog seine Pfeife aus der Tasche.

»Ein Wunder, ein echtes Wunder von einem Koch. Wo haben Sie ihn aufgetrieben?«

Kurz erzählte ich es ihm.

Dann verfielen wir in Schweigen. Von einem Moment auf den anderen tauchte die Sonne hinter der Flanke des Steinriesen unter, der den westlichen Ausgang des Tals bewachte. Rasch wurde es dunkel, und eine Flut messerscharfer Schatten senkte sich über uns. Das Vorspiel zu dem Wunder von überirdischer Schönheit, das man nirgendwo anders auf der Welt zu sehen bekommt: den tibetischen Sonnenuntergang.

Wir richteten erwartungsvoll den Blick nach Westen. Eine leichte, kühle Brise wehte wie ein Vorbote von den steilen Gipfeln herab, flüsterte den nickenden Mohnblumen etwas zu, seufzte leise und war dann vergangen. Die Blumen standen jetzt still. Hoch über unseren Köpfen schrie traurig ein heimkehrender Milan.

So als hätte der Vogel damit ein Signal gegeben, stürmten jetzt Reihe um Reihe Zirruswolken in den blaßblauen westlichen Abendhimmel und stießen ihre Köpfe in den Pfad der untergehenden Sonne, wobei sich ihre Farbe von getupftem Silber in mattes Rosa verwandelte, das sich bis ins Dunkelrote verdichtete.

»Die Drachen des Himmels trinken das Blut des Sonnenuntergangs«, murmelte Chiu-Ming.

Als habe sich eine gigantische Kristallkugel über den Himmel gesenkt, veränderte sich dessen Blau abrupt in klares und leuchtendes Bernstein, um sich ebenso rasch in helles Violett zu verwandeln; bis schließlich weiches grünes Licht durch das Tal pulsierte.

Unter ihm schienen die Felshänge bis auf Hügelhöhe abgeflacht und eingeebnet zu werden. Sie glühten auf, und man glaubte mit einemmal immense Scheiben von blaßgrüner Jade vorspringen zu sehen; durchscheinende, leuchtende Gebilde, hinter denen ein Kranz von kleinen Sonnen schillerte.

Das Licht verging, und Roben von tiefem Amethyst senkten sich über die mächtigen Schultern der Gipfel. Nun löste sich von allen Schnee- und Eiskappen, von Minaretten, Türmchen und Kuppeln ein wirres, breites Bündel von Flammen in der Farbe von Pfauenfedern; ein fliegendes Heer von irisierender, prismatischer Leuchtkraft, ein geordnetes Chaos von ineinander verwobenen Regenbögen.

Große Ringe und kleine Ringe, die sich miteinander verknüpften und sich übereinanderschoben, bis sie das Tal mit einem Wall von unfaßbarer Leuchtpracht umgeben hatten; als wenn ein Gott des Lichts zwischen den ewigen Felsen erschienen wäre und die strahlenden Seelen gerufen hätte.

Durch den sich verdunkelnden Himmel sauste ein dünner, rosafarbener Lichtstrahl. Jener absolut unbegreifliche, pure Strahl, dessen Erscheinen dem Betrachter regelmäßig Atemnot bereitet und ihn mit Ekstase erfüllt. Der Strahl, den die Tibeter Ting-pa nennen. Einen winzigen Augenblick lang zeigte der rosafarbene Finger nach Osten, bog sich durch und teilte sich in sechs glitzernde Bänder, die sich auf den östlichen Horizont zu bewegten, wo ein nebelhafter, pulsierender Glanz hochstieg, um sie in sich aufzunehmen.

Während ich noch dieses Wunder genoß, hörte ich Drake neben mir keuchen. Und meiner Kehle entrang sich ein gleicher Laut.

Die sechs Bänder schwankten, bewegten sich immer rascher von einer Seite zur anderen und verbreiterten dabei die Abstände zueinander; so als würde sich ihre verborgene Quelle wie ein Pendel hin und her bewegen.

Schneller und schneller schwenkten die Lichtbänder und zerbrachen dann; wie wenn eine unsichtbare Riesenhand hinaufgefahren und sie aus der Luft abgebrochen hätte!

Einen Moment lang zuckten die Enden der Bänder ziellos durch die Luft, bogen sich dann nach unten und fuhren rasch in das Gewirr der dichtgedrängten Gipfel im Norden hinab. Kurz darauf war nichts mehr von ihnen zu sehen, und über das Tal senkte sich die Nacht.

»Großer Gott!« flüsterte Drake. »Das sah ja so aus, als hätte jemand diese Lichtbänder zerrissen … wie man einen Faden abreißt!«

»Mir kam es auch so vor!« Ich kämpfte gegen meine Verwirrung an. »Aber in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nie gesehen«, schloß ich, aber es klang wie Gebrabbel.

»Es kam mir so vor, als seien die Bänder absichtlich abgetrennt worden«, flüsterte der Junge. »Als habe etwas vorsätzlich in die Luft gegriffen, an den Lichtbändern gezerrt, sie abgerissen und die Enden wie Weidenruten nach unten gezogen.«

»Dort oben hausen Teufel und Dämonen!« raunte Chiu-Ming.

»Nichts weiter als ein magnetisches Phänomen.« Ich ärgerte mich sehr über meine eigene Panik. »Die Bewegung von Licht kann durch Magnetfelder abgelenkt werden. Natürlich, nichts mehr und nichts weniger haben wir soeben miterlebt.«

»Ich bin mir da nicht so ganz sicher.« Drake klang sehr zweifelnd. »Es muß schon ein gewaltiges Magnetfeld vorhanden sein, um so etwas zu bewirken … einfach unvorstellbar.« Er kehrte zu seiner ersten Idee zurück. »Es kam mir so … so verdammt vorsätzlich vor.«

»Teufel und Dämonen …« murmelte Chiu-Ming.

»Was ist das?« Drake packte mich am Arm und zeigte nach Norden. Eine tiefere Schwärze war dort entstanden, während wir noch über das Phänomen der Lichtbänder debattiert hatten. Eine schwarze Fläche, von der sich die Gipfel abhoben; scharfe schwarze Ränder, in denen es matt leuchtete.

Eine titanische Lanze aus nebligem grünem Feuer fuhr aus der Schwärze und stieß mit der Spitze ins Herz des Zenits. Ihr folgten zahllose weitere funkelnde Lichtspeere, und nun erschien die Schwärze wie eine ebenholzschwarze Hand, die tausend Speere aus flimmerndem Flammenschein schwang.

»Die Aurora«, sagte ich.

»Muß aber eine gewaltige Aurora sein«, grübelte Drake, während er fasziniert in den Himmel starrte. »Ist Ihnen der große Sonnenfleck aufgefallen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Der größte, den ich je gesehen habe. Er ist mir zum erstenmal heute morgen aufgefallen. Kam mir so vor wie ein Aurora-Entzünder, dieser große Fleck. Ich sagte Ihnen doch schon … Sehen Sie das!« brüllte er.

Die grünen Speere waren zurückgefallen. Die Schwärze zog sich zusammen, als wollte sie sich neu formieren, und sandte dann pulsierend Wogen von Strahlung aus, in denen Schwärme von blitzenden Korpuskeln wie ungezählte Horden von Feuerfliegen hin und her schossen.

Höher wogten die Wellen – phosphoreszierendes Grün und schillerndes Violett, unheimliches Kupfergelb, metallisches Safran und glitzerndes Aschrosa –, schwankte, zersplitterte und formte einen gigantischen, glitzernden und marschierenden Leuchtvorhang.

Ein immenser Lichtkranz entstand am Saum des sich bewegenden, flackernden Vorhangs. Zuerst nur ein nebliges Leuchten, traten seine Ränder bald klar hervor, bis der Kranz auf dem roten Nordhimmel wie ein Ring aus kaltem Feuer hing. Und rings herum schäumte die Aurora, hob sich und drehte sich.

Auf diesen Ring sausten von allen Seiten die majestätischen Falten zu, zogen sich dort zusammen, drehten sich, schwappten daran wie Schaum aus einem großen Suppentopf und ergossen sich in den leuchtenden Kranz, so als sei er der Eingang zur Höhle des Windgotts Aeolus, der dort sitzt und die Winde, die über die Erde wehen, auspustet und wieder einatmet.

Ja, in diesen Ringmund flog die Aurora und ergoß sich in Kaskaden auf die Erde. Plötzlich kroch rasch ein Nebel über den ganzen Himmel und verbarg den unfaßbaren Katarakt unter sich. »Magnetismus?« murmelte Drake. »Ich denke, da steckt noch etwas anderes dahinter.«

»Die Erscheinung kam dort hoch, wo das Ting-pa zerrissen und nach unten gezogen wurde«, antwortete ich.

»Vorsätzlich«, sagte Drake, »mit teuflischer Vorsätzlichkeit. Die Erscheinung hämmerte auf alle meine Nerven ein, wie eine Metallklaue. Vorsätzlich und mit Absicht. Nein, hinter diesem Phänomen verbirgt sich ein Intelligenzwesen.«

»Ein Intelligenzwesen? Drake, hören Sie, was muß das für eine Intelligenz sein, die Sonnenstrahlen zerreißen und eine Aurora aufsaugen kann?«

»Wenn ich das wüßte …«, antwortete er.

»Teufel«, krächzte Chiu-Ming. »Die Teufel, die schon Buddha trotzten und seitdem an Stärke gewonnen haben …«

»Wie eine Metallklaue!« schluckte Drake.

Aus dem Westen ertönte ein Geräusch. Zuerst nur ein Wispern, dann ein wildes Rauschen, ein langgezogenes Wehklagen und schließlich ein Krachen. Ein starkes Licht fuhr durch den Nebel, glühte über dem Tal auf und verging. Wieder das Heulen, das Rauschen, das Wispern, doch diesmal in umgekehrter Reihenfolge.

Endlich senkten sich Stille und Dunkelheit herab und umarmten das Tal des blauen Mohns.

IIDas Zeichen im Fels

Der Morgen brach an. Drake hatte lang und tief geschlafen. Aber ich, der ich nicht über seine jugendliche Spannkraft verfügte, hatte viele Stunden wach gelegen, während mir die beunruhigendsten Gedanken durch den Kopf gingen. Ich war gerade erst in einen leichten Schlummer gesunken, als sich die ersten Sonnenstrahlen im Osten zeigten.

Während wir das Frühstück zu uns nahmen, kam ich sofort zum Thema, das aus der ersten Sympathie für Drake zu einem starken Wunsch gewachsen war.

»Mein Junge«, sagte ich, »wohin wollen Sie nun weiter?«

»Am liebsten würde ich mit Ihnen weiterziehen«, lachte er. »Ich bin frei wie ein Vogel und gehe dorthin, wohin der Wind mich weht. Ich denke, Sie könnten gut einen Reisegefährten gebrauchen, der Ihnen dabei hilft, ein Auge auf den Chinesen zu halten, damit der sich nicht bei Nacht und Nebel dünne macht.«

Die Vorstellung, ohne den Koch auskommen zu müssen, schien für ihn höchste Besorgnis bereitzuhalten.

»Fein!« rief ich hocherfreut und reichte ihm meine Hand. »Ich habe vor, die Höhenzüge zu überqueren und dann zum Manasarowar-See vorzustoßen. Dort findet sich eine höchst eigentümliche Flora, die ich gern studieren möchte.«

»Mir gefällt es überall«, antwortete er.

Wir besiegelten unsere Partnerschaft mit einem Handschlag und waren bald schon auf dem Weg zum westlichen Tor des Tals. Unsere Diener folgten uns in einigem Abstand. Kilometer um Kilometer wanderten wir durch den blauen Mohn und diskutierten über die rätselhaften Erscheinungen der vergangenen Nacht.

Im hellen Licht des Tages hatten diese Phänomene viel von ihrem Schrecken verloren. Unter einem so überwältigenden Sonnenschein war kein Platz für Mysterien oder Bedrohungen. Der lachende Saphirboden breitete sich ungetrübt immer weiter vor uns aus.

Flüsternde und spielerische Brisen kamen von den Hängen und hielten einen Moment inne, um mit den nickenden Blumen einen Schwatz zu halten. Finkenschwärme rasten schimpfend durch die Lüfte und zankten sich mit den kleinen Weidenzeisigen, den Chi-u-teb-tok. Diese schienen die anmutig herabhängenden Ruten, die sich bis hinab zu dem lachenden Bach bogen, für ihr festes Lehen zu halten. Schon eine ganze Stunde begleitete uns der kichernde und gurgelnde Wasserlauf wie ein lieber Kamerad.

Ich hatte erklärt – und mich damit fast selbst überzeugt –, daß die Erscheinungen, deren Zeugen wir geworden waren, nichts anderes als Eigentümlichkeiten der Atmosphäre in diesem Hochland gewesen seien. Und diese Atmosphäre war so einzigartig, daß der Phantasie hier in bezug auf Lichtphänomene keine Grenzen gesetzt waren. Leider ließ Drake sich von meinen Ausführungen nicht überzeugen.

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er, »und ich kenne mich auf diesem Gebiet auch etwas aus. Übereinanderliegende wärmere Luftschichten, die für das Phänomen der gebogenen Lichtstrahlen verantwortlich sein könnten. Luftwirbel in höheren Schichten, die den Effekt der eingefangenen Aurora hervorgerufen haben könnten. Ich gebe zu, daß dies mögliche Erklärungen sein könnten. Ich gebe sogar zu, daß sie recht wahrscheinlich sind, aber verdammt noch mal, Doc, ich kann einfach nicht an simple meteorologische Erklärungen glauben! Zu deutlich hatte ich das Gefühl, eine bewußte Kraft habe da ihre Hand im Spiel gehabt. Eine Wesenheit, die genau wußte, was sie da tat, und auch einen Grund dafür hatte!«

Mittlerweile war es Nachmittag geworden.

Unter dem Zauber des Tals hatten wir uns nicht sonderlich beeilt. Der Berg im Westen war nah, und der Mund der Schlucht, durch die wir hinausgelangen würden, lag deutlich vor uns. Es war nicht anzunehmen, daß wir sie vor der Dämmerung erreichen konnten. Drake und ich kamen überein, noch eine Nacht in diesem friedlichen Tal zu verbringen. Eine Weile darauf, während ich tief in Gedanken versunken vorwärts schritt, erschreckte mich ein Ruf von meinem jungen Freund. Er starrte auf eine Stelle, die ein paar hundert Meter zu seiner Rechten lag. Ich folgte seinem Blick.

Einen knappen Kilometer entfernt ragten die großen Klippen hoch. Zu irgendeinem Zeitpunkt in ferner Vergangenheit war es dort zu einem enormen Felssturz gekommen. Im Lauf der Zeit war aus dem Geröll ein sanfter Hang geworden, der zum Talboden hin auslief. Weiden und Hexenerlen, Krüppelbirken und Pappeln hatten darauf Wurzeln gefaßt und ihn schließlich wie ein grüner Mantel bedeckt, bis ihre dichtgedrängte Vorhut, die einen gezackten Halbkreis bildete, von den blauen Armeen des Mohns zurückgehalten wurde; das einzige Merkmal, um den Übergang von Tal zu Hang auszumachen.

Im Zentrum des Hangs, von seiner Mitte bis hinunter zu den Blumenfeldern, zeigte sich ein kolossaler Eindruck im Stein.

Grau und braun hob er sich vom Grün und Blau der Umgegend ab. Eine rechteckige Fläche von zehn Metern Breite und sechzig Metern Länge. Der Absatz war leicht gebogen, und von seinem unteren Ende gingen wie Klauen vier schlanke Dreiecke ab; bildeten eine steinerne Aurora wie die vierundzwanzig Spitzen eines zehnzackigen Sterns.

Ohne Zweifel handelte es sich hier um einen Fußabdruck. Aber was mußte das für ein Wesen sein, daß einen solchen Abdruck hinterließ?

Ich rannte zu dem Hang, und Drake eilte vor mir her. Erst am unteren Ende, dort wo sich die Dreiecke befanden, blieb ich stehen. Wenn es sich bei diesem Gebilde wirklich um einen Fußabdruck handelte, dann gingen die Klauen direkt vom Rand ab.

Der Abdruck war noch frisch. An den Rändern zeigten sich abgerissene Büsche und zersplitterte Baumstämme, deren weißes Holz anzeigte, wo sie wie von einem Türkensäbel durchtrennt worden waren.

Ich trat auf den Abdruck. Er war an der Oberfläche so glatt, als sei jemand mit einer Planierraupe darüber gewalzt. Ich bückte mich und starrte voller Unglauben auf das, was sich meinen Augen dort bot. Erde und Stein waren zermahlen und zusammengepreßt zu einer glatten, mikroskopisch feinen und diamantharten Fläche. Und darin waren Mohnblumen noch deutlich erkennbar wie Fossilien eingebettet. Ein Zyklon vermag es, Sträucher und kleine Bäume herauszureißen und sie, ohne sie dabei zu zermanschen, durch ein ein Zoll dickes Brett zu stoßen. Aber was mußte das für eine Kraft sein, die etwas so Zierliches wie Blütengefäße wie eine Intarsienarbeit in Stein pressen konnte?

Plötzlich fielen mir das Heulen und das Krachen der letzten Nacht wieder ein; und auch der unheimliche Schein, in den wir plötzlich getaucht worden waren, als der Nebel hochstieg, um die eingekesselte Aurora zu verschlucken.

»Das war es, was wir gehört haben!« sagte ich. »Diese merkwürdigen Geräusche … das hier hat sie verursacht!«

»Der Fuß des Shin-je!« Chiu-Ming zitterte am ganzen Leib. »Der Fürst der Hölle hat hier seinen Fußabdruck hinterlassen!«

Ich übersetzte Drake die Worte des Chinesen.

»Hat der Fürst der Hölle denn nur einen Fuß?« fragte der Junge. »Er übersteigt mit einem Schritt die Berge«, antwortete der Koch. »Auf der anderen Seite des Bergs finden wir sicher den zweiten Abdruck. Shin-je ist hier gewandelt und hat an diesem Hang seinen Fußabdruck hinterlassen.«

Wieder übersetzte ich.

Drake warf einen abschätzenden Blick auf die Klippen.

»Etwa sechshundert Meter«, grübelte er. »Wenn Shin-je so ähnlich gebaut sein sollte wie wir, dürfte das in etwa hinkommen. Bei der Größe des Fußes müßte der Satan ein Bein von sechshundert Metern Länge haben. Doch, damit könnte er den Hügel dort mit einem Schritt übersteigen.«

»Sie wollen uns wohl foppen?« fragte ich konsterniert.

»Himmel und Hölle!« rief er da. »Hatte ich denn Tomaten vor den Augen? Das ist kein Fußabdruck. Wie sollte es auch! Sehen Sie doch nur, wie mathematisch exakt die Ränder ausgestanzt sind … wie von einem Stempel oder Siegel …«

»Ja, die ganze Zeit über mußte ich schon darüber nachdenken, woran mich der Abdruck erinnert. Wie von einem Siegel. Aber was für eine unfaßbare Kraft muß ihn in den Fels gestoßen haben? Wie das Siegel eines Riesen, der damit anzeigen will, daß hier sein Reich beginnt. Ein Siegel …«

»Aber warum?« fragte Drake. »Was für ein Sinn sollte dahinter stecken …« Er schwieg kurz, dann: »Wir sollten uns wohl eher fragen, wie eine solche Macht entstehen konnte und wie sie hierhergelangt ist. Bis auf den Hang hier ist dieser Abdruck nirgendwo sonst zu entdecken. Alle Büsche und Bäume, alle Mohnblumen und alle Grashalme stehen ringsherum genauso da, wie man es von ihnen erwarten sollte.

Wie gelangte dieses Wesen hierher und wie kam es wieder fort, ohne mehr als einen Abdruck zu hinterlassen? Verdammt, Chiu-Mings Erklärung klingt auch nicht unwahrscheinlicher als jede andere, die mir einfällt!«

Ich sah mich um. Drake hatte recht. Bis auf den Abdruck hier ließ sich nirgends auch nur das geringste Anzeichen für etwas Ungewöhnliches ausmachen.

Aber dieses Zeichen auf dem Hang reichte allein schon völlig aus, einem schlaflose Nächte zu bereiten.

»Ich würde vorschlagen, unsere Schritte etwas zu beschleunigen«, erklärte er und schien wohl ebenso beunruhigt zu sein wie ich, »damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit den Talausgang hinter uns gebracht haben. Ich habe gern Menschen um mich, aber ich verspüre nicht die geringste Lust, mich wie eine Blume im Poesiealbum in den Fels pressen zu lassen.«

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als wir vom Tal in den Paß gelangten. Wir kamen ein bis zwei Kilometer voran, bis uns die Dunkelheit zwang, das Nachtlager aufzuschlagen. Der Weg war schmal, die Wände standen vielleicht dreißig Meter auseinander. Aber diese Enge machte uns keine Sorgen; im Gegenteil, ihre Festigkeit und Nähe vermittelte uns Geborgenheit.

Nachdem wir eine Nische gefunden hatten, die groß genug war, unsere ganze Karawane aufzunehmen, machten wir uns für die Nacht bereit. Ich für meinen Teil war gewillt, mich hier zur Ruhe zu legen, mochte der Morgen bringen, was er wollte. Wir nahmen nur Brot und Tee zu uns und suchten uns dann hundemüde jeder ein Plätzchen auf dem Felsboden. Ich schlief gut und wachte nur ein- oder zweimal von Chiu-Mings Stöhnen auf. Offenbar hatte er wenig angenehme Träume. Ob in dieser Nacht wieder das Schauspiel der gefangenen Aurora geboten wurde, wußte ich nicht, und ich machte mir auch nicht die geringsten Gedanken darüber. Mein Schlaf wurde von keinen bösen Träumen geplagt.

IIIRuth Ventnor

Die ersten Sonnenstrahlen drangen in unsere Nische und weckten uns. Eine Rebhuhnfamilie stolzierte zu nahe vorbei, um ungeschoren davonzukommen. Drei von ihnen fielen unseren Gewehren zum Opfer. Wir frühstückten reichlich und waren kurz darauf wieder auf dem Weg durch die Schlucht.

Der Weg führte steil und kontinuierlich nach unten, und so war ich nicht überrascht, als wir nach einer Weile auf die ersten Anzeichen subtropischer Vegetation stießen. Riesige Rhododendren und Baumfarne wechselten sich mit imponierenden Kopek und hartem Bambus ab. Wir fügten unseren Vorräten einige Schneehühner hinzu: Die Tiere schienen sich allzuweit aus ihrer sonstigen Umgebung entfernt zu haben. Sie flogen von den Hügeln und Hängen in die Schlucht hinab, um hier vielleicht ein paar Leckerbissen finden zu können.

Wir marschierten den ganzen Tag lang, und als wir am Abend das Nachtlager aufgebaut hatten, waren wir so erschöpft, daß wir sofort in den Schlaf sanken. Eine Stunde nach dem Sonnenaufgang waren wir schon wieder unterwegs. Wir machten nur eine kurze Mittagspause und liefen dann weiter.

Kurz vor vierzehn Uhr sahen wir zum erstenmal die Ruinen.

Die steil aufragenden, mit dichtem Grün behangenen Wände des Canyons waren schon seit einiger Zeit beständig näher gerückt. Das Stück Himmel zwischen ihren oberen Rändern ähnelte einem märchenhaften Fluß, der verwirrend schimmerte. Jede Bucht und Landzunge an seinen Ufern war von einem bunten Glitzern umrandet und erinnerte an perlfarbene Strände.

Und als wenn wir in diesen Himmelsstrom eintauchen würden, ließ das Tageslicht immer mehr nach. Unmerklich wurde es dunkler. Geisterhafte Beryllschatten tauchten auf, dazwischen Schleier von durchsichtigem Aquamarin und helle Nebel von grünblauem Chrysolit.

Schwächer, dämmriger wurde das Licht, ohne jedoch auch nur einen Moment lang das kristalline Glitzern zu verlieren. Nun war aus dem Fluß über unseren Köpfen ein Bach geworden, dann nur noch ein Rinnsal, und endlich war er versiegt. Wir gelangten in einen Tunnel aus Farnwänden und Farndach, von denen braungelbe Orchideen wie Girlanden hingen, zwischen denen karminrote Funghi und goldenes Moos funkelten. Nach einigen Schritten standen wir unvermittelt im strahlenden Sonnenlicht.

Vor uns breitete sich ein weites, rundes Tal wie eine riesige Schüssel aus, deren Wände die ringsum dicht stehenden Hügel bildeten. Es war glatt und leicht nach unten gewölbt, so als habe der Daumen eines Riesen hier seinen Abdruck hinterlassen. Im zweiten Glied erhoben sich die Schneegipfel und wirkten ganz so, als wollten sie in das Tal hineinspähen. Ich maß die Senke mit meinem Blick ab: Sie hatte einen Durchmesser von anderthalb Kilometern und verfügte über drei Ausgänge: einen wie eine Spalte im Nordosten, den Tunnelausgang, durch den wir gerade gekommen waren, und schließlich einen steilen Pfad, der sich über die Böschung im Westen bis nach Norden aus dem Tal hinauswand, sich eng an den ockerfarbenen Fels klammerte und endlich über irgendeiner Hügelschulter verschwand.

Eine befestigte Straße, so eindeutig als solche zu erkennen, als würde sie jetzt noch von den menschlichen Händen künden, die sie einst in diese Hügel und Berge gehauen hatten. Eine uralte Straße, die von der Last der ungezählten Jahre unvorstellbar müde geworden war.

Aus der Senke erhob sich die blinde Seele der Einsamkeit zum Gruß.

Nie zuvor hatte ich solche Einsamkeit verspürt, wie sie hier über den Rand der grünen Schüssel kroch. Eine fast greifbare Einsamkeit, die aus einem Reservoir des Kummers gespeist wurde. Ein See der Verzweiflung …

Etwa in der Mitte des Tals begannen die Ruinen. Und auch von ihnen ging eine unheimliche Aura aus. Sie duckten sich in zwei gebeugten Reihen vom Boden die Hänge hinauf und drängten sich in einem dichten Haufen an die Klippen. Von diesem lief eine gebogene Reihe über den südlichen Rand der Senke entlang.

Eine Flucht zerbröckelnder, breiter Stufen führte zu einem Felsvorsprung hinauf, auf dem sich eine zerfallene Festung erhob.

Die Ruinen erinnerten auf unnachahmliche Weise an eine alte Frau, die vor langer Zeit hingefallen war und seitdem alle viere von sich gestreckt teilnahmslos und ohne Hoffnung auf Hilfe am Fuß der Klippen lag. Die zusammengedrängten Reihen waren die Beine, der dichte Haufen der Leib und die obere Reihe ein ausgestreckter Arm. Über dem Hals der Treppe war die runde alte Festung mit den beiden verwitterten Öffnungen an der Nordseite wie ein alter, gebleichter und runzliger Kopf, der dämmernd vor sich hin starrte.

Ich warf einen Blick zu Drake. Der Bann dieser Senke war auch über ihn gekommen, wie ich an seinem angespannten Gesicht bemerkte. Der Chinese und der Tibeter hatten große Angst und murmelten unablässig vor sich hin.

»Was für ein Ort der Hölle!« wandte sich Drake an mich.

Der Hauch eines Grinsens verdrängte die Anspannung von seiner Miene. »Aber wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Ich gehe lieber weiter als zurück. Was meinen Sie?«

Ich nickte und war erstaunt darüber, wie es mir gelang, meine Bedrückung zu beherrschen. Wir hielten die Gewehre im Anschlag, als wir über den Rand in die Senke gelangten. Dicht hinter uns drängten sich die beiden Diener und die Ponys.

Die Senke war nicht sehr tief. Wir marschierten über die Reste eines alten Wegs zum grünen Tunnel, und so war der Abstieg keineswegs mühsam. Hier und da ragten neben dem Pfad umgestürzte große Blöcke auf. Ich vermeinte, auf ihnen so etwas wie verwischte Spuren von Einmeißelungen zu erkennen. Einmal die Vorstellung, einen Drachen mit weit aufgesperrtem Maul zu sehen, das mit pfeilartigen Fängen bestückt war, ein anderes Mal die Umrisse eines schuppigen Leibs mit gewaltigen Fledermausschwingen.

Nun erreichten wir den ersten zerfallenen Steinhaufen der Reihen, die sich bis ins Tal hinab erstreckten.

Ich verlor fast die Besinnung, fiel gegen den Jungen und mußte mich an ihm festhalten.

Ein Strom von vollkommener Hoffnungslosigkeit stürmte auf uns zu, umtoste uns, bildete Strudel, in denen wir zu ertrinken drohten, und griff mit geisterhaften Fingern, von denen Verzweiflung dick und seimig troff, nach unseren Herzen. Die Flut schien aus jedem einzelnen der Ruinenhaufen gespeist zu werden; Tausende Rinnsale der Depression, die sich zu einem mächtigen Strom vereinten, der übermächtig, bedrohlich und ungeheuer auf uns zu stürzte, um uns zu ersäufen.

Unsichtbar war diese Flut und doch greifbar wie Wasser. Sie saugte das Leben aus jedem einzelnen unserer Nerven. Große Mattigkeit befiel mich, dann der Wunsch, mich einfach auf die Steine fallen zu lassen und von der Flut davongetragen zu werden. Einfach alles vergessen und sterben. Ich spürte, daß Drakes Körper ebenso zitterte wie meiner. Ich wußte, daß er seine letzten Kraftreserven mobilisierte.

»Ruhig«, murmelte er, »ganz ruhig …«

Der Tibeter kreischte und rannte davon. Die Ponys eilten ihm nach. Vage erinnerte ich mich, daß mein Lasttier wertvolle und seltene Proben trug. Ärger brandete auf und vertrieb die Verzweiflung. Ich hörte den Chinesen schluchzen. Seine Beine gaben unter ihm nach.

Drake bückte sich und zog Chiu-Ming wieder hoch. Wir nahmen ihn in die Mitte und schoben ihm von beiden Seiten einen Arm in seine Ellenbogen. Dann senkten wir wie Schwimmer die Köpfe, trabten mutig weiter und kämpften gegen die unerklärliche, unsichtbare Flut an.

Während wir vorankamen, nahm die Macht des Stroms ab, und mein Lebenswille wurde stärker. Bald verging auch der furchtbare Wunsch, sich einfach fallen zu lassen und fortgeschwemmt zu werden. Nun erreichten wir die erste Stufe der titanischen Treppe. Jetzt hatten wir sie zur Hälfte bezwungen. Und endlich stolperten wir auf die Plattform, auf der sich die Festung erhob. Die Flut plätscherte nur noch, war bald ein kleiner Bach, den man mühelos durchschreiten konnte, und versiegte endlich völlig. Der betrogene, unsichtbare Mahlstrom drehte sich harmlos weit unter uns.

Wir standen aufrecht, rangen schwer nach Atem und fühlten uns wieder wie Schwimmer, die ihr Äußerstes gegeben und mit letzter Mühe das Ufer erreicht haben.

Ich bemerkte eine kaum wahrzunehmende Bewegung am Rand des zerfallenen Portals.

Plötzlich stürmte dort eine junge Frau heraus. Sie ließ das Gewehr fallen, das sie getragen hatte, und rannte direkt auf mich zu.

Und während sie näher kam, erkannte ich sie.

Ruth Ventnor!

Die eilende Frau erreichte mich, warf mir die weichen Arme um den Hals und weinte an meiner Schulter Tränen der Freude und der Erleichterung.

»Ruth!« rief ich. »Was um alles in der Welt treibst du denn hier?«

»Walter!« schluchzte sie. »Walter Goodwin. Dem Himmel sei Dank!«

Sie löste sich von meiner Schulter, kam wieder zu Atem und brachte ein verunglücktes Lachen zustande.

Ich musterte sie rasch. Abgesehen von ihrer Angst war sie ganz die alte Ruth, die ich vor drei Jahren kennengelernt hatte. Weite, tiefblaue Augen, die mal völlig ernst dreinblickten und in denen andere Male der Schalk blitzte. Ein rundes und zartes Gesicht mit weißer Haut, eine freche kleine Nase und ein glänzendes Gewirr von widerspenstigen Locken. Eine funkelnde und liebenswerte Person.

Drake hüstelte vernehmlich. Ich stellte die beiden einander vor.

»Ich habe euch beobachtet, wie ihr euch durch diese gräßliche Senke vorgekämpft habt.« Ruth schüttelte sich. »Allerdings konnte ich nicht erkennen, wer ihr wart, wußte nicht, ob sich da Freund oder Feind nähert … aber mein Herz starb tausend Tode, als ich eure Pein sah. Walter,« keuchte sie, »was kann das dort unten nur sein?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Martin hat euch nicht gesehen«, fuhr sie fort. »Er beobachtet die Straße, die oben verläuft. Aber ich bin hinuntergeklettert, um euch zu helfen.«

»Mart beobachtet die Straße?« fragte ich. »Wonach hält er denn Ausschau?«

»Ich …« Sie zögerte. »Ich denke, ich erzähle es euch besser in seinem Beisein. Es war alles so sonderbar, so unfaßbar.«

Sie führte uns durch das zerfallene Portal in die Festung. Die Anlage erwies sich als gewaltiger, als ich mir das vorgestellt hatte. Der Boden der riesigen Halle, in die wir gelangten, war mit Steinbrocken übersät, die sich aus der hohen, gewölbten Decke gelöst hatten. Durch die Löcher strömte Sonnenlicht herein.

Wir suchten uns unseren Weg durch den Schutt, erreichten eine breite, zerbröckelnde Treppe und stiegen hinauf. Sie führte uns zur gegenüberliegenden Öffnung. Ich machte hoch auf einem Steinhaufen eine dunkle Gestalt aus. Dann erkannte ich sie als Martin Ventnor. Er hielt ein Gewehr in der Hand und beobachtete intensiv die uralte Straße, deren Windungen deutlich von dem augenförmigen Portal aus zu überblicken waren. Er hatte uns nicht gehört.

»Martin«, rief Ruth leise.

Er drehte sich um. Ein Lichtpfeil aus einem Loch in der Decke streifte über sein Gesicht und riß es aus dem Halbdunkel, in dem Mart gelegen hatte. Ich sah in die ruhigen grauen Augen und dann auf die geraden Züge seines Gesichts.

»Goodwin!« brüllte er, krabbelte von seiner Stellung hinunter, lief auf mich zu und schüttelte mich an den Schultern. »Wenn ich ein religiöser Mensch wäre, hätte ich um einen Mann wie dich als Beistand gebetet. Was hat dich denn in diese Gegend verschlagen?«

»Och, ich bin nur so herumgezogen«, antwortete ich. »Bei allem, was recht ist, ich bin sehr froh, euch beide hier anzutreffen.«

»Auf welcher Route seid ihr gekommen?« wollte er gleich wissen. Ich zeigte nach Süden.

»Doch nicht etwa durch die Senke?« fragte er ungläubig.

»Doch, durch diese Hölle dort unten«, meldete sich Drake zu Wort. »Hat uns die Ponys und all meine Munition gekostet.«

»Das ist Richard Drake«, sagte ich. »Der Sohn vom alten Alvin. Den hast du doch gekannt, Mart.«

»Ich habe ihn sogar sehr gut gekannt«, rief Ventnor und ergriff die Hand des Jungen. »Er wollte, daß ich nach Kamtschatka gehe, um ihm dort irgend so ein verflixtes Zeugs für eines seiner teuflischen Experimente zu besorgen. Wie geht es denn dem alten Knaben?«

»Er ist tot«, antwortete Dick leise.

»Oh!« entfuhr es Ventnor. »Oh, das tut mir leid. Er war ein großer Mann.«

Kurz informierte ich die Ventnors über meine Reise und meine Begegnung mit dem jungen Drake.

»Diese seltsame Senke dort unten …« Martin sah uns nachdenklich an. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was dahintersteckt. Ich dachte, es könnte sich um irgendeine Art Gas handeln. Wenn ich mich nicht damit beschäftigt hätte, wären wir schon vor zwei Tagen aus diesem Loch abgezogen. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, daß es sich um eine Art Gas handelt. Mittlerweile ist es viel dünner als noch heute morgen, denn da wollten wir durch die Senke ziehen … und konnten es nicht.«

Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Ventnor hatte da eine Theorie über die ungewöhnlichen Symptome entwickelt, an die ich noch nicht gedacht hatte. Nicht auszuschließen, daß sich dieses schüsselförmige Tal mit einem Gas anfüllte; genauso wie sich in stillgelegten Flözen tödliche Gase sammeln und manchmal sogar ausströmen. Es konnte durchaus sein … ein geruchloses, farbloses Gas mit unbekannten Eigenschaften … und dennoch …

»Habt ihr es denn schon mit Schutzmasken versucht?« fragte Drake.

»Natürlich«, sagte Ventnor. »Das war das allererste, was ich ausprobiert habe. Leider haben die Gasmasken uns nichts genutzt. Das Gas, wenn es sich um Gas handelt, scheint nicht nur durch Mund und Nase, sondern auch durch die Haut einzudringen. Langer Rede kurzer Sinn: Wir sind einfach nicht durchgekommen, und genau das ist auch der Stand meiner Forschung. Aber wenn ihr es geschafft habt, könnten wir es jetzt doch auch probieren. Was meint ihr?«

Alle Farbe wich mir aus dem Gesicht.

»Noch nicht … jedenfalls im Augenblick noch nicht«, stammelte ich.

Er nickte verständnisvoll.

»Klar«, brummte er, »dann warten wir eben noch ein Weilchen.«

»Nach was haben Sie eigentlich dort oben Ausschau gehalten?« wollte Drake wissen. »Und warum sind Sie nicht über die Bergstraße weitergezogen? Was gibt es denn hier so Interessantes zu sehen?«

»Jetzt bist du an der Reihe, Ruth«, grinste Ventnor. »Eigentlich war es ja deine Show, oder?«

»Martin, bitte!« rief sie und errötete.

»Nun, ich war es nicht, auf den sich die bewundernden Blicke gerichtet haben«, lachte Ventnor.

»Martin!« rief sie wieder und stampfte mit dem Fuß auf.

»Leg los«, sagte er. »Ich habe leider zu tun. Muß oben Ausschau halten.«

»Also gut«, begann Ruth mit unsicherer Stimme. »Wir waren oben in Kaschmir auf einer Jagdreise. Dann wollte Martin in diese Gegend hier. Wir überquerten die Pässe. Das war vor ungefähr einem Monat. Am vierten Tag entdeckten wir einen Weg, der wie eine Straße nach Süden aussah.

Wir dachten uns, den nehmen wir. Der Weg wirkte wie eine der uralten, längst vergessenen Heerstraßen, aber immerhin schien er uns ans Ziel führen zu können. Die Straße verlief zunächst durch ein Land mit kleinen Hügeln, dann zum Fuß des großen Gebirgszugs, endlich in die Berge hinein, und urplötzlich hörte sie auf.«

»Päng!« warf Ventnor ein und wandte sich kurz uns zu. »Päng! Einfach so. Ein gewaltiger Felssturz versperrte den Weg, und wir konnten ihn nicht überwinden.«

»Also zogen wir herum«, fuhr Ruth fort, »um eine andere Straße zu finden. Aber wohin wir uns auch wandten, Felswände, nichts als Felswände.«

»Es war wie verhext«, ergänzte Martin. »Lieber Himmel. Aber ich bin jetzt froh, auf dich getroffen zu sein, Walter. Glaub mir, ich bin es wirklich. Aber wie dem auch sei, erzähl deine Geschichte zu Ende, Ruth.«

»Nach vierzehn Tagen wußten wir«, sagte Ruth, »daß wir verloren waren. Wir befanden uns mitten im Herzen des Gebirgsmassivs und waren umgeben von einem Wald aus hohen, schneeweißen Gipfeln. Die Schluchten, Canyons und Täler, in die wir marschierten, führten uns mal hierhin und mal dorthin.

Es war wie in einem Labyrinth, und wir schienen uns immer tiefer darin zu verirren. Nirgends entdeckten wir auch nur das leiseste Anzeichen menschlicher Zivilisation. Fast so, als habe vor uns noch nie der Fuß eines Menschen diese Gegend betreten. Wild war hingegen reichlich vorhanden, und wir hatten nie Mühe, genug zu essen zu bekommen. Und eigentlich machten wir uns auch keine großen Sorgen. Früher oder später würden wir schon einen Weg hinaus finden.

Vor fünf Nächten kampierten wir am Ende eines lieblichen kleinen Tals. Dort erhob sich ein niedriger Hügel wie ein Wachtturm, und rings herum standen Bäume wie Wachtposten.

Dort machten wir unser Feuer. Nach dem Abendbrot legte sich Martin schlafen. Ich saß noch eine Weile am Feuer und betrachtete die Schönheit des Himmels und des schattigen Tals. Ich hörte nichts, aber irgend etwas brachte mich dazu, aufzuspringen und hinter mich zu sehen.

Dort stand ein Mann im Schein des Feuers und musterte mich.«

»Ein Tibeter?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und sah besorgt drein.

»Ganz und gar nicht«, meldete sich Ventnor wieder zu Wort. »Ruth kreischte, und ich wachte davon auf. Der Bursche verschwand sofort, aber ich konnte noch einen Blick auf ihn erhaschen.

Ein kurzer, roter Mantel hing von seinen Schultern. Seine Brust war von einem Kettenhemd bedeckt. Er hatte eine weite Hose an, und an den Füßen trug er hohe Lederstiefel. In einer Hand hielt er einen kleinen, runden und mit Fell bezogenen Schild, und in der anderen ein kurzes, zweischneidiges Schwert. Und auf dem Kopf saß ein Helm. Ehrlich, Martin, so wie er aussah, schien er aus einer Zeit von vor zweitausend Jahren entsprungen zu sein.«

Er lachte laut, als er unsere Verblüffung sah.

»Fahr fort, Ruth«; sagte er und beobachtete wieder die Straße.

»Martin hat allerdings nicht sein Gesicht gesehen«, sagte sie. »Oh, ich wünschte, ich könnte diesen Anblick vergessen. Ein Gesicht so weiß wie das meine … eine unvorstellbare Grausamkeit in den Zügen, Walter. Seine Augen glühten … und er sah mich an wie ein … wie ein Sklavenhändler. Sein Blick war mir sehr unangenehm, er beschämte mich, und ich wollte mich nur noch irgendwo verstecken.

Ich schrie so laut, daß Martin aufwachte. Als er sich erhob, trat der Mann aus dem Licht und verschwand. Ich glaube, er hatte Martin gar nicht bemerkt, hatte wohl geglaubt, ich sei allein.

Wir traten das Feuer aus und verlegten das Lager tiefer in den Schatten der Bäume. Aber ich konnte nicht mehr einschlafen. Stunde um Stunde saß ich da, hielt die Pistole in der Hand«, sie klopfte auf die Automatic an ihrer Seite, »und hatte das Gewehr in Griffweite.

Die Zeit verging in quälender Langsamkeit. Endlich wurden mir die Lider doch schwer, und ich fiel in einen Schlummer. Als ich wieder erwachte, war bereits der Morgen angebrochen, und … und …« Sie bedeckte kurz das Gesicht mit den Händen, bevor sie fortfahren konnte, »… und da standen zwei Männer und betrachteten mich. Einer von den beiden war der, der in der Nacht in den Feuerschein getreten war.«

Ventnor meldete sich wieder zu Wort: »Die Männer haben sich in einer eigentümlichen Sprache unterhalten, in einem archaischen Persisch.«

»In Persisch«, entfuhr es mir verblüfft, »in archaischem Persisch?«

»Ja, hörte sich ganz so an«, nickte Mart. »Ich verstehe das moderne Persisch ganz gut und kenne mich auch mit dem Arabischen aus. Es ist bekannt, daß das moderne Persisch in direkter Linie von der Sprache abstammt, die Xerxes, Kyros und auch Darius gesprochen haben natürlich auch in der Zeit, in der Alexander der Große das persische Weltreich eroberte. Seit damals hat die Sprache etliche arabische Lehnworte in sich aufgenommen. Nun, in dem, was die beiden Fremden sprachen, fand sich nicht die geringste Spur Arabisch.

Es hörte sich schon reichlich sonderbar an, wie die beiden miteinander sprachen, aber ich konnte sie ziemlich gut verstehen. Sie unterhielten sich über Ruth. Um es genau zu sagen, sie diskutierten recht offen ihre … ihre weiblichen Attribute …«

»Martin!«rief Ruth zornig.

»Ist ja schon gut«, fuhr er halb reuevoll fort. »Ich hatte nicht die ganze Zeit geschlafen, sondern mich fortgeschlichen und beobachtet, wie die beiden sich unserem Lager näherten. So lag ich ganz leise mit dem Gewehr in der Hand in meinem Versteck und belauschte die Männer.

Du kannst dir sicher vorstellen, Walter, daß mein wissenschaftliches Interesse enorm geweckt wurde, als ich diese Männer da vor mir erblickte, die aussahen, als seien sie der Armee des Darius entsprungen. Aufgrund dieses Interesses lauschte ich ihren empörenden Worten nur mit der Neugier eines Wissenschaftlers. Ich dachte, Ruth würde ohnehin noch schlafen, und sagte mir auch, daß die Höflichkeit zwischen den Geschlechtern im Lauf der Jahrhunderte mannigfaltigen Wandlungen unterliegt, und diese beiden Gentlemen dort waren mindestens zwanzig Jahrhunderte von uns entfernt. Und um ganz ehrlich zu sein, dieses Phänomen faszinierte mich doch ungemein.

Die Fremden sprachen schließlich darüber, wie eine geheimnisvolle Person, vor der sie Furcht und Respekt hatten, auf Ruth reagieren würde; anscheinend voller Lust und Vorfreude. Ich fragte mich gerade, wie lange meine wissenschaftliche Neugier – denn für einen Anthropologen ist eine solche Begegnung mehr, als er sich in seinem ganzen Leben erträumen kann – stärker sein würde als der Finger am Abzug meines Gewehrs, als Ruth erwachte.

Sie sprang hoch, wie von einer Tarantel gestochen, und feuerte den Revolver bis zur letzten Kugel auf die beiden ab. Die Verblüffung der Männer war … nun, amüsant. Ich weiß, es hört sich unglaublich an, aber die beiden schienen noch nie etwas von Feuerwaffen gesehen oder gehört zu haben: Auf jeden Fall benahmen sie sich so, als seien ihnen solche Waffen völlig fremd.

Die beiden flohen ins Unterholz. Ich sandte einem von ihnen eine Kugel nach, verfehlte ihn aber. Ruth hatte mehr Glück gehabt. Einer der Fremden war getroffen, wie uns eine Blutspur auf dem Boden bewies.

Wir hatten kein Bedürfnis, dieser Fährte zu folgen, sondern verschwanden in der entgegengesetzten Richtung, und zwar so rasch wie möglich.

An diesem Tag und auch in der folgenden Nacht ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Aber am folgenden Vormittag, während wir einen Hang hinaufstiegen, machten wir drei oder vier Kilometer voraus ein verräterisches Glitzern aus. Wir verbargen uns rasch in einer engen Schlucht. Nach einer Weile marschierte zwei Kilometer entfernt eine Kolonne dieser Burschen. Es waren mindestens zweihundert.