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Dieses außergewöhnliche Buch stellt auf einfache und nachvollziehbare Weise in drei Kapiteln die Symbiose zwischen der komplexen Lehre des Buddha und buddhistischer Meditation dar. Das rein intellektuelle Verstehen der Lehre des Buddha (dhamma) führt zu nicht allzu viel; es bedarf der Meditation, um das Verstandene ins Herz fließen lassen zu können. Andererseits führt Meditation ebenfalls nicht zu sehr viel, solange man das in der Meditation Erfahrene nicht auf Grundlage des dhamma einordnen kann. Das Erkennen der Essenz aus dieser Symbiose ist also der Wegbereiter für ein Alltagsleben im Geiste des Buddhismus im Speziellen und gelebter Spiritualität im Allgemeinen. Eben dies ist die Zielsetzung dieses Buches. Es handelt sich um eine kurze aber umfassende Darstellung der wesentlichen Pfeiler des buddhistischen Lehrgebäudes, gepaart mit klar strukturierten und auch für Einsteiger geeigneten Meditationsanleitungen, sowie einigen Übungen aus dem Qigong, deren Anleitungen ebenso wie die Meditationen zum kostenlosen Download (Audio und Video) zur Verfügung stehen. Wissenschafltiche Betrachtungen sowie die Parallelen zum Daoismus und der christlichen und islamischen Mystik machen dieses Buch zu einem äußerst nützlichen Begleiter für Menschen, die sich auf dem spirituellen Pfad befinden, und für solche, die einfach einmal tiefer in die Lehre des Buddhismus eintauchen möchten.
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Seitenzahl: 393
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Der Autor:
Laoshi Shi Miao Dao wurde am 16.11.1967 geboren und erstmals in 2012 in Thailand zum buddhistischen Mönch unter dem Ordensnamen Phra Atishakaro ordiniert. Heute ist er Laienmönch (anāgārika) der Theravada-Tradition und erhielt in 2020 die Bodhisattva-Ordinierung zum Laienpriester der Chan-Tradition im Shaolin Temple Europe sowie die offizielle Lehrbefugnis für Buddhismus, Meditation und Qigong (Laoshi).
Er lehrt seit über 15 Jahren buddhistische Meditation (mettā und vipassanā) und hält zahlreiche Lehrvorträge zum Buddhismus, die stets auch die Nähe zum Daoismus und zu den mystischen Traditionen insbesondere des Christentums und des Islam sowie zu modernen wissenschaftlichen psychologischen Erkenntnissen in den Fokus setzen.
Sein Wirken zielt dabei darauf ab, die innere Zerrüttung der Menschen zu erklären und Wege aus ihr heraus darzustellen.
„Wenn Du ganz im Augenblick bist,
wirst Du augenblicklich ganz.“
Viele Menschen waren daran beteiligt, dass es mir möglich war, nach vielen Jahren buddhistischer Schulung in Theorie und Praxis dieses Buch zu schreiben. All diesen gilt mein herzlicher Dank.
Besonders nennen möchte ich:
Bhante Vimalaramsi, meinen ersten Mettā-Lehrer
Bhante Sujiva, meinen ersten Vipassanā-Lehrer
Mae Chee Brigitte Schrottenbacher
(Kloster Wat Prayong Gittivanaram, Thailand)
Bhante Thomas Dhammadipa,
meinen Ordinierungsvater als Anāgārika
Shi Heng Zong, Abt des Shaolin Temple Europe,
meinen Ordinationsvater im Chan
Danken möchte ich darüber hinaus von Herzen:
Meike Brandenburg für die tatkräftige Unterstützung
bei der inhaltlichen und technischen
Umsetzung dieses Buch-Projektes,
sowie
den Korrekturleser: innen für ihre intensive
Beschäftigung mit dem Manuskript
und
allen, die mich mit Rat und Tat unterstützt haben.
Mögen sie alle in Sicherheit und Geborgenheit, in Ruhe und Frieden und in Gesundheit und Wohlergehen verweilen und den Weg des Dhamma verwirklichen.
Sadhu – Sadhu - Sadhu
Laoshi Miao Dao
(Anāgārika Michael)
Mettā-vipassanā-bhāvanā
Erkenntnis durch
Meditation der
Liebenden-Güte
Praxis-Anleitungen und Hintergründe für Meditation und Alltag
© 2023 Michael Rafalski (Laoshi Miao Dao)
Umschlag, Illustration: Meike Brandenburg
Druck und Distribution im Auftrag von Laoshi Miao Dao:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-97385-5
e-Book
978-3-347-97386-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Laoshi Miao Dao verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Laoshi Miao Dao, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Geleitwort
Vorwort
Zur Handhabung dieses Buches
Abkürzungsverzeichnis
Erstes Kapitel: Vorbereitende Gedanken und Übungen
A. Einführung
I. Samatha und vipassanā
II. Am Anfang steht Vertrauen
B. Grundlage des Vertrauens: Die Lehre des Buddha verstehen
I. Stress und Leid (dukkha) als Grundlage für das Entstehen von Vertrauen
Die fünf Hindernisse (in der Meditation und im gesamten spirituellen Fortschritt)
2. Widerwille, Aversion und Abneigung verstehen:
2. Zusammenfassung der fünf Hindernisse:
II. Exkurs: Was ist eigentlich Achtsamkeit (sati)?
III. Vertrauen als Grundlage für das Entstehen von Heiterkeit und Freude
IV. Heiterkeit als Grundlage für das Entstehen von Hingerissensein / Verzückung / Begeisterung
V. Hingerissensein / Verzückung / Begeisterung als Grundlage für das Entstehen von ruhiger, entspannter Klarheit
VI. Ruhige, entspannte Klarheit als Grundlage für das Entstehen von Glücksgefühl
VII. Glücksgefühl als Grundlage für das Entstehen von Einsgerichtetheit des Geistes auf ein Objekt
VII. Exkurs: Zum Begriff samādhi
Zweites Kapitel: Vollständige kommentierte Anleitung
A. Schritt 1: Vorbereitende Geistesberuhigung
Der Glaubenssatz: „Ich kann nicht meditieren“
I. Vorübung 1 – Einstimmung auf die Meditation
Das „richtige“ Sitzen
II. Vorübung 2 – Blick auf die Innenseite der Augenlider
III. Vorübung 3 – Beruhigung des Geistes mittels des Atems
IV. Weitere Übungen zur vorbereitenden Geistesberuhigung
„Methode der tiefen Ein- und Ausatmung“
Rezitation
Vorbereitende Körperübungen - Qigong
V. Die "Segnungen des Lächelns"
VI. Große innere Unruhe - Der „Affengeist“
Den „Affengeist“ verstehen
Methode bei „Affengeist“ – die Denkaktivität als Meditationsobjekt
Und was ist mit samādhi?
Abbrechen oder Weitersitzen?
Ein letzter Tipp an dieser Stelle
B. Schritt 2: Körpergewahrsein
Sich besinnen auf sich selbst, den gegenwärtigen Moment und die „zehntausend Erscheinungen“
I. „Xī – Hā – Lächeln“ als Hintergrundprogramm
II. Präzise Anleitung für die Praxis ohne Hilfsmittel
C. Schritt 3: Entspannung – Body-Relax-Scan
I. Option: Nur Körperbetrachtung oder nur Body-Relax-Scanning
II. „Das dauert ja alles ewig!“
III. Der Atem als Zentrum / als „Anker“
Atembetrachtung
Der Radarschirm
IV. Der Edle Achtfache Pfad (ariya-aṭṭhaṇgika-magga)
Übersicht: Die Säulen der Lehre - Der Edle Achtfache Pfad
Allgemeines zum Edlen Achtfachen Pfad
Das sechste Glied des Achtfachen Pfades: Sichbemühen und Hingabe (Vāyāma)
D. Schritt 4: Freude empfinden
Der Zusammenhang von Wahrnehmung und Freude
Auszug aus dem Bahiya-Sutta83
Die „Längere Lehrrede vom Rat an Rāhula“86
E. Übergang zur Mettā-Meditation
Mettā – Teil 1: Aussenden Liebender-Güte an sich selbst
A. Schritt 1: Entstehenlassen einer Aura Liebender-Güte
„Die Energie folgt der Aufmerksamkeit“
Vedanā-nupassana – Gefühlsbetrachtung
Das „Generieren“ des mettā-Gefühls
B. Schritt 2: Nähren der Flamme durch heilsame Gedanken
I. Der erste Satz: „Sicherheit und Geborgenheit“
Zur Methode des Aussendens von mettā
Der Atem
BLESSED-Kreis und Übergang zum neuen mettā-Satz
Die Formulierung der mettā-Sätze und eines „Einleitungs-Halbsatzes“
II. Der zweite Satz: „Ruhe und Friede“
III. Der dritte Satz: „Gesundheit, Vitalität, Lebenskraft (Qi)“
IV. Der vierte Satz: „Ein glückliches Leben“
Die Sätze auf Pali
Exkurs: Konzept und Realität
Konzept und Selbstliebe
Wie entsteht die Welt?
Wie entsteht das „Ich“? – Das Selbst-Konzept
Das Selbstkonzept – die fünf Ich-Identifikationsgrundlagen (pañca khandha)
Das Selbstwertgefühl und das Brechen der Grenzen zu sich selbst
Selbstkonzept und Selbstwertgefühl
Mettā – Teil 2: Aussenden Liebender-Güte an eine
Der erste Wunsch122
Besondere Merkmale der anderen Person
Mettā – Teil 3: Aussenden Liebender-Güte an eine neutrale Person
Mettā – Teil 4: Aussenden Liebender-Güte an eine sehr unliebsame Person
I. Das Wesen von Hass und Abneigung gegenüber anderen Menschen
II. Handlungsleitend sind stets Gier, Hass und Umnachtung
III. Wer ist das Opfer?
Exkurs: Kontemplation der Vergebung
Exkurs: Samādhi – und was kommt dann?
Exkurs: Ein Wort zu jhāna
Drittes Kapitel: Ergänzungen und Vertiefungen
- Alltag im Zeichen von mettā -
A. Praxis im Alltag
I. Sampajañña – Achtsamkeit reicht nicht aus!
Sati-sampajañña – Achtsamkeit gepaart mit Wissensklarheit
Aspekte der Wissensklarheit
Ātāpa – liebevolle Hingabe
II. Praxis von früh bis spät
Grundlagen
Noch einmal zum „Affengeist“
III. Das Bedingte Entstehen (paticca-samuppāda) in Kürze
IV. Mettā – alles Handeln geht vom Herzen aus
Sonstige Tätigkeiten
V. Anleitung zur Gehmeditation
VI. Metta an der Bushaltestelle
VII. Kontemplation im Alltag
1. Kontemplation der Vergänglichkeit
Der mystische Tod
Alltägliche Kontemplation der Vergänglichkeit
2. Alltägliche Kontemplation von Nicht-Ich
Nicht-Ich und „wu-wei“
3. Alltägliche Kontemplation des Dhamma
VIII. Die „zehn Vollkommenheiten“ (pārami) als Leitlinie für den Alltag
1) Dāna – Sich üben in Freigiebigkeit
Exkurs: Zum Begriff kamma (karma)
2) Sīla – Sich üben in ethisch einwandfreiem Verhalten
Kontemplation der fünf Haupt-Sīlas
Anregungen zum Nach-Denken
Anregungen zum Nach-Denken
Weitere Empfehlungen – die acht sīlas:
3) Nekkhama – sich üben in Verzicht
4) Paññā – Weisheit
5) Vīriya – Hingabe / Energie
Wie generiert man eigentlich Energie?
6) Khanti – Geduld
7) Sacca – Aufrichtigkeit
8) Adhiṭṭhāna – Entschlossenheit
9) Mettā – Liebende-Güte
10) Upekkhā – Gleichmut
IX. Eine letzte Bemerkung zur Alltagsmeditation
B. Abschließende Übungen und Gedanken
I. Anfängliche Alternativen zur mettā-Meditation
Das stille Qigong
Anleitung zum Xia Zhoutian:
Phantasiereise“
II. Bewegtes Qigong, Taiji, Kung Fu
Sonderstellung Kung Fu: Selbstsicherheit und Resilienz
Nachwort
Transformation und Transzendierung des Ego
Wir haben eine Verantwortung – Umwelt und Epigenetik
Anhang
Mettā-Sutta (Suttanipāta, Uraga-vagga, 8. Sutta)
Glossar der in diesem Buch verwendeten Begriffe
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Geleitwort
Als mich Laoshi Shi Miao Dao fragte, ob ich ein Geleitwort zu seinem Buch schreiben würde, fühlte ich mich einerseits sehr geehrt, andererseits dachte ich bei mir: „Ein weiteres Buch über Meditation? Wo es doch bereits so viele gibt! Ist das wirklich notwendig und wird es ernsthaft neue Erkenntnisse bringen?“
Nun muss man wissen, dass Shi Miao Dao ein profunder Kenner der buddhistischen Meditation ist und sehr viel Praxiserfahrung hat, sowohl im Meditieren als auch im Lehren der Meditation.
Mittlerweile halte ich ein Korrekturexemplar des Buches in meinen Händen und bin überwältigt von dessen Klarheit, Strukturiertheit und unglaublichen Tiefe.
Dieses Buch über die Erkenntnis (vipassanā) durch Liebende Güte (mettā) ist etwas Besonderes, und wenn Sie diese Zeilen lesen, seien Sie versichert und sich darüber bewusst: Sie halten einen Schatz in Ihren Händen, der es Ihnen erlaubt, Wege in Ihrer Selbstentwicklung zu gehen, die für Sie einen großen Gewinn darstellen werden.
Dabei nutzt Shi Miao Dao, der sehr gut mit den Ursprungstexten des Buddhismus vertraut ist, aber auch aus selbst gemachter Erfahrung und dem beständigen eigenen Praktizieren heraus schreibt, sehr klare und deutliche Worte. Zu diesem Zweck geht er nicht selten besondere und recht unkonventionelle Wege, gewisse Dinge zu übersetzen bzw. zu interpretieren, die deswegen aber nicht weniger korrekt sind. Vielmehr verhelfen sie dazu, besser zu verstehen, was und wie es gemeint ist.
Hierbei legt er großen Wert darauf, dass es sich um Anleitungen handelt, die in der täglichen Praxis anwendbar sind, und die Ihnen helfen können das tägliche Leben mit allen Unwägbarkeiten und Herausforderungen, die dieses für jeden von uns bereithält, zu meistern.
Ich selbst hege die Hoffnung, dass dieses Buch vielen Menschen eine Hilfe dabei sein kann, ihr Leben mit mehr Güte, Liebe und Mitgefühl zu füllen und dadurch selbst ein glücklicheres Leben zu führen. Ist es doch wichtig, den Menschen in dieser hektischen und stressvollen Zeit eine auf Jahrtausende alten Lehren fußende und doch hochaktuelle Methode in einer verständlichen Sprache nahezubringen.
Nicht nur der Umfang dieser Schrift, sondern auch die Art, wie sie mit dem kondensierten Wissen von Jahrzehnten der Erfahrung gefüllt ist, ist beeindruckend. Die erläuternden Graphiken helfen dem Verständnis und die einfach verständlichen Erklärungen geben bereichernde Anleitung für die Umsetzung.
Auch möchte ich noch eine kleine Anekdote einfügen: Ich war versucht, Shi Miao Dao noch darauf anzusprechen, dass auf dem Cover des Korrekturabzuges steht „eine kurze … Darstellung des buddhistischen Lehrgebäudes“ und wollte ihm sagen, dass ein Buch mit annährend 400 Seiten nicht „kurz“ ist, wobei mir dann eingefallen ist: Im Verhältnis zu seinem Wissen, mit dem er Bände füllen könnte, ist das wirklich kurz.
Nun kann ich meine Frage vom Anfang selbst beantworten: Ja, das Buch ist notwendig und eine große Bereicherung für die Menschen, die es lesen, ganz gleich wie viele gute Bücher über Meditation sie bereits gelesen haben.
Und nun, liebe Leser, liegt es an Ihnen, was Sie aus dem Schatz, den Sie in Händen halten machen: Sie können Ihn wegschließen, oder vergraben wie es einige Menschen mit Schätzen tun. Ihn verstecken, damit keiner ihn entdeckt. Solche Menschen sterben irgendwann, und man fragt sich: Was haben Sie von dem Schatz gehabt? Sie können ihn aber auch jeden Tag ansehen, sich darin vertiefen, sich von ihm bereichern lassen, seine Schönheit genießen und ihn teilen, damit noch mehr sich daran erfreuen können, etwas für sich und Ihr Leben und die Menschen um sie herum daraus machen, und so auch einen ganz wichtigen Schritt dazu selbst ein Schatz der Güte und des Mitgefühls zu werden. Dieses Buch lebt davon, was die Menschen, die es lesen, daraus machen. Fühlen Sie sich ermutigt, es zu nutzen. Haben Sie keine Scheu zu probieren und auch keine Fehler dabei zu machen. Nur wer nichts tut, macht nichts falsch. Lernen Sie daraus, lesen Sie wieder und korrigieren Sie. Das ist der Weg.
Dir lieber Shi Miao Dao möchte ich sagen: Wenn dieses Buch seinen Zweck erfüllt – und ich bin davon überzeugt, das wird es – und es somit viele Menschen zu mehr Glück, Zuversicht und liebende Güte im Leben führt, bist Du damit ein wahrer Bodhisattva geworden.
Shaolin Temple Europe in Otterberg in Deutschland, August 2023
Shi Heng Zong
Vorwort
Mettā-Meditation, die Meditation der Liebenden-Güte, ist eine Meditationsform, die sich in verschiedenen Formen und Varianten in vielen spirituellen, esoterischen und religiösen – hier vor allem christlichen – Richtungen findet. Oft wird sie auch „Herzmeditation“ genannt, und in der Tat berührt sie weit mehr als andere Meditationen das Herz, das Gefühl, unsere affektiv-emotionale Seite.
Mettā-Meditation öffnet das Herz allem voran für die Selbstliebe, und wenn man sich die Coaching- und Kursangebote der heutigen Zeit anschaut, so scheint hier ein enormer Bedarf zu bestehen. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die Zahl depressiver Erkrankungen und Erschöpfungszustände wie zum Beispiel Burnout mehr und mehr zunimmt. Die Ansprüche der modernen Gesellschaft an das Individuum werden immer höher, was dazu führt, dass – insbesondere im Arbeitsleben – das Individuum kaum mehr als solches wahrgenommen wird. Es „degeneriert“ zunehmend zu einem nutz- und gewinnbringenden Teil eines wirtschaftlichen Gesamtmechanismus. Aber auch großstädtische Strukturen tragen ihren Teil dazu bei, führen sie doch dazu, dass der Mensch als Individuum in der Masse kaum mehr zum Tragen kommt. Es ist deutlich spürbar, dass in ländlich-dörflichen Gemeinschaften hingegen die soziale Atmosphäre noch weit mehr von einem unmittelbaren „von Mensch zu Mensch“ geprägt ist. Aber auch hier steht der Mensch, und dies ist ein weiterer Punkt, unter einem sozialen und familiären Druck. Er erlangt Anerkennung und Wertschätzung, wenn er seine jeweilige Rolle gut spielt und den Ansprüchen und Erwartungen von außen gerecht wird. Das Individuum wird nicht als Wesen wertgeschätzt, sondern in Abhängigkeit zu der Rolle, die es spielt.
Selig die, so möchte man fast weinenden Auges sagen, die an diese gesellschaftlichen und sozialen Umstände gut angepasst sind, weil sie sie selbst leben und als richtig befinden. Und schließlich „war das ja schon immer so“, „das ist Tradition“, „so ist der Mensch nun einmal“. Und doch sagt der indische Philosoph und spirituelle Lehrer Jiddu Krishnamurti: „Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine durchweg kranke Gesellschaft angepasst zu sein.“
Dieses soeben beschriebene Phänomen der „Ent-Individualisierung“ führt wiederum dazu, dass auch die Selbstwahrnehmung abnimmt: Die Menschen verlieren vielfach den Bezug zu sich selbst. Sie funktionieren innerhalb der Gesellschaft, stets darauf bedacht, dem uralten Prinzip von Belohnung und Bestrafung gerecht zu werden. Hiervon hängt ihr Selbstwertgefühl ab, ohne aber dass dem uns allen innewohnenden Wunsch nach Weiterentwicklung oder „Selbstaktualisierung“1 Rechnung getragen würde. Und lässt man berufliche Aufstiegschancen und Karriere einmal außer Acht, wird diesem Wunsch in der Gesellschaft auch nicht besonders viel Beachtung geschenkt. Somit werden Karriere, Ansehen, monetärer Reichtum und kurzlebiger Spaß zum goldenen Kalb. Und doch spürt der Mensch intuitiv, dass ihm das Leben, welches er nach all dem Gesagten lebt, nicht wirklich guttut, und dass ihm etwas fehlt.
Immer mehr Menschen, so zeigt sich durch das große Interesse an Kursen und Vorträgen esoterischen oder spirituellen Inhalts, wird dies bewusst. In ihnen entsteht die Sehnsucht, wieder mit sich selbst in Berührung zu kommen, in Kongruenz mit sich selbst zu sein, sich selbst als Individuum wahrzunehmen und – vor allem – geliebt und wertgeschätzt zu sein. Es ist dies eine Sehnsucht nach Liebe und Wertschätzung, die nicht in Bedingung und Abhängigkeit von der Art und dem Maße des „Funktionierens“ besteht, wie es die Gesellschaft und unser näheres Umfeld von uns verlangt. Umgekehrt ausgedrückt: Es entsteht der tiefe Wunsch danach, „einfach nur geliebt, angenommen und wertgeschätzt zu werden, so wie man ist“, ohne dass man etwas dafür tun müsste – ein Wunsch nach un-bedingter Liebe um seiner selbst willen. Wie oft höre ich in meinen Kursen und Coachings den Satz: „Ich will doch einfach nur so sein!“?
Und an eben dieser Stelle greift die mettā-Meditation. Sie öffnet unser Herz für zunächst einmal uns selbst, später für nahestehende Personen, für neutrale Personen, für Personen, die einem nicht wohlgesonnen sind und schließlich für alle fühlenden Wesen in allen Himmelsrichtungen.
Meine langjährige Erfahrung als Meditationslehrer allerdings zeigt, dass sich viele Menschen damit enorm schwertun. Wie gelangt ein Mensch, der sich nicht oder nur bedingt geliebt fühlt, an den Punkt, sich unbedingt geliebt zu fühlen? Wenn er daran zweifelt, überhaupt liebens-wert zu sein? Wenn er stets unter dem Eindruck leidet, nicht gut genug zu sein, weil ihm sein Umfeld oder gar die ganze Gesellschaft dies subtil oder offen suggeriert? Wenn sie vielleicht sogar das Gefühl hat, „unter einem schlechten Stern geboren zu sein“? Wie soll man dann in Berührung mit sich selbst kommen, mit einem Ich oder Selbst, welches scheinbar durch das kosmische Netz der Liebe gefallen ist? Und was, wenn bei allen Bemühungen wie Meditation oder spiritueller oder esoterischer Lektüre eben diese kosmische oder göttliche Liebe einfach nicht spürbar werden will? Oder wenn, dann nur für kurze Zeit, bevor man zurückfällt in die alten dysfunktionalen, negativen Muster; wenn man zwar das Gefühl von großer, liebevoller Geborgenheit in der Meditation erfahren hat, aber die traurige Welt da draußen mit dem ersten Augenaufschlag wieder da ist, mit all dem Schmerz, dem Kummer, der Verzweiflung?
Wenn man nun darauf meditiert, dass man „in Sicherheit und Geborgenheit ist, frei von geistigem und körperlichem Leid, gesund und glücklich“, dann entsteht schnell das Gefühl, dies sei nur der untaugliche Versuch einer positiven Autosuggestion. Und schließlich:
Wenn mettā-Meditation wirklich fruchtbar und nachhaltig praktiziert werden soll, gehört ein wenig mehr dazu als ein Meditationskissen, ein Räucherstäbchen und einige fromme Worte. Mit ihr einher gehen müssen tiefe Einblicke und ein tiefes Verständnis unserer Psyche: Unserer Gewohnheiten, Denkmuster- und stereotype, unserer Bewertungsmuster, unserer Wünsche und Sehnsüchte, unserer Ängste, unserer Anforderungen an uns selbst und vieles mehr. Kurz: Es geht um Einsichten in unser Selbstkonzept und unser Selbstwertgefühl, und zwar so „multidimensional“ wie möglich.
Da, nach buddhistischer Lehre, in genau diesem Bereich von Selbstkonzept und Selbstwertgefühl der Ursprung für jede Form von Stress und Leid liegt, und die mettā-Meditation nach Aussage des Buddha den „schönsten Weg zur Befreiung von Stress und Leid“ darstellt, widmet sich dieses Buch genau diesem Ansatz. Eine große Rolle spielt hier sicher die Methode der meditativen Praxis, eine aber ebenso große Rolle spielt das bereitgestellte Hintergrundwissen, welches den Zugang zur Meditation und zu sich selbst erleichtern soll.
Nach chinesischer Auffassung ist nicht etwa der Kopf, sondern das Herz der Sitz des Geistes. Meditation nun zielt darauf ab, Herz und Geist im gegenwärtigen Moment zu vereinigen. Das hat zunächst nicht viel mit überweltlichen, mystischen Erfahrungen zu tun, aber es führt dorthin. Und man kann sich darin bei allen Tätigkeiten des Alltags üben, nicht nur auf dem Meditationskissen. Wenn Meditation wohlverstanden praktiziert wird, verändert sie die Biochemie im Gehirn: Die Mechanismen von Angriff oder Flucht – Nährboden für Stress und Leid – flachen immer weiter ab, sodass unser Herzgeist nach und nach zu einem Ort tiefen Friedens werden kann.
Der Buddha sagte sinngemäß, seine Lehre sei für die, die bereit sind, sich dem Blick dafür zu öffnen, wie die Dinge wirklich sind. Dieses Buch bietet hierfür eine fundierte Grundlage. Wenngleich es nicht den Anspruch hat, der Weisheit letzten Schluss vermitteln zu können, so soll es doch immerhin dazu inspirieren, sich weiter zu entwickeln, weiter zu forschen, mehr und mehr Klarheit über sich und die Welt zu erlangen und damit, wenn man es modern ausdrücken will, eine gesunde Form von Resilienz und Coping-Strategien zu finden, um letzten Endes in Liebe, Frieden und Harmonie mit sich selbst und der Welt sein zu können.
Möge dieses Buch den Leser: innen, gleich welcher Religion und welchen Glaubens, ein Beitrag dazu sein, das Buddha-Dharma zu verwirklichen.
Shi Miao Dao
im Frühling des Jahres 2023
1 Begriff nach Carl Rogers, dem Begründer der Gesprächspsychotherapie
Zur Handhabung dieses Buches
Dieses Buch bietet eine dezidierte und systematische Anleitung für den Einstieg in die Meditation bis hin zur Erreichung tieferer Meditationszustände (samādhi). Damit die Verwendung dieses Buches gute Früchte tragen kann, empfiehlt es sich, den einzelnen, sich in meinen vielen Praxisjahren als Übender und Lehrender heraus kristallisiert habenden Übungsschritten sorgfältig und chronologisch zu folgen.
Es geht – so sollte man sich zu Beginn klar machen – nicht um eine möglichst schnelle, sondern um eine möglichst nachhaltige Entwicklung buddhistischer Meditationspraxis. Dafür bietet es sich an, die einzelnen Anleitungen Schritt für Schritt durchzugehen. Erst wenn die Umsetzung eines Schrittes mühelos möglich ist, sollte zum nächsten Schritt übergegangen werden.
Die Meditationsanleitungen in Teil 1 und 2 können zunächst durchaus unmittelbar während des Lesens umgesetzt werden, bevor man jeweils nach einem Schritt das Buch zur Seite legen und ihn selbständig auf dem Meditationskissen (oder auf einem Stuhl) sitzend praktizieren kann. Es geht zu Beginn vor allem darum, in den einzelnen Schritten eine Sicherheit zu erlangen, die dazu führt, dass man sich nicht mehr die Frage stellt: „Mache ich das jetzt richtig?“ oder „Welcher Schritt kommt jetzt?“
Die einzelnen Schritte werden ergänzt durch Hintergrundinformationen, die einerseits den Bezug zur Lehre des Buddha herstellen sollen, andererseits aber auch dazu dienen, dem Leser eine Hilfestellung zu geben, wenn er Schwierigkeiten mit der Umsetzung eines bestimmten Übungsschrittes hat. Solche Schwierigkeiten sind nicht ungewöhnlich, denn nicht für jeden ist jede Methode perfekt. Somit werden Alternativen angeboten, mit denen der eine oder andere vielleicht besser zurechtkommt. Das Verständnis dessen, was man da eigentlich tut, hilft bereits oft schon, einen Schritt umzusetzen.
Stellt man fest, dass die gegenwärtigen Lebensumstände derart schwierig und unruhig sind, dass eine meditative Praxis auf dem Meditationskissen einfach nicht gelingen will, so mag es sich empfehlen, sich unmittelbar der Alltagsmeditation zuzuwenden, die im dritten Teil des Buches dargestellt wird. In diesem Fall kann es aber dennoch hilfreich sein, die Ausführungen der ersten beiden Teile parallel zu lesen.
Dieses Buch enthält viele, teils sehr in die Tiefe gehende Informationen zur Lehre des Buddha, die nicht unbedingt auf Anhieb verständlich sind. Darum habe ich mich bemüht, das Buch so zu gestalten, dass diese Themen häufiger wiederkehrend und aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen werden, sodass sie nach und nach immer klarer werden. Es befinden sich zudem auch zahlreiche, etwas kleiner gedruckte Passagen in diesem Buch. Diese enthalten dann „nice-to-know-Informationen“, die oftmals aus der Psychologie, Neurologie oder Psychopathologie, aber auch einfach aus der Lebenswirklichkeit stammen. Sie sollen Lehre und Praxis illustrieren und erhellen.
Viele Begriffe aus der Lehre sind neben der deutschen Begrifflichkeit auch auf Pali angeführt. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, sich diese Begriffe zu merken, aber es ist äußerst hilfreich, wenn man beabsichtigt, weitergehende Fachliteratur zu lesen oder Retreats, also Meditationswochen, zu besuchen. Vor allem auf Retreats fallen diese Begriffe in Vorträgen des Lehrers sehr häufig, und das Verständnis fällt leichter, wenn man sie dann kennt.
Angeleitete Meditationen zum kostenlosen Download
Ich stelle hier eine eMail-Adresse zur Verfügung, unter der es möglich ist, den Link zu einer Internet-Cloud anzufordern; hier kann man sich die Meditationsanleitungen als gesprochene mp3-Datei herunterladen. Überdies werden auch einige Anleitungen zur Bewegungsmeditation im Stil des Shaolin-Qigong als Video bereitgestellt. Beides ist selbstverständlich kostenlos.
Die Adresse lautet:
Abkürzungsverzeichnis
AN
Aṇguttara Nikāya
Dhp
Dhammapada
DN
Dīgha Nikāya
MN
Majjhima Nikāya
Skt
Sanskrit
SN
Saṃyutta Nikāya
Sn.
Sutta Nipāta
Vism
Visuddhimagga
Die zitierten Textstellen wurden von mir interpretativ wiedergegeben. Zugrunde liegen zwar die Übersetzungen von Bhikkhu Bodhi, Bhikkhu Sujato (AN, DN, MN, SN) sowie von Kai Zumwinkel (MN) und Munish B. Schiekel (Dhp), jedoch habe ich sie, jeweils im Abgleich mit den Ursprungstexten auf Pali und im Lichte des Gesamtkonzepts der Lehre des Buddha, in weiten Teilen in einen eigenen Wortlaut gebracht.
Erstes Kapitel: Vorbereitende Gedanken und Übungen
A. Einführung
I. Samatha und vipassanā
Für gewöhnlich werden innerhalb des Buddhismus zwei wesentliche Formen der Meditation unterschieden, nämlich samatha-Meditation, die „Ruhemeditation“, und vipassanā-Meditation, die Einsichts- oder Erkenntnismeditation. Der Buddha selbst hat diese Unterscheidung so nie getroffen, und doch erscheint es nützlich zu wissen, dass diese beiden Ebenen der Meditation existieren. Allerdings existieren sie nicht parallel nebeneinander, sondern greifen im Rahmen der buddhistischen Meditation ineinander. Gern wird hier das Bild der zwei Flügel eines Vogels verwendet: Er braucht sie beide, um fliegen zu können.
Streng genommen handelt es sich, anders als bei der samatha-Meditation, die eher technisch-methodisch den Weg in die Beruhigung von Geist und Körper bereitet, bei vipassanā nicht um eine Meditationsform im eigentlichen Sinne. Vipassanā bedeutet Einsicht oder Erkenntnis, und die kann im Zweifel bis zu einem gewissen Grad auch ohne Meditation erreicht werden. Worin nun bestehen Einsicht und Erkenntnis? Nun, mit dieser Frage werden wir uns im Verlaufe des Buches tiefer befassen. Zunächst nur so viel: Ausgangspunkt ist die Beobachtung der psycho-physischen, also der sich durchdringenden geistigen und körperlichen Prozesse im eigenen Organismus.
Vipassanā-Meditation ist die Beobachtung und Erforschung der wechselhaften Prozesse zwischen Körper, Gefühl, kognitiver Wahrnehmung,Denken / Wollen und Bewusstsein mit dem Ziel, sich selbst zu erkennen und zu verstehen.
Stellen wir nun einmal folgende Überlegung an:
Angenommen ein Bienenforscher möchte erforschen, wie es sich mit dem Flug der Bienen innerhalb des Bienenschwarms verhält. Mit bloßem Auge wird ihm das kaum gelingen; viel zu unruhig und scheinbar chaotisch fliegen die Bienen durcheinander. Also kommt er auf die Idee, die Bienen zu beruhigen, indem er ein beruhigendes Gas auf den Schwarm sprüht. Dadurch aber wird die Bewegung des Schwarms im Flug nicht langsamer; die Bienen werden gar nicht mehr fliegen, sondern nur benommen auf dem Nest herumkrabbeln. Die Bienen freuen sich möglicherweise über eine kleine Ruhephase, aber ihr Flug kann auf diese Weise nicht beobachtet werden. Also nimmt der Forscher, sobald die Bienlein wieder fröhlich umhersummen, eine Hochgeschwindigkeits-Kamera zur Hand und filmt den Bienenschwarm. Am Computer schaut er sich das Material in Slow-Motion an und kann das Flugverhalten der Bienen auf diese Weise auswerten.
Ganz ähnlich sieht das aus bei samatha und vipassanā: Samatha-Meditation als reine Ruhemeditation entspricht - um im obigen Beispiel des Bienenforschers zu bleiben – dem Besprühen mit dem Beruhigungsgas. Die Slow-Motion-Wiedergabe des Film-Materials entspricht ebenfalls samatha; würde sich aber der Forscher lediglich an den Aufnahmen erfreuen, wäre er kein Forscher, sondern jemand, der sich halt an schönen Filmaufnahmen erfreut. Hinzukommen muss das Auswerten der Aufnahmen, das präzise Erkennen welche Prozesse in dem Bienenschwarm ablaufen, um hieraus grundlegende Aussagen über das Verhalten der Bienen im Schwarmflug machen zu können. Dies entspricht in etwa dem Zweck der vipassanā-Meditation. Es werden Erkenntnisse über die sich wechselseitig durchdringenden psycho-physischen Gesamtprozesse gewonnen, indem sie wertfrei beobachtet werden. Man beruhigt den Geist, beobachtet ihn dann wie in Slow-Motion und wertet dann sein Verhalten aus. Tut man dies, so erfährt man “am eigenen Leib”, wie es sich mit dem verhält, was wir als “Ich” oder “Meins” oder “Mein Selbst” betrachten.
Das Bild des Bienenschwarms und dem Forscher macht deutlich, dass die Ausrichtung des Geistes darüber entscheidet, ob man samatha oder vipassanā praktiziert. Nicht von Bedeutung hierbei ist, und das ist für Meditierende sehr wichtig zu verstehen, das Meditationsobjekt, also das zentrale Objekt der Aufmerksamkeit und der Betrachtung in der Meditation. Samatha-Meditation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Aufmerksamkeit auf das Objekt, zum Beispiel den Atem, mehr und mehr fixiert wird; vipassanā hingegen sieht die Beobachtung der Abläufe der Prozesse, die das Objekt beinhaltet, im Vordergrund, so zum Beispiel die Veränderung und das Entstehen und Vergehen des Objekts. Daher ist die häufige Zuordnung der Mettā-Meditation, um die es ja in diesem Buch gehen soll, als Samatha-Meditation insoweit verfehlt. Mettā-Meditation hat ein Gefühl (vedanā) als Objekt, und die Meditation um dieses Gefühl herum sowie die Betrachtung seiner charakteristischen Eigenschaften, wie etwa dessen Veränderlichkeit und Endlichkeit, ist vorrangiges Thema der in diesem Buch praktizierten mettā-vipassanā-Meditation. Auf die charakteristischen Eigenschaften aller Dinge, die einen wesentlichen Bestandteil der Lehre des Buddha ausmachen, kommen wir ebenfalls gelegentlich zurück.
II. Am Anfang steht Vertrauen
Tiefe innere Transformation, die Auflösung uralter und vor allem unheilsamer Muster, Strukturen und Stereotype im Denken, Reden und Handeln mit dem Ziel der Beendigung von Stress und Leid (dukkha) in diesem Leben – dies ist der wesentliche Inhalt der Lehre des Buddha. Transformation bedarf viel Zeit, aber sie ist von unbedingter Notwendigkeit, wenn man nachhaltig in Frieden und Harmonie mit sich und der Welt leben möchte. Notwendige Voraussetzung hierfür ist zunächst ein Erkennen und Verstehen, und in der Folge dann das Auflösen dieser alten konditionierten Muster und Strukturen. Und dies, hierin liegt die Einzigartigkeit in der Psychologie des Buddhismus, im Wege des Sehens, wie die Dinge wirklich sind (yathā-bhūta-ñāna-dassana). All dies wird im weiteren Verlauf des Buches sicher noch klarer werden.
Es ist also nur konsequent, den Weg, den der Buddha lehrte und damit auch die Praxis der buddhistischen Meditation, mit eben diesem Erkennen und Verstehen unserer uralten und automatisierten Muster und Konditionierungen zu beginnen.
Ohne jedes Verständnis der Lehre des Buddha führt Meditation nirgendwo hin; ohne Meditation führt das Verständnis der Lehre des Buddha nirgendwo hin.
Das Fundament der buddhistischen Lehre, der Edle Achtfache Pfad2, geht von diesem Grundsatz des – zunächst lediglich intellektuellen – Verstehens als Ausgangspunkt aus. Dieser Pfad teilt sich in drei aufeinander aufbauende und genau genommen auch in Wechselbeziehung stehende Teile:
1. Das intellektuelle Verstehen der Lehrinhalte
2. Ethisch einwandfreies Verhalten, welches auf diesem Verständnis fußt
3. Tiefe Meditation als Grundlage der Überprüfung des intellektuell Verstandenen
Diese drei unterstützen sich gegenseitig und wechselwirkend, wobei das intellektuelle Verständnis die Initialzündung darstellt. Nach und nach wird aus allen dreien zusammen ein immer mehr sich selbst verstärkender Prozess, welcher dazu führt, dass das intellektuelle Verständnis zunehmend an Bedeutung verliert, ethisch einwandfreies Verhalten zur Selbstverständlichkeit wird, und dass die spirituelle Entwicklung schließlich in unermesslicher Weisheit und in Befreiung von Stress und Leid (dukkha) kumuliert.
Angenommen jemand leidet unter einer Laktoseintoleranz, weiß aber nichts davon, sondern bemerkt einzig, dass es ihm immerzu nicht wirklich gut geht. Dann geht er zum Arzt, der ihm die Diagnose stellt und ihm erklärt, wo das Problem liegt. Es kommt zu einem „Aha-Effekt“ über die Vorgänge im Organismus und darüber, wo das Problem liegt. Und so merkt der Patient, dass er dem Arzt vertrauen kann. Dies führt dazu, dass er auf Anraten des Arztes bestimmte Nahrungsmittel fortan weglässt. In der Folge fühlt er sich tatsächlich besser und weiß nun aus eigener Erfahrung, dass er dem Arzt zurecht vertraut hat.
2 Auf diesen gehen wir im Kapitel 1, Abschnitt 2 (Der Atem als Zentrum / als „Anker“) näher ein.
B. Grundlage des Vertrauens: Die Lehre des Buddha verstehen
Es geht also um Vertrauen. Vertrauen zu einem Lehrer oder Guru oder einer Lehre kann man spontan und intuitiv fassen, zum Beispiel durch die bloße Erscheinung und Ausstrahlung im Falle eines Guru, durch die inspirierende Kraft eines Textes im Falle einer spirituellen Lehre. Aber man kann sich täuschen, und so setzt der Buddha eher auf ein offenes aber kritisches Vertrauen, dem zunächst einmal eine anfängliche Plausibilitätsprüfung vorausgeht. Diese ist zwar intellektuell, aber sie bewahrt vor blindem Vertrauen, vor dem der Buddha ausdrücklich und mit Nachdruck warnte, selbst in Bezug auf seine eigene Lehre! Sein „Credo“ war „ehi-passiko!“ – „komm und sieh selbst!“3
In einer Lehrrede mit Namen Upanisa-Sutta4 und zahlreichen anderen Lehrreden stellt der Buddha eine stufenweise spirituelle Entwicklung dar, die meist mit „Transzendentes Bedingtes Entstehen“ oder „Positives Bedingtes Entstehen“ wiedergegeben wird. Diese Kette stellt in zwölf Stufen den Weg spiritueller Höherentwicklung dar5, beginnend mit Verständnis und darauf folgend Vertrauen.
Das „Positive Bedingte Entstehen“ soll daher unser Ansatzpunkt sein. Hier heißt es6:
1. Verständnis von erlebtem Stress und Leid (dukkha) ist die Grundlage für das Entstehen von
2. Vertrauen (saddhā) ist die Grundlage für das Entstehen von
3. Heiterkeit (pāmojja) ist die Grundlage für das Entstehen von
4. Hingerissensein / Verzückung / Begeisterung (pīti) ist die Grundlage für das Entstehen von
5. ruhiger, entspannter Klarheit (passaddhi) ist die Grundlage für das Entstehen von
6. Freude (sukha) ist die Grundlage für das Entstehen von
7. Einsgerichtetheit des Geistes auf ein Objekt (samādhi)
In der Tat orientieren sich sämtliche Meditationsanleitungen in diesem Buch sowie die gesamte hier vorgestellte Systematik an diesen Stufen, und wenn wir nun damit beginnen, intellektuell einige Grundlagen der Lehre des Buddha zu verstehen, so sollte dies bereits als Teil der Meditationsanleitung und keineswegs als theoretisches „Vorgeplänkel“ zu sehen sein.
Beleuchten wir also diese ersten sieben Stufen des „Positiven Bedingten Entstehens“ genauer:
I. Stress und Leid (dukkha) als Grundlage für das Entstehen von Vertrauen
Dem Buddha ging es in allem was er lehrte einzig und allein um eines: Die endgültige Beendigung von Stress und Leid, und zwar jetzt und hier, und ein für alle Mal7. Was aber ist überhaupt „Stress und Leid“? Dukkha (Stress und Leid) definiert der Buddha als:
Kummer, Klage, mentalen Schmerz, Angst, Sorge, Trübsal und Verzweiflung, und zwar als Folge von
1. Geburt, Altern, Krankheit, und Tod, und als Folge davon, dass man
2. nicht (mehr) hat, was man aber dochso gerne haben will, und / oder
3. man dasjenige erhält, wasman keineswegs haben will.
Diese (von mir aus didaktischen Gründen im Wortlaut leicht modifizierte) Definition gibt der Buddha in einer der allerersten Lehrreden8 kurz nach seinem Erwachen (oder auch Erleuchtung9 genannt), und dort im Rahmen der Darstellung der so genannten Vier Edlen Wahrheiten, einer tragenden Säule seiner Lehre:
1) Alles, was es in dieser Welt gibt, birgt den Keim von Stress und Leid (dukkha) in sich; und es gilt zu verstehen, was es mit Stress und Leid auf sich hat.
2) Alles in dieser Welt hat überdies eine Ursache, so auch Stress und Leid, und die Ursache von Stress und Leid gilt es zu überwinden
3) Alles, was eine Ursache hat, kann zur Auflösung gebracht werden, indem man ihm die Ursache seines Entstehens (Nahrung) entzieht, und dieses Prinzip gilt es selbst und an sich selbst unmittelbar zu erfahren
4) Es gibt einen Weg, der dorthin führt, allem Stress und Leid die Ursache zu entziehen und so Stress und Leid endgültig zum Erliegen zu bringen, und diesen Weg gilt es zu verwirklichen.
„Stress und Leid (dukkha) gilt es zu verstehen“
Da es in diesem Buch in der Hauptsache um Meditation geht, will ich versuchen, die äußerst komplexe Lehre des Buddha so kurz wie möglich und so lang wie nötig und nur soweit darzustellen, wie ihre Darstellung für Meditation hilfreich ist. Zum Verständnis von Dukkha bietet es sich an, einmal die so genannten Fünf Hindernisse (pañca-nivaraṇa) zu betrachten und zu erläutern. Daher wollen wir hiermit beginnen:
Die fünf Hindernisse (in der Meditation und im gesamten spirituellen Fortschritt)
Der Buddha lehrte: Es gibt fünf Hindernisse, die uns im spirituellen Fortkommen und vor allem im Erlangen tieferer Meditationszustände behindern. Überdies, und das ist sehr wichtig zu wissen, steckt in ihnen die Ursache für Stress und Leid. Über Entstehung, Beseitigung und nicht Wiederentstehen dieser fünf Hindernisse solle man sich laut dem Buddha daher im Klaren sein.10
Lass Dich bitte nicht davon abschrecken, wenn es im Folgenden ein wenig wissenschaftlich wird; ich habe im Laufe der vielen Jahre, die ich als Meditationslehrer tätig war, festgestellt, dass der Zugang über zum Beispiel die Neuropsychologie für viele Schüler im Westen für das Verständnis der Grundlagen des Buddhismus äußerst geeignet ist. Ich werde es natürlich einfach halten.
Die Fünf Hindernisse sind:
1. Sinneslust, Affinität, Zuneigung
2. Widerwille, Aversion, Abneigung
3. Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, Energielosigkeit, Lethargie
4. Innere Unruhe, Gewissensbisse, Aufgeregtheit
5. Zweifel
und diese gilt es in der Tiefe zu verstehen. Dies soll nun unsere Aufgabe sein.
1. Sinneslust, Affinität und Zuneigung verstehen:
Das Streben nach Sicherheit und Geborgenheit
Alle Wesen haben dem Grundsatz nach das natürliche Bestreben zu leben. In Sicherheit – also frei von Bedrohung und Gefahr welcher Art auch immer – zu sein ist hierfür ein wichtiger Faktor, und Geborgenheit ist die mit Sicherheit einhergehende affektive Verknüpfung. Das Gefühl von Geborgenheit entsteht, wissenschaftlich betrachtet, wenn ein bestimmter Hirnbereich innerhalb des limbischen Systems angetriggert wird: das so genannte Belohnungssystem. Wird dieses aktiv, kommt es zur Ausschüttung von Glückshormonen. Ganz so simpel ist es allerdings nicht; der Prozess, der in diesem Rahmen in Gang gesetzt wird, verläuft über verschiedene Stufen11:
➢ Angenommen jemand geht über den Weihnachtsmarkt und es steigt ihm der Duft von Reibekuchen in die Nase. Seine Erinnerung, ein Teil des kognitiven Wahrnehmungsprozesses, signalisiert ihm: „Das ist lecker.“ „Lecker“ ist „nach Ansicht“ unseres Organismus immer dann etwas, wenn er die Erfahrung gemacht hat, dass dieses Nahrungsmittel ihm guttut, also einen Nährstoffmangel ausgleicht oder aber diesem Mangel vorsorgt, indem entsprechende Reserven angelegt werden. In der Folge der bewusst gewordenen Geruchswahrnehmung und der Bewertung als „lecker“ entsteht nun eine so genannte gerichtete Appetenz, hier die Lust auf Reibekuchen. An dieser Stelle bereits wird das Belohnungssystem ein erstes Mal aktiviert: Es entsteht Vorfreude, die dazu motiviert, einen Reibekuchen zu kaufen und zu verzehren. Das Glücks- und Antriebshormon Dopamin, welches hier ausgeschüttet wird, ist hierfür maßgeblich verantwortlich, und so wird das Belohnungssystem auch beizeiten „Motivationssystem“ genannt.
➢ Mit dem ersten abgebissenen Stück Reibekuchen intensiviert sich die Aktivität des Belohnungszentrums: Der Organismus „bedankt“ sich durch das Gefühl von Freude am Verzehr des Reibekuchens, ausgelöst durch eine sehr hohe, aber noch steigerungsfähige Ausschüttung von Glückshormonen. „Wow! Mehr davon!“
➢ Am Höhepunkt der Belohnungsphase angelangt, tritt ein Gefühl von „so, das tat richtig gut, aber jetzt reicht es auch“ auf. Der Botenstoff GABA12 wird ausgeschüttet. Dieser zeichnet verantwortlich für ein Gefühl, das wir alle kennen, wenn wir uns nach einem üppigen und schmackhaften Mahl satt und zufrieden aufs Sofa fallen lassen und eigentlich nur noch ein Verdauungsschläfchen im Sinn haben. Wir fühlen uns – und das ist hier das Entscheidende – sicher und geborgen und schlummern mit einem friedlichen Lächeln ein.
Nun ist aber nicht alles Reibekuchen im Leben. Welche anderen Dinge oder auch Umstände und Situationen gibt es, die unser Belohnungssystem antriggern können und so zu einem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit führen können? Die recht pauschale Antwort lautet: Jedes angenehme Erleben. Und dabei ist es dem Organismus ziemlich gleich, ob dieses angenehme Erleben für ihn schädlich oder zuträglich ist; so weit „denkt“ er nicht.
Unterschiedliche Gehirnbereiche konkurrieren beizeiten sogar untereinander in der Beurteilung, was wir dem Organismus in einem bestimmten Moment zuführen sollen, oder was nicht. Das liegt daran, dass jeder einzelne Hirnbereich nur auf seinem Kompetenzgebiet arbeitet und nur nach seinen eigenen bekannten Parametern darüber befindet, was uns guttut und was nicht.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Rauchen. Ein Teil des Gehirns, besagtes Belohnungssystem, möchte eine Zigarette rauchen, ein anderer Teil, der frontale Cortex, der reflektierende und analysierende „Denker“ in uns, sagt uns, dass Rauchen schädlich ist und wir es lassen sollten. Wer dominiert? Darauf gibt es keine allgemeine Antwort.
Übung: Versuche einmal das eben Beschriebene an Dir selbst zu beobachten, wenn Dir so richtig nach einem Stück Kuchen, einer Tasse Café, einer Zigarette oder was auch immer ist. Schau einmal genau hin, wann diese Bedürfnisse vorzugsweise auftauchen und wie sich welche Phase der „Belohnung“ anfühlt.
Um weitere Beispiele anzuführen, bediene ich mich einmal der so genannten maslowschen Bedürfnis-Pyramide, die in der Psychologie häufig herangezogen wird. „Belohnungs-Trigger“ sind danach:
• Physiologische Bedürfnisse: Gesundheit, Nahrung, Schlaf, Sexualität, Schutz vor Witterung
• Stabilität der Lebensumstände, wirtschaftliche Absicherung
• Soziale Bedürfnisse, Partnerschaft, Freunde, Bekannte, Vereine
• Wertschätzung, Anerkennung, Geltung, Prestige
• Persönlichkeitsentwicklung: intellektuelle, künstlerische, spirituelle … Weiterentwicklung
Anders als Maslow sehe ich hier keinen stufenweisen Aufbau im Sinne einer Wertigkeit wie etwa: Wenn und erst wenn das niedrigere Bedürfnis nach Nahrung gewährleistet ist, strebt der Mensch nach Befriedigung des nächst höheren Bedürfnisses wie nach wirtschaftlicher Absicherung. Denn wirtschaftliche Absicherung dient ja eben der Beschaffung von Nahrungsmitteln. Die soziale Anerkennung am Arbeitsplatz sichert den Erhalt des Arbeitsplatzes und dient damit der wirtschaftlichen Absicherung, und so fort.
Halten wir fest:
Appetenz
→ Freude und Wohlgefühl
→ Sicherheit und Geborgenheit
Letztendlich geht es bei der Suche nach Befriedigung, welcher Art sie auch sein mag, streng genommen in erster Linie gar nicht um die Befriedigung der Lust selbst; diese ist nur an der Oberfläche von Bedeutung. In der Tiefe geht es immer um das Erreichen eines, sei es auch nur kurzzeitigen, Gefühls von Sicherheit und Geborgenheit, und damit geht es um nichts Geringeres als das Überleben, um den Selbsterhaltungstrieb. Dieser liegt allem zugrunde, und es ist sehr wichtig, das zu verstehen.
Lust nach sinnlicher Befriedigung ist in der Tiefe betrachtet das Verlangen nach dem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Dieses ist unweigerlich verknüpft mit dem Selbsterhaltungstrieb, dem Drang zu überleben.
Die gesamte Bewertung unserer Umwelt als „gut“, „angenehm“, „schön“, „erstrebenswert“ usw. erfolgt nach dieser Maßgabe. Dies soll man sich stets vor Augen halten.
Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und die Aktivität des Belohnungssystems nun wirken dabei wie eine Schleife: Es entsteht durch die Wirkweise des Belohnungssystems ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, und gleichzeitig aktiviert das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit wiederum das Belohnungssystem. Würde es bei diesem Kreis bleiben, würden wir wohl auf ganz natürliche Weise ein Leben in immerwährender Glückseligkeit führen. Warum das nicht so ist, sehen wir später.
Weitreichende psychologische Wirkung: Das Selbstwertgefühl
Die Erwähnung der weitreichenden Wirkung dieses Systems ist von großer Bedeutung und sehr wichtig zu verstehen, wenn man sich mit Buddhismus und buddhistischer Meditation befasst. Ginge es nämlich einzig und allein um das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, wäre das zwar – wie wir beim nächsten zu besprechenden Hindernis „Widerwille, Aversion, Abneigung“ sehen werden – für sich genommen schon nicht unproblematisch; soweit wir die Prozesse des Belohnungssystems bisher betrachtet haben, geht es ja zunächst nur um den Selbsterhaltungstrieb, der hier zu Grunde liegt. Tatsächlich aber geht es um weit mehr.
Beim Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit schwingt etwas anderes mit, das sich schwer in Worten beschreiben lässt. Stellen wir daher einmal folgende Überlegung an:
Angenommen ein Arbeitnehmer hat in dem Unternehmen, für das er arbeitet, eine interessante Stellung, die, vielleicht weil er auf seinem Gebiet der einzige Fachmann im Unternehmen ist, es ihm erlaubt, mehr oder weniger selbständig und autark zu arbeiten. Wie er wann welche Aufgabe erfüllt, ist ihm weitestgehend selbst überlassen; niemand kann ihm hineinreden, niemand kann ihn kritisieren, solange er nur seine ihm übertragene Aufgabe redlich und fristgemäß erfüllt. Vielleicht hat er sogar noch Gleitzeit und kann gegebenenfalls auch mal am Wochenende arbeiten und dafür in der Woche einen Tag frei machen. Rechenschaft muss er einzig für das rechtzeitig vorliegende Ergebnis seiner Arbeit ablegen, und auch die Erfüllung der vertraglichen Wochenarbeitszeit wäre Vertrauenssache.
Wenn man da einmal hineinfühlt, würde man sagen, er hat fast einen Traumberuf. Wenn man so viele Freiheiten hat, dann mag es nicht einmal so wichtig sein, wie sehr einem die eigentliche Arbeit zusagt. Nun, wie fühlt sich das an? Versetze Dich einmal kurz in eine solche Situation.