Michael - Maria Stein - E-Book

Michael E-Book

Maria Stein

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Beschreibung

Michael Sinclair und Eric Andersson studieren gemeinsam in Princeton. Sie sind vier Jahre beste Freunde. Sie trennen sich, kommen wieder zusammen und können nicht voneinander lassen.

Nach weiteren acht Jahren scheint endlich alles zu stimmen. Michael und Eric erleben eine unvergessliche Nacht. Doch dann hat Michael einen furchtbaren Unfall, der ihr beider Leben für immer verändert.

Bekommen sie eine dritte Chance?

Das Buch ist eng verknüpft mit dem Buch Gabriel, beide sind aber in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Für Serieneinsteiger empfiehlt es sich, mit 'Michael' zu beginnen.

Achtung mit M/M und M/M/F- Szenen!

Dieses Buch ist ausschließlich für volljährige Leser geeignet, die sich nicht an den Schilderungen expliziter homoerotischer und bisexueller Handlungen stören.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Maria Stein

Michael

Die Gefallenen

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

.

Michael

Die Gefallenen

Gay Romance

von Maria Stein

 

Copyright © 2016 by Maria Stein

1. Auflage

 

Impressum

Maria Stein

c/o Papyrus Autoren-Club Pettenkoferstr. 16-18 10247 Berlin Tel.: 030 / 49997373 Fax: 030 / 49997372

 

Bildmaterial: Maria Stein

Covergestaltung: Maria Stein

Korrektorat: Stefanie Rick

 

Sämtliche Personen und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Im wahren Leben gilt Safer Sex!

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

 

E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie.

 

Dieses Buch ist ausschließlich für volljährige Leser geeignet, die sich nicht an den Schilderungen expliziter homoerotischer und bisexueller Handlungen stören.

 

Kurzbeschreibung

 

Michael Sinclair und Eric Andersson studieren gemeinsam in Princeton. Sie sind vier Jahre beste Freunde. Sie trennen sich, kommen wieder zusammen und können nicht voneinander lassen.

Nach weiteren acht Jahren scheint endlich alles zu stimmen. Michael und Eric erleben eine unvergessliche Nacht. Doch dann hat Michael einen furchtbaren Unfall, der ihr beider Leben für immer verändert.

Bekommen sie eine dritte Chance?

 

Das Buch ist eng verknüpft mit dem Buch Gabriel, beide sind aber in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden, ebenso ist die Reihenfolge unerheblich.

 

***

„Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sichere Weg zum Erfolg ist immer, es doch noch einmal zu versuchen.“

 

Thomas Alva Edison

Scheideweg

 

2002

 

1. Langsam, aber sicher, wurde es kalt

 

Sonntag, mittags

‚Nicht jetzt, nicht jetzt!‘ Der Gedanke hallte immer wieder in seinem Kopf.

Einige Schneeflocken schwebten lautlos durch die zerborstene Frontscheibe und legten sich zart auf seine Wange. Michael Sinclair strich sie mit einer fahrigen Bewegung weg. Sein Blick fiel auf die rechte Hand. Sie war blutbesudelt und voller kleiner Schnitte. Zögernd bewegte er die Finger, dann senkte er langsam die Hand.

Rauch stieg in einer schwarzen Säule aus der völlig zerstörten Front seines Porsches in den Himmel hoch. Das Auto hatte sich vorne unter der Betonabgrenzung der Fahrbahn verkeilt. Es roch nach verbranntem Plastik, Metall und Blut – seinem Blut.

Erst jetzt nahm er wahr, dass der Verkehr hupend und brausend an ihm vorbeiraste. Benommen sah er an sich runter. Der Oberkörper war übersät mit Glasscherben der zersplitterten Scheibe. Das ehemals weiße Hemd war voller Blutsprenkel und entlang des Sicherheitsgurts zerrissen. Die Unterschenkel verschwanden im Dunklen des zusammengestauchten Beinraumes.

‚Das sieht nicht gut aus.‘ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, blinzelte Tränen weg. Wie viel Zeit war seit dem Unfall vergangen? Was war genau geschehen? Er hatte keine Erinnerung an die letzte Stunde. Erschöpft lehnte er den Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze, schloss erneut die Lider und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Langsam, aber sicher, wurde es kalt.

Ein dumpfes Pochen in den Unterschenkeln zwang ihn in die Realität zurück. Zumindest fühlte er seine Beine noch. Einen Moment befürchtete er, gelähmt zu sein. Das unangenehme Brennen verschlimmerte sich mit jeder verronnenen Minute. Schmerz, zuerst nur weit entfernt, setzte nun mit einer Intensität ein, die alles überstieg, was er je erlebt hatte. Es fühlte sich an, als ständen seine Füße in Flammen. Zitternd atmete er ein. Eine weitere Schmerzwelle stieg von den Beinen hoch.

‚Scheiße, das ist gar nicht gut.‘ Er versuchte, im Geiste der Situation zu entfliehen, einfach an etwas anderes zu denken, gegen das Leid anzuatmen, doch es war zu stark. Es brachte ihn immer wieder in seinen Körper zurück und versagte ihm zugleich die erlösende Bewusstlosigkeit.

Die Kälte war beißend. Weitere Schneeflocken fielen vom grauen Himmel und nun zitterte er am ganzen Körper. Die Qualen brannten jedes rationale Denken, die zivilisierte Hülle und alle Gefühle weg; übrig blieb nur der gepeinigte Leib. Er schrie seinen Schmerz heraus und Tränen liefen ihm ungehindert über das Gesicht.

 

Drei Stunden früher

Es wurde hell im Schlafzimmer. Die aufgehende Sonne hatte ihn geweckt. Der Himmel war blau mit vereinzelten Wolken. Über Nacht war der erste Schnee des Jahres gefallen und kleidete den Central Park in ein märchenhaft weißes Gewand. Als weit entferntes Grummeln hörte er den Lärm der Stadt. Irgendwo ertönte kurz eine Sirene, wurde leiser und verklang. Ansonsten war es ruhig hier oben in seinem Apartment, einzig ihrer beiden Atemzüge waren hörbar.

Michael drehte sich nach links. Er winkelte den Arm an und stützte den Kopf auf die Hand. Bedächtig strich er mit den Fingern der rechten Hand über die Schultern der Person an seiner Seite. ‚Eric! Mein Gott, wie sehr ich dich liebe.‘

Das Ganze fühlte sich immer noch ungewohnt für ihn an: Er liebte einen Mann. Der Satz machte ihn sprachlos, er klang seltsam und war dennoch eine unumstößliche Tatsache.

Seine Fingerkuppen glitten über Erics Haut. Noch sprach er den Gedanken nicht aus, aber bald – vielleicht sogar heute Abend. Bei einem guten Essen würde er ihm seine Liebe gestehen.

Der Blick wanderte über den großen und athletischen Körper. Jeder einzelne Muskel zeichnete sich deutlich unter der Haut ab. Eric war in phänomenaler Form – durchtrainiert bis in die letzte Faser und wunderschön anzusehen.

Michael musste grinsen. Er dachte an die lang vergangene Zeit zurück, an die vielen gemeinsamen Trainingsstunden im Hallenbad während ihrer Studienzeit. Eric war seit eh und je der schnellere Schwimmer von ihnen beiden, gewann sogar zweimal die Unimeisterschaft und war im letzten Jahr des Studiums in der Landesmeisterschaft ganz weit vorne mit dabei.

Schon damals war er selber zu breit und zu muskulös, um wirklich an der Spitze mitschwimmen zu können, außer beim Schmetterlingsstil hatte er gegen Eric keine Chance. Aber dafür gewann er meistens, wenn sie spaßeshalber miteinander rangen.

Er beugte sich über Eric und knabberte zärtlich an seinem Hals, strich sanft durch das kurze, hellblonde Nackenhaar. Endlich, endlich konnte er sich seine Liebe zu ihm eingestehen. Nach so langer Zeit begriff er, dass es im Grunde egal war, welches Geschlecht Eric hatte. Sie gehörten zusammen.

Seine Hand strich über die warme Haut des flachen Bauchs, wanderte runter in tiefere Regionen. Er lachte leise. „Na, wenn da nicht schon jemand wach ist?“ Als Antwort bekam er ein dumpfes Knurren. Das Grinsen wurde breiter, während er anfing, die Erektion zu liebkosen.

Eric keuchte auf. „Verdammt, Michael, wenn du nicht willst, dass wir Sex haben, solltest du damit aufhören.“

„Ich will aber!“, flüsterte er ihm ins Ohr. Mit einer kraftvollen Bewegung zog er den großen Körper näher zu sich. Er selber war ebenfalls hart.

Sie hatten eine fantastische Nacht zusammen verbracht. Nach so vielen vergeudeten Jahren wollte er so schnell wie möglich die verlorene Zeit aufholen.

Voller Verwunderung zeichnete er die eindeutig männlichen Linien des Rumpfes nach. Blut schoss in die untere Region. Ja, er liebte diesen Mann. Er liebte Eric und er begehrte ihn.

Andere suchten ein Leben lang die große Liebe und fanden sie trotzdem nicht. Er hatte sie gefunden! Was machte es aus, dass sie das vermeintlich falsche Geschlecht hatte?

War es wichtig, dass es ein Mann war? Nein! Nicht einmal für den Sex. Es dauerte schließlich eine halbe Ewigkeit, bis er das kapierte. Oh verdammt, während der letzten Stunden hatten sie sich den Verstand aus dem Gehirn gevögelt. Was für eine unglaubliche Nacht, und er begehrte mehr, so viel mehr!

Natürlich wünschte er sich weiterhin Nachkommen. Er wollte, wenn sein Bruder und er einmal nicht mehr waren, dass ihr Konzern nicht einfach so zerfiele, stattdessen weitergeführt wurde. Aber nicht nur dynastisches Denken stand hinter dem Kinderwunsch, sondern schlicht die Tatsache, dass er Kinder liebte und sich nach eigenen sehnte. Im Grunde strebte er immer noch eine Frau an seiner Seite an.

Dieses Problem war jetzt genauso wenig gelöst wie vor acht Jahren. Aber im Gegensatz zu damals war er heute zuversichtlich, dass sie eine Lösung fanden – zusammen mit Eric würde er eine Lösung finden.

Er umfasste ihre beiden Penisse und fing an, sie mit festem Griff zu streicheln. Eric stöhnte hilflos auf. „Michael ...“ Es war nur ein Flüstern.

 

Eine Stunde später

Eric lag noch eine Weile im Bett, wach, aber nicht gewillt, aufzustehen. Er gähnte faul. Ein breites Dauergrinsen stellte sich bei ihm ein. Erst vor wenigen Minuten hatte sich Michael mit einem Kuss von ihm verabschiedet. Ein tiefer, harter Kuss am helllichten Tage, ohne dass Alkohol im Spiel war. Ein Kuss, der ein Versprechen auf mehr beinhaltete.

Ein kleiner Störfall hatte sich in einem seiner Chemiewerke in der Nähe von Baltimore ereignet. Michael war jetzt dorthin unterwegs, sah nach dem Rechten und würde heute Abend wieder zu ihm zurückkehren.

Ein Rest ihres Spermas klebte noch an seiner Hüfte. Eric verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Diese Nacht und vor allem der Morgen danach waren entschieden mehr nach seinem Geschmack als jene vor acht Jahren. Diesmal kam er ganz und gar auf seine Kosten, obwohl er nochmals den für ihn ungewohnten passiven Part einnahm.

Er freute sich, dass er Michael bald wiedersehen würde. Lange genug wartete er schon auf ihn. Es tat gut zu wissen, dass sich sein Status von einem rein platonischen Freund in mehr gewandelt hatte. Was dieses ‚Mehr‘ denn genau beinhaltete, mussten sie noch herausfinden.

Zufrieden schloss er die Augen und dachte an ihn. Michael hatte sich einerseits ziemlich verändert, andererseits blieb er doch er selbst. Er sah wie der Prototyp des erfolgreichen Mannes aus und war dennoch unverfälscht ein ganzer Kerl: muskulös, bullig und gleichzeitig attraktiv und immer gut gekleidet. Er besaß ein umwerfendes Lachen und die unglaublichsten Augen, die er je gesehen hatte.

Michael war schon seit eh und je der Siegertyp und er liebte ihn noch genauso wie damals – nein, stimmte nicht, das heute war besser, so viel besser.

Eric strich über sein Glied, das bei den Gedanken an Michael wieder in Habtachtstellung ging. Spielerisch fuhr er mit der Hand hoch und runter, rekelte sich genussvoll auf dem Laken und schmunzelte zufrieden. Natürlich war noch lange nicht alles geklärt. Aber er war zum ersten Mal zuversichtlich, dass sie einen gemeinsamen Weg fänden.

Diesmal war er überzeugt, dass Michael sich nicht wieder von ihm abwandte. Immerhin hatte er den Schlüssel von dem Penthouse erhalten und, was viel wichtiger war, er hatte einen Kuss bekommen – einen Kuss am Tag danach. Und was für einen Kuss!

Er drehte sich auf den Bauch und stopfte das Kissen unter den Kopf. Sein Hintern brannte immer noch von der Nacht, aber alles in allem fühlte er sich unglaublich wohl. Langsam dämmerte er in einen tiefen Schlaf hinüber.

 

Freundschaft oder der Beginn einer wunderbaren Reise

 

1990 – 1994

 

2. Er war vom ersten Moment an gefangen

 

Eric hatte sich mehr schlecht als recht in der kleinen Bude, die die nächsten vier Jahre sein Zuhause sein würde, eingerichtet. Es war ein größeres Zimmer mit zwei Betten in einem der Studentenheime, hier auf dem Gelände der Universität von Princeton.

Ganz zufrieden mit der Welt und sich selbst lag er auf einer der Schlafstätten, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und hörte lautstark Radio.

Ein neuer Song, ‚Blame it on the rain‘ von Milli Vanilli, lief an und plärrte aus dem Lautsprecher. Das Lied der beiden Sänger war einfach grottenschlecht, sodass er sich trotz seiner Faulheit genötigt sah, aufzustehen und umzuschalten – aber er kam gar nicht mehr dazu.

In diesem Moment flog die Tür auf und ein gleichaltriger Student trat ein. Der bedachte zuerst das Radio mit einem scheelen Blick und dann ihn. Eric konnte das Stutzen und Rattern dessen Denkens förmlich sehen. Der Mann warf seine Tasche auf das unbesetzte Bett und sah ihn noch mal konsterniert an.

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst?“, und dann begann er, schallend zu lachen.

Vom ersten Moment war Eric fasziniert von diesem unglaublich anziehenden und freien Lachen und von den blitzenden Augen. Mein Gott, diese Augen! Er hatte noch nie solche Augen gesehen – smaragdgrün und von atemberaubender Strahlkraft. Der zweite Blick galt den Händen; groß, kräftig und doch elegant. Damit war er endgültig verloren, denn er liebte schöne Hände und diese hier waren wunderschön. Oh ja, er war vom ersten Moment an gefangen und im Grunde wollte er auch gar nicht mehr frei sein.

Eric stand auf und trat auf ihn zu. „Ich höre mir sonst nicht so eine Schrottmusik an ...“ Er machte dabei eine entschuldigende Geste Richtung Radio, dann begriff er, wie absurd er sich anhören musste, und stimmte in das Lachen ein. Nach einigen Momenten streckte er dem anderen die Hand entgegen. „Eric, ich bin Eric Andersson!“

Der schlug kraftvoll ein. „Michael Sinclair!“

„Von den Sinclairs?“ Michael nickte. Eric musterte ihn nun genau.

Sein neuer Mitbewohner war fast so groß wie er selbst. Bestimmt war er einen Meter neunzig, wirkte aber größer, da er muskelbepackt, fast schon bullig war, ohne jedoch ein Gramm Fett zu viel auf den Rippen zu tragen. Er besaß kurzes, rabenschwarzes Haar, das leicht gelockt war, und dazu einen südländischen Teint. Die Augen waren umrahmt von dichten, sehr langen Wimpern, dem einzigen femininen Element in dem sonst so scharf geschnittenen Gesicht. Die schmale Nase sprang in dem römischen Profil kühn hervor und der herrische Mund war fest und unnachgiebig.

Michael war nicht im herkömmlichen Sinne schön, eher auf eine urtümliche Art gut aussehend: sehr maskulin, herb und von großer Sinnlichkeit.

Zudem stammte er aus einer der reichsten Familien des Landes. Die Sinclair Corporation lag noch ganz in Familienhand. Ursprünglich war die Firma ein reiner Stahlproduzent, inzwischen war sie auch bekannt als stark wachsender Chemiekonzern.

„Ich hoffe, das Lied war wirklich nur ein Ausrutscher?“ Er zwinkerte ihm gut gelaunt zu.

„Absolut!“ Eric konnte gar nicht anders und grinste zurück. „Was hast du vor zu studieren?“, erkundigte er sich.

„Betriebswirtschaft! Und du?“

„Medienwissenschaft“, gab Eric zur Antwort.

„Du und ein Journalist?“

 

Michael hob leicht zweifelnd die Augenbraue. Normalerweise schätze er seine Mitmenschen sehr schnell und treffsicher ein, hier jedoch nicht. Eric kannte er natürlich erst seit wenigen Minuten, er konnte sich ihn als einiges vorstellen, unter anderem als Berufssportler oder Ingenieur, vielleicht sogar als Fotograf, aber garantiert nicht als Journalist oder Schreiberling. Er war dafür einfach zu groß, zu präsent, zu wahrhaft. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihn überragte. Doch Eric war größer und fast so muskulös wie er selbst.

Michael ließ nochmals den Blick über die hochgewachsene Gestalt wandern. Eindeutig, sein Gegenüber war sehr sportlich, wenn auch schlanker als er. Er besaß hellblondes, fast weißes Haar, das er in einer kurzen, hoch gegelten Frisur trug, die das kantige Gesicht mit den hohen Wangenknochen betonte. Die stahlblauen Augen mit den hellen Wimpern und Augenbrauen waren schwer zu deuten und erinnerten ihn an Gletschereis. Die skandinavischen Wurzeln waren unverkennbar.

 

Eric stellte den Sachverhalt richtig: „Mhm, nein, kein Journalist. Meinem Vater gehört das Verlagshaus And Media Print.“ Michael nickte scheinbar wissend, hatte aber sicher nicht die geringste Ahnung. „Keine Angst, wenn du es nicht kennst. Es ist eher ein kleiner Verlag.“ Eric winkte mit der Hand ab. Irgendwann einmal würde er die Firma übernehmen und er hatte da so einige Pläne, was er alles ändern wollte. Aber vorläufig genoss er das Leben in vollen Zügen, kostete es aus, frei und ungebunden zu sein und die nächsten vier Jahre auf engstem Raum mit jeder Menge Jungs und Mädels zusammen zu verbringen.

Den Abend verbrachten sie bei einer bestellten Pizza, Coke und einer intensiven Diskussion, was denn nun gute Musik sei. Dabei stellten sie fest, dass sie im Grunde einen ganz ähnlichen Musikgeschmack besaßen.

„Abgesehen von Milli Vanilli“, ergänzte Michael mit einem unterdrückten Prusten.

„Blödmann!“, kommentierte Eric das spöttisch und schlug ihm spielerisch gegen die Schulter. Sie grinsten sich an. Sie verstanden sich vom ersten Tag an blendend.

 

3. Wollen wir zukünftig zusammen trainieren?

 

Einige Wochen später, Montag, früher Morgen

Eric zog sich aus und schlüpfte in die enge Badehose. Kurz stand er unter der Dusche und wusch sich, dann trat er hinaus in das große Hallenbad. Es roch nach frisch geputzten Kacheln. Irgendwo plätscherte und gurgelte Wasser einen Ablauf hinunter. Morgenlicht reflektierte sich glitzernd auf der glatten Wasseroberfläche.

Seit einer Woche studierte er hier in Princeton. Eric mochte die Atmosphäre von Wissen und Strebsamkeit in den alten Gemäuern. Er genoss es, entlang der langen Wege durch die Grünanlagen des Campusgeländes zu flanieren und liebte das fröhliche und gesellige Leben in dem Studentenheim. Ja, er war froh, hier einen Platz ergattert zu haben.

Der Großteil der Studenten war unkompliziert und offen und sah dazu auch noch gut aus. Es fiel ihm leicht, Freunde zu finden. Natürlich gab es auch Idioten, hauptsächlich reaktionäre Weiße aus der Mittelschicht, die Probleme mit ihm hatten. Er würde sein ganzes Leben immer wieder solchen Menschen begegnen. Solange es nur gehässige Blicke gab, ließ ihn das kalt. Damit kam er problemlos klar.

Tief sog er die Luft ein. Er liebte den speziellen Geruch nach Hallenbad: nach Chlor, Desinfektionsmittel und Wasser. Diese stille Zeit am Morgen, wenn keine Besucher sich in der großen Halle tummelten und wenn über allem eine tiefe Ruhe lag, schätzte er ganz besonders.

Abgesehen von einem Schwimmer, der seine einsamen Bahnen zog, war er der Erste. Normalerweise ärgerte es ihn, wenn er diesen magischen Moment nicht ganz für sich hatte, wenn jemand vor ihm da war. Heute aber konnte nichts seine gute Laune verderben.

Eine Weile beobachtete er den Anderen. Der schwamm erstaunlich gut. Vielleicht zog er die Arme nicht ganz sauber nach hinten und musste dies dann mit Kraft wettmachen. Ein klassischer Fall, bei dem unsaubere Technik mit Muskelkraft kompensiert wurde, auch wenn es zweifellos auf einem sehr hohen Niveau stattfand.

Er trat ans Becken, setzte sich an den Rand entlang der Längsseite und verfolgte den Schwimmer mit dem Blick. Die Rollwende hingegen führte er fehlerfrei aus. Der große Körper glitt elegant unter der Oberfläche durch das Wasser. Langsam schwamm er bis zum Ausstieg.

Es war ein schöner Anblick, als der Mann dem Nass entstieg und das Wasser an ihm runterrann. Es bestätigte Eric, was er unter all den Kleidern schon vermutet hatte: Michael nannte einen herrlich durchtrainierten Körper sein Eigen.

Sie beide verstanden sich, als kannten sie sich bereits von Kindesbeinen an. In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft waren sie oft gemeinsam unterwegs, trotzdem wusste er bis eben nicht, dass Michael auch schwamm.

„Ich hätte dich von der Figur her eher beim Football als beim Schwimmen gesehen!“

Michael strich sich das nasse Haar aus der Stirn und zuckte dabei ungerührt mit den breiten Schultern. „Da bist du nicht der Erste, der das feststellt. Pech, dass ich nicht das geringste Interesse an Football habe.“

Eric grinste. „Ich nenn das Glück. Ich kann dem Football auch nichts abgewinnen. Du wirst mir immer sympathischer.“

„Du mir ebenso – bis auf deinen Musikgeschmack.“ Jetzt lachten sie gemeinsam.

„Das wirst du mir ewig unter die Nase reiben, nicht wahr?“, stöhnte er gespielt auf.

„Natürlich“, räumte Michael gut gelaunt ein. Sein Grinsen wurde breiter. „Zeig mir mal, wie gut du schwimmen kannst.“

„Neugierig?“, stichelte Eric.

„Ja, absolut!“, gab Michael zu.

Geschmeidig ließ sich Eric ins Wasser gleiten.

 

Nun waren die Rollen vertauscht. Michael beobachtete Eric beim Schwimmen. Nachdem der einige Züge geschwommen war, gestand sich Michael fast neidlos ein, dass Eric der weitaus bessere Schwimmer war. Die Oberfläche kräuselte sich kaum, während der helle Körper durch das Wasser glitt. Jede Bewegung war fließend, wurde eins mit dem nassen Element. Solch ein Talent war ein wunderbares Geschenk Gottes.

Er neigte etwas den Kopf und die Augen verengten sich, als er ihn mit dem Blick verfolgte. Als sich Eric auf seiner Höhe befand, stand er auf und hechtete ebenfalls ins Becken. Er versuchte, sein Defizit an Begabung mit Muskelkraft auszugleichen. Am Ende der Bahn wechselte er in den Schmetterling, wissend, dass hier Kraft der entscheidende Faktor war.

Eric nahm gleichfalls diesen Schwimmstil auf. Als ihre Hände schließlich den Anschlag berührten, war Michael um einen Wimpernschlag der Schnellere. Sie hielten nebeneinander an. Während er völlig außer Atem war, lächelte Eric ihn an und atmete fast normal.

‚Verdammt, er hat mich absichtlich gewinnen lassen!‘ Trotz dieser Tatsache freute er sich wie ein Schneekönig über den Sieg. Er umarmte Eric und in reinem Übermut tauchte er ihn unter. Den anschließenden kleinen Ringkampf hingegen entschied er klar für sich.

Danach schwammen sie noch eine Stunde gemeinsam, zogen Bahn um Bahn in einem ruhigen und konstanten Tempo. Am Ende einer Länge hielten sie an. Sie sahen sich an, nickten sich gegenseitig zu und entstiegen mit einem zufriedenen Grinsen dem Becken.

Es war üblich, dass sich ein ambitionierter Schwimmer am Körper rasierte. Darum war Michael nicht weiter erstaunt, dass Eric ähnlich wie er einen haarlosen Oberkörper und Beine hatte. Unter der Gemeinschaftsdusche stellte er aber verblüfft fest, dass Eric wahrhaftig überall enthaart war. Er hob leicht die Augenbraue an, sagte jedoch nichts weiter dazu.

 

Eric warf aus dem Augenwinkel einen Blick zu Michael. Alles an ihm war groß und kraftvoll. Er wandte sich rasch ab und seifte sich mit ruppigen Bewegungen ein. In Zukunft musste er solch ein gemeinsames Duschen meiden. Sein Körper reagierte auf diesen Anblick und verriet ihn. Er sollte den Wunsch, der sich da immer mehr in ihm manifestierte, ganz zügig vergessen. Michael war durch und durch hetero.

Obwohl Eric sonst ungeniert mit seiner sexuellen Ausrichtung umging, wollte er seinen neuen Freund nicht schon jetzt am Anfang vor den Kopf stoßen. Früher oder später würde es Michael erfahren, denn er beabsichtigte nicht, sich zu verstellen. Aber hoffentlich war zu diesem Zeitpunkt ihre Freundschaft gefestigt genug, dass es ihn nicht weiter störte. Vielleicht war bis dahin auch das Verlangen nach ihm abgeklungen.

Er stellte den Wasserstrahl ab und wickelte sich das Tuch um die Hüften. Sie waren Freunde, und das wollte er nicht aufs Spiel setzten. „Wollen wir zukünftig zusammen trainieren?“, fragte er in einem möglichst neutralen Tonfall.

„Wenn ich dir nicht zu langsam bin?“ Michael sah ihn zweifelnd an. „Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich gegen dich, wenn du ernsthaft schwimmst, keine Chance habe“, führte er den Gedanken aus.

„Ach weißt du, ich bin ein großzügiger Mensch!“ Dabei grinste er Michael frech an.

„Idiot!“ Der grinste zurück.

„Das heißt, wir werden zusammen trainieren?“, fragte Eric nun wieder eindringlich nach.

„Ja, das heißt es!“, bestätigte ihm Michael genauso ernst.

„Lust auf ein gemeinsames Frühstück?“

„Ich dachte schon, du würdest nie fragen!“ Michael legte den Arm um Erics Schultern. „Ich habe einen Bärenhunger.“

 

 

4. Lädst du mich zum Frühstück ein?

 

Eine Viertelstunde später

Mit sicherem Handgriff schraubte Eric die kleine italienische Espressomaschine zusammen. Der Rest des Frühstücks stand schon auf dem Tisch. Sie hielten sich in der Gemeinschaftsküche des Studentenheims auf. Die Ausstattung hier war schlicht und wies deutliche Gebrauchsspuren auf, aber alles Notwendige war da.

„Du kannst kochen?“, fragte Michael verwundert.

„Ja, ganz passabel! Muss man auch bei einem Zwei-Mann-Haushalt!“ Michael sah ihn fragend an. „Meine Mutter hat uns verlassen, als ich sechs war. Mein Vater ist ein furchtbarer Koch!“ Damit war das Thema für ihn abgeschlossen und entsprechend war sein Tonfall.

Michael nickte und akzeptierte den unausgesprochenen Wunsch ohne weitere Nachfrage. „Dann kannst du mir das Kochen beibringen?“

„Natürlich!“ Eric schüttelte die unangenehme Erinnerung ab. Das Lächeln, das er nun Michael schenkte, war nicht ganz so strahlend wie üblich. „Wieso willst du es lernen?“

„Unsere Eltern kürzten das monatliche Budget drastisch. Sie glauben, dass wenn wir mit wenig Geld auskommen müssen, gingen wir später dadurch sorgfältiger damit um und es soll unseren Charakter bilden.“ Michaels Tonfall war ätzend.

„Du sprichst von wir, wen meinst du damit?“

„Damit meine ich meinen Bruder und mich. Du wirst ihn sicher nächstens einmal antreffen. Er studiert ebenfalls hier in Princeton, wenn auch Mathematik.“

„Du hast einen älteren Bruder?“, fragte Eric verwundert nach.

Michael schüttelte belustigt den Kopf. „Nein, er ist ein Jahr jünger. Er ist unser kleines Genie.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit und der Blick aus den grünen Augen wurde weich. Es war klar ersichtlich, dass Michael seinen Bruder von ganzen Herzen liebte.

Also war Michael, wie Eric vermutete, der Erstgeborene. Er verströmte das Selbstbewusstsein eines Anführers und zeitweise haftete ihm das archaisch anmutende Auftreten eines Befehlshabers an, um das ihn Eric beneidete und das ihn gleichermaßen regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Irgendwann einmal wäre Michael das Familienoberhaupt und dann, entsprechend seiner Natur, nähme er diese Rolle ein, weil dies immer schon seine Bestimmung war.

Sie setzten sich an den schlichten Tisch und genossen das Essen. In diesem Moment tauchte ein schlanker Student in der Küche auf und selbst ohne das frisch gewonnene Wissen hätte Eric in ihm sofort den jüngeren Bruder von Michael erkannt.

Die beiden Männer ähnelten sich. Haut-, Haarfarbe, Größe und charismatische Ausstrahlung waren fast identisch. Andererseits sahen sie gleichzeitig wiederum erstaunlich unterschiedlich aus. Während bei Michael trotz des guten Aussehens alles in allem etwas grob und ungeschlacht wirkte, war sein Bruder von atemberaubender Schönheit.

„Na, Bruderherz, lädst du mich zum Frühstück ein?“, fragte Michaels Bruder im Plauderton.

„Da musst du Eric fragen. Er ist der Gastgeber.“ Dabei deutete Michael auf Eric.

Der junge Mann wandte sich Eric zu, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das eindeutig in der Familie lag, und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Gabriel, und womit kann ich dich bestechen?“

Eric schlug ein. „Frühstück mit zwei Erzengeln?“, stellte Eric mit einem Schmunzeln fest.

Gabriel legte locker den linken Arm um die Schultern seines Bruders, in den Augen blitzte der Schalk auf. „Mutter hat in der Tat einen etwas seltsamen Humor!“ Er deutete mit dem Finger auf Michael und sich. „Wir sollen zwei Erzengel sein?! Wohl eher nicht!“ Er lachte fröhlich auf. „Aber kommen wir zum Wichtigen zurück. Wie zum Geier bekomme ich eine Einladung zum Essen?“

„Hungrig, Bruder?“, zog Michael ihn liebevoll auf.

„Immer!“, stöhnte Gabriel leidend auf, grinste und stibitzte dabei eine Scheibe Käse von Michaels Teller.

„Setz dich!“, wies Eric ihn an. „Mit Alkohol als Bestechung werde ich euch beide in der nächsten Zeit verpflegen“, meinte er großzügig, „Nur so zur Info: Am liebsten trinke ich Wodka.“

Das musste man Gabriel lassen, er besaß Charme und schien trotz seines Äußeren nicht im Geringsten eingebildet zu sein, sondern verfügte über eine ungezwungene Herzlichkeit.

Gabriel setzte sich hin und griff weidlich zu. Das angeregte Gespräch der drei, das oft von einem fröhlichen Lachen durchzogen war, erfüllte den kleinen Raum. Eric sah die beiden Brüder an, die sich gegenseitig aufzogen und trotzdem liebevoll miteinander umgingen. Selten hatte er eine so harmonische Beziehung zwischen Geschwistern erlebt.

„Und, wer ist im Moment dein Favorit?“ Michael tunkte das Brot in das noch flüssige Eigelb und sah seinen Bruder fragend an.

„Ein hübscher Italiener namens Alessandro di Luca!“ Gabriel schnalzte mit der Zunge und lächelte. Eric spitzte die Ohren. Das war ja interessant!

„Verliebt?“, erkundigte sich Michael.

„Nein, eher nicht, aber er ist sehr nett.“ Hilflos zuckte Gabriel mit den Schultern. Dann blickte er auf seine Uhr, stand auf und griff sich ein Brötchen. „Ich muss jetzt gehen.“ Er wandte sich Eric zu. „Vielen Dank für das leckere Frühstück! Den Wodka hast du dir redlich verdient. Ich bring dir nächstens eine Flasche mit. Bis bald!“ Er schenkte ihnen noch ein letztes umwerfendes Lächeln und war verschwunden.

„Jetzt kennst du meinen Bruder“, stellte Michael lakonisch fest.

„Sehr sympathisch!“, kommentierte es Eric.

„Lass dich nicht von seinem engelhaften Äußeren täuschen, er hat es faustdick hintern den Ohren!“, warnte Michael ihn vor.

„Wie das?“, fragte Eric nach.

„Wie du sicher mitbekommen hast, ist mein Bruder schwul. Er lässt wirklich nichts anbrennen. Manch einer wechselt seine Kleider weniger oft als er seine Sexpartner.“ Für einen Moment sah es aus, als wollte Michael noch etwas ergänzen, dann schüttelte er den Kopf und schwieg.

Interessant, anscheinend störte sich Michael nicht an der Homosexualität seines Bruders, hatte aber mit dessen Promiskuität oder irgendetwas anderem seine Mühe.

 

5. Wieso hast du mir nie etwas gesagt?

 

Mehrere Woche später

Es war schlussendlich Gabriel, der Eric verriet.

Seit über zwei Monaten waren die drei befreundet. Das Studium hatten sie erfolgreich gestartet. Eigentlich müssten sämtliche Männer die Sinclair Brüder hassen, nannten sie doch genau das ihr Eigen, was allesamt gerne besäßen. Trotzdem war das nicht der Fall, im Gegenteil, fast jeder mochte die beiden. Sie waren der strahlende Mittelpunkt, um den sich alles drehte. Gut aussehend und charismatisch konnte ihnen niemand widerstehen.

Eric war sich bewusst, dass er trotz seiner sexuellen Vorlieben vor allem darum keine handfesten Probleme mit rückständigen und engstirnigen Mitstudenten hatte, weil er einerseits mit Michael befreundet war und sich somit automatisch unter dessen Schutz befand. Andererseits legte sich wohl niemand leichtfertig mit einem zwei Meter großen Typen an.

Sein Umfeld wusste inzwischen, dass er sowohl auf Frauen als auch auf Männer stand, nur Michael hatte er immer noch nicht darüber unterrichtet und anscheinend war diese Information auch nicht bis zu ihm durchgesickert. Bis jetzt fand Eric einfach nicht den passenden Zeitpunkt, ihn einzuweihen.

Es war prachtvolles Frühlingswetter. Die Sonne schien vom azurblauen Himmel, eine laue Brise wehte über den Platz und es roch nach frisch gemähtem Rasen. Sie saßen zwanglos draußen auf dem Grün vor der Nassau Hall und begutachteten die vorbeiflanierenden Studenten. Ihre Taschen und Bücher lagen neben ihnen im Gras.

Eine Brünette schlenderte vorbei. Eric nickte in ihre Richtung. „Anne, viertes Semester. Sie ist sehr hübsch.“ In diesem Moment drehte sie sich um und strahlte die drei Männer an.

„Ich glaube, das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit“, kommentierte es Michael mit einem Lächeln. „Wie sieht dein Plan aus?“

„Ach, ich bin spontan und vor allem will ich mich nicht festlegen.“ Eric grinste breit. „Es gibt so viele schöne Frauen.“

Michael verfolgte mit dem Blick eine zierliche Studentin, deren Haare kupferfarben in der Mittagssonne aufleuchteten.

„Sagt sie dir zu?“, fragte Gabriel seinen Bruder.

„Ja, sehr!“ Wobei Michael ihr noch lange nachsah, bevor er sich wieder seinem Bruder und Eric zuwandte.

Natürlich war Eric nicht verwundert, dass die Rothaarige Michael ansprach. Schließlich gefiel sie ihm auch und sie beide verfügten über einen sehr ähnlichen Frauengeschmack. Es war das freche Lächeln, die Bewegungen und vor allem die Ausstrahlung, die diese weiblichen Wesen besaßen, die gleichermaßen Zuspruch bei ihnen fanden.

„Und? Wirst du etwas mit ihr anfangen?“ Er merkte rasch, dass die Frauen, die Michael wollte, diesem geradezu in den Schoß fielen. Schon lange war er darüber nicht mehr erstaunt. Michael musste sich nicht im Geringsten anstrengen. Warum auch? Sie flogen ihm zu, wie ihm einfach alles zuflog!

Michael war gut im Studium, war beliebt bei den Mitstudenten, bei den Dozenten wie auch bei den Professoren, war dazu sehr sportlich und besaß einen entsprechenden Körper. Er war der designierte Erbe des Sinclair Konzerns und die Welt lag ihm zu Füßen. Für die meisten Eltern ihrer Kommilitoninnen war er somit der absolute Wunschschwiegersohn.

„Gott behüte, nein! Ihre Mutter wartet nur auf einen passenden Heiratskandidaten für ihre Tochter.“

„Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Du wärst gewiss nicht der Erste in ihrem Bett!“, meinte Eric sarkastisch.

„Das bestimmt nicht, aber alle, die sie vorher hatte, waren arme Schlucker!“

„Du meinst, so wie ich!“, spottete Eric.

Michael rollte mit den Augen. „Mit Sicherheit nicht! Du weißt genau, auf was ich hinauswill! Abgesehen davon ist dein Vater ziemlich vermögend“, ergänzte er hitzig. Deutlich entspannter fügte er hinzu: „Sie ist zwar hübsch, aber nicht faszinierend genug, als dass sie die ganzen Scherereien wert wäre!“

In diesem Moment schlich Alessandro an ihnen vorbei, blickte mit kaum verhohlener Sehnsucht zu Gabriel hinüber.

Eric warf einen Blick auf den Italiener, dann zu Gabriel. „Ich dachte, du wärst nicht mehr mit ihm zusammen?“ Gabriel schüttelte nur verneinend den Kopf, worauf Eric fortfuhr: „Jedenfalls ist der Kleine immer noch in dich verschossen!“, stellte Eric fest.

Gabriel wandte sich ihm zu: „Könntest du dich nicht etwas mit ihm beschäftigen? Er würde mich sicher dabei ganz rasch vergessen!“ Eric sah nun gehetzt zu Michael hinüber. Gabriel bemerkte es. „Sorry! Tut mir leid. Ich dachte, du hättest es ihm schon längst erzählt.“

„Was soll er mir schon lange gesagt haben?“ Michael sah fragend von dem einen zu dem anderen, aber so langsam dämmerte es ihm, um was es ging. „Du bist schwul?“, flüsterte er fassungslos.

„Nicht schwul, bisexuell!“, wandte Eric trotzig ein.

„Wieso sagtest du mir nie etwas? Ich dachte, wir sind Freunde!“, erwiderte Michael konsterniert. Er drehte sich zu seinem Bruder und nun deutlich lauter: „Und du wusstest es und hast mich nicht informiert?!“

„Hey, ich ging davon aus, du wärst im Bilde.“ Gabriel hob beschwichtigend die Hand. „Abgesehen davon ist es nicht an mir, es dir mitzuteilen.“ Er stand auf und klopfte sich die Hose ab. „Ich lasse euch jetzt allein, dann könnt ihr das in Ruhe ausdiskutieren“, sprach er und verschwand.

Michael starrte ihn mit hartem Blick an. „Nun?“ Eric kannte diesen Blick. Normalerweise setzte Michael ihn nur bei anderen auf, nie bei ihm – bis heute. Er wendete ihn dann an, wenn er ausnahmsweise mit seinem Charme nicht weiterkam.

Fast fing Eric an zu kuschen, bis ihm bewusst wurde, welchen Trick Michael da an ihm versuchte. „Hör auf, mich niederstarren zu wollen! Es funktioniert bei mir nicht“, erwiderte er genervt, fuhr dann aber kleinlaut fort. „Ich wollte es dir sagen, wirklich. Am Anfang habe ich befürchtet, dass du dich von mir abwendest, wenn du es erfährst. Später habe ich irgendwie nie den passenden Moment gefunden“, verteidigte er sich. Er machte eine hilflose Geste. „Ist es denn wichtig?“

„Ja, weil ich dachte, wie wären Freunde und du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass es mir egal ist.“ Michael sah ihn ungläubig an. „Mein Gott, ich habe einen Bruder, der schwul ist!“

„Keine Angst, dass ich über dich herfalle?“

„Ach was“, entgegnete Michael entnervt, „ich weiß mich zu wehren.“ Eine Weile saßen sie schweigend auf dem Rasen, schließlich lachte Michael auf. „Unglaublich, du bist bisexuell? Ich hatte nicht den geringsten Verdacht!“ Er schüttelte verblüfft den Kopf und sah Eric intensiv an. „Hast du zurzeit einen festen Freund?“

„Nein!“, gab Eric knapp zur Antwort.

Der angespannte Ausdruck verschwand und Michael lächelte ihn an. „Hast du Lust, in drei Wochen über das Wochenende zu uns nach Hause zu kommen?“, fragte er ihn plötzlich.

Eric fühlte sich erleichtert, Michael schien wirklich kein Problem damit zu haben, blieb sein Freund und genau so musste er ihn sehen – nur als Freund, nicht mehr! Irgendwann und irgendwie würde sich seine Verliebtheit legen. „Ja, sehr gerne!“

 

6. Dann lernst du den Rest unserer Familie kennen

 

Samstag morgens

Michael fuhr mit einem alten, silbernen Porsche 911 vor. Er stieg aus und lehnte sich mit dem Rücken an den Wagen, als er auf Eric wartete, der nun auf ihn zukam.

„Hübsches Auto! Ist es nicht ein bisschen kostspielig bei eurem gekürzten Budget?“, stichelte Eric.

Michael grinste und strich mit der Hand über den Lack. „Man muss, Prioritäten setzten! Das ist der Grund, wieso wir so fleißig sparen.“ Das Grinsen wurde breiter. „Nein, im Ernst, Gabriel hat in meinem Namen ein bisschen an der Börse spekuliert. Sehr erfolgreich, wie man sieht!“ Er tätschelte stolz die Motorhaube. „Wir teilen uns den Wagen. Schließlich sind wir beide Autonarren.“

„Ihr seid beides Spinner!“, zog Eric ihn auf.

„Darum magst du uns auch!“, äußerte sich Michael selbstzufrieden.

‚Viel zu sehr!‘, dachte sich Eric und trat zu ihm. ‚Viel zu sehr!‘ Er atmete tief ein, zwang sich, ihn anzulächeln und zu antworten. „Absolut“, und gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

Michael lachte und strich sich über die Stelle. „Du schlägst wie ein Mädchen.“

 

Sie stiegen ein und Michael startete den Motor. Er drehte das Radio laut auf und fuhr zügig los. Während er den Wagen Richtung Norden lenkte, sangen sie das Lied ‚Ça plane pour moi‘ von Plastic Bertrand mit, das gerade vom Sender gespielt wurde. Sie grölten den Song furchtbar falsch. In diesem Augenblick waren sie einfach glücklich.

Er sah zu Eric hinüber. Nie zuvor war eine Fahrt so kurzweilig. Dann kamen sie in Ware an, einem kleinen Ort im Hinterland von Boston am Quabbin Reservoir, eine etwas verschlafene, aber idyllisch gelegene Stadt.

Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren entlang eines Wegs, der sie immer mehr vom Ortskern wegführte. Schlussendlich passierten sie ein Tor zu einem privaten Grundstück. Eric bewunderte die lange Auffahrt mit den riesigen, alten Bäumen. Nach der Biegung erschien das Herrenhaus im Kolonialstil in ihrem Gesichtsfeld. Michael stellte das Radio aus. Es wurde still in dem Auto.

„Ist es nicht wunderschön?“ Ein warmer Glanz lag in Michaels Augen und seine Züge wurden weich. „Es ist jedes Mal ein tolles Gefühl, heimzukehren. Irgendwann einmal werde ich eine Familie gründen und hier leben.“ Er lachte leise. „Als Kinder verbrachten wir ganze Tage im Stall oder wir stromerten in den umliegenden Wäldern herum. Wir bauten Hütten, stauten Bäche an – sehr zum Ärger unseres Vaters. Oder wir trugen Seeschlachten auf dem Quabbin Reservoir aus – sehr zum Verdruss unserer Mutter“, beschrieb Michael amüsiert die vergangene Zeit. Sie hielten an und stiegen aus. „Wie war deine Kindheit so?“

„Langweilig.“ Erics Stimme bekam einen nüchternen Klang. „Ich bin gewissermaßen ein Einzelkind. Meine Mutter hat uns verlassen, als ich klein war, und Vater hatte schon immer wenig Zeit für mich, danach noch weniger. Nannys haben mich großgezogen.“

Michael hielt kurz an und legte die Finger auf Erics Arm. „Ich bin jetzt für dich da. Wann immer du jemand brauchst, kannst du zu mir kommen. Ich werde Zeit haben!“ Was er sagte, meinte er völlig ernst. Sie waren erst seit ein paar Monaten zusammen an der Uni, aber er hatte zeitweise das Gefühl, als würden sie sich bereits ein ganzes Leben lang kennen. Dass Eric bi war, störte ihn nicht im Geringsten. Manchmal fühlte er eine Einsamkeit, die ihn umgab, die er nicht verstand; nun ahnte er, woher diese ihren Ursprung hatte. „Komm, lass uns reingehen, dann lernst du den Rest unserer Familie kennen.“

 

Dominic Sinclair war unverkennbar der Vater von Michael. Beide nannten sie dieselben intensiven, grünen Augen ihr Eigen, nur dass die des Vaters einen kalten, unbarmherzigen Glanz hatten. Eine markante Adlernase sprang aus dem scharf geschnittenen Gesicht hervor. Das tiefschwarze Haar war an der Schläfe silbergrau. Er war in etwa gleich groß wie Michael, deutlich massiger als sein Sohn, aber immer noch gut in Form, wenn auch mit einem Bauchansatz.

Die Macht, die Michaels Vater ausstrahlte, war fast greifbar und sein schlechter Ruf legendär. Neben einem Ledersessel stehend blickte er ihnen entgegen. Zu seinen Füßen lag ein stattlicher Dobermannrüde, dessen Rute nur leicht bei ihrem Eintreten zuckte. Ihre Schritte knarrten auf dem Intarsienparkett, dann verschluckte ein dicker Perserteppich jedes Geräusch und sie standen sich in dem großen, hellen Wohnzimmer gegenüber.

Dominic nickte seinem Sohn zur Begrüßung kurz zu. „Kommt dein Bruder auch noch, Michael?“ Die Stimme war volltönend.

„Nein, wird er nicht. Er ist mit einem Freund Motorrad fahren“, nach einer flüchtigen Pause ergänzte er, „auf der Rennstrecke.“

Seit mehr als über einem Jahr verbrachte Gabriel ganze Wochenenden auf dem Motorrad und startete bei Wettrennen oder trainierte dafür. Ohne jeden Zweifel besaß er Talent, gepaart mit der nötigen Fitness und Contenance. Regelmäßig gewann er daher diese Rennen überlegen, ohne hierzu viel Risiko eingehen zu müssen. Trotzdem waren ihre Eltern nicht gerade von dem Hobby begeistert und hofften, dass bald das Interesse daran verginge. Ihrer Meinung nach war es viel zu gefährlich.

„Ja, so etwas deutete er beim letzten Besuch an. Hoffen wir, dass er unfallfrei zurückkommt.“ Zum ersten Mal seit dem Eintreten wirkte die kühle Miene nicht ganz so abweisend. Der Rüde winselte leise, Dominic blickte zu ihm runter. „Na, geh ihn endlich begrüßen, Spike“, gab er den Hund mit einem spöttischen Tonfall frei.

Der Dobermann sprang auf und tänzelte aufgeregt um Michael herum. Der Schwanz wippte freudig. Michael kraulte dem Tier den Kopf. „Hast du mich vermisst?“ Die Hände wurden abgeschleckt.

Dominic trat ans Fenster, zog den Vorhang etwas zu Seite und blickte hinaus. „Ein hübsches Auto hast du da. Ich dachte, ihr hättet zu wenig Geld?“, kommentierte er es sarkastisch.

Michael schien von dem Tonfall seines Vaters völlig ungerührt. „Wir legten unser Geld zusammen“, erklärte er, beugte sich zu dem Hund runter, kraulte ihn unter dem Kinn und massierte den Hals, was das Tier sichtbar genoss. Dabei fuhr er fort: „Gabriel spekulierte in unserem Namen an der Börse. Von einem Teil des Gewinns kauften wir uns den Wagen.“

„Siehst du, es hat also funktioniert!“ Dominic Sinclair drehte sich Eric zu. „Und du bist?“ Die Frage wurde barsch, fast unfreundlich gestellt.

‚Nicht beeindrucken lassen.‘ Eric streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Eric Andersson. Ich studiere in Princeton Medienwissenschaft und ich bringe Ihrem Sohn das Kochen bei“, versuchte Eric eine humorvolle Bemerkung zu platzieren. Die Hand wurde geschüttelt, der stechende Blick blieb auf ihm liegen.

Verdammt, er würde ganz bestimmt nicht klein beigeben, vor allem, weil er nichts Verbotenes getan hatte. Trotzdem fühlte er sich wie ein Schuljunge, der beim Äpfelklauen erwischt wurde! Er erwiderte den taxierenden Blick so ruhig wie möglich.

Zu diesem Zeitpunkt betrat Eileen Sinclair das Wohnzimmer. Wie eine frische Frühlingsbrise hellte sie den Raum auf und die angespannte Atmosphäre verflüchtigte sich. Eric bewunderte die schlanke Frau, die auf ihren Mann zutrat und ihn küsste. Die strenge Haltung Dominics wurde einen kurzen Moment locker, als er den Kuss erwiderte. Eric wusste nun, woher Gabriel seine Schönheit und Michael seine Ausstrahlung hatte.

„Dominic, sei nett zu unserem Gast!“ Sie legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes.

Der Angesprochene grinste breit. „Ach komm, Liebling, so schlimm bin ich doch nicht!“, versuchte er sich zu verteidigen.

„Nicht zu uns! Aber Fremden gegenüber bist du oft abweisend“, tadelte sie ihn. Sie drehte sich zu Eric und lächelte ihn freundlich an. „In unser beider Namen heiße ich dich herzlich willkommen. Ich bin Eileen.“ Kurz wurde Eric in die Arme genommen und bekam einen leichten Kuss auf die Wange, anschließend wurde Michael ebenso begrüßt. Sie blickte ihren Mann erwartungsvoll an.

Er seufzte kaum hörbar auf und gab Eric nochmals die Hand, diesmal deutlich netter, wenn auch seine Stimme einen knurrigen Unterton hatte. „Und ich bin Dominic!“

Eileen hob die Augenbrauen, sagte aber nichts weiter dazu.

„Kommt, ich habe draußen im Garten etwas zum Essen aufgetischt. Es ist jetzt schon wundervoll warm am See.“ Eileen hakte sich bei Dominic unter und führte sie über den Rasen zu einem Sitzplatz unter einer mächtigen Eiche nah dem Wasser.

 

7. Die Leute sahen nur, was sie sehen wollten

 

Michael setzte sich mit Eric bewusst etwas von seinen Eltern ab und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Ich wäre dir zur Hilfe gekommen, wenn es kritisch geworden wäre. Innerhalb der Familie ist Vater vielleicht von Zeit zu Zeit unangenehm, aber nie gefährlich und jetzt gehörst du dazu. Du scheinst ihm imponiert zu haben. Die meisten bringen kein Wort raus, wenn sie ihm das erste Mal begegnen. Du hast dich gut geschlagen“, beurteilte er das Gespräch und klopfte ihm anerkennend auf den Rücken.

„Mir scheint, er war nicht allzu beeindruckt!“, meinte Eric zweifelnd.

„Glaub mir, er war es! Er hätte sonst ganz anders reagiert“, bestätigte er ihm nochmals.

Eric blickte ihn forschend an. „Ist es wahr, was man über ihn sagt?“

„Dir sollte es ja bewusst sein, dass das, was in den Zeitungen steht, nicht unbedingt immer der Wahrheit entspricht. Das meiste ist maßlos übertrieben oder sehr tendenziell geschrieben, manches ist schlicht und einfach nicht wahr. Vieles ist auch eine Frage des Standpunktes.“ Michael sah zu seinen Eltern hinüber. „Was willst du denn wissen?“

„Stimmt es, dass er ein Waisenkind war?“

„Um genau zu sein, er war ein Findelkind.“

Michael war sich bewusst, dass sein Vater nicht dem herkömmlichen Ideal eines Familienvaters entsprach, aber für ihn gab es aber keinen besseren. Denn ganz gleich, was sie verbrochen hatten – und sie hatten als Kinder und erst recht als Teenager jede Menge Unfug angestellt – ihr Vater stand nach außen hin immer hinter ihnen. Er erzog sie mit einer Mischung aus viel Liebe, harten Regeln, konsequenter Strenge beim Verstoß gegen diese und einem erstaunlichen Maß an Freiheit.

Sein Vater legte eine Tellerwäscherkarriere vom Feinsten hin. In den oberen Kreisen blieb er ein Emporkömmling ohne familiären Hintergrund – ein Bastard. Es machte die Sache auch nicht besser, dass er die Erbin des Astorvermögens und den letzten Spross einer der ältesten und angesehensten Bostoner Familien schwängerte, ihr dann auch noch untreu war. Zu guter Letzt er die bodenlose Frechheit, sie zu heiraten. Die oberen 10'000 empfanden das als Gipfel der Dreistigkeit und es wurde lange nicht goutiert.

Die Leute sahen nur, was sie sehen wollten. Ihm war es egal, dass er unehelich auf die Welt gekommen war – meine Güte, sie lebten ja nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Dass Dominic ein guter Vater war, der sich immer Zeit für sie nahm, ganz egal, wie viel er selbst an Arbeit zu erledigen hatte, würdigten sie nicht. Dass es ihre Mutter gewesen war, die ihn verführte und ihn lange unwissend über ihre Schwangerschaft ließ, wurde ebenfalls nicht berücksichtigt. Oh ja, seine Mutter mochte äußerlich zart wirken, aber sie war genau so stur wie Vater. Sie zähmte ihn nach und nach und war ihm eine ebenbürtige Partnerin.

Okay, Dominic betrog sie mehrfach. Das war etwas, was Michael nie verstand. Als Kind litt er darunter, später als Teenager war er dadurch entzweigerissen. Einerseits liebte er seinen Vater und bewunderte ihn über alles; andererseits war er wütend auf ihn und begriff nicht, wieso er das ihrer Mutter immer wieder antat. Vor allem, weil Michael wusste, dass sich die beiden aus tiefster Seele liebten. Inzwischen hatte sein Vater keine Affären mehr, schien endlich zur Ruhe gekommen sein.

Bevor er Eileen kennenlernte, war er ein völliger Egoist. Im Waisenhaus musste er früh die bittere Lektion lernen, dass Mitgefühl sich nicht auszahlte. Übergriffe seitens der Erzieher oder der älteren Kinder waren an der Tagesordnung. Freundschaft gab es so gut wie gar nicht unter den Waisen. Verrat, Denunziationen, Prügeleien um die knappen Essensrationen, um Kleider und andere alltägliche Dinge, schufen ein Klima ständiger Angst und Rücksichtslosigkeit und formten die Überlebenden zu selbstsüchtigen Menschen.

Und das waren nur jene Sachen, die er so im Laufe der Jahre nach und nach herausfand. Wie viele furchtbare Erlebnisse sein Vater sonst noch erlitt, von denen sie nie etwas erfuhren, konnte er nur erahnen. So oder so war es ein Wunder, dass schlussendlich sein Vater ein liebender und zum großen Teil auch normaler Mensch wurde.

Sie waren nicht die typische Ostküstenfamilie, aber inzwischen akzeptierte man sie in den besseren Kreisen. Zeitweise riefen sie immer noch Irritationen hervor. Ja, sie waren in einem Haushalt aufgewachsen, in dem nicht die üblichen gesellschaftlichen Regeln galten. Einfach weil sein Vater das war, was er war, und offen auslebte, was andere wohl nur hinter verschlossener Tür verrichteten.

Aber all das musste er Eric nicht hier und jetzt mitteilen. Sein Freund würde eh im Laufe der Zeit alles erfahren.

Eric machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung der Eltern. „Nicht schlecht, er hat es weit gebracht!“

„Ja, das hat er!“ Michael lächelte. Zweifellos meinte er dabei etwas ganz anderes als Eric, andererseits vielleicht doch nicht. Liebe schwang in seiner Stimme mit, als er sagte: „Schauen wir mal, was Mutter alles aufgetischt hat!“ Er schnalzte ein paarmal leise mit der Zunge, woraufhin Spike aufstand und ihnen folgte.

 

8. Mit Menschen, die er mochte; an Orte, die ihm guttaten

 

Eric sah auf den See hinaus, blickte zurück zum herrschaftlichen Haus, dorthin waren Eileen und Dominic zusammen mit dem Hund nach der gemeinsamen Mahlzeit hier draußen im Freien verschwunden.

Unter der großen Eiche auf dem gepflasterten Platz ließ es sich aushalten. Der Tisch mit den Korbstühlen lud zum Verweilen ein. Nicht allzu weit entfernt führte ein Steg auf den See hinaus, wo ein kleines Ruderboot angebunden war. Hie und da hörten sie ein Platschen, wenn ein Frosch ins Wasser sprang, oder ihr Quaken, ansonsten war es herrlich ruhig.

Er bewegte sich gerne draußen, egal ob bei gutem oder schlechtem Wetter. Als geborener New Yorker war er während seiner Kindheit viel zu selten aus der Stadt rausgekommen. In den wenigen Monaten in Princeton ging er so oft an die frische Luft, wie es möglich war. Eine weitere Gemeinsamkeit von Michael und ihm, ihre Liebe zur Natur.

Sein Blick blieb an ihm hängen. Michael hatte sein Shirt ausgezogen und bräunte sich mit geschlossenen Augen in der nachmittäglichen Sonne. Die Arme verschränkte er hinter dem Kopf und die gut trainierten Arm- und Brustmuskeln traten deutlich hervor. Es juckte Eric in den Fingern, über das Sixpack zu streichen, die sonnengewärmte Haut unter seinen Kuppen zu fühlen. Sie waren nur gute Freunde – nicht mehr, ermahnte er sich. Innerlich seufzte er auf, dann sah er auf den See hinaus.

Wann verbrachte er das letzte Mal so ein schönes und faules Wochenende? Er sollte viel öfter seine freie Zeit so zubringen. Mit Menschen, die er mochte; an Orten, die ihm guttaten.

Er blickte wieder zu Michael; er liebte ihn, und anstatt dass dieses Gefühl langsam verschwand, wurde es immer stärker. Das besserte sich auch nach diesem Besuch nicht. Michael innerhalb seiner Familie zu sehen, hatte was. Seine Eltern kennenzulernen, zeigte ihm, wer ihn geprägt hatte und wie Michael vielleicht einmal aussehen würde, wenn er älter war.

„Du hast tolle Eltern!“

Michael öffnete träge die Augen, rekelte sich auf dem Stuhl und blickte ihn unter halb geschlossenen Lidern an. „Dad kann auch ein richtiges Ekelpaket sein. Du hast es ja ein ganz klein wenig selbst erleben dürfen.“

„Ach das? Ich nehme an, er wollte mich zuerst prüfen, ob ich in Ordnung bin. Abgesehen davon ist mir das lieber als Gleichgültigkeit.“

Michael richtete sich auf und blickte seinen Freund an. „Willst du mir davon erzählen?“

Eric zuckte mir den Achseln und erwiderte ungerührt den Blick, aber Michael ließ sich anscheinend nicht täuschen. Geduldig wartete er. Mehrere Minuten lang breitete sich eine unangenehme Stille zwischen ihnen aus.

Nervös strich sich Eric mit der Hand durch sein kurzes Haar. Es war ein Thema, das er nicht gerne anschnitt, und erst recht nicht gegenüber Michael. „Meine Mutter hat uns verlassen, als ich sechs war. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich der Grund war.“

Natürlich war er nicht der Auslöser. Er fragte sich oft, wie seine Eltern überhaupt zusammengekommen waren. Außer ihm und der Tatsache, dass beide skandinavische Wurzeln besaßen, gab es kein verbindendes Element.

Über fünfzehn Jahre Altersunterschied lag zwischen ihnen, auch charakterlich waren sie so unterschiedlich, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Sein Vater war ein sehr ruhiger Mensch, dem die Stille und Strukturiertheit seines Lebens extrem wichtig war, der immer logisch handelte und nie spontan war. Seine Mutter war hingegen einem Schmetterling ähnlich; wunderschön, mit vielen bezaubernden Ideen im Kopf, aber flatterhaft und völlig unbeständig.

„Bullshit!“, warf Michael ein.

„Natürlich weiß ich rational, dass es nicht stimmt. Aber irgendwie denke ich, bin ich doch der Grund. Inzwischen lebt sie oben bei Chicago, ist wieder verheiratet und hat zwei weitere Kinder. Um genau zu sein, habe ich zwei Halbschwestern. Ich habe meine Mutter ein paarmal dort getroffen. Sie liebt mich nicht, aber sie liebt eindeutig ihre Töchter.“ ‚Und vor allem liebt sie ihr neues Leben befreit von mir und Vater.‘ Er konnte dieses Gefühl, nur eine Bürde zu sein, nicht ausstehen und noch mehr hasste er es, sich ungeliebt zu fühlen, wie es ihm seine Mutter seit vielen Jahren vermittelte.

„Das kannst du nicht wissen!“, wandte Michael ein.

Eric starrte auf das dunkle Wasser. „Doch“, sprach er tonlos, „sie hat es mir gesagt; direkt auf den Kopf zu, dass sie mich nicht liebt!“

Michael sah ihn mitfühlend an. Genau auf dieses Mitleid konnte Eric gut verzichten, darum hatte er so lange geschwiegen. Er wollte vor ihm nicht schwach dastehen.

„Ich liebe dich!“ Michael legte sanft einen Arm um seine Schultern.

„Als Freund?!“, fragte Eric nach.

„Selbstverständlich als Freund!“ Michaels Stimme klang leicht verwirrt.

„Das ist gut!“ Das war es auch, selbst wenn Eric sich mehr wünschte. Er schloss die Augen und lehnte sich an Michael. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, sich ihm anzuvertrauen und dieses eine Mal verzagt zu sein.

So saßen sie da, Michaels Arm um seinen Oberkörper geschlungen, nah aneinandergerückt ging Michaels Wärme auf ihn über und endlich kehrte Ruhe in Eric ein.

In den Bäumen zwitscherten Vögel und es roch nach See und Frühling.

 

9. Das Abendessen verlief ganz anders als erwartet

 

Es dämmerte schon, als sie aufstanden und zum Haus zurückschlenderten. Warmes Licht, das ihnen aus den Fenstern entgegen strahlte, empfing sie und wies ihnen den Weg zum Haus.

Drinnen überraschte sie die Anwesenheit des Halbruders Michaels. Der Neuankömmling begrüßte sie. Samuel war ein halbes Jahr jünger als Gabriel, weniger schön als dieser, untrainierter als Michael, nicht so strahlend und deutlich kleiner als seine beiden Brüder.

Genau das war Samuels Problem, stellte Eric fest. Er stand im Schatten seiner Geschwister. Befand man sich ihm allein gegenüber, bemerkte man, dass er gut aussehend war, dass er schöne, braune Augen besaß, dass er durchaus größer als der Durchschnitt war und über ein gewinnendes Lächeln und eine sympathische Ausstrahlung verfügte.

In Anwesenheit seiner Brüder machte Samuel den Eindruck, herkömmlich zu sein, was nicht stimmte, sondern nur eine verzerrte Wahrnehmung war. Gut möglich, dass sich das in ein paar Jahren legte. Dazu kam noch, dass Samuel eher ein ruhiger Zuhörer war, als dass er sich selber in Szene setzte. Vielleicht besaß er nicht die geniale Brillanz eines Gabriels, aber er war auf jeden Fall sehr intelligent.

Das Abendessen verlief ganz anders als erwartet. Eileen bedachte Samuel und Eric mit viel liebevoller Aufmerksamkeit, ohne dass es aufdringlich wirkte. Dominic horchte seine Söhne nach der vergangenen Woche aus. Mit Verblüffung, aber stillem Amüsement, stellte Eric fest, dass seine Leistung ebenfalls abgefragt wurde. Auch von dem Verhör blieb er nicht verschont.

„Hast du schon eine Freundin, Eric?“