Mick Jagger - Marc Spitz - E-Book

Mick Jagger E-Book

Marc Spitz

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Beschreibung

Wer Mick Jagger verstehen will, muss dieses Buch lesen. 2012 stehen die Rolling Stones 50 Jahre auf der Bühne, aber ihr legendärer Frontmann Mick Jagger gibt bis heute Rätsel auf. Mit einer Synthese aus Biografie und Kulturgeschichte gelingt dem renommierten Schriftsteller, Dramatiker und Musikjournalisten Marc Spitz ein fesselndes Porträt des Musikers, das Frauen, Freunde und Feinde ebenso mit einbezieht wie Jaggers zahlreiche Rollen abseits der Rockbühne. Jagger, der sexuelle Revoluzzer, einflussreiche Gesellschaftskritiker, gewiefte Geschäftsmann und verhinderte Filmstar. Gründlich recherchiert, scharfsinnig analysiert und oft witzig geschrieben zeichnet dieses Buch dem Leser ein weitaus umfassenderes Bild als frühere Biografien.

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MICK JAGGER

REBELL UND ROCKSTAR

MARC SPITZ

Aus dem Amerikanischen

© Christopher Simon Sykes/Hulton Archive/Getty Images

Für Brendan Mullen, der ein schlüssiges

Inhalt

PROLOG

1 ICH SINGE GERN

2 DEN BLUES PREDIGEN

3 EIN STEIN DER HOFFNUNG

4 AS TEARS GO BY

5 WIR PISSEN, WO WIR WOLLEN, MANN

6 UNTER DEM EINFLUSS DER FREILASSUNG AUF KAUTION

7 I WENT DOWN TO THE DEMONSTRATION

8 SO, REMEMBER WHO YOU SAY YOU ARE ...

9 ALL MY FRIENDS ARE JUNKIES

10 DIE NEUE JUDY GARLAND

11 BERÜCHTIGT

12 THE BALLAD OF A VAIN MAN

13 DIE ANTWORT DES SÜDENS AUF DIE RUTLES

14 PUNKIGER ALS EIN PUNK, RÜDER ALS EIN RUDE BOY

15 IT'S NICE TO HAVE A CHICK OCCASIONALLY

16 STATE OF SHOCK

17 LOOK IN MY EYES, WHAT DO YOU SEE?

18 EINE SCHURKENVISAGE

19 DER RED-DEVILS-BLUES

20 RITTERSCHLAG

21 WHO WANTS YESTERDAY'S PAPERS?

EPILOG

DANKSAGUNG

QUELLEN

PROLOG

BRENDA

Ein weithin vergessener Fernsehsketch, »Rock Against Yeast«, der am 17. Februar 1979 in der amerikanischen Comedyshow Saturday Night Live gezeigt wurde, bildet den Ausgangspunkt für dieses Buch. Er bringt das Mick-Jagger-Dilemma auf den Punkt: Wie können wir noch immer einen Mann verehren und begehren, den wir eigentlich gar nicht mehr mögen? Das Mick-Jagger-Dilemma wirft natürlich auch die Frage auf, ob wir ihn überhaupt jemals gemocht haben. Und sollte die Antwort darauf negativ ausfallen, stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass er in der Popkultur der letzten fünfzig Jahre permanent präsent sein konnte, ohne dass er so etwas wie ein Kumpel für uns wurde? Immerhin ist sein Co-Songwriter, sein Geschäftspartner und sein gelegentlicher Gegenspieler Keith Richards seit Ewigkeiten unser aller cooler großer Bruder.

In besagtem Sketch mimt Gilda Radner Candy Slice, eine verhinderte Patti Smith mit wilder schwarzer Mähne, weißem Tanktop, spindeldürren Beinen in schwarzen Strumpfhosen, Turnschuhen, unrasierten Achselhöhlen und einem augenscheinlich auf Drogenkonsum zurückführbaren Mangel an innerer Ausgeglichenheit. Sie tritt im Rahmen eines Benefizkonzerts auf, an dem auch andere Superstars teilnehmen, darunter Bob Marley (dargestellt von Garrett Morris), Dolly Parton (Jane Curtin), Olivia Newton-John (Laraine Newman), eine unter dem Namen Elvii auftretende Elvis Tribute Band (John Belushi und Dan Ackroyd), die sowohl den fetten als auch den mageren Elvis präsentierte, und natürlich Rick Nelson höchstpersönlich (der die TV-Show moderierte). Bill Murray, der mit Jerry Aldini von »Polysutra Records« die Rolle eines schmierigen, Satin-Baseballjacke tragenden Musikindustriebosses spielt, scheucht die aus einer Bierpulle saufende und rülpsende Candy unter ihrem Sauerstoffzelt hervor. Sie soll bei dem Benefizkonzert, bei dem sie mit ihrer Candy Slice Group ihr Debüt gibt, wenigstens für die Dauer der Garagenrocknummer »Gimme Mick« durchhalten. Der Song ist ziemlich vertrackt, denn er handelt sowohl davon, wie sehr sich Candy von dem seinerzeit sechsunddreißigjährigen Mick Jagger angezogen fühlt, als auch davon, wie abstoßend sie ihn findet. »Mick Jagger, if you’re out there, this is for you«, nuschelt sie.

»Gimme Mick! Gimme Mick! Baby’s hair, bulgin’ eyes, lips so thick! Are you woman? Are you man? I’m your biggest funked up fan. So rock and roll me till I’m sick«, singt Candy im Refrain. Die Band spielt kurz darauf die Bridge, während der Candy, nachdem sie gestanden hat, Mick Jagger verfallen zu sein, nun in einen Sprechgesang übergeht und in einem geradezu patti-smithesken Gedankenstrom räsoniert: »You, Mick Jagger actually continue to perform at a concert where someone get knifed and killed during the sixties.« Sie erinnert sich plötzlich wieder an die Tragödie von Altamont. Bei dem Konzert auf dem Altamont Speedway in der Nähe von San Francisco wurde der achtzehnjährige Fan Meredith Hunter von einem Hells Angel ermordet, während die Stones gerade »Under My Thumb« spielten. Hier wurde wohl das Ende der Love-and-Peace-Ära eingeläutet (mehr dazu später).

»You, Mick Jagger, are English and go out with a model and get an incredible amount of publicity!« Jagger hatte unlängst das gertenschlanke texanische Model Jerry Hall seinem Kollegen, dem Roxy-Music-Sänger Bryan Ferry ausgespannt (auch hierzu später mehr). »You, Mick Jagger, don’t keep regular hours!« Es war die große Zeit der New Yorker Diskothek Studio 54, als tanzbarer New Wave und Discomusik gerade schwer angesagt waren. Mick kreuzte dort seinerzeit häufiger spätnachts auf, übernächtigt und umflort von einer etwas dekadenten Aura. Ein willkommenes Objekt für Paparazzi wie Ron Galella. Und schließlich wettert Candy: »You, Mick Jagger, have the greatest Rock’n’Roll band in the history of Rock’n’Roll and you don’t even play an instrument yourself!«

Genau hier ist der Punkt, wo sich das Mick-Jagger-Dilemma verselbstständigt. Der Witz verfängt natürlich beim Studiopublikum, was sich in der Hauptsache Gildas Charisma, ihrer schauspielerischen Begabung und ihrer Überzeugungskraft verdankt, doch der Vorwurf an sich könnte nicht haltloser sein. Der Witz funktioniert, weil er zu einer Sichtweise auf Mick Jagger passt, die sich vor rund zweiunddreißig Jahren wie ein Tumor auszubreiten begann. Und es dauerte gerade einmal ein halbes Jahrzehnt, bis diese fast vollständig die Art und Weise bestimmte, wie wir Mick Jagger wahrnehmen und dabei viele Tatsachen verdrehen. Er spielt natürlich Musikinstrumente. Er ist der Harmonikaspieler der Rolling Stones seit er den Wettstreit um diese Position mit Brian Jones 1962 für sich entschied. Man muss sich nur einmal das famose Solo am Ende der Liveversion von »Midnight Rambler« auf Get Yer Ya Ya’s Out anhören, um den Sound eines Instruments zu vernehmen, das von jemandem gespielt wird, der ganz offensichtlich dazu geboren wurde und ohne Frage ein begnadeter Musiker ist. Selbst Keith Richards lobt Mick als Naturtalent auf der Bluesharp in den höchsten Tönen. »Er denkt nicht nach, wenn er Mundharmonika spielt«, sagte Keith einmal. »Es kommt aus seinem Inneren. Er hat schon immer so gespielt, seit unseren Anfangstagen.« Und mit dem Riff zu »Brown Sugar«, dem Nummer-eins-Hit für die Stones aus dem Jahr 1971, leistete Jagger einen weiteren und alles andere als geringen musikalischen Beitrag. Wer den Titel gerade gelesen hat, hat den Song wahrscheinlich sofort im Ohr und kann ihn mitsummen. Für mich ist das einer der fünfzig besten Songs, die je geschrieben wurden. Und Mick hat ihn sich ausgedacht. Selbst Keith, der unvergessliche Riffs förmlich im Schlaf erfindet, gibt zu, dass es dieser Riff war, der im Rock’n’Roll-Kosmos herumgeisterte und sich in den Köpfen der Leute einnistete. Nebenbei bemerkt, glauben ohnehin die meisten Leute, dass Keith dafür verantwortlich zeichnet. Mick gilt als viel zu intellektuell und zu anspruchsvoll, als dass man ihm zutrauen würde, so etwas Elementares, Primitives und Raues zu schaffen.

Wenn man sich über die Rolling Stones Gedanken macht, dann denkt man gewöhnlich an das Herz und an die Weichteile. An das Gehirn denkt man eher weniger. »Keith ist das Herz«, konstatierte der Musikjournalist Keith Altham mir gegenüber in einem frühmorgendlichen Telefoninterview, »und Mick ist das Gehirn.« Das Herz und das Hirn. Beides zusammen muss funktionieren, doch ob in der Poesie oder sonst wo, wir rühmen das Herz. Das Herz pumpt. Das Hirn plant. Es ist genau diese Vorstellung vom nüchtern planenden Mick Jagger, die dazu führt, dass wir mit dem Finger auf ihn zeigen und ihm die künstlerischen Fehltritte in der langen, dunklen Geschichte der Rolling Stones anlasten. Sicher war Mick derjenige, der sich damit einverstanden erklärte, den Text von »Let’s Spend the Night Together« in »Let’s Spend Some Time Together« auf Geheiß von Ed Sullivans hasenfüßigen Lakeien zu ändern. Gewiss hat Mick den kranken, verwirrten, aufgedunsenen Brian Jones aus der Band rausgeworfen und ihn ertrinken lassen. Er schob den Hells Angels, die er selber angeheuert hatte, die Schuld für Altamont in die Schuhe. Er hat seine Brüder und Schwestern im Rock’n’Roll für eine Horde Euro-Trash-Grafen und -Gräfinnen an der französischen Riviera im Stich gelassen … und für Andy Warhol. Er besudelte das Ansehen der Stones, indem er mit Paul Young und Nick Rhodes in den frühen 80ern gemeinsame Sache machte, als er in seiner Midlifecrisis steckte und sein Heil in einer Solokarriere als Popstar suchte. Er zog uns für das Ticket für den Film Freejack das Geld aus der Tasche. Und er war es auch, der von den armen Jungs von The Verve Geld dafür sehen wollte, das sie für ihr »Bitter Sweet Symphony« eine Orchesterversion von »The Last Time« als Sample verwendeten. Letztlich ist er auch schuld an so manchem Debakel bei der Fußball-WM 2010, denn alle Teams, mit denen er mitfieberte, schieden überraschend früh aus.

Genau umgekehrt verhält es sich mit Keith, bei dem es, egal was er macht – selbst wenn er an seiner Heroinsucht die Rolling Stones fast zerbrechen lässt –, am Ende darauf hinausläuft, dass das alles nun mal unseren größten Anti-Helden ausmacht. Keith verdient nicht einen Cent weniger und er hat nicht einen Geschäftstermin versäumt, bei dem wichtige Entscheidungen getroffen wurden. »Keith saß in Genf in einer altehrwürdigen Schweizer Bank mit am Tisch und ritzte mit einem Bowie-Messer seine Initialen in die Platte, während Mick, (der frühere Finanzberater der Stones) Rupert Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg und ich beisammen saßen und ein Steuerkonzept ausarbeiteten. Doch nicht ein einziges Mal hat Keith den Raum verlassen«, erinnert sich der ehemalige Stones-Manager Peter Rudge. Dieses Bild von Mick als der Zyniker und Geizkragen in der Band erhärtet Keith bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Es war während der Phase ihrer größten Entfremdung Mitte der 80er, als Keith ein Buch von Brenda Jagger entdeckte, einer in Yorkshire geborenen Autorin von historischen Romanen. Seither nennt Keith ihn – hinter Micks Rücken – Brenda, wenn dieser nach seiner Ansicht mal wieder auf Abwege gerät.

Brenda. Ihre Majestät Brenda. Oder einfach »die Zicke«. Das blieb nicht lange ein Insiderwitz. »Keiths Kritik an Mick ist manchmal ein bisschen kindisch«, sagt Altham. Mick ist nicht darauf eingegangen. Er hat nie wirklich etwas dagegen unternommen, hat die Beleidigungen einfach ertragen. Als er sich 1995 mit dem Rolling Stone-Herausgeber Jann Wenner, mit dem er eng befreundet ist, zusammensetzte, war es das letzte Mal, dass er sich auf ein tiefschürfendes Interview eingelassen hat, das überdies länger als die üblichen zwanzig Minuten dauerte, die er gewöhnlich gewährt. Entsprechend kurz fiel die Coverstory aus, die Zoë Heller im Herbst 2010 für das Style Magazine der New York Times schrieb.

»Interviewt zu werden ist für Jagger alles andere als ein angenehmer Zeitvertreib«, schreibt Wenner im ersten Absatz, bevor er das relativ ausführliche Interview folgen lässt. Doch nicht nur darin, sondern auch in den Kurzgesprächen mit weniger namhaften, inquisitorischen Journalisten kommt Jagger argwöhnisch, widerspenstig und herablassend rüber. Als der britische Musikjournalist Nick Kent 1973 den damaligen Stones-Gitarristen Mick Taylor für den New Musical Express (kurz NME ) interviewte, besaß er die Frechheit, sich beim ebenfalls anwesenden Sänger der Band kurz zu erkundigen, ob in der Zukunft mit einem Soloalbum von ihm zu rechnen sei. Jagger, gerade intensiv mit dem Verzehr einer Wurst beschäftigt, erwiderte: »Das ist nicht mein Interview!«

Weniger Wurst und mehr Zucker hätten vermutlich geholfen, Mick bei denen beliebter zu machen, die ihm hätten helfen können, ein freundlicheres Bild von ihm zu vermitteln und vor jenen Schmähungen zu bewahren, denen er sich in den Jahren nach »Rock Against Yeast« ausgesetzt sah. Ein Beispiel dafür lieferte im Jahr 2003 das mitunter großartige Magazin Blender (für das auch ich später geschrieben habe), das eine Liste der fünfzig schlimmsten Rockstars aller Zeiten veröffentlichte, in der Mick Jagger als Solokünstler Rang dreizehn einnahm. Er lag damit unmittelbar vor dem langhaarigen New Ager Yanni und dem skurillen schwedischen Gitarren-Shredderer Yngwie Malmsteen. »Angesichts der Top-Musiker, die Mick Jaggers Ruf gefolgt sind und bei seinen vier Soloalben mitgewirkt haben, hätte sogar ein gänzlich unmusikalischer Sechsjähriger etwas produziert, das man sich auch ein zweites Mal würde anhören mögen«, war im Blender zu lesen, wo es weiter hieß: »Nur scheint es so, dass leider gerade kein gänzlich unmusikalischer Sechsjähriger zur Verfügung steht, wenn man ihn einmal braucht.« Ein vernichtendes Urteil, und das von einem Musikmagazin, das sogar Tila Tequila aufs Cover brachte. Man ist (so wie ich) versucht, Mick zu verteidigen, weil aus dem Jagger-Lager nichts zu hören ist. Keith und seinesgleichen haben einige von uns zu einer Art Schulhofaufsicht gemacht. Zwei Jahre zuvor veröffentlichte der New York Observer eine von Ron Rosenbaum verfasste Kolumne mit dem Titel: »Mick Jagger: unser am meisten unterschätzter Songwriter«. Rosenbaum ist der Ansicht, dass Jaggers Jetset-Lifestyle und seine manisch exhibitionistische Rolle, die er auf der Bühne spielt, viel zu sehr den Blick darauf verstellen, welche umwerfenden, ergreifenden Balladen er geschrieben hat. Man braucht nur an »Angie«, »Time Waits for No One« und das etwas scheppernde, wunderbar traurige »Blue Turns to Grey« zu denken. Rosenbaum führt die »sparsame, Beckett-hafte Sprache in ›No Expectations‹ an« und fühlt sich bei der Art der Charakterzeichnung in »Till the Next Goodbye« an Graham Greene erinnert. 2001, als Rosenbaums Kolumne erschien, kam Micks viertes Soloalbum, Goddess in the Doorway, heraus und ging in der ersten Woche in Großbritannien nur rund neunhundertmal über die Ladentheke. Und das trotz einer enormen PR-Kampagne, zu der auch eine einstündige, zur Primetime ausgestrahlte BBC-Doku mit dem Titel Being Mick und eine Reihe Interviews gehörten, die der Musikpresse ansonsten nur äußerst selten gewährt werden. Diese Maßnahmen trugen ebenso wenig dazu bei, dem Album einen kommerziellen Erfolg zu bescheren, wie die Mitwirkung von Popstars wie Wyclef Jean, Rob Thomas und Lenny Kravitz, Micks wichtigster Stütze bei seinen Solo-Projekten. Es schien sogar eher so, als würde sich das Mick-Jagger-Problem noch weiter verschärfen. Über Being Mick schrieb Ron Rosenbaum: »Und einmal mehr zeugte das Image, das er bei den Leute hat, davon, dass sie ihn völlig unterschätzen, dass sie ihn als einen Jetset-Promi abschreiben, anstatt ihn als den ernsthaften Künstler wahrzunehmen, der er immer war und bis heute ist.« Keith Richards konnte der Versuchung, noch einen oben draufzusetzen, nicht widerstehen, indem er sich öffentlich über Goddess in the Doorway lustig machte, das er »Dogshit in the Doorway« nannte.

Kurz nachdem im Herbst 2010 Keiths Autobiografie Life auf den Markt gekommen war, veröffentlichte das Webzine Slate eine geistreiche Replik, die ein gewisser »Mick« im Gespräch mit einem Journalisten namens »Bill Wyman« formuliert haben soll. Es ist eine Antwort, in der zweifellos verschiedene Brenda-Eigenschaften durchschimmern; sie ist kratzbürstig, witzig, clever, ein bisschen zickig, aber dennoch völlig angemessen: »[Keith] hat ein Buch geschrieben, in dem im Wesentlichen steht, dass ich einen kleinen Schwanz habe. Dass ich ein schlechter Freund bin. Dass man mich nicht wirklich kennen kann. Die Rezensenten, die Keith mögen, fragen nicht, warum das alles da steht. In der Öffentlichkeit haben wir über diese Dinge nur sehr selten gesprochen und sie dann auch nur gestreift. Privat reden wir auch nicht darüber; und, nein, er ist in den letzten zwanzig Jahren nicht in meiner Garderobe gewesen. Ich dachte, wir hätten beide gelernt, dass es nichts bringt, die Presse an irgendwas teilhaben zu lassen, abgesehen davon, den Journalisten ein paar Zückerchen hinzuwerfen für einen jener euphorischen ›Die Stones sind zurück und rocken in Topform‹-Artikel, die alle unserer Tourneen begleiteten.«

Natürlich war das alles nur erfunden; diesen Schlag hat Mick nie ausgeteilt. Er scheint einfach nicht daran interessiert zu sein, seinen Ruf aufzupolieren oder uns in einer Weise an ihn ranzulassen, die über so artifizielle Promotion-Projekte wie das Cinéma-Vérité-Filmchen Being Mick hinausgeht. Er blickt nicht zurück, solange es sich für ihn nicht lohnt. Anders als viele Journalisten, die über ihn geschrieben haben (mich selbst eingeschlossen), braucht Mick keinen besonderen Kontext, um sein Leben wertzuschätzen oder es zu genießen. Seine Haut ist so dick und zäh wie Keiths Leber. Nick Kent, der die Geschichte der Stones seit den frühen 70ern verfolgt und dabei tiefe Einblicke gewonnen hat, schreibt in Apathy for the Devil, seiner Autobiografie aus dem Jahr 2010: »Im schmierigsten Showbusiness-Sinne des Wortes war er immer smart genug zu begreifen, dass Künstler, die sich aktiv um die Zuneigung des Publikums bemühen, oft ausgebrannt und hilfsbedürftig enden wie Judy Garland … dennoch steht er letztendlich immer als Bösewicht da, wenn irgendjemand die Saga der Rolling Stones erzählt – als Kontrollfreak, kalter Fisch, gerissener, herzloser Geizhals. Es ist ein einziges großes Märchen geworden – die Rolling Stones in den Augen der internationalen Presse – und Jagger spielt darin den bösen Kobold.« Im Spätsommer 2010, als Kent gerade die Werbetrommel für Apathy for the Devil rührte, führte ich ein Telefoninterview mit ihm für die Website von Vanity Fair, auf der ich blogge. Ich hatte sein Buch gelesen und befragte ihn gezielt zu diesem Thema. Ich bat ihn, mir die Sache genauer zu erklären, und wieder lief es auf Micks Verhältnis (oder den Mangel an Verhältnis) zu den Leuten hinaus, die ihre Brötchen auf dieselbe Weise verdienen wie Kent und ich.

Marc: Seit wann ist Mick nicht mehr der rebellische Held? Keith ist es immer noch. Dabei bekommt Keith dieselben Gagen wie Mick. Und Keith hat die Band mit seinen Drogenproblemen fast kaputt gemacht. Trotzdem gilt er als der einzig Wahre, die Seele der Band. Was steckt dahinter?

Nick: Jeder, der schon einmal ein Jagger-Interview gelesen hat, weiß wie ausweichend er sich ausdrückt. Er ist einfach nicht entgegenkommend.

Marc: Ist ihm das einfach egal?

Nick: Er spielt mit Journalisten gerne Spielchen. Er gibt jetzt seit fünfzig Jahren Interviews. Er ist der ganzen Sache zwangsläufig etwas überdrüssig, sagt sich aber auch: »Ich mache das Ganze, um eine Platte oder eine Tour zu promoten. Ich gebe euch drei oder vier Sätze, meistens aber auch nur einen.« Aber wenn man sich mit Keith Richards hinsetzt, redet er so lange, bis man das Gefühl hat, an ihn als Menschen heranzukommen und ihn ein wenig kennenzulernen. Er hält mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg, er fragt sich nicht: »Sollte ich das einem Journalisten wirklich erzählen? Wie wird das rüberkommen? Wird das womöglich negativ aufgefasst werden?« Er legt einfach los. Er schert sich nicht wirklich darum, wie das, was er sagt, bei anderen ankommt. Er nimmt die Konsequenzen in Kauf, ob er nun über Elton John herzieht oder erzählt, wie er die Asche seines Vaters geschnupft hat – was natürlich empörend und völlig daneben ist. Wie auch immer, Keith spielt mit den Medien wie auf einer Mundharmonika.

Als ich Marianne Faithfull, die in den 60ern Micks berühmte Freundin und Muse war, ebenfalls während eines Interviews für die Vanity Fair-Website eine ganz ähnliche Frage stellte, schien sie irgendwie amüsiert über die Bemerkung. »Ich glaube, die Leute wissen, das er ziemlich cool ist.«

Marc: Aber sie haben sich mit der Zeit von ihm abgewendet. Seine Coolness war mal gewaltig, aber heute ist davon nur noch wenig geblieben. Von Keith oder Ihnen hat sich hingegen niemand abgewendet. Anders als Mick sind Sie immer cool gewesen. Warum, glauben Sie, ist das so?

Marianne: Ich weiß nicht. Ich habe einfach eine Menge Glück. Ich glaube, die Leute wissen, dass ich gute Absichten habe. Ich bin nicht aus niederen Beweggründen dabei. Ich bin nicht dabei, um flachgelegt zu werden. Auch nicht des Geldes wegen. Ich habe andere Gründe.

Marc: Und die junge Generation kann das erkennen? Und respektieren?

Marianne: Sie wissen, dass ich niemand bin, der nimmt. Sie können es fühlen. Sie wissen, dass ich jemand bin, der gibt.

Ich glaube kaum, dass wir, wenn wir an Mick denken, auch an Großzügigkeit denken – wie auch immer geartete. Anders als Marianne Faithfull oder andere ewig coole, alternde Musiker (Leonard Cohen, Lou Reed, Iggy Pop, David Bowie, Scott Walker, Lee »Scratch« Perry), steht Mick nicht mehr auf der Liste der Idole, die jede neue Generation für sich entdecken möchte und in ihren Reihen willkommen heißt; er gehört nicht mehr zu den Ewigjungen.

Wir, die interessierten Journalisten, die wir wie Candy Slice besessen sind von dem jungen Mick, den wir geliebt haben, der uns gerockt hat, wir wollen eine Stunde. Doch wir kriegen nur zwanzig Minuten. Was sollen wir mit den restlichen vierzig tun? Wir denken über Brenda nach. Jedes Vakuum muss gefüllt werden, also saugen wir uns was aus den Fingern. Mick ist so etwas wie ein unsicherer Peter Pan. Ein Bob Hope oder ein Dick Clark des Rock’n’Roll, jemand, der nicht weiß, wann man es gut sein lässt mit der Karriere und einen ebenso würdevollen wie selbstbestimmten Abgang macht. Ein Geizkragen, besessen von jedem geschäftlichen Detail, mit dem die Rolling Stones AG Geld scheffelt: das Logo mit der herausgestreckten Kali-Zunge auf Kreditkarten, Krawatten, Kaffeebechern und Schlüsselbändern. Wir wünschen uns einen Mick mit einem wärmeren Naturell, weil die Musik der Stones – vor allem auf dieser perfekten Viererserie von Beggars Banquet 1968 über Let It Bleed 1969 und Sticky Fingers 1971 bis hin zum 72er Doppelalbum Exile on Main Street – so erdig und locker, rauchig und wahrhaftig klingt. Sie bringen uns dazu, dass wir uns verschwitzt und sexy fühlen – und dass uns warm ums Herz wird. Wie kann der Kerl, der diese Lieder singt, nur so ein kalter Fisch sein? Wurde er unserer Zuneigung überdrüssig? Unserer Großmütter und Mütter und Tanten, die sich seinetwegen in den frühen 60ern die Seele aus dem Leib schrien und ihm ihre Schlüpfer auf die Bühne warfen? All dieser schmierigen Plattenbosse, der Jerry Aldinis dieser Welt, der Dealer und Schmarotzer, der Verräter der späten 60er, die nicht aufhörten, ihm Honig um den Mund zu schmieren? Hat er da die Schotten dicht gemacht? »Jeder wollte ein Stück abhaben«, erinnert sich Keith in Life an eine Zeit Mitte der 60er, als Mick und nicht er selbst oder der immer stärker abbauende Brian Jones der einzige Blitzableiter der Gruppe war. »Man beginnt nach und nach, jedem gegenüber diese abwehrende Haltung einzunehmen, nicht nur Fremden, auch Freunden. Er war früher viel warmherziger, aber das ist viele, viele Jahre her. Er hat sich selbst in einen Kühlschrank zurückgezogen.« Es gibt tatsächlich Personen, die, vor allem in den 70er- und 80er-Jahren, zum engeren Umfeld der Stones gehörten und diese Distanziertheit bestätigen. »Zwanzig Minuten in sechs Jahren«, mailte mir einer von ihnen auf die Frage, wie viel direkten Kontakt er tatsächlich mit Mick hatte.

Nehmen wir einmal an, Mick Jagger hat sich tatsächlich emotional abgekapselt. Ist nur noch Kopf, ganz ohne Herz. Wann genau kam es dazu? Wann hat Mick den Kontakt zu uns verloren? Wann hörte er auf, einer von uns zu sein? War es in Altamont? Wenn man sich Gimme Shelter anschaut, den Dokumentarfilm von Albert und David Maysles und Charlotte Zwerin über die 69er US-Tour der Stones, erlebt man tatsächlich einen Augenblick, in dem man zu sehen können glaubt, wie Mick Jaggers rebellische Seele seinen Körper für immer verlässt. Einen Moment lang ist er noch offen, im nächsten verschlossen und ernst. Mick sieht sich zusammen mit Albert und David Maysles in einem Schnittraum Filmaufnahmen vom Altamont Free Concert an. Er ist damals gerade siebenundzwanzig, ein Alter, in dem eine Reihe großer Rockstars den Löffel abgaben. Er wirkt verstört. Seine Fingernägel sind dreckig. Ein Jahr zuvor hatte er fast noch an die Revolution geglaubt (auch dazu später mehr). Die Bilder von den Gewaltausbrüchen, zu denen es während des Konzerts kam, laufen noch einmal vor ihm ab; dann zeigt der Monitor, auf den Mick starrt, nur noch Weiß. Er steht auf, stammelt ein knappes, kaum hörbares »Danke«, und der Teil von ihm, nach dem wir uns noch heute sehnen, hat sich möglicherweise für immer verabschiedet. An die Stelle dieses Teils von ihm trat ein Privatleben, das aggressiv verteidigt wurde, und das schlechteste öffentliche Image in der Geschichte des Rock’n’Roll, an diese Stelle trat Brenda.

Oder war es doch nicht so? Der einzige Grund, aus dem wir über den besagten Augenblick hier überhaupt sprechen können, ist, weil Mick Jagger es erlaubt hat. Zusammen mit Keith hat er das gesamte Filmmaterial, das für Gimme Shelter verwendet wurde, freigegeben – Material, das ihn in Altamont auf der Bühne an dem Punkt zeigt, an dem er so ohnmächtig, verschreckt und desillusioniert war wie wohl noch nie zuvor in seinem Leben. Er hätte auch einfach all das verbrennen können. »Von einem Moment auf den anderen habe ich meinen Respekt vor Jagger verloren«, sagte mir der Musiker, Autor und Aktivist Mick Farren während eines Telefonats. Bevor wir überhaupt offiziell mit dem Interview begonnen hatten, hatte Farren mich vorgewarnt, dass er Mick Jagger für »den Fredo Corleone« der Stones hielt. In Der Pate wollte Fredo gerne der große Boss sein, aber er war so korrumpierbar, das er letztendlich tragischerweise etwas tat, wodurch er die ganze »Familie« verriet. Farren glaubt, dass man in Gimme Shelter alles Entscheidende sehen kann. »Angesichts einer echten satanischen Macht verwandelte sich Mick im Grunde genommen in eine aufgeschreckte alte Tunte. ›Oh, Leute, warum kämpfen wir? Oh, Brüder und Schwestern.‹ Das war ein Moment, in dem man seine Autorität behaupten muss. In einem gewissen Maße hat Keith das getan. ›Hey, ihr Arschlöcher, wenn das nicht aufhört, machen wir uns vom Acker.‹ Ganz der routinierte alte Rocker. Verdammt nochmal. Genau so etwas habe ich von Jagger erwartet, und genau das habe ich nicht bekommen. Es war wie eine Szene aus Des Kaisers neue Kleider.«

Trotzdem gilt es zu bedenken: Wir würden von diesem Moment, auf dem unsere Meinungsbildung basiert, überhaupt nichts wissen, wenn Mick, das »Gehirn« der Stones, es nicht gewollt hätte.

Vielleicht findet sich dieser Punkt, von dem viele glauben, dass Mick Jagger an ihm aufhörte, einer von uns zu sein, selbstlos und warmherzig zu sein, in seinen sorglosesten und schnörkellosesten Darbietungen. Wenn ein Rock’n’Roll-Star seine coole Pose aufgibt, dann bleibt ihm manchmal nichts mehr. Wenn wir uns mit Mick Jagger beschäftigen, beschäftigen wir uns mit einer riesigen Grauzone: Er ist eine komplexe, schwierige, verstörende Person, die nur allzu oft schwarz-weiß gezeichnet wird. »Als wir den Film fertiggestellt und ihm vorgeführt hatten, konnte er sich zuerst nicht dazu durchringen, ihn freizugeben«, erzählte mir Albert Maysles, einer der Regisseure. »Das dauerte noch einmal sechs Monate. Glücklicherweise verlangten weder er noch die anderen Stones irgendwelche Veränderungen. Daher blieb der Film voll und ganz so, wie wir ihn haben wollten. Sie baten uns, die Gewaltszenen nie aus dem Kontext des Films herauszureißen, wobei wir auch diesbezüglich völlig einer Meinung waren.«

Ohne Gimme Shelter wäre Meredith Hunter möglicherweise inzwischen weitgehend vergessen. Seine sterblichen Überreste ruhen in einem nicht gekennzeichneten Grab auf einem Friedhof in Vallejo, Kalifornien. Es gibt eine traurige, kurze Dokumentation von Sam Green aus dem Jahr 2006 mit dem schlichten Titel Lot63, Grave C, die sich mit Hunters Tod und seiner sehr abgeschiedenen, letzten Ruhestätte beschäftigt.

»Für mich war das ein wichtiges Zeichen dafür, wie mitfühlend und rücksichtsvoll Mick auf das Geschehne reagiert hat«, sagte Maysles.

»Die Leute haben förmlich danach verlangt«, sagte Keith später einmal über Altamont. »Sie hatten diese Opferminen.« Aber auch Micks Gesicht ist das Gesicht eines Opfers, wie es für immer eingefroren in die Kamera starrt, nachdem er sich vom Schnittpult erhoben hat. Keith mit seiner simplen Schwarz-Weiß-Sicht auf die Dinge ist – und das ist entscheidend – nie das Opfer. Er investierte Millionen in pharmazeutisches Heroin, in Anwälte und Berater, die einen undurchdringlichen Schutzwall um ihn herum errichteten, während er sich an einen Rest Herzenswärme klammert, die manchmal von einem aufrichtigen, jungenhaften Lächeln befeuert wird. Das ist, so sehr wie alles andere, der Grund, warum junge Leute heute noch so sein wollen wie er. Es erscheint uns einfacher, sauberer, spaßiger und nicht zuletzt sicherer zu sein – obschon wir nicht über die Millionen verfügen, die man braucht, um das auch garantieren zu können. Während ich noch an diesem Buch schrieb, machte in meinem Umfeld eine Frage die Runde, so etwas wie ein Rorschachtest für Kneipengänger, ein Gesellschaftsspiel für meine snobistischen Rockkumpels und Bekannten. Es ist eine einfache Frage, aber die Antwort verrät alles (glaube ich; andere mögen sagen: überhaupt nichts) darüber, wo man selbst im Leben steht.

Diese Frage lautet: »Wer würdest du lieber sein, Mick oder Keith?«

Kaum jemand wird sich für Mick entscheiden. (Wann sah man ihn das letzte Mal lächeln?) Wenn Popsternchen Ke$ha 2009 in ihrem Hit »TiK ToK« davon singt, Typen von der Bordsteinkante zu schubsen, »solange sie nicht wie Mick Jagger aussehen«, gehen wir davon aus, dass sie den jungen Mick meint (wohingegen sie sich bei dem »P. Diddy«, den sie zu Beginn des Songs erwähnt, auf den gegenwärtigen bezieht). Wenn Ghostface Killah allerdings gar nicht erst auf den Reim gestoßen wäre und Kanye West ihn in seinem Hit-Duett mit Jay-Z und T. I. »Swagga Like Us« 2008 nicht bekannt gemacht hätte, wäre er bei Ke$ha wohl kaum aufgetaucht. Jenseits der britischen Boulevardzeitungen und der Seite sechs der New York Post (wo man sich immer wieder wundert, wie jugendlich er noch das Tanzbein auf irgendeiner Fashion Event Party schwingt) wird Micks Name in den USA nämlich überhaupt nicht erwähnt. Vergessen ist die Tatsache, dass Mick bereits einen diamantenbesetzten Zahn hatte, lange bevor der Begriff Bling-Bling überhaupt in aller Munde war. Zugegeben, vor einigen Jahren hätte auch ich spontan noch »Keith« sein wollen, aber wenn man sich einmal mit den tatsächlichen Sachverhalten und den Geschichten hinter den öffentlichen Images beschäftigt hat, entscheidet man sich ohne zu zögern für Mick. Mick Jagger ist derjenige, der man gerne wäre, wenn man erwachsen ist. »In welchem Maße ich die Rolle spielte, die man mir zugeschrieben hatte, kann ich heute nicht mehr sagen«, gibt Keith in seiner Biografie unumwunden zu. »Ich meine solche Sachen wie den Totenkopfring, den kaputten Zahn, das Kajal. Halb und halb vielleicht? Die öffentliche Person, das Bild, das jeder von einem hat, ist wie eine Sträflingskette mit Bleikugel.«

Das hier ist kein Anti-Keith-Buch. In den Briefen, die ich geschrieben, und den Anfragen, die ich zu einigen Themen gestellt habe, habe ich das auch immer betont. Ich für meinen Teil liebe den Mythos Keith noch immer. Ich habe den größten Respekt für die Unbeugsamkeit und den Stolz, mit denen er dieses verbrauchte Dandy-Antlitz seiner Endzwanziger trägt, ich bin sogar der Meinung, Keith trägt es mit einer bemerkenswerten, sagenhaften Würde. Ich bin fasziniert von Keiths deformierten Fingern, den geschwollenen Gelenken, den verhornten Fingerspitzen und dem bereits erwähnten Totenkopfring, von den ewig qualmenden Zigaretten und den Unmengen an Wodka-Orange, die er konsumiert und mit denen er dem Tod förmlich ins Gesicht lacht. Ich verehre ihn dafür, dass er Fans wie Johnny Thunders, die es ihm gleichtun wollten, überlebt hat und dass er sich über jede neue, morbide Prominenten-Todesliste mit der Überschrift »Das sind die Nächsten« amüsieren kann, auf denen er an erster Stelle steht. Jedes weitere Jahr, das Keith durchhält, jeder verstorbene Fan, den er überlebt, jede astronomische Gage, die er einsackt, ist wie ein Tusch für den gewöhnlichen Sterblichen.

Mick Jagger ist dieser gewöhnliche Sterbliche – trotz all seines Jetset-Gehabes: verwundbar, auf der Suche, skeptisch, etwas so Monolithischem wie dem Rock’n’Roll niemals ganz und gar verpflichtet. Die Rolling Stones sind eine Verpflichtung für Keith und eine Verpflichtung für uns. Was Mick betrifft, so unterstützen sie seine philosophische Sinnsuche ebenso wie sie sie manchmal verhindern. »Ian Stewart sagte einmal zu mir: ›Falls Mick irgendwann einmal seine wahre Identität finden sollte, ist das das Ende der Rolling Stones‹«, erzählte Keith Altham. Er sprach hier vom Mitbegründer, Pianisten und dem eigentlichen Gewissen der Band, dem Schotten »Stu«, den der einstige Stones-Manager Andrew Loog Oldham zum Roadie degradierte und der der zweite Rolling Stone war, der von uns ging (1985 im Alter von siebenundvierzig Jahren). »Dieses ganze Rolling-Stones-Ding ist für ihn in gewisser Weise eine Suche nach sich selbst«, so Altham. Solange Mick noch mitmacht, ist er noch auf der Suche, und wenn er immer noch überlegt, wer er ist, dann sollte es für uns selbstverständlich sein, der Versuchung zu widerstehen, mit so einfachen Antworten wie »Brenda« aufzuwarten. Es gibt ein berühmtes Foto, das Mitte der 70er-Jahre geschossen wurde, darauf ist Mick Jagger zu sehen, wie er vor einem T-Shirt mit der Aufschrift »Who the Fuck Is Mick Jagger?« steht. Sein Gesichtsausdruck ist unergründlich. Falls die Stones während der Lektüre dieses Buchs tatsächlich wieder auf Tour sein sollten (eine Überraschung zum fünfzigsten Bühnenjubiläum ist ja angeblich geplant), dann geistert die Antwort da draußen immer noch irgendwo rum und wird wahrscheinlich niemals wirklich entdeckt werden. Ich hoffe, dieses Buch kann wenigstens ein paar neue Denkanstöße bieten.

Marc Spitz

New York, im Mai 2011

© Ken Regan /Camera 5

»Gimme Mick!«: Gilda Radner mit dem von ihr parodierten Rockstar, 1978.

© Redferns

ICH SINGE GERN

KAPITEL 1

Phil Spector, der charakterlich schwierige und dennoch geniale Produzent und Wegbereiter der modernen Musikindustrie, sagte einmal: »Ich glaube, die englischen Kids haben Soul. Man sagt ja, die Wurzel des Souls sei das Leid. Für die Schwarzen war das die Sklaverei. Und den Arsch voll bombardiert zu kriegen, ist eine weitere Möglichkeit, sich auf ehrliche Weise ein bisschen Soul zu verdienen.« Wenn das stimmt, dann brachte Dartford, wo Mick und Keith in den späten 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts heranwuchsen, die souligsten aller englischen Kids hervor. Die etwa zwanzig Minuten Bahnfahrt von London entfernt liegende Stadt litt während des Zweiten Weltkriegs stark unter den deutschen Fliegerbomben. Als Michael Philip Jagger am 26. Juli 1943 das Licht der Welt erblickte, ließen die verheerenden Luftangriffe allmählich nach und das Blatt wendete sich zugunsten der Alliierten. So war am Tag vor Micks Geburt der italienische Hitler-Verbündete Benito Mussolini abgesetzt und die von ihm gegründete National-Faschistische Partei aufgelöst worden. Wer nach einem prägnanten, frühen Bild für das Verhältnis zwischen Mick und Keith sucht, mag wohl die Tatsache bedeutungsvoll finden, dass Micks Elternhaus bei den Luftangriffen verschont blieb, während das Haus von Bert und Doris Richard im Sommer 1944 fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht wurde – ihr einziges Kind Keith war damals noch keine zwei Jahre alt. Die meisten Einwohner Dartfords, die ausgebombt worden waren, lebten damals in provisorischen Behelfsunterkünften. Auch Familie Richard (das »s« am Ende des Namens fügten Keith und Stones-Manager Andrew Loog Oldham erst Jahre später hinzu) fand in einer eilig inmitten der Trümmer errichteten Notunterkunft eine neue Bleibe. »Wir waren alle Vertriebene«, sagte Keith über seine Kindheit. »Und während man die Stadt wieder aufbaute, gründeten sich an jeder Ecke Gangs.« Durch die Unsicherheit und Unbeständigkeit, mit denen er aufwuchs, wurde Keith früh abgehärtet, und im Grunde ist es diese Toughness, die sein Image als knallharter Kerl bis heute bestimmt. Im Gegensatz dazu wuchs Mick (der damals noch »Mike« genannt wurde) in einer Gegend auf, die Keith – womöglich nicht ohne eine Spur Neid – als »Posh Town« bezeichnete. Beide jedoch wurden geprägt von ihrer Heimatstadt, die sich in schweren Zeiten durch Unerschütterlichkeit auszeichnete.

Sowohl Mick als auch Keith stammen aus britischen Mittelklasse-Familien, in denen beide Elternteile hart arbeiteten. Allerdings gibt es auch innerhalb der britischen Mittelschicht feine Unterschiede. Diejenigen, die »posh« waren, wie Mick, zählten zum oberen Mittelstand. Statt in einem Reihenhaus wohnten sie in einer Doppelhaushälfte, zu der oft auch ein kleiner Garten gehörte; man hob sich ein wenig von der Masse ab, war ein bisschen etwas Besonderes. Für echte Londoner waren sie trotzdem nicht mehr als Provinzler (ein Vorurteil, dass, wie einige meinen, bei Mick zur Überkompensation führte). Dartford wurde durch eine Bahntrasse geteilt. Keith lebte schon damals sozusagen im Jenseits, in einem Gebiet in der Nähe eines dunklen Waldstücks, das von Fabriken, Industriebauten und Krankenhäusern im neogotischen Stil geprägt wurde. Mick wohnte auf der etwas ansehnlicheren Seite. Doch ebenso wie Keith wurde er zur richtigen Zeit am falschen Ort geboren. Es war der Rock’n’Roll, der ihren Blick bald über die Stadtgrenzen hinaus lenken sollte.

In Anbetracht dieser Umstände würde man von beiden wohl nur Keith als geborenen Rock’n’Roller bezeichnen. Sein Vater Bert, ein Kriegsveteran, hatte zu seinem Sohn ein sehr distanziertes Verhältnis. »Es war unmöglich, ihm nahezukommen«, sagte Keith über ihn. »Er wusste nicht, wie er sich öffnen sollte.« Mick hatte zu seinem Vater hingegen eine sehr enge Beziehung. Basil Jagger, der von allen nur Joe genannt wurde, war schon als Kind ein Sport-Ass gewesen und hatte sich später als Sportlehrer und Fitnessexperte einen Namen gemacht. Vater und Sohn sahen einander sehr ähnlich: Beide waren schlank, verfügten aber zugleich über eine extrem starke Muskulatur, sie hatten abstehende Ohren, verständnisvolle braune Augen und die berühmten, ausgeprägt fleischigen, ungewöhnlich roten Lippen. Joe erkannte viel von sich selbst in Mick, und dementsprechend erzog er seinen Sohn streng, aber immer fürsorglich. Er legte viel Wert auf sportliche Betätigung und die Förderung der geistigen Fähigkeiten des aufgeweckten Jungen. Um die kreative Seite kümmerte sich Micks Mutter. Die aus Australien stammende Eva Jagger wollte mit einer perfekten englischen Familie glänzen und war deshalb auf die Wahrung traditioneller Gepflogenheiten bedacht. Ihr besonderes Interesse galt der Hausmusik. »Vor anderen etwas aufzuführen ist etwas, das manche Kinder einfach können und andere nicht«, sagte Mick Jagger 1995 in einem Rolling Stone-Interview. »In jener post-edwardianischen Zeit, vor der Einführung des Fernsehens, war bei Familientreffen jeder mal dran. Du sagtest ein Gedicht auf und irgendein Onkel spielte Klavier und sang dazu. So hatte jeder was zu tun. Ich war einfach eines der Kinder [die Spaß daran hatten].« Seine musikalische Begabung erfreute besonders seine Mutter, hingegen erfüllten sein sportliches Talent und seine Disziplin den Vater mit Stolz. Zur Zeit von Micks Geburt arbeitete Joe als Sportlehrer am städtischen Strawberry-Hill-College. Und nebenher knüpfte er, ehrgeizig wie er war, Kontakte zu verschiedenen nationalen Behörden, darunter auch das British Sports Council. Zuhause arbeitete er Trainingskonzepte und Fitnessprogramme aus und stellte für Mick und seinen jüngeren Bruder Christopher ein Trainingsprogramm zusammen, das aus Gymnastik- und Kraftübungen bestand. Ziel dieses Trainings war, den Charakter der Kinder zu formen und ihre Entschlusskraft zu fördern – eine sehr offensive Gesundheitsstrategie.

Während Mick prinzipiell alles hätte werden können, sich jedoch früh für eine Karriere als Rocker entschied, hatte Keith, der nur wenig zu verlieren hatte, kaum eine andere Wahl gehabt. Als Teenager bezog er regelmäßig Prügel von den Halbstarken, die in den immer noch von Trümmern gesäumten Straßen auf seiner Seite der Bahngleise herumlungerten. Zu jung, um ebenfalls einer der lauten, dandyhaften Teddy Boys zu werden – jener halbseidenen britischen Jugendkultur, die angesagt war, bevor Elvis’ Stern aufging –, rebellierte Keith im Stillen in Cowboy-Hemd und engen Jeans, während er den amerikanischen Rock’n’Roll in sich aufsog, den Radio Luxemburg durch den Äther schickte. Auch Mick lauschte der Musik dieses Senders, er liebte den Sound von Little Richard, Jerry Lee Lewis, den Everly Brothers und Buddy Holly and the Crickets.

Mick und Keith kannten sich von der Wentworth Primary School, allerdings waren sie in diesen frühen Kinderjahren, anders als manchmal vermutet wird, keine engen Freunde. Das jeweilige gesellschaftliche Umfeld, in dem beide aufwuchsen, war letztlich doch recht unterschiedlich, und so trennten sich ihre Wege auch bald wieder. Mick wechselte auf die Dartford Grammar School for Boys, während Keith auf das Dartford Tech ging, wo die Schüler gezielt auf ihr späteres Erwerbsleben vorbereitet wurden. Mick glänzte mit guten Noten in Grammatik, englischer Literatur, Französisch und Latein. Als geborener Anführer wurde er sogar zum Aufsichtsschüler ernannt, der für die Beaufsichtigung seiner Klassenkameraden zuständig war. Micks Erfahrungen in der Schulzeit waren offenbar positiv genug, um ihn Jahrzehnte später im bereits gesetzten Alter nicht nur zu seiner ehemaligen Schule zurückkehren zu lassen, sondern auch den Bau des heute Mick Jagger Centre genannten Musik- und Kunstzentrums auf dem Schulgelände zu unterstützen.

Alles deutete darauf hin, dass Mick ein voll finanziertes Stipendium erhalten und geradewegs eine Laufbahn einschlagen würde, die Ansehen und Wohlstand versprach. Doch im März 1958 kauften sich der damals noch keine fünfzehn Jahre alte Mick und sein Schulfreund Dick Taylor Tickets für ein Konzert von Buddy Holly and the Crickets in Manchester. »Wir fuhren schon ziemlich früh auf Buddy Holly ab«, erinnert sich Taylor. »Und dann fingen wir an, selbst Musik zu machen.« In den späten 50ern orientierten sich britische Teenager an amerikanischen Rock’n’Roll-Stars wie Elvis, Fats Domino und Little Richard. Doch diese Musiker inspirierten sie in der Regel nicht dazu, ein Instrument zu spielen. Diese Anregung kam eher von den heimischen Skifflebands mit ihrem Ur-Punk-Stil. Es war diese unbekümmerte Art des Musikmachens, die den Jugendlichen den etwas waghalsig anmutenden Sprung vom Fan zum Musiker gar nicht mehr so waghalsig erscheinen ließ. »Musik selbst zu machen war damals das Ding. ›Wenn du nicht Gitarre spielen kannst, spiel Waschbrett!‹«, erinnert sich Taylor. »Du hast drei Akkorde gelernt und das wars. Wir wollten es einfach machen – ob wir wirklich die musikalischen Fähigkeiten dazu besaßen, war zweitrangig. Und so spielten wir schon bald auf Gitarren und Plastikukulelen.« Weitaus zugänglicher als die neue Geisteshaltung, die mit dem Rock’n’Roll einherging, war dem sehr disziplinierten Mick zunächst die technische Seite der Musik. Gegen Ende der 50er-Jahre hatte sich der Junge zum Leidwesen seines Vaters jedoch in einen altklugen Jungphilosphen verwandelt, der nichts anderes als Rock’n’Roll und Mädchen im Kopf hatte und der – schlimmer noch – Uniformen und Gehorsam zunehmend in Frage stellte. Zur gleichen Zeit vollzog sich auch in London ein Wandel. Die Mods waren auf dem Vormarsch; zum ersten Mal gab es Teenager, die über eine große Kaufkraft verfügten, und die investierten ihr Geld in die allerneuesten Anzüge und Kleider, in Motorroller und haufenweise Schallplatten. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, die Anti-Baby-Pille eingeführt und anstelle der Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre brach sich ein brennendes Verlangen nach mehr Bahn: mehr Erfahrung, mehr Leben, lautere, verrücktere Sounds. Es war unverkennbar, dass sich eine völlig neuartige, dynamische Energie überall in England bemerkbar machte. Und während diese die Eltern verunsicherte, inspirierte sie die Kids. »Wir rebellierten nicht in einem luftleeren Raum«, sagt Dick Taylor. »Und es war nicht persönlich gemeint. Es war keine Auflehnung gegen irgendjemand speziellen. Es war ein ganz allgemeines Aufbegehren gegen die reichlich angestaubten Ansichten der damaligen britischen Gesellschaft.« Vor fünfzig Jahren wurde Rock’n’Roll, der heute ganz selbstverständlich dazugehört, noch als etwas ungeheuer Barbarisches angesehen, als eine Art Keim, der irgendwie ins Leitungswasser geraten war und den man durch sofortige, unablässige Filtrierung wieder loswerden musste. »Meine Eltern missbilligten das Ganze total«, sagte Jagger einmal. »Man muss bedenken, dass das was für absolute Proleten war. Rock’n’Roll-Sänger zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie gebildet waren.«

© White & Reed/Rex USA

Schon als Jugendlicher beliebt: Mick (hinten, ganz rechts), der geborene Athlet, während seiner Zeit an der Dartford Grammar School for Boys, 1960.

Es dauerte nicht lange und der Rock’n’Roll – als Sound und revolutionäre Haltung gleichermaßen – hatte mehr Einfluss auf den pubertierenden Mick, als es sich sein Vater mit seinem altmodischen Drill jemals hätte vorstellen können. Es existiert sogar Filmmaterial, das dies belegt: Für eine Folge der BBC-Sendung Seeing Sport vom Herbst 1957 erklomm der damals gerade vierzehnjährige Mick zusammen mit zwei anderen Jungen und seinem Vater Joe pflichtbewusst einen Sandsteinfelsen in Turnbridge Wells, um die Zuschauer über das richtige Schuhwerk für ein derartiges Unternehmen aufzuklären. »Michael hier trägt ein Paar gewöhnliche Turnschuhe«, erklärt Joe, nimmt den Fuß seines Sohnes und hält ihn in die Kamera. Das anwesende Publikum lacht, während Joe, der Moderator, seinen Jungen zu einer Art Schuhmodel macht. Mick, dessen Gesicht noch die letzten Spuren von Babyspeck aufweist, grinst und funkelt seinen Vater amüsiert, aber auch eine Spur verächtlich an – ein Gesichtsausdruck der etwa ein halbes Jahrzehnt später zum symbolischen Ausdruck der selbstbewussten Jugend wird. In diesem fortgeschrittenen Stadium der Pubertät, in dem die meisten Jungen nichts als Sex im Kopf haben, war für Mick immer noch sein Vater mit seinen klaren Prinzipien das Vorbild. »Ich hatte nie eine wilde Jugend«, erinnerte er sich 1973 im NME. Diese Phase sollte er Anfang der 60er jedoch rasch nachholen.

Joe Jagger gab seinen Erstgeborenen allerdings nicht so einfach auf und zauberte eine, wie er glaubte, Geheimwaffe aus dem Hut, ein weiterer US-Import mit einer ebensolchen Faszinationskraft wie Gitarre, Bass und Schlagzeug: Basketball. Obwohl diese Sportart in Großbritannien kaum bekannt war, hatte Joe gegen Ende der 50er-Jahre ein Basketballteam an der Dartford Grammar School zusammengestellt, das er betreute. Er machte Mick zum Mannschaftskapitän und stattete die Spieler mit richtigen Basketballstiefeln aus, die er aus den USA bezog. Um diese Zeit herum kam Mick zum ersten Mal mit dem Blues in Berührung. Rein zufällig führte ihn sein Weg vom Rock’n’Roll zurück zu dessen Wurzeln. »Ich jobbte auf einem amerikanischen Militärstützpunkt in der Nähe von Dartford. Dort gab ich anderen Kindern Sportunterricht, weil ich ganz gut darin war«, sagte Mick. »Es gab da einen Schwarzen namens Jose, der dort als Koch arbeitete. Jose spielte mir R’n’B-Platten vor, und das war das erste Mal, das ich schwarze Musik hörte.«

Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, was den jungen Mick Jagger am Blues faszinierte. Im eher beschaulichen Dartford übten Songs über Glückspiel, leichte Mädchen und die schicksalhafte Ahnung, dass einem auf dieser Welt kein langes Leben beschert ist, eine ähnliche Anziehungskraft aus wie Western oder Gangsterfilme mit ihren blutrünstigen Handlungen, die man sich immer wieder ansieht, weil man sich darin verlieren kann. Auch der Blues erzählt im Wesentlichen Geschichten und versetzt einen in eine andere Welt. Seine Magie schlägt denjenigen in Bann, der ihn hört, ebenso, wie er den schwarzen Feldarbeiter, der ihn singt, von seiner harten, unbarmherzigen Fron ablenkt. Ganz gleich ob es der archaische, akustische Delta Blues oder die fortschrittlichere elektrische Spielart aus Chicago war, der Blues vertrieb Eintönigkeit und Schmerz, war sexy und oft heiter und wirkte immer hypnotisierend; der Beat ließ sich auf einer Bratpfanne reproduzieren oder auf dem Rücken eines Schulbuchs. »Es war der Sound, der uns fesselte«, sagt Dick Taylor. »Wenn du Howlin’ Wolf oder Chuck Berry zum ersten Mal hörst – dieser Sound ist einfach unglaublich. Und Mick hatte es die Sprache angetan. Chuck Berry war ein sagenhafter Poet. Seine Sprache war extrem ausdrucksstark. Mick versenkte sich richtig in die Songtexte. Er hörte ganz genau zu und schrieb alles mit. Wir verbrachten eine Menge Zeit damit, Platten zu hören und die Texte richtig zu verstehen.« R’n’B war so etwas wie eine neue, schnelle und gewitzte Sprache, eine innovative Kommunikationsform. Für eine Handvoll weißer britischer Kids, die zu Beginn der 60er in ihren Familien vor allem zu parieren hatten und in der Schule noch Prügel riskierten, wenn sie ohne Aufforderung den Mund aufmachten, war es zu guter Letzt eine ureigene Ausdrucksform (was ziemlich paradox klingen mag, wenn man den afrikanischen Ursprung des R’n’B bedenkt). »Es ist eine Sprache, die die ganze Bandbreite der Gefühle zum Ausdruck bringen kann, von Trauer über blinden Hass bis hin zur hemmungslosen Lust«, so der mittlerweile verstorbene Autor und Musikkritiker Robert Palmer in seiner hervorragenden Untersuchung Deep Blues. »Der genuschelte und reibeisenraue Gesang, die Verzerrungen, die bewussten Schwankungen in Rhythmus und Tempo – bei all diesen Blues-Techniken geht es darum, Emotionen zu wecken und zu entfesseln. Je rauer die Stimme und je verzerrter der Klang, desto tiefer das Gefühl. Das geht zurück auf die afrikanischen Wurzeln dieser Musik, denn in Afrika hat die gesprochene Sprache ein sehr breites Klangspektrum: je tiefer die Tonlage, desto mehr Gefühl vermittelt das gesprochene Wort.«

© Popperfoto/Getty Images

Joe und Eva Jagger am 11. Mai 1971 auf dem Weg nach Frankreich zur Hochzeit ihres Sohnes Mick mit Bianca Pérez-Morena De Macias.

In denselben Regalen, in denen sie die amerikanischen Rock’n’Roll-Importe fanden, entdeckten Mick und Dick Taylor Bluesplatten von Labeln wie Chess und Speciality. Weil die Cover sie faszinierten, kauften sie zum Beispiel auch Platten von Jimmy Reed oder Howlin’ Wolf sowie die neueste Scheibe von Chuck Berry, von dem Mick begeistert war, seit er Bert Sterns Dokumentation Jazz on a Summer’s Day gesehen hatte. Berry singt darin »Sweet Little Sixteen« und ist entweder im Profil zu sehen, sodass sein Gesicht dem eines Präsidenten auf einer Münze ähnelt, oder aus der Froschperspektive, wodurch er wie ein Riese wirkt – der er in gewisser Weise ja auch war. »Man konnte Platten auch direkt bei Chess Records in Chicago bestellen«, sagte Jagger. »In irgendeiner Zeitschrift hatte ich die Bestelladresse entdeckt. Und wenn ich genügend Geld hatte, orderte ich da ein paar Platten. Das war damals vergleichsweise teuer, denn in Amerika kosteten Platten einfach mehr als in England, und die Portokosten für den Überseeversand waren auch nicht ohne.«

»Mick Jagger schickte Postanweisungen. Ich arbeitete damals in der Versandabteilung«, sagt Marshall Chess, der Sohn des Label-Mitbegründers Leonard Chess. »Ich erinnere mich, wie ich all diese Zollformulare ausgefüllt und kistenweise Platten nach England geschickt habe. Diese erste Generation der Bluesfans war richtig heiß auf die Chess-Alben.« Marshall Chess lernte Mick Jagger persönlich kennen, als die Rolling Stones 1964 während ihrer ersten US-Tour nach Chicago kamen. Und als Chess Anfang der 70er verkauft wurde, kam er offiziell zur Stones-Familie, indem er half das neue Label Rolling Stones Records aufzubauen. Damals jedoch war er noch ein Jugendlicher, der seinem Vater in den Sommerferien in der Firma zur Hand ging. Und Mick war lediglich eines von ein paar hundert eigenbrötlerischen englischen Kids, die auf Chicago Blues standen. »Es war schon was Besonderes. Es trafen nicht jeden Tag Bestellungen aus England ein«, erinnert sich Chess.

Es dauerte oft Wochen, bis die Platten beim Besteller ankamen, was die Spannung und Vorfreude unermesslich steigerte, etwas, das die heutigen Highspeed-Downloader kaum noch nachvollziehen können. »Man wusste nicht einmal, ob einem die Platte gefallen würde, wenn sie dann endlich eintraf«, erinnerte sich Mick. Falls nicht, konnte man sie immer noch weiterverkaufen. »Wir schlossen ein Tonbandgerät an den Plattenspieler und nahmen die LPs auf Band auf, sodass wir tauschen konnten«, erklärte Taylor. »Wir waren echte Fans. Völlig besessen von der ganzen Sache.« Mick war auch immer noch ein Plattenfreak, nachdem er bereits seine ersten Singles und Alben aufgenommen hatte. »Ich weiß noch, wie ich ihn in seinem Haus am Cheyne Walk besuchte«, sagt Chess. »In seinem Wohnzimmer stand ein langer Tisch, und ganz am Ende war ein Drehteller, auf dem sich die Platten stapelten. Es war ein bisschen Zydeco dabei und natürlich Blues. Eine Menge richtig cooles Zeug lag auf dem Tisch. Es gibt nur wenige Weiße, die wissen, was Zydeco ist. Er legte diesen Song von Clifton Chenier auf, ›Black Snake Blues‹. Das war eine echte Rarität. Ich kenne außer ihm keinen Weißen, der diese Platte besaß.«

Blues war sexy. Er verursachte Herzrasen. Der Rhythmus nahm einen einfach gefangen. Und die Lyrics steckten voller leicht entschlüsselbarer Doppeldeutigkeiten, was sogar Schüler schon begriffen.

Bei seinen ersten sexuellen Erfahrungen verstieß Mick wahrscheinlich kaum gegen die Regeln der seinerzeit üblichen Geschlechtertrennung. Die heranwachsenden Knaben betrachteten und erforschten ihre sich verändernden Körper mit einer Mischung aus Faszination und Angst. »Ich glaube, das ist bei allen Jungs so«, sagte Mick einmal. Mit vierzehn war er immer noch linkisch und von Pickeln gezeichnet. Er bestand größtenteils aus Ohren und Lippen, seine Gesichtszüge mussten erst noch jene fremdartige, majestätische Attraktivität entwickeln, die er mit Anfang zwanzig schließlich besitzen sollte. Doch der R’n’B verschaffte ihm eine gewisse Selbstsicherheit und damit auch eine besondere Ausstrahlung, wozu auch sein Talent beitrug, die meist schwarzen Bluessänger so überzeugend imitieren zu können, dass er sich wie ein echter Südstaatler anhörte. »Er konnte einfach verdammt gut nachahmen«, sagt Dick Taylor. »Er kniete sich richtig rein, die ganzen Texte auswendig zu lernen und mit all den verschiedenen Akzenten zu singen.« Selbst seinen Vater beeindruckte, dass er sich der Musik mit derselben Hingabe widmete wie dem Sport und seinen schulischen Verpflichtungen: »Ich hatte noch nie einen Jugendlichen getroffen, der sich den Dingen derart analytisch nähert«, sagte Joe Jagger. »Wenn er einen dieser Songs sang, klang das absolut originalgetreu.« Auf die jungen Mädchen aus Dartford übte Mick dadurch eine völlig neue Faszination aus. Er übernahm gewissermaßen stellvertretend die Rolle desjenigen, der den Sound, die Power und den Sex dieser in England noch weitgehend unbekannten Musik heraufbeschwor. Die Musik der Schwarzen gab ihm die Art Selbstvertrauen, die er im Sport nicht finden konnte. »Das kam bei den Mädels an«, so Taylor. »Wer ein Instrument spielen und singen konnte, hatte bessere Chancen bei ihnen. Damit kam man an die süßen Mädels ran.«

Anfang der 60er entwickelte sich Mick vom willkürlichen Plattenkäufer zum anspruchsvollen Sammler, und immer öfter hatte er eine Liste mit aktuellen Lieblingssongs, die er gut singen konnte. Als Mick, Taylor und ein weiterer Schulfreund namens Bob Beckwith schließlich den waghalsigen Sprung vom Fan zum echten Bluesmusiker unternahmen, stand außer Frage, dass Mick die Rolle des Sängers übernahm. Als er im Gemeindesaal in Dartford mit seiner ersten Band Little Boy Blue and the Blue Boys zum ersten Mal öffentlich auftrat, war es für Mick noch ein weiter Weg bis hin zur Wiege des Blues in Clarksdale, Mississippi. Doch ob er es nun ahnte oder nicht, er stand schon damals mit beiden Beinen fest auf dem heiligen Boden der legendären Crossroad, wo Robert Johnson dem Teufel sein Seele verkauft haben soll, um den Blues richtig spielen zu können.

Nachdem Mick seinen Schulabschluss mit Bravour gemacht hatte, wurde er an der renommierten London School of Economics aufgenommen, die schon etliche hochrangige Politiker und Banker hervorgebracht hatte. Seinen Eltern imponierte er damit sehr. Das lateinische Motto der LSE passte hervorragend zu dem wissbegierigen und alles hinterfragenden Teenager: »rerum cognoscere causus«, was frei übersetzt »den Dingen auf den Grund gehen« bedeutet. Die Ökonomie berührt viele wichtige Grundsatzthemen und setzt sich auch mit der Gesellschaftsordnung und Fragen nach Wohlstand und Armut auseinander. Es geht dabei nicht um reine Mathematik oder eine Anleitung zum schnellen Geldverdienen, wie es diejenigen kolportieren, die Jagger verunglimpfen wollen. Nicht von ungefähr wurde die LSE Ende der 60er-Jahre zu einer Keimzelle der britischen Studentenbewegung. Es gab also im Sommer 1961 kaum Grund daran zu zweifeln, dass Mick ein erfolgreicher Banker würde. Ernsthafte Karrierepläne mit Little Boy Blue wird er gewiss nicht gehabt haben, auch wenn er großen Spaß daran hatte, Blues zu spielen. »Wir waren eine Schülerband«, erinnert sich Taylor. »So was wie Karriere hatten wir überhaupt nicht im Sinn. Wir dachten einfach: ›Lasst es uns tun.‹ Wir fragten uns nicht, wie das alles weitergehen oder wohin es führen sollte.« Mick lebte damals noch bei seinen Eltern und fuhr regelmäßig mit dem Zug zum Studieren nach London.

Ironischerweise kam es zu der schicksalhaften Wendung, durch die Mick zum professionellen Musiker werden sollte, auf einer Heimfahrt vom Houghton-Street-Campus im Frühherbst 1961. Er stand gerade auf dem Bahnsteig, wie gewöhnlich mit einigen seiner Lieblingsalben unter dem Arm – darunter auch die beiden Chess-Importe Rockin’ at the Hops von Chuck Berry und The Best of Muddy Waters –, als ein etwas raubeinig wirkender Typ, der Cowboystiefel und ein violettes Westernhemd trug, auf ihn zukam. Instinktiv hielt er seine Platten fester umklammert, er witterte Ärger. Doch als der Typ näherkam, entspannte er sich wieder. Mick erkannte seinen alten Schulfreund Keith. Seit der inzwischen Siebzehnjährige vom Dartford Tech geflogen war, ging er auf das Sidcup Art College, das er jedoch auch bald wieder verlassen sollte. Keith war genau so wie Mick vom Rock’n’Roll zum Blues gekommen, und auch er fühlte sich dieser Musik sehr verbunden. Seine akustische Westerngitarre hatte er bereits gegen eine elektrische Hofner getauscht. Während sie zusammen nach Hause fuhren, erzählte Mick Keith, dass er zusammen mit Taylor auftrat. Keith interessierte sich für die Platten und Mick erlaubte ihm, sich seine Heiligtümer genauer anzusehen. Er war wohl stolz, dass ihn sein einst taffer Freund aus Kindertagen nun als Gleichgesinnten, wenn nicht sogar als den in kulturellen Dingen Beschlageneren betrachtete. »Ich hab noch mehr solcher Alben zu Hause«, sagte Mick. Und Keith meinte, er solle doch mal mit ein paar Scheiben bei ihm vorbeikommen. »Ich lud ihn auf eine Tasse Tee zu mir nach Hause ein«, sagte Keith. »Er spielte mir diese Platten vor und ich fuhr voll darauf ab.« Keith erzählte Mick, dass er Gitarre spielt. »Und was kannst du?«, fragte er aufgeregt. Und Mick, der als Kind von seiner Mutter dazu ermutigt worden war, ohne dass es mehr als ein kleiner Spaß innerhalb der Familie gewesen war, sagte: »Ich singe gern.«

© Keystone Features/Hulton Archive/Getty Images

Mick wagte mit zwei Schulfreunden den Sprung vom Plattensammler und Bluesfan zum Musiker, und es war keine Frage, dass er den Part des Sängers übernahm.

DEN BLUES PREDIGEN

KAPITEL 2

Nach und nach wurden die Dartforder Jungs richtige Londoner. Weil er verlässlich und umsichtig war, durfte Mick hin und wieder das Familienauto benutzen. Dann nahm er Keith, Dick Taylor, Bob Beckwith und die jeweils aktuelle Freundin mit in die City oder zu Blues-Konzerten nach Manchester. Das zufällige Wiedersehen mit Keith war ein ungemein einschneidendes Erlebnis gewesen, und in ihrer Begeisterung für R’n’B beflügelten sie sich gegenseitig. »Es war großartig, noch jemanden kennenzulernen, der diese Leidenschaft teilte«, so Dick Taylor. »Gemeinsam ist man stark.« Doch mit den modisch gekleideten, schicken Jazzern, die die Londoner Clubszene beherrschten, konnten sie nicht mithalten. Sie sahen eben aus wie typische Studenten und wirkten ein bisschen ungepflegt mit ihren pickligen Gesichtern und den ausgewaschenen Sweatshirts. Mick und Keith inspirierten sich gegenseitig, wodurch sie ein enormes Selbstvertrauen erlangten. Sie rissen einander mit, begeisterten sich für neue Ideen und schließlich war in ihnen die Einsicht greift, dass sie Dartford verlassen mussten.

Alexis Korner hatte wirklich Stil. Der Gitarrist mit den griechisch-österreichischen Wurzeln fiel auf mit seinem Spitzbärtchen, der adretten Garderobe, seiner etwas antiquierten Ausdrucksweise und seinem unermüdlichen Engagement für den Blues. Zusammen mit dem Londoner Musiker Cyril Davies tingelte er durch die Jazzlokale der britischen Hauptstadt, um so viele Menschen wie möglich für die andere bedeutende Musikrichtung aus Amerika zu begeistern. Davies spielte Mundharmonika, bis sein rundliches Gesicht dunkelrot anlief. Weil sie Ende der 50er-Jahre zusammen mit Muddy Waters bei der von ihnen selbst initiierten »Blues Night« im Roundhouse Pub aufgetreten waren, hatte sich das ungewöhnliche Duo 1961 längst als Vermittler dieser neuen Musik einen Namen gemacht.

© Huton-Deutsch Collection/Corbis

Mick und Keith öffnen ihre allererste Fanpost, 1963.

Der zentrale Treffpunkt für junge Bluesfans war damals der Ealing Club. Little Boy Blue and the Blue Boys hatten ihm bereits auf einem ihrer Ausflüge nach London und rauf in den Norden einen Besuch abgestattet. Inzwischen waren sie jedes Wochenende dort und schon bald wagten sie davon zu träumen, einmal selbst auf der kleinen Bühne aufzutreten. Jeden Samstag sahen sie dort Korner und Davies mit ihrer Band Blues Incorporated. Mick, der selbst gerne Mundharmonika spielen wollte, konzentrierte sich von seinem Platz im stickigen Zuschauerraum aus oft ausschließlich auf Davies. »Da waren all diese Musikfreaks, die irgendeine Anlaufstelle brauchten, ein ganzer Haufen Anoraks«, erinnerte er sich. »Das Publikum bestand in der Hauptsache aus Typen – die meisten davon waren ziemlich grässlich. Mädchen musstest du mit der Lupe suchen.«