Migranten - das trojanische Pferd? - Simone A. Alexander - E-Book

Migranten - das trojanische Pferd? E-Book

Simone A. Alexander

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Beschreibung

Die Welt ist in Bewegung – Weltanschauungen prallen aufeinander – Deutschland ist gespalten. Muslimische Flüchtlinge kommen zu uns – eine historische Herausforderung! Wie können wir reagieren? Simone A. Alexanders Buch ist ein wahres Kraftpaket an Einsichten und Tipps, die weder auf Angst noch auf Naivität bauen. Simone A. Alexander stellt vor, welche kulturellen Konzepte unter Syrern, Ägyptern und anderen Völkern des Nahen Ostens prägend sind. Sie bietet Ratschläge und Anleitungen für den praktischen Umgang mit den Zuwanderern, die bei uns leben. Damit kann entstehen, was wir dringend brauchen: Verständnis für die Mentalität der Migranten aus den Kulturen des Islams und eine entspanntere Beziehung zu ihnen. Dieses Buch ist wertvoll für alle, die sich beruflich oder privat um Flüchtlinge kümmern und sich beschäftigen mit den Fragen, die sie aufwerfen: Sozialarbeiter, Pädagogen, Politiker, Polizisten, Sprachlehrer, Ehrenamtliche, Integrationshelfer, Erzieherinnen, Behördenmitarbeiter, medizinisches Personal und Nachbarn. Die Autorin hat selbst viele Jahre im Nahen Osten gelebt und gearbeitet.

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Simone A. Alexander

Migranten – das trojanische Pferd?

Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

Ruhland Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Bibelstellen sind in der Regel der Gute Nachricht Bibel entnommen:

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und an den gekennzeichneten Stellen aus folgenden Übersetzungen:

hfa – Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.® Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel,

züb –Zürcher Bibel (2007).

Zitate aus englischsprachigen Büchern und Artikeln wurden von der Autorin übersetzt.

Alle Namen von Personen und Familien in Fallbeispielen sind geändert. Die Namen meiner Kinder sind geändert.

ISBN 978-3-88509-132-5

ISBN 978-3-88509-140-0 (epub)

ISBN 978-3-88509-141-7 (mobi)

Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2017

Simone A. Alexander, Migranten – das trojanische Pferd? Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

Lektorat: Gabriele Pässler – BGP

Coverbilder: © Simone A. Alexander

Alle Rechte vorbehalten.

www.ruhland-verlag.de

Meinen ägyptischen Freunden gewidmet, die mir als Ausländerin Wertschätzung, praktische Hilfe und viel Geduld erwiesen haben –

und Ulrike

Vorwort

Wir leben in einem Zeitalter neuer Völkerwanderungsbewegungen. Wir erleben einen Genozid an Christen und Jesiden im Nordirak und Unfrieden unter Deutschen, der sich im Umgang mit Flüchtlingen breitmacht. Menschen aus den entlegensten Orten des Nahen oder Mittleren Ostens und Afrika strömen in Massen nach Deutschland, trotz menschenverachtender Schlepper, tödlicher Gefahren und Auszehrung, und schlagen ein neues Kapitel unserer Geschichte auf. Sie suchen Schutz und wollen sich und ihren Familien eine neue Existenz aufbauen.

Dieses Buch möchte behilflich sein bei der jetzt schon gewaltigen und komplexen Aufgabe, die sich mit der Aufnahme dieser Zuwanderer in Deutschland stellt. Es will die kulturelle Andersartigkeit besonders der arabischen Flüchtlinge beleuchten, ebenso wie der von Medizintouristen, damit wir sie in ihrer Eigenart besser ernst nehmen können. Migranten – das trojanische Pferd? schöpft aus Erfahrungen, die meine Familie und ich sammeln konnten bei intensiven Besuchen seit dem Jahr 2000 sowie durch unser Leben 2006 bis 2014 in Alexandria – und ich persönlich während eines Aufenthalts schon 1988-89 in Kairo.

Ich bin überzeugt: Mit wachsender Empathie für das Denken der Menschen aus dem Vorderen Orient können wir brauchbare und vor allem nachhaltige Strategien der Eingliederung entwickeln und die Reibungsflächen geringer halten. Dass Deutsche Ängste und Hindernisse abbauen und so mit Verständnis und mehr Information dem großen Ziel der gesellschaftlichen Einheit in Vielfalt näher rücken, ja, zu entspannten Nachbarn für Flüchtlinge werden, das ist meine Hoffnung.

Allerdings finden Sie hier keine Kulturanthropologie, die Ihnen umfassend die Details dieser kulturellen Eigenarten schilderte. Ich zeige die großen Linien und weltanschaulichen Hintergründe der anderen Mentalität sowie denkbare praktische Anwendungen; das kann Ihnen helfen, Ihre Beziehung zu arabischen Einwanderern proaktiv zu gestalten, will heißen: weder naiv noch angstgesteuert.

Die Migranten aus arabischen Ländern – Muslime, Christen und Andersgläubige wie etwa Jesiden oder Baha’i – bringen ihre eigenen, religiös geprägten Grundwerte und Lebensstile mit. In diesem Buch sollen einige wichtige Vorstellungen mit Blick auf die Praxis lebendig werden. Eine umfassende Darstellung etwa des Islam ist nicht beabsichtigt; doch finden Sie vielleicht Facetten dieser prägenden Religion, die bisher bei uns nicht besonders im Fokus standen. Vieles davon ist vermutlich übertragbar auf islamisch geprägte Kulturen auch außerhalb des Nahen Ostens.

Mit ihren Werten und Vorstellungen stoßen Araber aber nicht nur in der deutschen Bevölkerung auf Andersdenkende; zuvörderst haben sie es mit dem Asylverfahren zu tun, das vom deutschen Staat „top down“ gestaltet wurde und flächendeckend als normative Maßnahme von Politikern und Behörden gesteuert wird. Damit stehen die Migranten aus Nahost frontal den säkularen Werten unseres Staates gegenüber.

Politiker, Juristen und beamtete Behördenleiter sind die Strategen des Asylrechts und -verfahrens. Sie operieren notwendigerweise mittels eines bürokratischen Apparats und seiner Amtssprache. Eine wachsende Industrie von Sozialarbeitern, Wissenschaftlern und Hilfswerken mit den gleichen säkularen Werten wird zugeschaltet und vom Steuerzahler besoldet. Die Bevölkerung ist bei jetzigem Stand nur peripher einbezogen, doch in Zukunft wird sie viel direkter damit konfrontiert sein, Integration umzusetzen, auch die Integration von Menschen aus einer vom Islam geprägten Kultur. Viele Deutsche fühlen sich jetzt schon überfordert, weil aufgrund der kulturellen Unterschiede die Beziehung schwierig ist.

Dieses Buch möchte Licht darauf werfen, wie Araber zu Hause, im Nahen Osten, Werte und Überzeugungen leben und wie diese bei Migranten hier zum Tragen kommen. Es erforscht aus christlicher Perspektive, welche Wechselwirkungen deshalb im Umgang mit und bei der Integration von arabischen Zuwanderern entstehen können. Ziel ist auch hier, mal Warnschilder aufzustellen, mal Brücken zu bauen und so mitzuhelfen, dass der praktische Alltag des Miteinanders sich „Verständnis-voll“ gestaltet. Dieses Buch möchte auch einen Beitrag leisten zur gesellschaftlichen Diskussion, wie wir die Zuwanderer am besten eingliedern. Deshalb finden Sie am Schluss nach Personengruppen gegliederte Tipps, mithilfe derer Sie den arabischen Migranten entspannt gegenübertreten oder sich für sie engagieren können. Syrisches Vokabular und eine Liste hilfreicher Bücher runden Ihre Möglichkeiten im Alltag ab.

Im Oktober 2015,

Simone A. Alexander

Statt einer Einleitung: Ein Spaziergang

Integration ist bereits gelungen.

Wenn ich aus der Haustür unserer Wohnanlage trete, sehe ich manchmal Herrn C., den früheren Hausmeister, der mich in griechisch eingefärbtem Schwäbisch freundlich grüßt. Auf meinem Fußweg in die mittelgroße süddeutsche Stadt komme ich an einem griechischen Restaurant vorbei. Kürzlich konnte man in der Lokalzeitung lesen, dass der Betreiber, ein Grieche, von der Kommune für großartiges soziales Engagement eine Ehrenmedaille verliehen bekam. Wenn ich an der Tür des türkischen Kulturvereins vorbeikomme, begegnen mir zuweilen Grüppchen von Frauen in langen Mänteln. Ihr Kopftuch ist nach dem neuesten Modetrend in der Türkei gebunden und scheint meterlanges hochgebundenes Haar zu bergen; kichernd schlüpfen sie in das Gebäude. Nicht weit davon finde ich beim türkischen Discounter ein breites Warenangebot, das es so vor 30 Jahren in Deutschland noch nicht gab: vom Ajvar bis zum Fladenbrot ist alles Mediterrane vorhanden – und mehr!

Italienische und indische Pizzaservices beliefern mich schnell, wann immer ich zum Telefon greife, und in der Nähe kann ich Pita oder Döner mitnehmen. Ich kann in der Schischa-Lounge einkehren und mich dann von einem Herrn mit braunen Augen, schwarzen Haaren und Cappucchino-farbigem Teint per Taxi sicher nach Hause bringen lassen.

Im Stadtkern lasse ich meine Haare in einem türkisch geführten Frisörladen schneiden. Auf dem Wochenmarkt bedienen mich an den Ständen mit der günstigen Kleidung indische Herren mit Turban. Wieder zu Hause, läutet ein freundlicher, betriebsamer Mann vom Paketdienst – mit Migrationshintergrund – und liefert meine Bestellungen.

Erleben auch Sie das organische Miteinander verschiedener Kulturen in Ihrem deutschen Umfeld als Selbstverständlichkeit?

Der gute Verdienst bei großen deutschen Autobauern hat in Süddeutschland so manchen Einwanderer-Traum in der Fremde erfüllt, und während der Arbeit lernte man brauchbares Deutsch fast nebenbei. Die deutsche Bevölkerung nimmt inzwischen die Offerten zahlreicher meist mittelständischer Dienstleister gern und selbstverständlich in Anspruch – angeboten von fleißigen Betreibern mit Migrationshintergrund. Diese Menschen sind, seit Generationen schon, zu unseren Nachbarn geworden und bereichern uns und unsere Kultur so sehr, dass wir ihren Beitrag im Normalfall nicht mehr als fremd wahrnehmen.

Integration kann also gelingen.

Vorwort zur Neuauflage

Die gesellschaftliche und politische Großwetterlage in Deutschland hat sich seit Beginn des Flüchtlingsstroms im September 2015, der von Vielen willkommen geheißen wurde, heftig gedreht. Die Masse der Zuwanderer auch aus dem islamischen Nahen Osten, die sich fühlte wie die sprichwörtlichen „Geister, die Frau Merkel rief“, will man möglichst wieder loswerden, denn das Europa, wie wir es kannten, zerfällt an der Frage, wie man mit Flüchtlingen umgehen soll. Die Türkei Erdogans, mit der man einen finanziellen Deal machte, um die Flüchtlinge nicht mehr nach Europa hereinzulassen, verwandelt sich derweil – anscheinend völlig über Nacht – in eine garstige Diktatur.

Was hat das alles mit Weltanschauung, Kultur und Wertvorstellungen zu tun? In Migranten – das trojanische Pferd? werden wichtige kulturelle Themen v. a. des islamisch geprägten Nahen Ostens verständlich erklärt, die auch in der Türkei, Marokko oder Afghanistan mit je anderen Nuancen eine Rolle spielen. Die Grundwerte der muslimischen Kultur reden laut mit in den Konflikten, die das Zuwandern aus dem Nahen Osten und anderen Weltregionen begleiten. Leider aber werden diese Unterschiede nur zu oft unzureichend berücksichtigt oder gar nicht thematisiert, wenn es in Medien und Politik um Integration geht.

Eine vom Islam geprägte Kultur bringt – egal um welches Land es sich dabei im Einzelnen handelt – ähnliche Phänomene hervor. So sollte man weder über Erdogans Allüren oder seinen Staats-Islamismus erstaunt sein noch über die kollektive Verzückung seiner Anhänger. Dass Bashir al Assad in Syrien – wie seine Gegner – bis zum letzten Blutstropfen kämpft, kann nicht verwundern. Es ist klar, was ihn erwartet, wenn er nachgibt, da ein Begriff von Frieden, wie in Europa als Teil der Leitkultur für selbstverständlich gehalten, in Syrien fehlt. Im Gegenteil, islamistische Gruppen überziehen eine ganze Weltregion von Mali bis Afghanistan mit Krieg und Unterwerfung von Minderheiten. Warum? Das hat mit ihrer grundlegenden Weltanschauung und mit ihren Werten zu tun – mehr als uns lieb ist.

Jeder Versuch, Migranten aus dem Nahen Osten aufzunehmen oder mit der Regierung Erdogan und anderen Regimes islamistischer Prägung umzugehen, sollte deshalb möglichst gut informiert sein über die Kultur islamischer Gesellschaften und ihre Werte. Dazu will dieses Buch, eine Neuauflage meines im Oktober 2015 erschienenen Bandes Was tun mit Migranten aus Nahost?,einen Beitrag leisten. Es beschäftigt sich im Großen wie im Kleinen damit, welche Kultur der Islam konkret hervorbringt und welche Reibungsflächen und tote Winkel bei uns entstehen können angesichts eines religionsähnlichen Säkularismus einerseits bzw. eines Traditionalismus christlicher Einfärbung andererseits. Es gibt aber auch für den Umgang mit Migranten im täglichen Leben hier in Deutschland eine Handreichung und viele praktische Tipps.

Bei näherem Hinschauen zeigt sich, dass am ehesten die christliche Basislehre eine gedankliche wie seelische Grundstruktur abgeben könnte für ein gelingendes Zusammenleben von Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen – jedenfalls war sie historisch schon einmal tragfähig. Gesetze und Verfassung sind ein notwendiger Rahmen, vielleicht kann man auch Appelle oder Zwang anwenden; all das aber greift zu kurz, wenn es darum geht, Integration in Beziehungen dauerhaft menschlich zu gestalten. Der Zugang über traditionell christliche Werte wird allerdings derzeit von Trägern der sogenannten Leitkultur in Deutschland abgelehnt. Zu welchen Konsequenzen dies führt, diskutiert der zweite Hauptteil des Buches mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Asylwesen. Bitte beachten Sie, dass dieses Buch aber kein Handbuch zu Fragen des Asylwesens an sich ist, das ständig neue Formen annimmt und neue Gesetze hervorbringt. Es empfiehlt sich, die Publikationen der Bundesregierung und der großen Trägerorganisationen zu verfolgen, wenn man hier auf aktuellem Stand sein möchte.

Im Oktober 2017

Simone A. Alexander

Traum und Trauma

Aus Krieg und Flucht hinein ins deutsche Asylwesen

Was bewegt die Flüchtlinge aus Syrien und Irak, aber auch solche aus Iran und Afghanistan und anderen Ländern des Nahen Ostens, die zu uns kommen? Wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus – in der Heimat, auf einer gefährlichen, kostspieligen Flucht und schließlich als Asylbewerber in Deutschland? Aus den Antworten auf diese Fragen ergibt sich die Haltung, in der wir mit ihnen umgehen sollten, um effizient und der Situation angemessen zu handeln. Vermutlich haben Sie zu diesem Buch gegriffen, weil Sie sich angesichts der schieren Zahl dieser Zuwanderer Gedanken machen, weil Sie die Lage besser verstehen wollen oder weil Sie vielleicht schon bis über beide Ohren in dem Versuch stecken, Migranten beim Eingliedern zu helfen. Um nachhaltig helfen zu können, müssen wir zuerst verstehen.

Die USA, die sich als eine Art Ordnungsmacht gesehen haben, haben sich seit dem Irakkrieg aus dieser Weltgegend mehr und mehr zurückgezogen. Eine indirekte Folge davon sind die Flüchtlingsströme, die das Thema dieses Buches sind: Rivalisierende lokale Mächte, die zuvor in Schach gehalten waren, bekriegen sich vor unserer europäischen Haustür und versuchen, sich Land einzuverleiben – und keine Supermacht hat Interesse daran, einzuschreiten und die Kontrahenten zu trennen; Russland verfolgt eigene Interessen. Der Unfriede hat sich ausgeweitet wie ein Krebsgeschwür; es gibt fast kein Land im Nahen und Mittleren Osten oder in Schwarzafrika, in dem die Menschen in Sicherheit leben können.

Europa schreitet militärisch dort nicht ein, um seine Soldaten nicht der Gefahr dieser Konflikte auszusetzen.1 Die Reden so mancher Politiker, die Herkunftsländer der Flüchtlinge insoweit aufzubauen, dass diese dorthin zurückkehren können, bleiben ohne Bedeutung, solange dort kein stabiler Friede hergestellt wird. Islamistische Gruppen nutzen die Gunst der Stunde und nehmen mit militärischer Gewalt und auf blutige Weise Land ein – oder versuchen es; die Liste ist lang: die Taliban, der Iran, die Bürgerkriegsarmeen Syriens, der „Islamische Staat“, die al-Kaida, die al-Schabaab, die Muslimbrüder, die Hamas, die Regierung Nordsudans, die Boko Haram und andere, kleinere. Es geht dabei um Land, aber auch um Besitz, den diese Gruppen den dort lebenden Menschen wegnehmen, um ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Vieles wird auch schlicht zerstört durch die Kriege und Konflikte, die oft lange dauern; neue Ernten, neue Bewirtschaftung sind dabei so gut wie unmöglich.

So wenden wir uns jetzt der Perspektive zu, mit der Syrer und Ägypter, Algerier und Iraker, ja auch Iraner und Afghanen Deutschland sehen, wenn sie als Flüchtlinge zu uns kommen. Arabische Migranten haben eine komplexe, sehr emotionale Mischung von Hoffnungen und Erlebnissen im Gepäck, wenn sie hier eintreffen; ihre Flucht war eine Anstrengung, die meist alles absorbiert hat, was sie an geistiger, emotionaler und physischer Kraft hatten, zusätzlich zu all ihren materiellen Ressourcen.

Beschäftigt sind sie zuerst mit der zwar sicheren, aber noch instabilen und ungewohnten Grundsituation und der fremden Sprache und Kultur, die sie bei uns vorfinden. Der Umgang mit den Behörden und das Staunen über die Andersartigkeit unserer Gesellschaft hinterlässt einen tiefen Kulturschock und hält sie in Atem; auf alles, was sie sehen und erleben, machen sie sich nun ihren eigenen Reim – und sie interpretieren Deutschland durch die Brille ihrer eigenen Landsleute.

Was die Rückkehr in die Heimat betrifft, kommen sie mit sehr unterschiedlichen Chancen hier an: Klaus Barwig2 schätzt die Rückkehrchancen nicht-muslimischer Flüchtlinge in ihre Heimatländer deutlich geringer ein als die für Muslime.3

Syrische Muslime oder chaldäische Christen etwa kommen aus einem aktiven Kriegsgebiet und haben meist nicht „nur“ Kriegshandlungen erlebt, sondern Gräuel von unaussprechlichem Sadismus. Ein syrischer Flüchtling, den wir mit seiner Familie in Nordjordanien besuchten, erzählte uns, dass in seinem Dorf die Feinde Schwangeren den Bauch aufschlitzten; Gefangenen ritzten sie mit dem Messer Schimpfwörter auf die Stirn.

Wir hörten von reichen Saudi-Arabern und Katarern, die zu den Flüchtlingslagern kommen, um sich dort Mädchen „zu kaufen“. Familienväter aus Syrien, die alles verloren haben, lassen sich in ihrer Not auf solche Deals ein. Sie wollen nur zu gern glauben, dass ihre Töchter gut versorgt wären, wenn sie sie dem Mann mit dem dicken Mercedes in die Ehe geben, der im Gegenzug eine hübsche Summe liegen lässt. Was diese Frauen erleben, die eine Zeit lang benutzt und nachher wie eine leere Chips-Tüte weggeworfen wurden – es lässt sich kaum in Worte fassen. Die Zahl und Schwere der einzelnen Leidensgeschichten ist über alle Maßen groß, sowohl in den Ländern des Nahen Ostens, in denen Flüchtlinge Zuflucht suchen, als auch bei uns.

Dr. Salah Ahmad vom Kirkuk-Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge meint:

Niemand habe mit einer solchen Eruption der Gewalt gerechnet, die von den Terroristen des IS ausgehe, da diese keine Angst vor dem Tod hätten, sondern im Gegenteil als Martyrer [sic!] das Paradies erwarteten. ‚Man erlebt Gewalt in einer Grausamkeit, wie man so etwas zuvor noch nie erlebt hat‘, sagt der Therapeut. Öffentliche Massenhinrichtungen würden inszeniert, von Jugendlichen als Spiel nachgeahmt. Scheinhinrichtungen zerstören die Psyche der Menschen. Der IS verbreite Angst und Schrecken auch durch eine perfekt inszenierte Internetpropaganda, in der u. a. gezeigt werde, wie IS-Kämpfer mit den Köpfen von Enthaupteten Fußball spielen. Die Menschen, denen er als Therapeut begegne, hätten zum Teil Gewalterfahrungen erlebt, über die er nicht sprechen könne. Familienangehörige und selbst kleine Kinder müssten damit leben, wie ihre Nächsten vor ihren Augen ermordet worden seien. In Mosul, sollte man dorthin wieder Zugang bekommen, werde man eine Massentraumatisierung erleben, wie man sie zuvor noch nie gesehen habe.

In jedem Menschen, so Salah Ahmad, gebe es einen Anteil von Sadismus. Doch erlaubten Erziehung, Moral, Kultur es nicht, dies auszuleben. Es seien gerade unterprivilegierte Menschen, die bislang eine autoritäre, erniedrigende Behandlung erfahren haben, die besonders für Gewalt anfällig seien, wenn Macht freigesetzt und ihnen ermöglicht werde, mit Menschen umzugehen, wie sie wollen. Die IS-Schergen mit ihrem unvorstellbaren Sadismus seien zu Hause häufig Versager gewesen. Jetzt werden sie nach 40 Morden zu ‚Fürsten‘. Sie genießen es, in der Hierarchie dieses Systems etwas zu gelten und andere Menschen nach ihren eigenen Regeln zu behandeln.4

Massive Vorwürfe richtet er an die Nachbarstaaten: Saudi-Arabien, Katar, die Türkei hätten den IS geradezu aufgebaut:

Gerade die Therapien von Paaren und Familien seien lange andauernde Prozesse. Geheilt werden können Traumatisierungen nach seiner Erfahrung nicht; wohl aber können Menschen befähigt werden, mit den Traumata zu leben oder sogar anderen Menschen bei ihren Traumata zu helfen … Auch von den Belastungen dieser Tätigkeit spricht Ahmad. Gerade junge Therapeuten seien manchmal stark überfordert – zumal nur wenige seiner mitarbeitenden Psychologen speziell ausgebildete Trauma-Therapeuten seien. „Wie viele solch schrecklicher Geschichten kann man an einem Tag mitnehmen? Eine einzige oder acht oder …?‘“5

Wie bei einem Eisberg haben wir es also bei den Zuwanderern aus dem Nahen Osten mit einem Gemisch aus sichtbaren und nicht sichtbaren Phänomenen zu tun: manche mögen eine Krankheit oder Versehrung aus den Konflikten mitgebracht haben, die man sofort erkennen und entsprechend versorgen kann. Da so viele kommen, geht es am Anfang vor allem darum, ihre Grundbedürfnisse zu stillen: Aufnahme, Unterbringung, medizinische Versorgung, Essen, Kommunikation.

Schwieriger zu versorgen sind allerdings Verletzungen der Seele, die kann man nicht sofort ausmachen und auch nicht im Hau-Ruck-Verfahren heilen. Wie der Erwerb der deutschen Sprache wird die Versorgung solcher Wunden viel länger dauern. Anders als bei verletzten Deutschen aber steht noch ein weiteres Hindernis zwischen den Menschen aus den Krisengebieten und uns wie ein Berg: die andersartige Kultur, die einhergeht mit für uns fremdartigen Sprachen und die auf einer anderen Weltanschauung fußt.

1 Ausnahmen sind Frankreich und England, sie reagierten auf die Lage in ehemaligen Kolonien.

2 Referent für Migration an der Akademie der Diözese Rottenburg, Fachmann für Flüchtlings- und Asylrecht und für bedrängte religiöse Minderheiten.

3 Broch, Informationsreise Nordirak, S. 6.

4 Zitiert aus: Thomas Broch: „Wir wollen in Würde hier leben“. Informationsreise in den Nordirak. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Bischöflichen Beauftragten für Flüchtlingsfragen vom 16. bis 21. September 2014, S. 33ff.

5 Ebenda, S. 35.

Spiele helfen verstehen

Ein arabischer Flüchtling, der bei uns zugewandert ist, wird seine Kultur nicht ablegen können oder wollen. Er oder sie wird kein Deutscher werden, auch wenn man ihn als „Gleichen unter Gleichen“ behandelt und darauf pocht, dass er die deutsche Sprache lernt und sich kulturell anpasst.

Wir selbst als Familie mussten erfahren, dass wir trotz all unserer Anstrengungen und Versuche während unserer Zeit in Alexandria1, „den Ägyptern ein Ägypter zu sein“, immer Deutsche geblieben sind. Unsere ethnische Identität ist etwas Komplexes und Beständiges, das lässt sich nicht in einer Person oder in einer Generation verändern – soweit die „schlechte“ Nachricht! Die Migranten, die zu uns kommen, können also nicht unserem Wesen, unserer Mentalität und unserer Lebensweise konform integriert, quasi „gleichgeschaltet“ werden, auch wenn es bei manchen aussehen mag, als hätten sie das geschafft.

Man kann auch nicht machen, dass sie ihre meist robuste religiöse Identität abstreifen, indem man sie ab dem Zeitpunkt ihrer Einreise „säkular“ behandelt und gar so tut, als würden dadurch die Traditionen, die Religion oder die Kultur, die bisher ihr Leben geformt haben, plötzlich keine Rolle mehr spielen.

Die „gute“ Nachricht hingegen lautet: Durch wachsendes Verständnis und Achtung vor dem, was dem Gegenüber wichtig oder heilig ist, wird ein Nebeneinander, ja, ein echtes Miteinander – wird Integration tatsächlich möglich! Sie kann sogar über die kühnsten Träume hinaus bereichernd sein. Allerdings bedarf es dafür auf beiden Seiten eines echten Bemühens um diese neue Beziehung, die sich ja beide Parteien nicht ausgesucht haben.

Man muss sicher auch damit rechnen, dass es auf dem Weg zueinander viele verschiedene Stadien und durchaus auch Holzwege und Abstellgleise gibt! Manchmal wird man auch die berühmte Extrameile gehen müssen, um das Gegenüber aus einer Sackgasse herauszuholen; Geduld ist auf allen Etappen der wichtigste Reiseleiter hin zum Ziel der Integration.

Gehen wir also auf die spannende Reise in die Welt der Vorstellungen und tiefen Überzeugungen der arabischen Kulturen – wir werden viel Neues und manches Sperrige entdecken, aber auch fasziniert sein. Araber sind einerseits ganz normale Menschen mit Wünschen und Zielen, Plänen und Problemen; andererseits werden sie aber von Motiven, Ängsten und Vorstellungen bewegt, die so ganz anders sind als unsere in Mitteleuropa.

Nur wer eine Vorstellung davon bekommt, was einen zugewanderten Menschen unter der Oberfläche seiner täglichen Handlungen bewegt, wovon er zutiefst überzeugt ist und woher er seine Orientierung und Hoffnung nimmt, wird im täglichen Leben sinnvoll mit ihm oder ihr umgehen und auskommen können!

Wählen wir für eine solche Annäherung einen vielleicht ungewöhnlichen, aber hoffentlich zielführenden Zugang: Wir sehen uns an, was sich kulturell in zwei Gesellschaftsspielen niedergeschlagen hat, die wir gut kennen: im Schach und im „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Diese Brettspiele können helfen, die Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen, wo sich die kulturellen Vorstellungen und Werte des Nahen Ostens von den unseren unterscheiden und wie sie dieser Kultur als Ganzes ihre Kraft und Eigenart verleihen.

Schach dem König!

Bitte stellen Sie sich zwei Spielbretter vor – das eines Schachspiels und das des „Mensch, ärgere dich nicht!“. Zwei Klassiker. Jeder kennt sie, auch wenn er selbst nicht spielt. Man weiß in etwa, welche Herausforderungen in diesen Spielen stecken und wie sie unsere Gefühle anregen und strapazieren. Sie sollen uns dabei helfen, einige der Eigenarten des Orients im Vergleich mit dem Okzident besser zu verstehen. Deshalb schauen wir uns die Spielidee jeweils genauer an.

Beim Schach werden wir sehen, dass üblicherweise die Großfamilie den Rahmen für das ganze Leben einer Person abgibt und von welchen Vorstellungen und Strukturen sie geprägt ist. Sowohl Männern wie auch Frauen ist in diesem Beziehungsgeflecht eine klare Rolle zugewiesen – wir arbeiten Aspekte dieser Rollen heraus, die vielleicht nicht immer so geläufig sind. Dies wiederum hat mit der Macht zu tun, die die Religion, besonders der Islam, seit Jahrhunderten auf das ganze gesellschaftliche Leben ausübt – selbst auf jene, die ihr gar nicht angehören.

Das Schachbrett besteht aus einer charakteristischen Abfolge von schwarzen und weißen Feldern – fast als sei hier der starke Kontrast eingefangen, den man in den Ländern des Vorderen Orients aufgrund der starken Sonneneinstrahlung tagtäglich vorfindet: ein Spiel von intensivem Licht und entsprechend dunklem Schatten. Sie werden diesen Kontrast sogar öfter in den Gesichtern der Migranten gespiegelt finden, denn die meisten haben dunkles Haar und dunkle Augen, die im Gegensatz zu einem mehr oder weniger hellen oder getönten Teint stehen.

Orientale sind ethnisch gesehen keine Schwarzafrikaner, auch wenn sie eine tiefbraune Hautfarbe haben können. Afrikaner dagegen haben nicht nur dunkelbraune bis schwarze Haut, sondern auch eine ganz andere Physiognomie als Mitteleuropäer und Menschen aus Nahost.

Das Schachspiel wird uns nun einige kulturelle Geheimnisse verraten: Man stellt die Spielfiguren einander gegenüber auf – bereit zum Angriff! So bildet man zwei Formationen eines mittelalterlichen, feudalen, orientalischen „Haushalts“, die auf den Sieg versessen sind. „Haushalt“2 bedeutet in diesem Buch eine Großfamilie, zu der mehrere Generationen gehören und auch einige oder gar viele Kernfamilien samt den Zweitfrauen mit ihren Kindern. Auch der Kontrast der Spielsteine – ebenfalls schwarz und weiß – signalisiert beim Spielen jederzeit, wer einander Freund oder Feind ist. Das ist wichtig, denn die Formation wird aufgelöst und die Spielsteine mischen sich auf dem Feld.

Je näher eine Spielfigur anfangs bei ihrem König platziert ist, desto wertvoller ist sie im Geschehen und wird entsprechend geschützt. Die Spielidee ist dabei eine Auseinandersetzung, ein bewaffneter Kampf der beiden Haushalte – auf Leben und Tod. Es geht darum, die gegnerischen Figuren systematisch so lange zu schlagen, bis die wichtigste Figur ausgeschaltet ist. „Schachmatt!“ – „Der (feindliche) König ist handlungsunfähig!“3 – das ist ein Siegesruf!

Das Spiel ist tatsächlich genau dann zu Ende, wenn die Hauptfigur in keine Richtung mehr einen Zug tun kann, ohne dass ein feindlicher Spielstein sie schlägt. Ein eklatantes Beispiel dieser Idee vom Schah und einem ihm ergebenen feudalen Haushalt sind der türkische Präsident Erdogan, seine Großfamilie und die Partei AKP als politische Verlängerung dieses Clans. Europäische Beobachter wundern sich, wie es möglich sein kann, dass alles in der Türkei sich so auf eine Person ausrichtet, der bedingungslos Folge geleistet wird – so sehr, dass Instrumente unserer Demokratie wie etwa die Gewaltenteilung bedenkenlos beiseitegeschoben werden. Erdogan ist ein Paradebeispiel eines solchen Schach-Königs, der mit sicherem Machtinstinkt den Kampf führt, in dem Gegner sukzessive und effizient ausgeschaltet werden.

Schach ist schon sehr alt und auf der ganzen Welt verbreitet – im Vorderen und Mittleren Orient wird das Spiel, das ursprünglich aus Persien stammt, nach wie vor hochgeschätzt; in Europa wird Schach sogar als Sport gespielt und findet in Clubs und bei Wettbewerben seine Anhänger. Man kann es im Nahen Osten vielerorts erwerben in Form von Spielbrettern, die als kostbare, traditionelle Intarsien-Kunst gearbeitet sind; dabei werden meist abwechselnd weiß schimmernde Perlmutterteilchen und solche aus schwarzem oder braunem Holz nebeneinandergesetzt. Die Spielfiguren (z.B. aus Kamelknochen) werden ebenfalls kunstvoll geschnitzt; oft stellen sie dann tatsächlich die Personen einer Großfamilie dar, nicht nur wie üblich die Abstraktionen von Türmen, Läufern oder Pferden. In wohlhabenderen Häusern ist das Brettspiel sogar manchmal eine dauerhafte Installation in einem Wohnzimmer, meist als spezielles Schach-Tischchen mit zwei Sesseln oder Polstern für die Spieler.

Wie man den Gegner schachmatt setzt

Der Spieler schlüpft nun in die Rolle eines Feldherrn oder „Milizenführers“, der die gegnerische Seite „in Schach zu halten“ hat und zugleich unter allen Umständen die Person seines eigenen Königs als höchstes Gut schützen muss. Die Kontrahenten gehen mit exakt gleicher Manpower und gleichen strategischen Möglichkeiten an den Start – das ist im realen Leben natürlich nicht so, denn man wird ja in eine „starke“ Familie hineingeboren (oder eben nicht). Der „Warlord“ sucht nun die unterschiedlichen Befähigungen und Stärken der Spielfiguren in der eigenen Armee, die ein solcher Clan eben auch darstellt, so miteinander zu koordinieren und zum Zug zu bringen, dass er den Sieg erringt. Die übrigen Figuren wiederum und ihr „Leben“ sind diesem höheren Ziel, den Gegner auszuschalten, völlig untergeordnet, man nimmt sogar bewusst sogenannte Bauernopfer in Kauf. Sie sollen einzig dazu dienen, dem Feldherrn einen strategischen Vorteil zu sichern.

Bauern gibt es im Kampfverband zur Genüge, da kommt es nicht auf den Einzelnen an, auch weil dieser nur sehr eingeschränkt agieren kann. Je wichtiger aber die Spielfigur und je höher ihr Rang, desto mehr Schutz genießt sie durch das eigene Heer. Erdogan hat den Putschversuch des Jahres 2016 in der Türkei geschickt dazu genutzt, zu polarisieren und seine Gegner nicht nur im Militär, sondern auch in der Zivilgesellschaft flächendeckend und erbarmungslos auszuschalten. Dazu hat er eine Rhetorik benutzt, die alle Festgenommenen zu Staatsfeinden und damit Rechtlosen erklärte. Dabei sind diese, wenn überhaupt, eigentlich nur seine persönlichen Gegner oder aber Personen mit Einfluss auf die Gesellschaft wie sein Widerpart Gülen – oder schlicht Menschen mit anderer Meinung.

Bei arabischen Migranten wird man auch diese unsichtbare Verbundenheit zwischen Familienangehörigen finden, besonders die bedingungslose Loyalität den Vorständen dieser Familien gegenüber. Das ist für Europäer ungewohnt – wir haben gelernt, individuell und selbständig zu handeln und für unser Tun selbst Verantwortung zu übernehmen. Die einzelnen Mitglieder einer syrischen oder irakischen Familie wirken dagegen oft eher unselbstständig, besonders in den „unteren Rängen“.

Oft überrascht uns, wenn bei einem Vorgang, den man hierzulande allein regelt, mehrere oder gar viele Mitglieder der arabischen Familie anwesend sind. Da gehen vielleicht mehrere weibliche Angehörige mit zum Arzt oder ins Krankenhaus und bleiben dort auch, wenn die Behandlung länger dauert oder gar stationär ist. Sie würden sogar mehrere Tage und über Nacht bleiben, wenn man sie nicht wegschickte.

Auch bei Beerdigungsfeiern erscheint die ganze Sippe, wenn es nicht aus einem wichtigen Grund wirklich unmöglich ist. Allerdings schafft man im Orient Raum für Männer und Frauen separat: Zunächst werden Männer den Verstorbenen zum Grab begleiten und dort eine Feier abhalten bzw. ein Gebet sprechen; wenn diese vorbei ist, gehen die Frauen dorthin, zumindest in muslimischen Familien.

Oft gehen die Frauen eines Familienverbands im Orient zusammen einkaufen, vielleicht ein Auto voll, vielleicht auch mehrere. Deshalb ist es für Flüchtlinge ein schmerzhafter Verlust, dass der größere Teil der Familie hier in Deutschland nicht mehr präsent ist, wenn man wie gewohnt gemeinsam etwas erledigen möchte.

Diese Verlust-Erfahrungen der Migranten können Sie möglicherweise lindern, wenn Sie sich als eine Art Ersatz anbieten und hie und da einfach mitgehen. Die Flüchtlinge benötigen im Umgang mit der Öffentlichkeit ohnehin Hilfe, aber es ist schon an sich ein großer Trost, wenn Sie „Mitgehen“ anbieten, wenn Sie einfach nur für sie „da sind“. Arabische Migranten verschaffen sich Trost auch durchs Handy und telefonieren wenigstens mit Verwandten, wenn diese schon nicht selber da sein können.

Hier kann manche Unbill vielleicht auch dadurch entstehen, dass den Zuwanderern nicht bewusst ist, welche Kosten Telefonate ins Heimatland verursachen können, wenn sie keinen günstigen Tarif haben. Wer also mit Migranten und ihrer Unterbringung zu tun hat, sollte möglichst mit ihnen darüber sprechen und sicherstellen, dass keine unbefugten Telefonate ins Ausland gemacht werden (können), damit keine hohen Telefonrechnungen entstehen.

Was macht Siegertypen aus?

Was hilft zum Erfolg bei der Art von Auseinandersetzung wie im Schachspiel? Kampfbereitschaft, Jagdfreude, kluges Taktieren und Teamgeist beim Kämpfen im Verband. Das Ziel erreicht am ehesten, wer angriffslustig ist und schlau, und wer möglichst lange seine Absichten verbergen kann. Es ist erstrebenswert, den Gegner einzuschüchtern, einzukreisen und ihn seiner Möglichkeiten zu berauben.

Zu diesem Zweck sollte ein Anführer übrigens auch die Rangordnung in beiden Milizen auf dem Brett genau kennen. Nicht umsonst zieht zum Beispiel der IS Kämpfer an, die es anderswo nicht nennenswert zu etwas gebracht haben. Wenn diese Gelegenheit bekommen, niedere Instinkte auszuleben und extreme Grausamkeit an den Tag zu legen, dann kommen sie in diesem System, das dem Koran treu sein will, zu Ehren. Das ist für uns ungewohnt.

Leider sorgt das Vorbild Mohammeds dafür, dass Grausamkeit schon von den Anfängen des Islam an ihren Platz hat in der islamischen Kultur – in eklatantem Gegensatz übrigens zu Kulturen, die entstanden, weil Menschen dem Beispiel von Christus folgten und auf Gewalt weitgehend verzichteten.

Beim Opfern untergeordneter, weniger wertvoller Figuren für den Sieg hilft es, wenn man gnadenlos ist – Empathie würde hier nur den Siegeswillen hintertreiben. Die Freude am Kräftemessen, Durchhaltevermögen sowie Respektlosigkeit gegenüber dem gegnerischen König zeichnen den Gewinner aus; für die einzelne Spielfigur auf dem Brett wiederum sind Unterordnung und absoluter Gehorsam bis zur Selbstaufgabe unabdingbar. Auch hier steht uns noch das Verhalten von Erdogan in der Zeit nach dem Flüchtlingsdeal mit Deutschland vor Augen: der Machtträger drosch mit Aussagen unterhalb der Gürtellinie etwa auf Frau Merkel ein als den gegnerischen „Schah“ – von Diplomatie keine Spur.

Es muss ihm unverständlich erscheinen, dass Satiriker in Deutschland Freiraum haben, auch einen Mächtigen wie ihn durch Sarkasmus anzugreifen, wie es etwa Herr Böhmermann in einer Fernsehsendung 2016 tat; und offensichtlich projiziert Erdogan sein eigenes System auf das deutsche und erwartet, dass dieser und andere Freigeister von der „Regentin Merkel“ diszipliniert würden; so brachten seine Anwälte und Agenten in Deutschland zum Erstaunen der Öffentlichkeit den obskuren Paragrafen der Majestätsbeleidigung ins Spiel, der bei uns völlig in Vergessenheit geraten ist. Jede Beleidigung des „Schahs“ bedeutet aber Untergrabung seiner Macht, daher merzt man Satire aus in allen totalitären Staaten, gerade auch den islamistisch geführten; in der Türkei geschieht dies ohnehin durch die Ausschaltung von nicht linientreuen Medien.

Als Anfang 2017 auch noch der Einfluss des türkischen Präsidenten eingedämmt wird, den er auf türkischstämmige Bürger in Deutschland auszuüben versucht, wird er sprachlich ausfällig – vermutlich, um seine Macht über das eigene Volk zu bekräftigen. Erst als ihm von deutschen Behörden Einhalt geboten und er „in Schach gehalten“ wird, zieht er sich zurück; nun versucht er, indirekt Druck auf Türken in Deutschland auszuüben: er fordert seine Anhänger auf, diejenigen zu denunzieren, die gegen ihn eingestellt sind. Im April 2017 wirbt Erdogan für einen Sieg in einem Referendum, das seine totalitäre Macht institutionalisieren soll. Die Sprache der Macht wird unmittelbar verstanden.

Die Figur, die beim Schach am wenigsten selber „kämpft“, ist der König. Er steht hinter all seinen Streitern in letzter Reihe verborgen und macht sich für den Feind möglichst unangreifbar. Seine Hauptaufgabe im Spiel ist es, seinen Clan bzw. seinen Kampfverband angemessen zu repräsentieren. Erdogan tut das in unseren Tagen zum Beispiel durch Monumentalbauten wie seinen Palast und die neue Bosporus-Brücke, die seinen Weltrang unterstreichen sollen.

Der Schach-Schah hat einen begrenzten Aktionsradius; einer direkten Bedrohung seiner Person geht er aktiv aus dem Weg. Wenn die Hamas und andere islamistische Milizenführer Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“ gebrauchen, um hinter ihnen Soldaten zu „verstecken“ – oder gar sich selber –, ist das ganz einfach ein entsprechender „Zug“ im richtigen Leben.

Zu diesem Zweck – um den König aus einer Bedrohung zu nehmen – darf und soll der Spieler alias „Feldherr“ sogar bestimmte Spielzüge wie die „Rochade“ als Trick verwenden. Dabei kann er z. B. einmal pro Partie den eigenen Turm gegen den Schah austauschen, wenn es seinen Interessen dient bzw. den König aus Gefahr nimmt. Auf diese Weise versucht er auch die Strategie des Gegners, der ihn unter Druck bringt, zu unterlaufen und außer Kraft zu setzen.

Wird der König „in die Ecke gedrängt“, geht sein ganzer militanter Hofstaat mit ihm unter. Diese Logik ist meines Erachtens ein Hauptgrund für den seit Jahren andauernden Krieg in Syrien: Wer von den Kontrahenten dort seine Kampfposition bzw. Vorteile aufgibt oder gar kapituliert, der riskiert, mitsamt seinen Anhängern auch physisch eliminiert zu werden. Hier verfängt kein Konzept etwa von Vergebung oder Nachlassen der inzwischen aufgehäuften Schuld bzw. des Hasses.

Die Türken wiederum, deren Kultur, allem kemalistischen Säkularismus zum Trotz, spätestens seit dem Wirken Erdogans und auch Gülens islamistisch saturiert ist, verstehen die Haltung des Präsidenten beim Putschversuch 2016 sofort: „Seht her, wie ich angegriffen werde! Wenn ich so existenziell bedroht werde, dann darf, ja muss ich natürlich im Gegenzug die ‚bösen‘ Herausforderer existenziell ausschalten!“ Tausende Zivilisten wurden aus dem öffentlichen Leben in der Türkei eliminiert, ins Gefängnis geworfen und durch Linientreue ersetzt. Wir sehen später noch, dass Recht und Gesetz in einem solchen Kampf keine nennenswerte Rolle mehr spielen.

In Ägypten erlebten wir als Familie die Zeit, in der die Muslimbrüder die Macht hatten: Schlüsselfunktionen in der Gesellschaft wurden mit Anhängern der Brüder besetzt, oft mit völlig inkompetenten. Erst als das Militär einschritt und gegensteuerte, hörte das auf.

Die Schachfiguren sind völlig der Aufgabe ergeben, nicht das Recht zu schützen, sondern ihren Haushaltsvorstand, ihr Familienoberhaupt, und sie bekämpfen denjenigen, der zum Feind deklariert wurde – notfalls bis zum bitteren Ende. Sie werden vom Feldherrn so positioniert, dass sie immer in Beziehung zueinander agieren, nie als Einzelkämpfer, immer im Rudel Synergie entfalten, als „Gang“, als „Bande“, und den Druck auf die Gegenseite so hoch wie möglich halten. So jedenfalls setzt ein guter Schachspieler sie ein. So sehen wir nun auch hochrangige „Spielfiguren“ des türkischen Kampfverbands in deutschen Medien die Haltung ihres „Königs“ verteidigen, während weniger wertvolle „Spielsteine“ in Moscheen auf deutschem Boden mögliche Gegner seiner Politik ausspähen und unter Druck setzen.

Arabische Migranten kommen meist aus aktiven Kriegen oder Konfliktzonen; deshalb kommt dieses Denken in „Kampfformationen“ nun auch zu uns, diese Ergebenheit dem Anführer gegenüber, gerade auch durch die Männer unter ihnen. Gehen Sie also davon aus, dass das, was Migranten in der Heimat erleben mussten, diese Männer vermutlich noch ähnlich intensiv beschäftigt wie deutsche Soldaten, die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aus Afghanistan zurückkehren und Probleme haben, sich wieder ins „normale Leben“ im Frieden einzufügen.

Zugleich dürfte den Migranten bald klar sein, dass ihre Werte, vor allem die kämpferischen, in Mitteleuropa eher auf Unverständnis stoßen bzw. Geister auf die Bühne rufen, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums stehen und noch weiter daneben. Wer als Araber die Mentalität des Kampfes beibehält, wird die EU als Rückzugsraum begreifen. Zwischenzeitlich sind aktive Terroristen, meist vom IS inspiriert, mit großer Menschenverachtung zu Werke gegangen – man denke an die Anschläge in Rouen und Paris gegen Priester und Intellektuelle, oder in Nizza und Berlin gegen die Bevölkerung, wo schwere Fahrzeuge als Waffe eingesetzt wurden.

Andere Migranten wiederum sind genau deshalb als Flüchtlinge hier, weil sie die Unterlegenen oder Leidtragenden solcher Konflikte im Nahen Osten geworden sind; sie wünschen sich von ganzem Herzen, den Schmerz, den jene hervorgerufen haben, hinter sich zu lassen und ein neues, befreites Leben zu beginnen.

Rechnen Sie damit, dass Ihnen von Migranten nicht viel mitgeteilt wird (oder werden kann) von dem, was unter der Oberfläche schwelt und die Person vielleicht immer noch intensiv beschäftigt. Bei früheren Kämpfern ist vermutlich der Wunsch da, sich dem bisherigen Anführer bzw. der Gruppe gegenüber weiterhin loyal zu zeigen oder sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Es wäre auch nicht verwunderlich, wenn durch einige Migranten z. B. Teile der großzügigen Unterstützung durch deutsche Sozialleistungen in eine Konfliktregion wandern würden (Mehrfach-Registrierung). Wer so eingestellt ist, dem wird es nicht schwerfallen, das System bei uns auszunutzen, denn aus der Perspektive des Schachspiels wird Barmherzigkeit als Schwäche ausgelegt; solche „Blößen“ werden ohne Skrupel ausgenutzt, wenn man nur genügend Gründe findet, warum man sich an deutschen Regeln stößt.

Hier hat meines Erachtens der deutsche (Sozial-)Staat zu wenig Instrumente, um zu kontrollieren, was mit der Unterstützung für Migranten geschieht. Das ist die eine Seite. Andererseits wiederum sind sich viele, vielleicht sogar die Mehrheit der arabischen Migranten, sehr bewusst, dass sie in Deutschland und anderswo große Gastfreundschaft genießen; ich habe es mehrfach erlebt, dass dafür von Herzen Dank ausgedrückt wurde.

Freunde in Jordanien wiederum berichteten uns, dass syrische Frauen und Kinder von ihren Männern in der Nähe der UNO- und anderer Hilfswerke „geparkt“ werden, weil man weiß, dass sie dann meist versorgt werden. Denn ihr eigenes Geld nehmen diese Männer, um sich Waffen in die Konfliktzone liefern zu lassen. Das mag dazu beigetragen haben, dass die UNO-Hilfe gekürzt wurde.

Jedenfalls kann man nicht davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagen, wenn Flüchtlinge bei der Aufnahme in Deutschland nach dem Stand ihrer Finanzen gefragt werden –Loyalität in die Heimat ist stärker. Die Wahrheit zu sagen, das hat keinen hohen Stellenwert wie in Europa. Warum nicht verschleiern, wenn man dadurch gratis an neue, sprudelnde Geldquellen gelangt? (Mir stellt sich hier die Frage, wie deutsche Behörden und Entscheider all die Geschichten nachprüfen wollen, die ihnen erzählt werden.)

Im Schach wie im Leben entwickeln die Clan-Mitglieder durch das Zusammenspiel nach außen eine Stärke und Dynamik, die mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Möglichkeiten. Im Innenraum des Systems wird durchaus Schutz, Unterstützung, Loyalität und sogar Zärtlichkeit weitergegeben – das macht z.B. den IS attraktiv für neue Rekruten, die unter Jugendlichen in Europa angeworben werden, denn dort, wo sie herkommen, haben sie diesen Zusammenhalt nicht erfahren – ihre Familienverhältnisse sind eher bedrückend und sie sehen wenig Möglichkeiten, zu Macht zu gelangen.

Alle gehorchen blind ergeben dem Schach-Feldherrn, ihrem Anführer, der sie koordiniert, ohne jemals seine Anweisungen offen zu hinterfragen – auch dann nicht, wenn diese für sie persönlich gefährlich werden oder sie sogar den Kopf kosten können. Niemand tanzt hier aus der Reihe, das Kollektiv geht immer vor. Das erklärt möglicherweise, weshalb in der Türkei inzwischen auch die Presse praktisch gleichgeschaltet ist und es niemanden mehr im System gibt, der sich öffentlich dagegen empören würde.4

Das Leben ist ein Kampf

Ich und mein Bruder gegen unseren Cousin! Ich und mein Cousin gegen den Fremden!

Arabisches geflügeltes Wort

Im Schach spiegelt sich viel von der traditionellen identitätsstiftenden Mentalität des Vorderen Orients, die auch heute sichtbar wird. Leiten wir nun aus diesen Beobachtungen einige kulturelle Schwerpunkte ab, die in Weltanschauung und Geschichte des Nahen Ostens dezidiert anders sind als in der DNS der westlichen, also auch der europäischen Kulturen.

Ein erster, für uns ungewohnter Schwerpunkt liegt, wie dargestellt, auf der grundsätzlichen Bejahung von Kampf und Konflikt, ja dem Krieg zwischen „Haushalten“, der oft bis zum bitteren Ende geht und viele Individuen verheizen kann. Man sieht das Leben als Auseinandersetzung, als Konflikt, als Vorgehen einer Gruppe, einer Familie gegen eine andere. Das geht nicht nur, bis diese auf Widerstand stößt, sondern so lange, bis jemand den durchschlagenden Sieg erringt. Dieser Sieg ist das oberste Leitprinzip, und um ihn zu erlangen, ist jedes Mittel recht – Hauptsache es dient diesem Zweck. Und ja: es wird eben auch durchaus gewaltsam dabei!

Frieden als erstrebenswerten Dauerzustand kann es schlicht deshalb nicht geben, weil Clans und Großfamilien bzw. ganze Stämme und Nationen immer ihre Kräfte messen und miteinander in Konflikt stehen. Manchmal ist es sogar über eine extrem lange Zeit hinweg so, dass das Mitglied eines anderen Clans grundsätzlich als Feind betrachtet wird, selbst wenn den Beteiligten der Grund für den Konflikt nicht mehr gegenwärtig ist, weil die Auseinandersetzung schon so lange dauert. Man ist einfach der Feind der anderen Partei.

Wenn einem als Deutschen bei Migranten dieses Phänomen begegnet, meist stark abgemildert, dann sollte man also nicht überrascht sein und grübeln, ob man vielleicht einen Anlass für eine Auseinandersetzung gegeben hat. Hier lohnt es vielmehr, das „Schachbrett“ näher anzusehen: Wer sind hier möglicherweise die „Haushalte“, die sich aus Sicht der Migranten in dieser Situation gegenüberstehen? Wer sind die Zentralfiguren, die „schwarzen“ und „weißen“ Schahs auf dem Brett? So kann es in Deutschland möglich sein, dass die Bewohner eines Dorfes einem arabischen Haushalt mit seinen „Figuren“ gegenüberstehen oder dass ein Zuwanderer aus Nahost sie für einen Haushalt hält, der dem seinen gegenübersteht. Der Asylbewerber kann besonders am Anfang noch nicht sehr gut unterscheiden, welche Personen wo zugehörig sind, und hat vielleicht den Eindruck, dass alle Deutschen, die ihm begegnen, zusammengehören und quasi Mitglieder desselben „Haushalts“ darstellen.

Die größte Aggressivität und offene Auseinandersetzungen sind aber weniger zwischen Migranten und Deutschen, den Gastgebern, anzutreffen. Nein, sie richtet sich vielmehr direkt auf die Mitglieder von Gruppen in der Asyleinrichtung, die man von zuhause noch als feindlich oder weniger wertvoll kennt, und das sind vor allem andere religiöse Gruppen oder Angehörige „feindlicher“ Völker. Wenn die Mehrheit in den Flüchtlingsheimen – muslimische Asylbewerber – sich an Jesiden und vor allem an den christlichen Migranten vergreift, ist der Grund hierin zu finden; erklärbar, aber nicht hinnehmbar!

Das urplötzliche Entstehen dieser Heime ab Anfang 2016 hat die sowieso schon unterbesetzte deutsche Polizei völlig überfordert. Man greift zu schnellen Maßnahmen, um arbeitslose Personen zu einer Art „Hilfs-Sheriff“ auszubilden, die dann für viele dieser Einrichtungen als Security-Dienste fungieren und dort die Aufgaben der Polizei übernehmen. Dabei übersieht man etwas: Die vielen Muslime, die man dabei einstellt, weil sie meist der Sprache mächtig sind bzw. von derselben Nationalität wie die Bewohner, verhalten sich ihren Religionsgenossen gegenüber loyal5 – doch sie verschaffen nicht selbstverständlich dem Recht Geltung! So rollt eine Welle von Übergriffen auf viele Christen oder Jesiden, die schon im Herkunftsland solcher Gewalt ausgesetzt waren.

Vielfach sprechen die Behörden das Problem an und steuern gegen – oft aber schauen sie auch weg oder bagatellisieren – die zum Säkularismus angehaltenen Beamten können mit Religion nicht wirklich umgehen, noch dazu mit Religion, die sich in Gewalt ausdrückt.

Mehrfach ist von der Anweisung zu hören gewesen, die Migranten müssten selbst miteinander klarkommen. In einem mir bekannten Fall erleidet eine iranische Migrantin, die den Islam hinter sich gelassen hat, im Asylheim immer wieder physische Gewalt seitens ihrer muslimischen Nachbarin dort; als sie bei der örtlichen Polizei Anzeige erstatten will, wird sie mehrfach abgewiesen. Als es endlich und mit Unterstützung christlicher Freunde doch gelingt, die Anzeige zu Protokoll zu geben und die Diskriminierung medizinisch zu dokumentieren, kommt es auch bald zum Prozess gegen die brutale Nachbarin. Diese wiederum ist verblüfft, dass ihr Verhalten negativ beurteilt und auch sanktioniert wird, wo es doch im Heimatland akzeptiert ist, denn dort gilt ein Religionswechsel weg vom Islam als Sakrileg, ja als todeswürdig! Die Geldstrafe, die vom Gericht verhängt wird, verschafft der Klägerin im Asylheim Respekt und beendet die Übergriffe.

Es ist erfreulich, dass Polizei und Gerichte sich daran erinnern, dass es hierzulande Grundrechte zu schützen gilt – auch gegenüber Angehörigen islamischer Gruppen, die ihre Dominanz auch bei uns den Minoritäten aufnötigen wollen. Im Nahen Osten ist dies übrigens eine vertraute Sonderform des „gesellschaftlichen Schachs“: christliche Großfamilien oder Clans und ihre Mitglieder werden dort grundsätzlich und per Gesetz6 „in Schach gehalten“ bzw. unterdrückt; obwohl sie einen großen und friedlichen Beitrag, ja Unterstützung der muslimisch dominierten Gesellschaft leisten und sich allenfalls einmal wehren gegen die ständigen Übergriffe auf ihr Leben und Eigentum, denn ihnen sind Posten in leitenden Positionen und an den Schaltstellen der Macht im Staat grundsätzlich verwehrt. Das haben wir in Ägypten selber vielfach mitbekommen.

Der Ausdruck von Individualität ist in weiten Teilen des Nahen Ostens etwas Unbekanntes oder gar Schlimmes. Es ist für Araber schwer nachvollziehbar, dass Menschen aus freien Stücken und eigenem Willen gern für sich bleiben oder gar allein sein möchten. Unsere Gesellschaft ist in ihren Augen fragmentiert, und sie fragen sich, warum viele Leute bei uns gern einzeln oder in kleinen „Einheiten“ oder nur für einen Lebensabschnitt lang zusammenleben möchten, da sie sich damit ja von Macht und Einfluss abschneiden, die man doch aufbauen müsse. Sie selber würden diese Lebensform jedenfalls sicher nicht wählen.

Frieden im Kontext des Nahen Ostens bedeutet üblicherweise nur die Vorherrschaft eines Großfamilien-Haushalts, der sich als der Stärkste durchgesetzt hat und nun den anderen Familien, Gruppen oder Stämmen in dem Herrschaftsraum die Bedingungen diktiert.

Dieser Haushalt allerdings muss, um sich halten zu können, mit wachsendem Einflussbereich tragfähige Allianzen mit starken Partnern bauen. Dabei ist er immer wieder Herausforderungen ausgesetzt durch feindliche militante Sippen oder Clans, die er dann in Schach halten muss – selbst durch jene, mit denen er Koalitionen eingeht. Zum Beispiel konnte man im Ägypten des Jahres 2015 Präsident al-Sisi und seine Zentralfiguren in dieser Weise interpretieren. Andere Gruppen im Land arrangierten sich einerseits als seine Klientel7 und andererseits als seine Feinde, wie es die Muslimbrüder tun und auch manche Stämme im Sinai, die hoffen, in einem für al-Sisi schwer zugänglichen Terrain Macht aufzubauen.

Auch in Deutschland sollten daher die „Machtverhältnisse“ deutlich sein oder klargemacht werden: Die Bewohner einer Kommune etwa sollten zuwandernden „Clans“ freundlich, aber klar zeigen, dass sie es sind, die diktieren, was zu tun ist, falls diese Situation auftritt. Dass es in Deutschland Stadtviertel gibt mit überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund, in die hineinzugehen die Polizei sich scheut, das ist nicht hinnehmbar.

Inzwischen begegnen die Behörden dieser potenziellen Herausforderung, indem sie Migranten gleichen Hintergrunds bzw. Nationalität nicht die gleiche Unterbringung zuweisen, wenn das möglich ist. Zeichen setzen kann man zum Beispiel in der Frage, wie der Müll gesammelt werden muss oder wo man sich abends noch draußen aufhalten und gleichzeitig laut sein darf und wo nicht. Dazu müssen die kommunalen Verantwortlichen vor Ort allerdings Machtmittel haben und sich durchsetzen, wenn die andere Seite nicht den Willen zeigt, aktiv, konstruktiv und im Sinne der Regeln mitzuarbeiten – etwa durch Entzug von Alimentierung oder Unterbringung. Ein eher humanistischer Ansatz, der davon ausgeht, dass der Mensch sich positiv verhält, wenn er aufgeklärt und belehrt wird, könnte hier zu Frustrationen führen.

Wer sich scheut, Macht zu zeigen und Machtmittel (natürlich rechtskonforme) auch anzuwenden, besonders am Anfang der Beziehung, dürfte es ungleich schwerer haben, von Menschen aus dem Nahen Osten tatsächlich ernst genommen zu werden. Der Verzicht auf ostentative Macht wird gelegentlich als Schwäche oder Dummheit ausgelegt und verlockt dazu, ihn auszunutzen. Die Menschen sind von ihrem Kulturkreis her jedenfalls gewohnt, dass Wichtiges durch äußere Macht und sehr sichtbar durchgesetzt wird. Man baut dort eben nicht darauf, dass der Einzelne sein Innenleben und seine Haltung kultiviert hat und auch von selbst das Gute tut.

Natürlich darf die Durchsetzung nicht durch bewusste Erniedrigung geschehen, durch Ausbeutung oder sonst eine Degradierung, sondern muss den Gesetzen, Regeln oder Normen für die Allgemeinheit in Deutschland entsprechen. Besonders zu Beginn des Miteinanders ist die einfache Präsenz der Exekutivorgane, die in Deutschland das Machtmonopol ausüben, wünschenswert – und zwar Präsenz in höherem Maße als bisher. Bemühungen der Regierung, die Polizei besser auszurüsten und personell aufzustocken, sind nur zu begrüßen. Denn durch Uniformen und andere äußerlich sichtbare Zeichen wird dem Zuwanderer diese Macht des Staates auch nonverbal kommuniziert; das hilft ihm, sich zu orientieren über das, was hier bei uns richtig und was falsch ist. Nach und nach kann er dann auch die Zusammenhänge unserer Kultur und Denkweise kennenlernen und sie besser verstehen, wenn wir sie ihm z. B. in Einführungskursen über unsere Kultur nahebringen.

Von ägyptischen Taxifahrern, Antisemitismus und Fussball-Fans

In Alexandria und anderswo habe ich mich im Stadtgebiet meist mit dem Taxi bewegt, da mein Mann das Auto brauchte. Das Taxi ist im Nahen Osten ein günstiges (wenn auch nicht immer gepflegtes) Verkehrsmittel, es steht buchstäblich zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung. Viele Männer, oft bestens ausgebildet, finden keine andere Arbeit und verlegen sich eben aufs Taxifahren. Lange kam man in Ägypten für umgerechnet einen Euro in einem Radius von etwa zehn Kilometern fast überall hin und hatte obendrein keine Parkplatzsorgen. Da ich eine Frau bin und meist allein unterwegs, war das Taxi auch das sicherste Verkehrsmittel, denn man muss es nur selten mit anderen Fahrgästen teilen; so ist man nicht Belästigungen oder Übergriffen ausgesetzt wie manchmal in vollen Bussen.

Daher kenne ich die „Standard-Gespräche“ in den Taxis, die sich entwickeln, wenn beide Parteien das wünschen. Wenn man als Frau vorne auf der Beifahrerseite einsteigt, bricht man automatisch eines vom Zaun. Es ist allerdings üblich, hinten Platz zu nehmen, und damit schafft man Distanz zwischen sich und dem Fahrer. Auch im Umgang mit arabischen Migranten sollte man sich vielleicht diese gedankliche Kategorie aneignen: soziale Distanz heißt in diesem Fall, dass man tatsächlich den Raum vergrößert, der besteht zwischen einem Mann und einer Frau, die einander nicht kennen bzw. nicht verwandt sind. Man(n) – oder Frau – lässt mehr Zwischenraum bei Gesprächen, wählt den Sitzplatz neben einer Person desselben Geschlechts, berührt den anderen nicht und blickt ihm bzw. ihr nicht längere Zeit tief in die Augen. Das kann bei uns eine anspruchsvolle Übung sein, da europäische Umgangsformen ja eher die Gleichheit der Gesprächspartner betonen und das lockere, manchmal sogar saloppe Umgehen miteinander, bei dem Rang und Alter möglichst eingeebnet werden. Eine Ausnahme bilden Umgangsformen im gehobenen Business-Bereich, aber hier wird vermutlich kaum ein Zuwanderer sofort tätig werden.

Im Nahen Osten wie auch in Deutschland kann man ein Gespräch leichter wieder abbiegen, wenn man die Regeln dieses sozialen Raums beachtet. Im Taxi kann ich sicher sein: die erste Frage, die gestellt wird, ist nahezu immer die nach meiner Nationalität – und meine Antwort wird entsprechend kommentiert.

Die Fahrer machen ihr Verhalten mir gegenüber meist davon abhängig, wie ihr eigenes Volk – die Ägypter – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich in dem Moment zu meinem Volk stehen, also zu den Deutschen. Welche Beziehung wir als Einzelpersonen haben, ist zunächst gar nicht gefragt. Die nächste Frage des Taxifahrers zielt meist darauf ab, zu erfahren, ob ich mit einem Ägypter verheiratet sei – das würde für ihn die „Besitzverhältnisse“ verschieben: Der Mann hätte mich eingeordnet als Familienmitglied eines anderen ägyptischen Verbands und entsprechend den dort „regierenden“ Ägypter als seinesgleichen respektiert (oder taxiert). Mein Mann ist Deutscher – das ist ungewöhnlich für den Fahrer und bringt meist zusätzlichen Respekt ein, denn er schließt auf eine hohe Stellung. Eine Frau, die offensichtlich Single und nicht in männlicher Begleitung ist, wird dagegen oft als eine Art Freiwild eingestuft, das heißt, sie verhält sich unangemessen und ist manch unangenehmen Zudringlichkeiten ausgesetzt, denn der „Beschützer“ fehlt und dann kann man(n) ja „sein Glück“ versuchen. Selbst als verheiratete Frau bin ich solchen Situationen ausgesetzt, wenn ich mich allein in der Stadt bewege, denn diese „Schutzlosigkeit“ wirkt auf manche wie ein Trigger.

Auch im Umgang mit Migranten kann eine solche Haltung eine Rolle spielen, besonders dann, wenn aus der Sicht der Zuwanderer „die Deutschen“ sich nicht mehr so gastfreundlich und hilfsbereit zeigen wie am Anfang des Flüchtlingszustroms. Dann könnte man als einzelner Deutscher plötzlich als Gegner eingestuft werden, obwohl man persönlich nichts zu tun hat mit Anschlägen auf Asylheime, unangenehmen Gesetzesänderungen oder Ähnlichem. Freuen Sie sich, wenn Ihnen ein solches Verhalten nie unterkommt, aber wenn doch: Seien Sie nicht überrascht!

Für mein Deutsch-Sein bekomme ich auf meinen Taxifahrten oder bei anderen Gelegenheiten im Normalfall viele zustimmende, positive Kommentare. Gelobt wird, dass deutsche Güter und Waren von hervorragender Qualität sind; besonders deutsche Automarken genießen einen guten Ruf, aber auch Haushaltswaren oder Maschinen. Während meines Aufenthalts in Ägypten waren im Land viele chinesische Produkte zu haben; nur diese sind für die unteren Schichten der Bevölkerung erschwinglich – die deutschen Erzeugnisse eher nicht. Es wird auch verwundert konstatiert, dass wir als deutsche Familie freiwillig in Ägypten leben wollen, wo doch alle Ägypter gern auswandern würden, um den Verhältnissen zu entgehen.

Höchst peinlich für mich: die Fahrer und andere Ägypter loben Deutschland auch wegen Hitler, da er den Erzfeind Israel so effizient bekämpfte; eine Tatsache, die in der Diskussion positiv gesehen wird. Wohl dank der Nazi-affinen Muslimbrüder war während meiner Zeit dort an Kiosken in Alexandria Hitlers „Mein Kampf“ in arabischer Sprache erhältlich. Menschen der unteren Gesellschaftsschichten sind mit der nationalsozialistischen Ideologie vertraut und begrüßen sie. Diese Art von „Lob“ bringt mich immer in eine äußerst unangenehme Lage, die mich abstößt und nachhaltig beschäftigt.

Mein Arabisch ist allerdings meist nicht gut genug, um dem jeweiligen Gegenüber auch nur annähernd zu erklären, warum für Deutsche Hitler schon lange kein Held mehr ist und warum sie den Genozid an den Juden barbarisch finden. Es wäre aber auch deshalb schwer gewesen, eine deutsche Position darzulegen, weil im Nahen Osten das Denken in Gruppen und Völkern, die sich quasi per definitionem feindlich gegenüberstehen, so durchgängig ist.

Eine Hauptrolle dabei spielt ganz besonders die radikale Feindschaft zwischen Israel und islamisch geführten Nationen: Die wackeren Taxifahrer verstehen grundsätzlich nicht, was denn so falsch daran sein kann, dass man ein Land oder Volk zum Erz-Feind hat, dass man es mit allen denkbaren Mitteln bekämpft, ja sogar möglichst eliminiert, dass man auf errungene Siege über den Feind stolz ist und glücklich darüber und diese auch feiert.

Man könnte nun als Europäer oder Deutsche versucht sein, den arabischen Zuwanderern diesen Kampfgeist und Nationalismus auszureden. Vielleicht möchten Sie Ihrem Gegenüber vermitteln, dass Sie glauben, dass alle Menschen gleichwertig sind und dass ein friedliches Miteinander verschiedener Rassen und Völker, Gruppen und Familien realistisch möglich ist. Es könnte allerdings dauern, bis Sie bei diesem Unterfangen Erfolg haben, denn es stößt auf tief verankerte Vorstellungen. Und, seien wir ehrlich: Sehen sie denn, dass dieses Ideal in unserem gelebten Miteinander in Deutschland verwirklicht wurde?

Bitte beachten Sie bei einem solchen Gespräch, dass Zuwanderer solche Aussagen anders werten können und sich zunächst unausgesprochen vermutlich die Frage stellen: Wer spricht hier und mit welcher Autorität? Wenn Sie z. B. „nur“ als junge Frau, also als Single, und damit wie ein Bauer im Schach wahrgenommen werden, dann wird man das, was Sie sagen, weit weniger ernst nehmen als das, was ein älterer Mann oder eine ältere Frau, ein Polizist, der Sprecher einer Nachbarschaftsgruppe oder eine Behördenmitarbeiterin sagt, ein Mensch eben, der als „Anführer“, also als “Schah“ oder als „Dame“ wahrgenommen wird und bei dem man auch Macht vermutet. Ihr nahöstliches Gegenüber, noch nicht vertraut mit den Autoritäten, die es in Deutschland gibt, wird dabei fast automatisch auch nach „Insignien der Macht“ Ausschau halten und sich fragen, ob er sich hier beugen muss oder nicht.

Kommen Sie allein oder in Begleitung einer Gruppe? Entsprechende Hochachtung wird man dem entgegenbringen, was Sie sagen. Der Ausdruck von arabischem Antisemitismus, der sich 2014 in Deutschland sogar in Form von Demonstrationen äußerte, ist öffentlich bald wieder in der Versenkung verschwunden – vermutlich deswegen, weil hier der Innenminister und andere öffentliche Träger von Macht sehr nachdrücklich auftraten und forderten, dass jene Gruppen sich der deutschen Sichtweise zu diesem Thema bedingungslos unterordnen.

Hervorragend passt zu diesem Denken in gegnerischen Gruppen auch die Hochachtung, die im Nahen Osten einzelnen deutschen Fußballern wie auch international erfolgreichen deutschen Fußballclubs entgegengebracht wird. Fußball wird dort äußerst ernst genommen, weil die Mannschaften ihre Völker und Regionen repräsentieren – die dominante Spielidee ist ja, einen Mannschaftssieg zu erringen. Anders als das Schachspiel erlaubt aber der Fußball, der heute über die Medien in die Wohnzimmer transportiert wird, dass sich Millionen von Menschen mit einer Mannschaft identifizieren; entsprechend können sie dem Gegner auch ihre Ablehnung ausdrücken.

Ebenfalls am Fußball sehen wir, dass das Denken in Freund und Feind natürlich durchaus auch in anderen Breitengraden präsent ist, nicht nur in der arabischen Welt. Es gibt ja auch bei uns die Fußballclubs, Fans, Hooligans und die entsprechende „Kampfgesinnung“, die im Nahen Osten omnipräsent ist. Allerdings: Die Zahl der gewaltbereiten Menschen, die einen Spielgegner oder seine Fans auch außerhalb des Spielumfelds bekämpfen oder gar als Person auslöschen wollen, ist bei uns eher klein. Es könnte sich also lohnen, arabische Männer in Deutschland zum Fußballturnier einzuladen oder in die Fußballmannschaft (es kann auch eine andere Mannschaftssportart sein). Dabei könnte man ihnen vielleicht auf spielerische Weise zeigen, dass man zwar im Spiel hart miteinander kämpft, sich aber gleichzeitig als Menschen respektiert und schätzt. Natürlich können Sie auch Spiele und Sportarten einsetzen, die ebenfalls ohne Worte etwas von unserer individualistischen Lebensart vermitteln.

Wenn hier von kulturellen Unterschieden die Rede ist, sind damit generelle Tendenzen gemeint, Einstellungen, die in einer Gruppierung, einem Volk oder einer Region vorherrschend sind; Individuen dort mögen natürlich ganz anders geprägt sein. Man sollte nie völlig schwarz-weiß denken und meinen, ein Phänomen wäre ausschließlich in der einen Gruppe vorhanden und in der anderen nicht. Das gilt nicht nur für das Freund-Feind-Denken, sondern für alles in diesem Buch Gesagte. Das heißt, dass in der arabischen Welt genauso die Tendenz vorhanden ist, andere als Einzelpersonen zu schätzen und zu würdigen; dadurch kommen viele Menschen generell gut miteinander aus. Allerdings ist das beschriebene Denken im Kollektiv dort doch wesentlich stärker ausgeprägt als hier, und es ist dominant.

Krieg und Frieden

Frieden – Deutsche würden ihn vermutlich interpretieren als kooperierendes Miteinander von gleichgestellten Einzelnen oder Gruppen auf Augenhöhe unter der Maßgabe von Toleranz, das Motto ist „Leben und leben lassen“, wobei Andersartigkeit und abweichende Meinung stehenbleiben dürfen. Diese Art von Frieden gibt es im Nahen Osten prinzipiell nicht. Die freundliche Gesinnung der einen Gruppe einer anderen gegenüber ist dort immer auch abhängig von äußeren Faktoren – wobei die sich von heute auf morgen wandeln können – und natürlich von der Interessen-Lage beider Gruppen.

Es gibt kein übergeordnetes Prinzip, auf das sich alle Bürger eines Landes berufen könnten, wie es in den westlichen Ländern z.B. die Menschenrechte sind oder die biblisch-christliche Vorstellung davon, dass alle Menschen und beide Geschlechter dieselbe unantastbare Würde haben, weil sie alle im Ebenbild Gottes geschaffen sind. Mit Ausnahme von Israel sind auch in den nahöstlichen Ländern die Bürger nicht einander gleichgestellt; mehr oder weniger lehnt sich deren Rechtsprechung an die muslimische Scharia-Gesetzgebung an: Es gibt Muslime und es gibt Bürger zweiter Klasse, sogenannte „Dhimmis“. Diese sind der islamischen Rechtsauffassung unterworfen, auch wenn sie keine Muslime sind.