Migrationsbedingt behindert? - Donja Amirpur - kostenlos E-Book

Migrationsbedingt behindert? E-Book

Donja Amirpur

0,0
0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum werden Familien an der Schnittstelle von Migration und Behinderung durch die Behindertenhilfe kaum erreicht? Fachliteratur und Wissenschaft scheinen sich einig zu sein: Sie sprechen von einer »kulturellen Fremdheit« der Familien, die den Zugang zum Hilfesystem behindere. Ähnlich ist die Meinung in den Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Eine andere kulturspezifische Deutung von Behinderung, ein anderer Umgang mit dem behinderten Kind - das entspreche nicht der Vorstellung der Behindertenhilfe. Stimmen diese Annahmen? Die Studie von Donja Amirpur kommt zu anderen Ergebnissen. Sie illustriert die komplexen Lebenslagen der Familien. Entlang von biographischen Interviews und mit Hilfe einer intersektionalen Mehrebenenanalyse stellt sie die Barrieren im Hilfesystem dar und treibt die kritische Auseinandersetzung mit der hegemonialen Praxis auf Strukturebene voran.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 555

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Warum werden Familien an der Schnittstelle von Migration und Behinderung durch die Behindertenhilfe kaum erreicht? Fachliteratur und Wissenschaft scheinen sich einig zu sein: Sie sprechen von einer »kulturellen Fremdheit« der Familien, die den Zugang zum Hilfesystem behindere. Ähnlich ist die Meinung in den Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Eine andere kulturspezifische Deutung von Behinderung, ein anderer Umgang mit dem behinderten Kind – das entspreche nicht der Vorstellung der Behindertenhilfe. Stimmen diese Annahmen?

Die Studie von Donja Amirpur kommt zu anderen Ergebnissen. Sie illustriert die komplexen Lebenslagen der Familien. Entlang von biographischen Interviews und mit Hilfe einer intersektionalen Mehrebenenanalyse stellt sie die Barrieren im Hilfesystem dar und treibt die kritische Auseinandersetzung mit der hegemonialen Praxis auf Strukturebene voran.

Donja Amirpur (Dr. phil.), geb. 1980, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe »Inklusive Pädagogik« an der Universität Paderborn. Sie lehrt und forscht zu Intersektionalität, Inklusion und Migration mit dem Schwerpunkt antimuslimischer Rassismus.

Donja Amirpur

Migrationsbedingt behindert?

Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive

Die Studie wurde unter dem Titel »Migrationsbedingt behindert? Zur Interdependenz der Wahrnehmung von Behinderung und strukturellen Rahmenbedingungen im Kontext migrationsbedingter Heterogenität« im November 2014 an der Universität Bremen als Dissertation angenommen.

Erstgutachterin: Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu

Zweitgutachterin: Prof. Dr. Andrea Platte

Tag der mündlichen Prüfung: 3. März 2015

Veröffentlichung gefördert von Aktion Mensch

Die Arbeit wurde ausgezeichnet mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2016/Hauptpreis.

Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 DE Lizenz. Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unterhttp://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook transcript Verlag, Bielefeld 2016

© transcript Verlag, Bielefeld 2016

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Konvertierung: Michael Rauscher, Bielefeld

Print-ISBN: 978-3-8376-3407-5

PDF-ISBN: 978-3-8394-3407-9

ePUB-ISBN: 978-3-7328-3407-5

http://www.transcript-verlag.de

Inhalt

Dank

Vorwort der Aktion Mensch

Einleitung

1Ausgangssituation

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ihre Implikationen für das Hilfesystem

1.1Modelle von Behinderung und das menschenrechtliche Modell der UN-BRK

1.2Die UN-BRK im Kontext von Migration und Behinderung

1.3Inklusive Bildung

1.4Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Hilfesystem

1.5Fazit

2Migration und Behinderung

Aktueller Stand der Diskussion

2.1Bevölkerungsdaten

2.2Die Konzentration auf religiös-spirituelle und kulturelle Konzepte

2.3Qualitative Studien

2.4Fazit

3Strukturen, Zugänge und Barrieren im Hilfesystem

3.1Die Familie im Hilfesystem – Forschungsperspektiven im Wandel

3.2Das Hilfesystem – Förderer von Partizipation und Autonomie?

3.3Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität im Hilfesystem

3.4Inklusive interkulturelle Entwicklungsprozesse im Hilfesystem

3.5Fazit

4Analytischer Bezugsrahmen

4.1Der Intersektionalitätsansatz als Zugang zu inklusiven Entwicklungsprozessen

4.2Der Intersektionalitätsdiskurs – Ein Überblick

4.3Die Idee einer Mehrebenenanalyse in der Intersektionalitätsforschung

4.4Fazit

5Die empirische Untersuchung

5.1Die biographische Forschung als Zugang

5.2Erhebung und Auswertung

5.2.1Zu den Besonderheiten der erhobenen Daten: Eine qualitativ-empirische Forschungsarbeit in einem sprachlich-kulturell pluralen Kontext

5.2.2Interview und Transkription

5.2.3Zusammensetzung des Samples und Feldzugang

5.3Auswertungsverfahren: Die Verknüpfung von Grounded Theory und intersektionalem Mehrebenenmodell

5.4Elf Familiengeschichten im Kontext von Migration und Behinderung

5.4.1Güner Mutlu und ihr Ringen um Anerkennung und Partizipation

5.4.2Fariba Mostafawy und ihr Sohn – Techniken zwischen Normalisierung und Befähigung

5.4.3Salma Kolat und ihr Verlust von Ressourcen durch die Migration

5.4.4Die Bahmanis – Kontrollverlust durch Migration

5.4.5Djavad und Azade Moini – Allein gelassen mit einer (ungewollten) Verantwortung

5.4.6Was für ein System? Das System bin ich – Über das Streben von Jale Karimi nach Autonomie und guten Rahmenbedingungen

5.4.7Die Özdemirs – Zwischen institutioneller Diskriminierung und Selbstbezichtigung

5.4.8Die Yildirims – Eine Geschichte über Schicksalsergebenheit und Gefühle der Deprivation

5.4.9Leila Faridzadeh – Die Kämpfe einer iranischen Unsichtbaren

5.4.10Merve Akgün – Angewiesen auf Zuhörer*innen

5.4.11Exkurs: Nermin Atamans Appell – Zu den Aufgaben des Staates

5.5 Orientierungen im Hilfesystem

5.5.1Orientierung »Suche nach sozialer Absicherung«

5.5.2Orientierung »Suche nach Möglichkeiten der Handlungsbefähigung«

5.5.3Orientierung »Suche nach Entlastung«

6Schlussfolgerungen

6.1Migrationsbedingt behindert?

6.2Weiterführende Fragen

7Literatur

Dank

Bei der Umsetzung dieser Arbeit standen eine Reihe von Unterstützer*innen an meiner Seite, die mich über Jahre begleitet haben und bei denen ich mich herzlich bedanken möchte.

Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu danke ich für ihren Glauben an das Projekt und ihr Vertrauen in mich, ihre fachlich-konstruktive Begleitung und die emotionale und finanzielle Unterstützung (durch das »Karakaşoğlu-Promotionsstipendium«) über all die Jahre. Prof. Dr. Andrea Platte danke ich, dass sie mich im Denk- und Schreibprozess mit ihren Überlegungen nachhaltig unterstützt hat. Sie führte mich zur Beteiligung am Inklusionsdiskurs. Beiden danke ich für eine Betreuung, die über alles Übliche hinausgeht.

Ich danke den Familien für ihre Offenheit, die intimen Einblicke in ihr Leben und das mir entgegengebrachte Vertrauen. Ich danke denjenigen, die mich bei der Suche nach Interviewpartner*innen unterstützt haben, so Masoumeh Safari (Köln) und die vielen Lehrer*innen, die beiden Ärzt*innen, die Beratungsstelle für Migrantinnen – ihre Namen darf ich hier aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht nennen.

Das Kolloquium »Interkulturelle Bildungsforschung« des Arbeitsbereichs Interkulturelle Bildung der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu hat mich über die ganze Zeit fachlich und freundschaftlich begleitet. Yasemin Alkan, Charlotte Binder, Fallon Cabral, Aysun Doğmuş, Aslı Güven, Hennig Koch, Canan Korucu-Rieger, Chripa Schneller und Anna A. Wojciechowicz – sie waren immer bereit, sich intensiv mit meinem Material auseinanderzusetzen, viel zu lesen und engagiert mit mir zu diskutieren, um mich auf die Spur zu bringen. Ihnen kann ich deshalb nicht genug danken. Danken möchte ich auch der »Montagsrunde« vom Kölner Ehrenfeldgürtel mit Judith Dubiski, Prof. Dr. Franz Casper Krönig, Thorsten Merl, Thorsten Neubert und Prof. Dr. Andrea Platte. Sie haben mich immer wieder zur Entwicklung eines kritischen Blicks auf »Normalitäten« und Kategorisierungen aufgefordert.

Für ihren »wachsamen Blick« danke ich herzlich Beatrix Görtner (Bonn). Martha Chatzipolichroni (Köln) und Isabelle Reessing (Bonn) danke ich für ihre Unterstützung bei der Transkription der Interviews. Weitere wichtige Hinweise verdanke ich zudem Mercedes Pascual Iglesias (Köln), Prof. Dr. Monika Rothweiler (Bremen), Prof. Dr. Julia Zinsmeister (Köln), Prof. Dr. Theresia Degener (Bochum) und Dr. Susanne Schwalgin (Berlin). Prof. Dr. Timm Albers (Paderborn), Judy Gummich (Berlin) und Prof. Dr. Swantje Köbsell (Berlin) danke ich für ihre Hilfe und Unterstützung während meiner Disputationsphase.

Schließlich danke ich denen, ohne deren Liebe nichts gewesen wäre: Meinem Vater Dr. Manutschehr Amirpur, der durch seine Begleitung zu den Interviews als Dolmetscher in besonderer Weise in das Projekt involviert war – es tat gut, ihn an meiner Seite zu wissen –, meiner Mutter Sibylle Amirpur und meiner Schwester Prof. Dr. Katajun Amirpur für all ihre unterstützenden Worte und Taten. Und ich danke Tobi Anding für seine Gelassenheit und seine liebevollen Ermutigungen, die mich in den letzten Jahren getragen haben.

Wo die Arbeit gut ist, ist es ihr Verdienst, wo sie schlecht ist, ist es allein meine Verantwortung.

Die Publikation dieser Arbeit wurde durch die Aktion Mensch gefördert, der ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin.

Vorwort der Aktion Mensch

Die deutsche Gesellschaft fühlt sich in Sachen Teilhabemöglichkeiten und kultureller Offenheit gut aufgestellt. Zu Recht? Dieser Frage widmet sich das vorliegende Buch. Elf Familien erzählen aus ihrem Alltag. Sie alle suchen möglichst gute Unterstützung und Fördermöglichkeiten für ihr Kind mit dem Förderschwerpunkt »Geistige Entwicklung«. Sie kommen aus der Türkei, aus Iran.

Gehen sie anders mit ihren behinderten Kindern um als deutsche Familien? Oder gibt es andere Faktoren, die dazu führen, dass viele Familien mit Migrationshintergrund keine adäquaten Förder- und Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden? Diese Faktoren aufzudecken hieße, eine Öffnung zu schaffen, hin zu mehr Inklusion. Denn im Moment fühlen sich viele Familien in doppelter Hinsicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt: durch ihren Migrationshintergrund und durch die Behinderung ihres Kindes.

In der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 ist das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen verankert: Schutz der Familien, Zugang zu inklusiver Bildung, Unterstützung und Fördermöglichkeiten für Menschen mit Behinderung. »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« – So lautet Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Die gelebte Realität sieht häufig anders aus.

Dabei haben die Wohlfahrtsverbände vor allem für die vielen Flüchtlinge, die zurzeit nach Deutschland kommen, schon viel bewegt: Sie schaffen Netzwerke, Tagesstätten und Stellen für freiwillige Helfer. Auch aus den Kriegsgebieten kommen viele Menschen mit körperlichen und seelischen Behinderungen. Begegnung und Austausch sind für sie essentiell, um in einem neuen Land Fuß zu fassen.

Ziel dieses Buches ist es, herauszufinden, wo innerhalb des deutschen Hilfssystems Verbesserungspotentiale sind. Aber auch, was die Familien mit Migrationshintergrund brauchen, um ihrerseits mit ihren behinderten Kindern mehr in die gesellschaftliche Mitte zu kommen. Denn die Erfahrung der Exklusion hinterlässt Narben.

Aktion Mensch e.V.

Einleitung

Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifizierte und sich damit verpflichtete, die Teilhabe von behinderten Menschen zu fördern, auf allen Ebenen umzusetzen sowie Diskriminierung gegen behinderte Menschen zu unterbinden, wird auch vermehrt die Notwendigkeit einer inklusiven Ausrichtung der Behindertenhilfe diskutiert. Weil Familien mit einem behinderten Angehörigen im Kontext von Migration in der Inanspruchnahme von präventiven und unterstützenden Hilfen unterrepräsentiert sind, wird zudem der Ruf nach einer interkulturellen Öffnung der Einrichtungen der Behindertenhilfe lauter. Auch im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung sowie im Aktionsplan Inklusion wird gefordert, die Teilhabe von »Menschen mit Migrationshintergrund« am Gesundheitssystem und den Angeboten der Behindertenhilfe durch eine »interkulturelle Öffnung« zu verbessern (Die Bundesregierung 2007, 29). Im Aktionsplan Inklusion der Landesregierung Nordrhein-Westfalen wird auf die Notwendigkeit einer Sensibilisierung in den bestehenden Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Gesundheitshilfe und der Rehabilitation für die Schnittstelle von Migration und Behinderung hingewiesen, damit die Zugänglichkeit der Einrichtungen der Behindertenhilfe erleichtert wird (Die Landesregierung NRW 2012, 232). Schließlich hat das Hilfesystem neben einer entlastenden Funktion für die Gesamtfamilie auch den Auftrag, behinderte Menschen dabei zu unterstützen, ihre Menschenrechte im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention durchsetzen und wahrnehmen zu können. Merz-Atalik kritisiert, dass der Umgang mit der zunehmenden Heterogenität der Gesellschaft in Institutionen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens nach wie vor weitestgehend als Zusatzaufgabe und als Belastung wahrgenommen wird – und nicht als Normalität bzw. Bestandteil der Regelaufgaben. Dies stehe den inklusiven Prozessen in der Gesellschaft entgegen, so Merz-Atalik. Durch eine problemorientierte Sicht werde die Existenz einer Einwanderungsgesellschaft in Frage gestellt (Merz Atalik 2008, 23).

Dass das Hilfesystem seinem Versorgungsauftrag nicht nachkommt und es einen Bedarf an Unterstützung der Fachkräfte, an Informationen und Weiterbildungen gibt, zeigt die steigende Zahl von Fachtagen und Publikationen zum Thema (vgl. Beyer 2003; Kauczor et al. 2008; Sarimski 2013). Darin schildern Fachkräfte des Hilfesystems die Schwierigkeiten in der Beratung von so genannten Migrantenfamilien mit behinderten Angehörigen.

Viele Publikationen und Fortbildungen haben gemeinsam, dass darin die Kategorie »Kultur« als zentrale Differenzkategorie für den Kontext von Migration und Behinderung fungiert. In dieser Sichtweise existieren die Barrieren vor allem innerhalb der Familie. Ihr Umgang mit der Behinderung des Familienangehörigen, ihre kulturspezifische Deutung von Behinderung, so die Annahmen, entsprechen nicht den Vorstellungen von Empowerment der Behindertenhilfe. Die Familien sind »fremd«, »anders« und benachteiligen sich selbst (z.B. Van Dillen 2008). Weitere Heterogenitätsdimensionen, die Struktur des Hilfesystems und die damit verbundenen strukturellen Barrieren für Familien mit behinderten Kindern im Kontext von Migration finden im Praxisfeld und in der Forschung kaum Berücksichtigung. Im Fokus stehen vor allem Familien türkischer, arabischer und iranischer Herkunft. Sie werden in dieser Perspektive meist als Muslim*innen betrachtet (z.B. Gültekin 1989; Rauscher 2003; Merz-Atalik 1998; Laabdallaoui/Rüschoff 2010; Sarimski 2013). Kerndimensionen politischer, rechtlicher und ökonomischer Art sowie die Beachtung der von den Familien mitgebrachten Ressourcen fehlen, aber auch die Bedingungen des Verlustes von Ressourcen durch die Wanderung bleiben unbeachtet. Kontroversen und Differenzen im Sozialbereich werden häufig auf eine islamische Religionszugehörigkeit bzw. Sozialisation der Familien zurückgeführt. Erkenntnisse darüber, ob der Islam ein relevanter Faktor in der Lebensgestaltung von muslimischen Familien mit einem behinderten Kind respektive für den Beratungszusammenhang ist, existieren allerdings nicht.

Ausgehend von den Hinweisen aus Literatur und Praxis, dass religiöse Vorstellungen einen nennenswerten Einfluss auf die Perzeption und den Umgang mit Behinderung nach sich ziehen, war es deswegen zunächst das Ziel dieser Arbeit herauszuarbeiten, welchen Stellenwert die islamisch geprägte Sozialisation bei muslimischen Familien im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes einnimmt. In der Untersuchung wurden Interviews mit muslimischen Familien der ersten Einwanderergeneration (also Familien mit einer tatsächlichen eigenen Migrationserfahrung) geführt. Um verkürzte Schlussfolgerungen über Einstellungsmuster im Umgang mit Behinderung zu vermeiden, wurde auf eine heterogene Zusammensetzung eines »muslimischen Samples« geachtet: Die Interviews wurden mit Familien iranischer und türkischer Herkunft geführt, die sich in ihrer Religiosität (vgl. Bertelsmann Stiftung 2008), in ihrer Konfession (Schiiten und Sunniten) und innerhalb jeder Gruppe in ihren formalen Bildungsabschlüssen voneinander unterscheiden. Die Interviews wurden mit Familien von Kindern geführt, die fast ausschließlich (ein Kind war noch nicht um Schulalter) Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt »Geistige Entwicklung« besuchten. Dieses Vorgehen hatte mehrere Gründe: Zum einen ermöglichte die Festlegung auf einen Förderschwerpunkt eine bessere Vergleichbarkeit von Ansprüchen im Hilfesystem. Die Schulform habe ich gewählt, weil ich zum einen selbst an einer Förderschule mit diesem Schwerpunkt gearbeitet und dadurch Kontakte zu Familien und Fachkräften habe, was den Zugang zu dem ansonsten für Externe schwerer zugänglichen Feld ermöglichte. Vor allem aber wollte ich den Schilderungen aus dem Praxisfeld nachgehen, nach denen insbesondere Kinder mit einer so genannten »geistigen Behinderung« kaum im Hilfesystem ankommen. Begründet wurde dies von Seiten der Fachkräfte mit Barrieren innerhalb der Familien, die religiös konnotiert waren.

Im Verlauf der Studie wurde dann aber recht schnell deutlich, dass – viel mehr als die Religion – die Suche nach Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten zentrales Thema der elterlichen Bemühungen ist. Dabei stoßen die Eltern auf strukturelle Barrieren, Ausgrenzungen und Diskriminierungen, eine Inanspruchnahme von Unterstützung gelingt nur in seltenen Fällen und unter großer Anstrengung. Die Familien befinden sich zum Teil in prekären Situationen, die sowohl die Eltern als auch die betroffenen Kinder belasten. Es zeigte sich auch, dass weitere relevante Heterogenitätsdimensionen bzw. Strukturkategorien im Kontext von Migration und Behinderung auftauchten, die die Lebenssituation der Familien maßgeblich beeinflussten, wie bspw. der rechtliche Status oder die lingualen Machtstrukturen im Hilfesystem. Nach der Prüfung der ersten Falldaten veränderte sich dementsprechend der Fokus, aus dem das Material betrachtet wurde: Es traten vor allem die Barrieren, mit denen die Familien im Hilfesystem konfrontiert sind, in das Zentrum der Analyse. Die Frage nach der Art und den Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Unterstützung ist auch insofern von besonderem Interesse, als bspw. die UN-Behindertenrechtskonvention dem Hilfesystem eine zentrale Rolle in der Verteilung von Ressourcen und Ermöglichung von Partizipation zuweist (vgl. Kap. 1). Durch Angebote für Kind und Familie werden die Teilhabemöglichkeiten des Kindes gestärkt und die gesamte Familie erhält einen Autonomiezuwachs. Wenn Familien nun keinen Kontakt zum Hilfesystem haben, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf die Partizipationsmöglichkeiten der Familien hat – oder ganz allgemein gefragt: Wie stellt sich die Lebenssituation der Gesamtfamilie dann dar?

Verschiedene Studien der letzten 20 Jahre haben bereits die Lebenssituation von Familien im Kontext von Behinderung untersucht (vgl. Engelbert 1999; Eckert 2002, Büker 2010) und verdeutlichen, dass die Familien im Allgemeinen mit großen Herausforderungen im Hilfesystem konfrontiert sind, eine Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten scheint auch außerhalb des Migrationskontextes nicht selbstverständlich. Da ein Bezug auf diese Studien möglich war, wurde in der hier vorliegenden Untersuchung auf eine Vergleichsgruppe von Familien ohne Migrationserfahrung verzichtet, stattdessen wurden am Ende einschlägige Untersuchungen zu Familie und Behinderung für eine Kontrastierung und die Herausarbeitung einer »Migrationsspezifik« hinzugezogen.

Anliegen dieser Arbeit ist es also insbesondere, sich mit den Barrieren im Hilfesystem zu befassen, die die Partizipationsmöglichkeiten für Kind und Familie verhindern. Daraus ergeben sich folgende forschungsleitende Fragen:

Wie erleben Familien aus türkischen und iranischen Herkunftskontexten den Aspekt Behinderung in ihrem familiären Alltag?Sind die Familien mit Barrieren in der Teilhabe konfrontiert?Gibt es migrationsspezifische Barrieren im Hilfesystem?Was hindert Familien an einem Zugewinn an Autonomie? Was benötigen sie für ein Vorankommen?Welche Ressourcen bringen die Familien mit? Wodurch und wie entwickeln sie Widerstand?Intervenieren Migrationserfahrungen und migrationsspezifische Barrieren in den Umgang mit Behinderung?Gibt es migrationsspezifische Deutungen von Behinderung, die in einem konkreten Bezug zu den religiös-kulturellen Hintergründen oder Orientierungen der Befragten stehen?

Ziel ist es, die Wechselwirkungen der Strukturkategorien Migration und Behinderung aufzuzeigen und mit Hilfe einer intersektionalen Analyse darzulegen, wie das Zusammenspiel von »Behinderung« und »Migration« auf die Familie wirkt.

Zur Beantwortung der Forschungsfragen gliedert sich die Untersuchung in sechs Teile:

Nach dieser Einführung widmet sich Kapitel 1 dem »Rahmen« der Untersuchung: der UN-Behindertenrechtskonvention. In dem Kapitel werden die sich durch die Ratifizierung der Konvention ergebenen Implikationen für das Hilfesystem im Kontext von Migration analysiert. Zudem wird dargelegt, welches »Modell von Behinderung« der hier vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt wird.

In Kapitel 2 werden parallel verlaufende Diskurse in Beziehung zu einander gesetzt: die Kulturalismuskritik der Migrationsforschung, die »kulturellen Konzepte« des Praxisfeldes bzw. des Hilfesystems und die Forschungsarbeiten an der Schnittstelle von Migration und Behinderung. Dadurch können weitere Forschungslücken aufgezeigt werden.

In Kapitel 3 werden bisherige Studien zu »Familie und Behinderung« einer kritischen inhaltlichen und methodischen Analyse unterzogen. Schließlich werden die für die Forschungsfrage relevanten Studien ausgewählt und dargestellt, die insbesondere die Barrieren im Hilfesystem in den Fokus ihrer Untersuchungen rücken. Diese dienen als Grundlage, um später potentielle Parallelen und Unterschiede im Migrationskontext aufzeigen zu können. Außerdem sollen Einflussvariablen auf die Partizipationsmöglichkeiten und Autonomiebestrebungen der Familien ausfindig gemacht sowie Erkenntnisse für die Gestaltung des Forschungsdesigns gewonnen werden. Daran anknüpfend wird der derzeitige Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität im Hilfesystem dargestellt und mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und der Idee von inklusiven Entwicklungsprozessen bzw. einer interkulturellen Öffnung verglichen.

Diese vorangegangenen Ausführungen bilden die Basis für die Begründung des Forschungsinteresses und die Vorstellung des Intersektionalitätsansatzes als analytischen Bezugsrahmen in Kapitel 4. Dieser eignet sich im Besonderen dafür, soziale Differenzierungen und Hierarchisierungen unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen und Verwobenheiten der Kategorien Migration und Behinderung in den Blick zu nehmen.

Kapitel 5 und Kernstück der vorliegenden Arbeit bildet schließlich der empirische Teil. Im Mittelpunkt stehen elf Familiengeschichten im Kontext von Migration und Behinderung. Diese wurden mit Hilfe der Grounded Theory Methode sowie dem intersektionalen Mehrebenenansatz nach Winker und Degele (2009) analysiert. An die einzelnen Familiengeschichten anknüpfend werden die Ergebnisse der Interviewauswertungen anhand typisierter Orientierungen der Familien im Hilfesystem zusammenfassend dargestellt.

In Kapitel 6 folgen Schlussfolgerungen zu strukturellen migrationsspezifischen Barrieren im Hilfesystem und die Formulierung weiterführender Fragen.

Das Sprechen über … – Im Spannungsfeld von Reifikation und Aufdeckung gesellschaftlicher Konstruktionen

Wenn ich in der vorliegenden Arbeit von »behinderten Menschen«, »Behinderten«, »Migrant*innen« oder »migrierten Familien« spreche, dann schließe ich mich – ohne den Ausführungen in Kapitel 4 zum Intersektionalitätsansatz vorgreifen zu wollen – Iman Attia an, die auf den gesellschaftlichen Konstruktionsprozess hinter der Homogenisierung und Essentialisierung mit realen Folgen hinweist und die Notwendigkeit erkennt, »behinderte Menschen« und »Migrant*innen«[1] zu benennen, um die dahinter steckenden Mechanismen und die Konstruktionen analysieren zu können (Attia 2013, 2). Dass ich der hinter den Begriffen steckenden Konstruktion, dem gesellschaftlichen Prozess der Ausgrenzung, der »Behinderung« Ausdruck verleihen möchte, zeige ich bereits durch den Titel dieser Arbeit »Migrationsbedingt behindert?«. Dieser Argumentation folgend verwende ich nicht wie sonst meist üblich die Begriffe »Menschen mit Behinderung« oder »Menschen mit Migrationshintergrund[2]«. Schließlich handelt es sich bei einer Behinderung bzw. einem Migrationshintergrund nicht um ein »persönliches Attribut« (Köbsell 2010, 19).[3]

Der gesellschaftliche Konstruktionsprozess wird im aktuellen Diskurs um Migration und Behinderung durch die Verwendung von Begriffen wie »Migrantenfamilie«, »Migrationsfamilie« oder »geistig behindert« abgebildet (vgl. Kap. 2 und 3). Wenn ich auf diesen Prozess hinweisen möchte, muss ich gleichzeitig den Diskurs wiedergeben, begebe mich dadurch aber in die Gefahr des Reifizierens. Das ist ein Dilemma, dem ich kaum ausweichen kann, außer in meinen Ausführungen immer wieder auf die dahinter steckende Konstruktion hinzuweisen.

Anmerkungen

1 | Während es im Kontext von Behinderung möglich ist, das Passive, den Konstruktionsprozess durch ein Partizip Perfekt (also passiv) sprachlich abzubilden (behinderte Menschen), ist dies im Kontext von Migration nicht ohne Weiteres möglich.

2 | Das gilt allerdings nicht für die Darstellung statistischer Erhebungen, die mit diesem Merkmal arbeiten.

3 | Des Weiteren sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei den im Sample der vorliegenden Arbeit als Migrant*innen bezeichneten Personen tatsächlich um solche mit einer Migrationserfahrung handelt. Die darin berücksichtigten Personen sind allesamt nach Deutschland migriert und leben hier nicht etwa in zweiter oder dritter Generation. Da die Migration fast ausnahmslos nicht mit der Zielsetzung geschah, dauerhaft in Deutschland bleiben zu wollen (zumeist Wanderung aufgrund politischer Krisen oder Arbeitsmigration), wäre auch der Begriff »Immigrant*innen« unpassend.

1Ausgangssituation

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ihre Implikationen für das Hilfesystem

Der Begriff der Inklusion ist seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (im Folgenden kurz UN-BRK) in Deutschland in den nationalen und vor allem bildungspolitischen Fokus gerückt. Während international die Orientierung an die Leitidee der Inklusion als Basis für die Realisierung der Allgemeinen Menschenrechte betrachtet wird (Platte 2012, 141), befasst sich die Bildungspolitik in Deutschland im Kontext von Inklusion vornehmlich mit dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen. Dass diese Schwerpunktsetzung zu kurz greift und nicht dem Kerngedanken von Inklusion entspricht, zeigt ein Blick in die UN-BRK.

Die UN-BRK ist ein Völkerrechtsvertrag, der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und seit 2009 auch in Deutschland gilt. Die Konvention stellt eine weitere Ergänzung der sieben Kernkonventionen der Vereinten Nationen dar, zu denen unter anderem das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der »Rassendiskriminierung« (die Antirassismuskonvention von 1965) und das Internationale Übereinkommen über die Rechte des Kindes (die Kinderrechtkonvention von 1989) zählen. Deutschland verpflichtete sich mit der Ratifizierung der UN-BRK, die Chancengleichheit von behinderten Menschen zu fördern, diese auf allen Ebenen umzusetzen sowie Diskriminierung gegen behinderte Menschen zu unterbinden. Dabei handelt es sich nicht um Sonderrechte von behinderten Menschen. Diese Menschenrechtskonvention zeigt vielmehr auf, was die bestehenden Menschenrechte für behinderte Menschen bedeuten und wie sie in den unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft umzusetzen sind. So soll die Ausübung der Menschenrechte unter Berücksichtigung der Verschiedenheit, die durch eine Behinderung hervorgebracht werden kann, gesichert werden. Ein besonderes Merkmal der Konvention ist demnach die Revision der vormals herrschenden Annahme, dass eine Behinderung die Möglichkeit der Wahrnehmung von Menschenrechten durch behinderte Menschen verhindere (vgl. Degener 2009).

Charakteristisch für die Konvention ist ihr starker Empowermentansatz (vgl. Bielefeldt 2006), die Bezugnahme auf die Menschenwürde und auf die Leitidee der Inklusion (vgl. Platte 2012). So fordert die UN-BRK die Partizipation behinderter Menschen in die Gesellschaft vor dem Hintergrund der sozialen Inklusion (»full and effective participation and inclusion in society«, Artikel3, Buchst.c) mit dem Ziel »Raum und Rückhalt für die persönliche Lebensgestaltung« zu bieten (Bielefeldt 2006, 11). Theresia Degener, Mitglied des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, definiert Inklusion im Sinne der UN-BRK als ein »Prinzip der gleichberechtigten Partizipation unter Berücksichtigung der Menschenwürde und Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen. Außerdem bedeutet Inklusion eine eindeutige Absage an separierende gesellschaftliche Systeme« (Degener/Mogge-Grotjahn 2012, 66). Damit untermauert die Konvention den Anspruch einer in unterschiedlichsten Bereichen selbstverständlichen Zugehörigkeit von behinderten Menschen und markiert das »strukturelle Unrecht«, wenn behinderte Menschen daran gehindert werden, ihr Leben selbstbestimmt und gleichberechtigt mit anderen leben zu können (Bielefeldt 2006, 9).

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!