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Immer wieder werden die Meeresforscher von kurzzeitigen, unberechenbaren und sehr lästigen Wirbeln in ihrer Arbeit gestört, deren Ursprung einfach nicht zu finden ist. Als sie den Einsatz in diesem Gebiet abbrechen, beschließt Sam, der Archäologe des Teams, im Urlaub auf eigene Faust dort weiter nach versunkenen Schätzen zu suchen. Er ahnt nicht, dass er etwas viel Wertvolleres finden wird, das plötzlich sein ganzes Leben auf den Kopf stellt.
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Seemannsgarn?
Mikro Strömungen
Geschichte und Geschichten
Landgang
Entdeckungen
In alter Zeit
Theas wahres Gesicht
Karma
Nixenkräfte
Die Parzen spinnen ihre Fäden
Auf Reisen
Roma belissima
Allerlei Schätze
Auf, zu neuen Ufern!
Der Kreis schließt sich
„Es geht die Sage ...“
Klaas packte mit genervt verdrehten Augen Sam am Arm. „Sag mal, wie oft willst du dir das Ammenmärchen des Alten noch anhören? Der faselt doch jedes Mal dasselbe!“
„Bis ich begriffen habe, was hinter der Geschichte steckt“, erwiderte Sam, Klaas‘ Hand abschüttelnd.
„Ein Hirngespinst.“
„Ach ja? Dann sind wohl die merkwürdigen Wirbel bei völlig ruhigem Wasser auch nur ein Hirngespinst?“, knurrte Sam mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Sind sie nicht! Die lassen sich messen!“, grinste Klaas. „Aber Nixen und solches Zeug kann man nicht messen und gesehen habe ich es auch noch nicht.“
„Ah ja“, witzelte Sam. „Hast du schon mal dein Gehirn gesehen?“
Klaas riss die Augen auf. „Ähhh ... nein. Aber was hat das jetzt damit zu tun?“
„Ganz einfach, wenn du es noch nicht gesehen hast, dann hast du nach deiner Theorie, dieich in dem Fall recht passend finde, auch keins“, grinste Sam.
„Blödmann!“
„Das Kompliment gebe ich gern zurück.“ Sam wandte sich um und spendierte dem alten Mann auf der verwitterten Bank eine Büchse Bier aus seinem Rucksack. „Wohl bekomm’s!“
„Danke! Vielen Dank!“ Die Augen des Alten leuchteten freudig.
„Als Wissenschaftler müsstest du eigentlich wissen, dass hinter jeder Sage aus alter Zeit ein Körnchen Wahrheit steckt“, begann Sam zu erklären.
„Boah eh, gehst du jetzt unter die Märchenerzähler, um rauszufinden, woher die Wirbel kommen?“, schnaufte Klaas.
„Warum nicht, wenn wir mit Messungen nicht weiterkommen?“, stellte Sam die Gegenfrage.
Klaas öffnete schon den Mund, um zum Gegenschlag auszuholen, als ihm einfiel, dass Sam der einzige Meeresarchäologe im Team war, und nicht nur einmal durch Recherchen nach den Erzählungen der Alten spektakuläre Funde gemacht hatte. So atmete er nur tief durch. „Okay. Hast gewonnen. Mich brauchst du ja nicht beim Zuhören. Oder?“
„Zieh ab!“, lachte Sam, dann setzte er sich zu dem alten Mann auf die Bank.
Der Strand leerte sich langsam, weil die Abendbrotzeit anbrach und alle ihren Hotels und Ferienwohnungen entgegenstrebten.
„Freunde oder Kollegen?“, fragte der Alte, mit dem Kopf Klaas hinterherdeutend.
„Kollegen. Noch dazu aus unterschiedlichen Sparten, die sich nicht immer untereinander grün sind“, seufzte Sam. „Er ist Hydrologe, ich bin Archäologe. Er glaubt nur an das, was er messen kann, ich an alte Überlieferungen.“
„Dein Spruch vom Gehirn war jedenfalls nicht schlecht“, kicherte der Geschichtenerzähler. „Ich bin übrigens Fiete.“
„Angenehm. Sam.“
„Abkürzung oder wirklich nur drei Buchstaben?“, fragte Fiete.
„Wirklich nur drei“, schmunzelte Sam. „Und natürlich immer wieder dumme Sprüche wegen des Namens.“
Fiete blinzelte. „Kann ich mir denken. Es hat eben jeder sein Päckchen zu tragen. Mich halten die meisten Zugezogenen für nicht ganz richtig im Kopf, weil ich bei Wind und Wetter hierhocke und den Kindern eine Geschichte erzähle.“
„Wegen der Geschichte?“
Fiete nickte traurig. „Dabei will ich doch nur, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.“
„Schreib sie auf!“, schlug Sam vor.
„Aufschreiben?“, staunte Fiete. „Aufschreiben. Hm. Und dann setze ich mich mit dem Buch in der Hand hierher, tu ganz gescheit und erzähle sie trotzdem frei.“
„So wäre meine Empfehlung“, schmunzelte Sam. „Eine andere Variante könnte sein: Ich schreibe sie auf und veröffentliche sie in einem Wissenschaftsmagazin, wobei ich ganz genau angebe, dass du sie mir erzählt hast. Ich halte dich nämlich weder für senil noch wunderlich. Mich interessiert die Geschichte, weil ich glaube, dass sie das fehlende Puzzleteilchen für meine Arbeit da draußen ist.“ Sam zeigte ungefähr an, wo sie in den letzten Wochen getaucht waren. „Ich glaube sogar, dass sie mit dem zusammenhängt, was ich zu beweisen versuche. Nur, dass der Name meines versunkenen Schiffes vielleicht ein anderer ist. Aber in der Ostsee sind so viele Schiffe bei Sturmfluten untergegangen, dass beinahe jeder Name passen würde.“
„Dein Kollege hat von Wirbeln gesprochen“, stellte Fiete zur Diskussion.
Sam nickte. „Wir kriegen einfach nicht raus, was es damit auf sich hat.“
Fiete schaute sich um, winkte Sam, sich näher zu ihm zu beugen und flüsterte: „Die Alten, also mein Großvater und die Fischer, haben erzählt, dass man die überall dort findet, wo sich Nixen aufhalten. Sag’s nicht weiter, denn dann halten sie dich auch für einen Spinner.“
Sam schaute Fiete prüfend an, da berichtete der schon: „Mein Ururgroßvater war mit fünf anderen Fischern weit draußen, als ein Unwetter aus dem Nichts über sie hereinbrach. Das Boot sei, kurz bevor es kenterte, von schier unzähligen Wirbeln umgeben gewesen. Er war der einzige Überlebende und keiner hat je erfahren, wie er mehr tot als lebendig an den Strand gelangt ist. Die anderen und die Reste des Bootes blieben für immer verschwunden. In der Hand hatte er übrigens eine ur-uralte Münze gehalten, als man ihn fand, die er, als er starb, seinem ältesten Sohn vererbt hat. So ging es weiter, bis ich sie als ältester Sohn von meinem Vater bekommen habe.“ Fiete zog eine Kette aus dem Hemdausschnitt, an der eine durchbohrte altrömische Goldmünze hing.
Sam erkannte sofort, dass es sich um eine Traianus Aureus Münze handelte. Er wusste, dass diese, in dem Erhaltungszustand, rund 5000 Euro unter Sammlern wert war. „Ein äußerst wertvolles Erbstück“, flüsterte er. „Bewahre sie gut!“
Fiete lächelte. „Ich glaube, sie bewahrt mich. Großvater bezeichnete sie als Nixengold.“ Er ließ die Kette wieder verschwinden.
„Warum verrätst du mir solch ein Geheimnis?“, staunte Sam.
„Du wirst es erfahren“, strahlte ihn Fiete regelrecht an. „Nur nicht heute.“ Er schaute auf die Uhr. „Zeit, nach Hause zu gehen, ehe meine Frau eine Suchmeldung rausgibt. Ich wünsche dir einen wundervollen Abend und vielen Dank.“
„Gerne! Bis demnächst und gute Nacht!“ Sam nahm die leere Bierbüchse entgegen, um ebenfalls nach Hause um zu schlendern. Es war eine geradezu elektrisierende Unterhaltung gewesen. Er war in dem Vorhaben, den römischen Welthandel hier in der Region durch Funde im Meer nachzuweisen, durch die Münze an derKette wieder ein bisschen mehr bestärkt worden. Wo eine Münze gewesen war, mussten ganz einfach noch andere zu finden sein.
Die Sache mit den Nixen bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen. Obwohl ... das Motiv kehrte bei vielen Völkern immer wieder. Wunderschöne Mädchen, deren Körper in einem Fischschwanz endeten. Es gab aber auch Sagen, in denen die Frauen Beine hatten und in den Tiefen von Seen und Weihern lebten. Und die Wirbel, von denen Fiete gesprochen hatte? Na ja, Wale erzeugten Blasen, um ihre Beute einzukreisen. Aber warum sollten Wale ausgerechnet im Unwetter so etwas machen? Zumindest wäre ein Wal in der Lage, ein kleines Boot kentern zu lassen. Aber so große Wale hier? Fragen über Fragen.
Er hatte gerade sein Gartentor geschlossen, als das Handy eine WhatsApp-Nachricht meldete. Acht Tage, ab Montag nächster Woche, Urlaub genehmigt. Quasi ab morgen zum Feierabend, denn das Wochenende stand nicht in den Plänen. Tief aufatmend legte er das Gerät auf den Schreibtisch und nahm sich vor, die gute Kunde persönlich Linda zu überbringen. Gleich morgen zum Feierabend. Für heute wollte er nur noch einen Happen essen und ins Bett.
„Neues erfahren?“, fragte Klaas, als Sam zum Frühstück in den Pausenraum kam.
Der hob nur beide Daumen, setzte sich zu ihm an den Tisch, ohne sich über das Gespräch mit Fiete auszulassen. Zwei andere Kollegen horchten sofort auf. Sie kannten Sam schon länger und wussten die Geste zu deuten. Es war also mit Überraschungen zu rechnen.
Noch vor dem Mittag bat der Leiter der Gruppe die Mitarbeiter zur Konferenz wegen des weiteren Vorgehens. Vor allem ging es darum, dass die plötzlich auftretenden Wirbel eine Gefahr für Leib und Leben der Teilnehmer darstellten und an exakte Analysen nicht zu denken war. „Wir sollten eine halbe Seemeile weiter zur Fahrrinne der großen Schiffe rücken“, schlug er vor. „Die Untersuchung der Anomalie, die solche Wirbel erzeugen könnte, werden wir verschieben.“
Sam hörte auf sein Bauchgefühl und hob die Hand, um für den Vorschlag zu stimmen. Mit dem Urlaub im Hinterkopf wäre es völliger Unfug gewesen, dagegen zu sein. Und dieser veranlasste ihn auch, sich freudestrahlend eineStunde eher auf dem Heimweg zu begeben, um Linda im Garten ihrer Eltern mit der guten Nachricht zu überraschen. Sein plötzliches Erscheinen war zwar für beide eine riesengroße Überraschung geworden, nur keine gute ...
Sam hatte schon vom Tor aus Lindas Stimme im Pavillon am hinteren Ende des Grundstücks gehört und sich zielgerichtet dahin begeben. Sie und ihr Vater schienen mit widerspenstigen Gartengeräten zu kämpfen, denn ertönten immer wieder Seufzen und Stöhnen. Sam drückte die Tür auf und blieb wie vor eine Wand gelaufen stehen.
Die eine Person war auch Linda, nur den Mann, der zwischen ihren Schenkeln lag, hatte er noch nie gesehen. Das abgrundtiefe Erschrecken der in flagranti Ertappten registrierte Sam wie durch eine Watteschicht, drehte sich in Zeitlupe um und verließ das Gartenhaus. Wie in Trance steuerte er das Auto zu seinem Häuschen, stellte es ab und schlurfte hinunter zum Strand.
Silberne Lichtreflexe tanzten übers leicht gekräuselte Wasser, blitzten auf, erloschen wieder und ließen ganze Areale wie mit Diamantsplittern übersät funkeln. Postkartenblauer Himmel, Sonnenschein pur und der salzige Hauch, den er von Kindesbeinen an liebte. Sam seufzte gequält. Er hatte sich auf den Urlaub mit Linda gefreut, auch wenn er den nur am heimatlichen Strand genau vor der Haustür verbringen konnte. In diesem Jahr musste er für das Institut direkt erreichbar bleiben. Das Forschungsprogramm ließ es nicht anders zu. Ein Wunder, dass man ihm die Tage überhaupt genehmigte.
Nun saß er schon drei Stunden hier, in den Gedanken gähnende Leere, starrte ins Wasser, ohne die kleinen Lichtwunder zu bemerken. Erst als die Sonne langsam ihre Bahn beendete, sich das silberne Schimmern goldrot färbte und ganze Heerscharen von Mücken über ihn herfielen, schreckte er auf.
Im Laufschritt eilte er zu seinem reetgedeckten Häuschen, das im Abendlicht mit den hohen Stockrosen hinterm Gartenzaun einladend undtrostspendend zugleich wirkte. Sams Denkapparat begann erst wieder wirklich zu arbeiten, als er die Haustür hinter sich schloss.
Er folgte wie ein Traumwandler seiner inneren Stimme, was schon immer das Beste gewesen war, obwohl sich sein Kopf manchmal dagegen auflehnte. Dieses Bauchgefühl hatte auch zaghaft Bedenken gegen Linda angemeldet, als sie sich ihm vor rund einem halben Jahr an den Hals geworfen hatte. Es hatte recht behalten. Wie so oft.
Nun befahl es Sam, sämtliche persönliche Dinge Lindas in einem großen Beutel zu verstauen und direkt neben der Haustür zu deponieren, was er ohne Zögern in die Tat umsetzte. Erst dann kümmerte er sich um sein Abendbrot.
Gegen 22 Uhr klingelte es. Sam spähte durch das kleine Seitenfenster. Linda. Auf der schmalen Straße ein Taxi. Sam öffnete, drückte Linda wortlos den vollen Beutel in die Hand, schloss die Tür und betrachtete sich zeitgleich als Single.
Das Bauchgefühl klatschte Beifall. Erst recht, als er gleich noch Lindas Nummer in seinem Telefon auf die Sperrliste setzte. Dass Linda der Unterkiefer bis auf die Sandalen klappte, sah er nicht. Es hätte ihn auch nicht interessiert, dasses ihr nur mit Müh‘ und Not gelang, das Taxi anzuhalten, das bereits am Abfahren war.
„Was machen wir morgen Schönes?“, fragte Sams innere Stimme stattdessen. „Immerhin hast du eine ganze Woche Urlaub.“
„Mal schauen“, antwortete Sam laut, eine Seekarte aus der Schublade ziehend. In Gedanken fügte er hinzu: „Ich könnte ja da tauchen, wo es das Institut für zu gefährlich hält. Privat können sie es mir nicht verbieten.“
„War ja klar“, lachte das Bauchgefühl, seinen Tatendrang diesmal nicht bremsend. Es mischte sich auch nicht ein, als Sam bereits am ganz frühen Morgen seinen Rucksack mit Proviant bestückte, die komplette Tauchausrüstung an Bord seines kleinen Motorbootes brachte und wirklich blendend gelaunt in See stach.
Das Wetter hatte genau so gute Laune. Sam wäre aber auch losgefahren, wenn es Bindfäden geregnet hätte. Solange sich Wind und Wellen in vertretbaren Grenzen hielten, war ihm Nässe so ziemlich egal.
Nach einer halben Stunde erreichte er das Areal, das ihnen neulich bei der Arbeit durch unberechenbare Mikro Strömungen aufgefallen war, wie sie die für Sekunden auftretenden Strudelgenannt hatten. Sam setzte eine Boje und streifte den Tauchanzug über. Ein letzter Check der Pressluftflaschen und der Sicherheitsleine, ohne die er nie allein sein Boot verließ, dann rollte er sich rücklings ins Wasser. Auf dem ersten halben Meter Tiefe, gegen den Himmel betrachtet, hatte es diesmal sogar fast dessen Farbe, wie Sam überrascht feststellte.
„Heute kann nur ein affengeiler Tag werden“, huschte es durch seine Gedanken, als er sich an der Leine am ausgeworfenen Grundgewicht in die Tiefe gleiten ließ.
Mit Blick nach unten und den Seiten, war die Sicht nicht sonderlich berauschend, wie eben in der Ostsee üblich. Sam erreichte den mit Tang bewachsenen Grund, schaltete seine Lampe ein und begann, den Boden abzusuchen. Vielleicht hatte er ja das Quäntchen Glück, auf Teile des vermuteten Schiffswracks zu stoßen. Da erfasste ihn aus fast ruhigem Wasser von hinten ein Sog, der ihn beinahe zwei Meter mitriss.
„Beim Klabautermann!“, dachte Sam erschrocken, mit der Taschenlampe rundum ins Wasser leuchtend, das völlig friedlich wirkte.
Er schwamm auf die alte Position zurück, wo es ihn nach wenigen Wimpernschlägen wiederzurückriss. Sam konnte sich keinen Reim darauf machen. Es gab keine Felsen, Spalten, Risse oder andere Dinge, deretwegen sich hätten Strudel bilden können. Nicht einmal eine nennenswerte Strömung zeigte sein kleines Messgerät an.
„Irre. Völlig irre“, stellte Sam fest, sich, weil es das Bauchgefühl so verlangte, am neuen Standort dem Boden widmend. Eine Stelle war weniger dicht bewachsen, womit sie die Aufmerksamkeit des jungen Archäologen erregte. Er stocherte mit dem Klappspaten vorsichtig herum und stieß auf Widerstand. Ehe er herausfinden konnte, um was es sich dabei handelte, musste er auftauchen. Ein ziemlich großes Tier schwamm im trüben Blaugrün der Tiefe ausgesprochen nah vorüber. Für einen Schweinswal war es zu schlank.
„Bestimmt ein Seehund“, schoss es Sam durch den Kopf. Die verirrten sich zwar selten hierher, aber warum nicht gerade heute. Sam erreichte die kleine Leiter und kletterte an Bord. Er stellte die neue Pressluftflasche bereit, füllte mit dem Kompressor die leere Flasche wieder auf und notierte sich akribisch die Begebenheit mit den beiden Mikro Sogen, die er gefühlt hatte. Das Boot dümpelte träge auf dem ruhigen Wasser,weit, weit in der Ferne ging das Blau des Meeres nahtlos in das Azur des Himmels über, was Sam ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. Urlaub. Tun und lassen können, wie es ihm beliebte, ohne Boutiquen und Nobelrestaurants aufsuchen zu müssen. „Danke, liebes Schicksal!“, murmelte Sam.
Und weil sich heute alles gut anfühlte, war er wenig später wieder auf dem Weg in die Tiefe, um zu ergründen, was dem Spaten Widerstand geboten hatte. Das große Tier schien noch immer da zu sein, denn er glaubte, im Trüben einen Schatten gesehen zu haben.
„Es wird mich schon nicht auffressen“, dachte er belustigt und begann zu graben.
Nach wenigen Sekunden ließ er den Spaten achtlos fallen und griff mit klopfendem Herzen zur Taschenlampe, um im aufgewirbelten Boden überhaupt etwas zu erkennen. Das Fundstück war ein Eisenkessel von fast 30 Zentimetern Durchmesser, auf dessen Boden eine Handvoll Münzen lag. Dass ihn gerade wieder etwas streifte, was er an Land als Lufthauch bezeichnet hätte, registrierte er nur ganz tief im Unterbewusstsein. Blindlings tastete Sam nach dem Spaten,den er schließlich fast in Kniehöhe überm Boden am Bein spürte.
In Kniehöhe?
Sam wandte sich äußerst vorsichtig um, blickte in ein vergnügt grinsendes Gesicht und wurde im selben Moment von einem Sog umgerissen, den eine riesige, fast anderthalb Meter breite, Schwanzflosse erzeugte. Sich mehrmals überschlagend, sank er neben seinem entdeckten Schatz zwischen die Tangstängel, wo er mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken liegenblieb. Dann gingen ihm buchstäblich alle Lichter aus.
Als es wieder hell wurde, lag er völlig verkrümmt in seinem Boot, die Sauerstoffflasche auf dem Rücken, Maske, Mundstück, Spaten und die eingeschaltete Lampe neben sich. Und noch etwas entdeckte er – den umgekippten kleinen Kessel, inmitten eines ganzen Teppichs aus altrömischen Münzen, der auf den Planken verteilt lag. Im Wasser, direkt neben dem Boot plätscherte es merkwürdig. Ganz anders als Wellenschlag.
„Ein Leck?!“, war Sams erster Gedanke.
Er befreite sich ächzend von der schweren Pressluftflasche, lugte über die Bordwand undwäre beinahe wieder ohnmächtig geworden. Was da im Wasser trieb, gab es eigentlich nicht: Ein schlanker Frauenkörper, der in einem silbrig-blauen Fischschwanz endet. Und nicht etwa in einem künstlich angelegten! Riesige dunkelblaue Augen, schauten neugierig unter einer brünetten Mähne aus hüftlangem Haar hervor.
„Eine Nixe?! Oh, mein Gott! Ich habe Halluzinationen! Nein, ich will nicht in die Klapsmühle!“, stöhnte Sam, sich entsetzt an den Kopf fassend.
„Dann solltest du unser kleines Geheimnis ganz einfach gut bewahren“, tönte es aus dem Wasser.
„Du bist echt?“, stammelte er, endgültig an seiner geistigen Verfassung zweifelnd.
„Sieht so aus“, lachte die Fremde. „Wenn du mir ins Boot hilfst, können wir uns sogar vernünftig miteinander bekannt machen.“
Sam dirigierte, ziemlich konfus, die Fremde auf die andere Seite, wo die kleine Leiter hing. Er stieg die paar Sprossen hinab, die Schöne aus dem Meer legte ihm ihre Arme um den Nacken und er trug sie an Deck. Wo er sich mit ihr auf dem Schoß auf den Sitz am Steuerrad setzte.
Sie rückte sich etwas bequemer in Positur, deutete auf die verstreuten Münzen. „Eine kleine Wiedergutmachung, weil dich der Schreck fast getötet hätte, als ich mich zeigte. Du bist einer der ganz wenigen Menschen, die Besseres verdient haben, als ausgelöscht zu werden.“
Als er völlig verdattert die Augen aufriss, lachte sie: „Ich beobachte dich schon seit Monaten und lese deine Gedanken. Und die haben mich neugierig gemacht. Zudem brauche ich deine Hilfe. Ich möchte da, wo du den Topf gefunden hast, einfach in Ruhe gelassen werden. Wenn ihr den Tang zerstört, habe ich nichts mehr zu essen und muss mich mit anderen herumprügeln, um überleben zu können. Zwar esse ich so beinahe alles, was im Wasser zu finden ist, aber Tang lässt sich nun mal schneller erwischen als irgendwelches Getier. “
Sam musstegrinsen, wie locker sie diese Tatsache schilderte. „Meine Kollegen halten es eh für zu gefährlich, genau hier zu tauchen. Und ich werde sie darin bestärken“, blinzelte er. „Erst recht, weil ich jetzt ahne, dass du die vielen kleinen Strudel verursachst, die wir gemessen haben. Ich muss mir nur etwas ausdenken, wo ich den Topf sonst noch gefunden haben könnte.“
„Das zeige ich dir morgen. Du kommst doch morgen wieder?“, fragte die Nixe vorsichtig.
„Wenn du das wirklich möchtest, werde ich pünktlich hier sein“, versprach Sam lächelnd.
„Oh ja! Bitte! Ich verspreche auch, dich nie wieder zu erschrecken und dir nichts anderes Böses anzutun!“, rief sie sofort. „Ich heiße übrigens Wari.“
Er lächelte vergnügt: „Sehr angenehm, ich bin Sam. Versprochen, dass ich morgen wiederkomme!“ Dabei war ihm durchaus bewusst, dass sie ihn mit den unübersehbaren Reißzähnen im Kiefer und den messerscharfen Krallen an den Fingern in sekundenschnelle erlegen konnte.
„Ich bin froh, dass du dich nicht vor mir gruselst“, seufzte Wari, ihre Hände betrachtend.
„Gruseln? Ich finde dich faszinierend!“, rief Sam.
„Wirklich?“, staunte Wari, ihm ein warmherziges Lächeln schenkend. Sie wagte sogar, ihren Kopf an seine Schulter zu legen. „Das tut gut.“
„Das auch?“ Sam streichelte sanft ihren Rücken.
„Oh ja! Das auch.“
Als er zurückfuhr, begleitete ihn die Nixe noch ein Stück und schaute anschließend hinterher, bis er im Hausverschwand.
Sam spülte akribisch seine Tauchausrüstung, hängte sie zum Trocknen auf, erst dann widmete er sich kopfschüttelnd seinem Fund. Er fotografierte und vermaß den Kessel von allen Seiten, wobei er zwar die Fundzeit, nicht aber die Koordinaten vermerkte. Die hinterlegte er sich codiert in seinen persönlichen Notizen. Nun steckte er den Kessel ins Süßwasserbad.
Jetzt waren die Geldstücke an der Reihe, welche er in einer Fotoschale ins Wasser gelegt hatte. Eine zweite, mit einem festen Deckel verschließbare, Schale stand bereit, die katalogisierten Stücke aufzunehmen.
„Das gibt es doch nicht!“, flüsterte er, sich immer wieder völlig aufgewühlt an den Kopf fassend. Rund ein Drittel der Funde stammten aus der Zeit um zirka 100 nach Christus, als Trajan Kaiser gewesen war. Zwar waren es ausschließlich Silbermünzen, aber allesamt ungeheuer wertvoll. Und das eben nicht nur für Sammler.
Sam listete den Umfang seines Fundes mitsamt dem Geschenk Waris als Ganzes auf. Melden wollte er es am Montag, wenn er die Stelle kannte, wo er ihn offiziell gefunden haben sollte.
Wari. Das verträumte Lächeln hätte Sam nicht verhindern können, selbst wenn er sich noch so bemüht hätte. Er hatte Knall und Fall begriffen, dass der Zauber der Nixen kein bloßes Märchen war, genau wie diese selber. Es hatten sich ganz sicher Dutzende Männer ins Wasser gestürzt, um ihnen nah zu sein.
„Perfekt, wenn man Taucher ist“, grinste das Unterbewusstsein. Sam grinste mit.
Er freute sich wie wahnsinnig auf dem kommenden Tag. Jedes Mal, wenn er an einem Fenster vorbei kam, schaute er aufs Meer hinaus, als könne er Wari dort entdecken.
So war er auch schon am sehr frühen Morgen wieder putzmunter, bestückte seinen Rucksack mit Leckereien, von denen Linda stets hellauf begeistert gewesen war. In der Hoffnung, Wari mögen diese genau so gut schmecken. Er füllte auch zwei große Thermoskannen mit Kaffee. Dann schleppte er die Tauchausrüstung zum Boot, das heute nicht ein einziger Möwenklecks verunziert hatte.
„Danke“, wisperte er hocherfreut, ahnend, wer und was dahinter steckte.
Eine Viertelstunde später ging er bereits vor Anker. Etwas abseits der Tangwiese, um Waris Nahrungsgrundlage nicht zu schädigen. Wenige Augenblicke später plätscherte es auch schon am Heck.
„Guten Morgen!“, wünschte Sam mit erfreutem Lächeln, die kleine Leiter ins Wasser lassend, um Wari ins Boot zu tragen.
„Guten Morgen!“, strahlte sie ihn an. „Ach ist das schön, dass du schon da bist! Und lieben Dank für diesen Ankerplatz.“
Sam blinzelte vergnügt. „Ich werde mich doch nicht aus Sorglosigkeit unglücklich machen.“
Wari lachte herzlich und fragte mit Blick auf die gerade erst aufgehende Sonne: „Hast du überhaupt schon gefrühstückt?“
„Ein Häppchen. Ich habe aber was mit, das auch dir schmecken könnte.“ Er begann auszupacken.
„Oh, ich darf mitessen?“, staunte sie. „Was willst du dafür haben?“
Sam schaute sie irritiert an. „Aber sicher, darfst du das. Gemeinsam schmeckt es doch erst richtig gut“, erklärte er, Kaffee in zwei Becher füllend. „Du hast doch gestern auch nichts für den Schatz im Eisenkessel verlangt, obwohl der einen Menschen zu einem richtig reichen Mann machen könnte. Sei sehr vorsichtig, es ist noch ganz heiß“, fügte er besorgt hinzu, als sie nach dem Becher spähte.
„Du hast, reich machen könnte, gesagt“, stellte sie fest.
„Ich bin Wissenschaftler und kein Glücksritter“, erklärte Sam sehr ernst. „Diese Münzen sind so treffend genau das, was ich hier gesucht habe, dass mir gestern Abend fast schwindlig vor Glück war.“
„Hmm, ich hätte wohl gleich im Boot fragen sollen, welche genau“, seufzte Wari. „Ich habe doch glatt vergessen, dass Zeit für euch Menschen eine so große Rolle spielt.“
„Ich kann sie dir auf dem Handy zeigen“, erwiderte Sam, sofort ein paar Bilder aufrufend.
Wari begann zu kichern. „Aber das sind ja alles welche, die ich als Geschenk hinzugefügt hatte!“
„Kannst du mir sagen oder zeigen, wo du die gefunden hast?“
Wari schüttelte den Kopf. „Heute absolut unmöglich.“
„Oha!“ Sam kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Du gibst wirklich alle Münzen fort?“, fragte sie hintergründig.
Sam nickte. „Ja. Es steht mir nicht zu, sie zu behalten, nicht einmal die, welche du als Geschenk hinzugefügt hast. Vielleicht bekomme ich ja Finderlohn, weil ich sie in der Freizeit entdeckt habe.“
„Ich habe mich in dir nicht geirrt!“, strahlte Wari. Nun endlich ganz vorsichtig die fremdartigen Speisen testend. Dabei erzählte sie: „Ich habe sowas bisher nie getan, weil ich immerAngst hatte, vergiftet zu werden. Dir vertraue ich.“
„Oh, danke!“, strahlte Sam. „Das ist ja schon fast ein Ritterschlag.“
Wari schmunzelte. „Ritter habe ich seit vielen Sonnenumläufen nicht mehr gesehen. Gibt es die überhaupt noch? Bei euch ändert sich doch ständig alles.“
„Wie alt bist du?“, staunte Sam.
Wari hob die Schultern. „Das hat uns, vom Meervolk, nie interessiert. Zeit hat keine Bedeutung. Nicht mal das, was man bei euch Jahreszeiten nennt. Die Paarungszeit ist die einzige, die uns interessiert. Aber in Menschenleben gerechnet, bin ich wohl schon ziemlich ganz sehr uralt. Kannst du was damit anfangen, dass ich die Männer, die mit den besonderen Münzen Waren bezahlt haben, als Kind mit eigenen Augen gesehen habe?“
„Kann ich“, flüsterte Sam, staunend ihr zeitlos hübsches Gesicht betrachtend. Dann bestätigte er, dass es Ritter in Rüstungen, wie sie Wari kannte, schon seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gab. Natürlich erzählte er ihr auch von der Schweizer Garde des Vatikans und was diesen am Ende weitläufig mit den Trajansmünzen verband, nämlich Rom. Und auch, dass Trajan jener Herrscher war, unter dem das Römische Reich seine größte Ausdehnung erfahren hatte. „Ich wühle hier im Schlick des Meeresgrundes herum, weil ich an Hand von anfassbaren Funden beweisen möchte, dass die Handelsbeziehungen bis hierher reichten“, berichtete er. „Dank dir kann ich das sogar jetzt schon zu einem Teil.“
Wari lauschte staunend, schaute auf dem Display seines Smartphones Bilder an und ging kaum merklich immer enger auf Tuchfühlung. Es machte Spaß, ihm zuzuhören und vieles bestätigt zu bekommen, was sie selbst erlebt hatte, ohne die Tragweite für Menschen gekannt zu haben. „Ich glaube, ich muss mal kurz ins Wasser“, murmelte sie mit kratziger Stimme. „Ich war noch nie so lange auf dem Trockenen.“
Sam ließ sie vorsichtig aus seinen Armen ins Wasser gleiten. Wari blieb direkt neben dem Boot. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Ich bin schließlich alt genug, um wissen, dass Wasserwesen in der sengenden Sonne schnell austrocknen können. Dabei möchte ich so gern einmal richtig aufs Land, dein Häuschen von innen anschauen und mehr von deiner Weltkennenlernen.“ Wari streckte ihm die Hände entgegen. Wieder im Boot schmiegte sie sich fest an ihn.
„Wenn es wirklich dein Wunsch ist, und du mir auch dabei vertraust, werde ich für dich das Unmögliche möglich machen“, versprach Sam lächelnd.
„Wie?“, staunte Wari.