Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Immer wieder ärgert sich Lynn, weil sie zu feige ist, auf einen harmlosen Flirt einzugehen. Bis eines Tages ein gutaussehender Fremder an der Scaligerburg in Sirmione ihre Neugier weckt. Doch nicht nur die - Lynn stellt plötzlich fest, wie viel Spaß es machen kann, auch die geheimsten Wünsche auszusprechen und auszuleben. Dass ihn ein finsteres Geheimnis umgibt, merkt sie erst, als sie sich bereits Hals über Kopf in ihn verliebt hat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 155
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Geheime Wünsche
Gelebte Träume
Das Unwetter
Durch dick und dünn
Sex mit Hindernissen
Ein finsteres Geheimnis
Mit dem Gespür eines Seismografen
Schwerer Abschied auf Zeit
Als Lynn das erste Mal Nick begegnete, stand sie mit einem riesigen Schlumpfeis in der Hand an der steinernen Brüstung des Wassergrabens der Scaligerburg in Sirmione. Auf die frechen Möwen achtend, die es zur Perfektion trieben, Besuchern im Sturzflug das Essen aus der Hand zu stehlen, schaute sie den Schwänen und Blesshühnern zu, die sich auf den Wellen tummelten, welche die Motoren der Touristenboote erzeugten.
Sie hatte plötzlich einen Blick auf sich ruhen gefühlt und war im Aufschauen an einem Augenpaar hängen geblieben, welches wohl schon eine ganze Weile amüsiert beobachtete, wie sie selbstvergessen, aber sehr genüsslich, am Eis leckte. Lynn grinste ertappt, blinzelte vergnügt und wandte sich wieder den Wasservögeln zu, wobei sich ein Lächeln in ihren Mundwinkeln festsetzte.
Ja, es war ein schöner Tag. Der soeben eine winzige Spur Romantik erhalten hatte, die eigentlich gar nicht zu einer Burg passte, die als Waffenarsenal gedient hatte. Lynn runzelte die Stirn. Warum musste sie nur immer alles so nüchtern kalt betrachten?
Sie hob den Kopf, um noch einmal einen Blick zu riskieren. Der Unbekannte war verschwunden und im Moment dieser Erkenntnis auch Lynns Lächeln.
Vielleicht hätte ja ein Bummel am Ufer entlang daraus werden können, oder wenigstens ein paar nette Worte? Hätte ... wäre ... wenn ... Lynn hätte sich ohrfeigen mögen. Konnte sie nicht ein Mal wenigstens ihre sehnlichsten Wünsche kundtun? Was war schon dabei? Hätte ihr der Fremde eine abschlägige Antwort gegeben, wäre das Leben auch weitergegangen.
Hätte ... hätte ... hätte ...
Verdammte Feigheit!
Nicht einmal der Rest der Waffel schmeckte ihr mehr, vor lauter Wut auf sich selbst, und so warf sie das Stück einer vorüberfliegenden Möwe zu, welche es geschickt auffing. Lynn zog sich ans Ufer zurück, wo abertausende Muschelschalen im flachen Wasser lagen. Von den Wellen bewegt, funkelten sie geheimnisvoll im Sonnenlicht. Manches Meer hatte nicht solch eine Vielfalt zu bieten.
Sie setzte sich auf die Betonplatten, ließ die Beine baumeln und hielt das Gesicht in die Sonne. Nur wenige Spaziergänger nutzten um diese Tageszeit den Weg und hatten Platz genug, ihr auszuweichen. Sie schaute zu jener Stelle im See, wo die heißen Quellen entsprangen. Ein Touristenboot dümpelte auf den Wellen. Der Kapitän gab sicher gerade Erklärungen.
Sie wäre gern jetzt auch irgendwo da draußen gewesen. Auf einem Boot. Aber nicht als Massentouristin. Vielleicht bestand ja eine Chance, mit dem Eigner eines kleineren Bootes einen Deal zu machen? Lynns Gedanken drehten sich weiter. Der Fremde vom Burggraben wäre als Begleiter genau der Richtige gewesen. Groß, schlank, dunkles, welliges Haar ... über die Augenfarbe war sie sich nicht ganz schlüssig ... vermutlich blau-grau, obwohl sie dunkler wirkten. Gepflegter Schnurrbart. Und ein Lächeln, das unter die Haut ging. Im Abendrot mit dem Boot hinausfahren, irgendwo anhalten und eine Flasche Champagner trinken.
„Ja, ja, Hollywood lässt grüßen“, murmelte sie halblaut und wunderte sich, dass ihr die Spiegelbilder der Spaziergänger aus dem Wasser merkwürdige Blicke zuwarfen.
Ob er wohl länger hier war? Oder nur Tagestourist? Vielleicht wohnte er aber auch direkt auf der Landzunge? Fragen über Fragen, die sie sogar noch bis in die Abendstunden verfolgen sollten. Der gut aussehende Fremde ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Im Augenblick klopfte sie sich gerade den Hosenboden sauber, um ihren Weg am Ufer fortzusetzen. Sie war allein in den Urlaub gefahren, niemand wartete auf sie. In dem winzigen Zimmerchen unterm Dach, das sie direkt am See ergattert hatte, herrschte bei den Tagestemperaturen brütende Hitze, selbst wenn sie das Fenster offen ließ. Dahin werde sie erst zurückkehren, wenn die Sonne sank und sie irgendwo einen Happen zu Abend gegessen hätte. Ein Fläschchen Sekt als Schlummertrunk steckte im Rucksack. Beim Gedanken daran musste sie grinsen. Erst ganz groß von Champagner träumen und dann am Rotkäppchen aus einem Pappbecher nuckeln. Direkt aus der Flasche wäre es aber auch nicht stilvoller gewesen.
Lynn zuckte amüsiert mit den Schultern. Wer konnte schon wissen, was der Urlaub bereit hielt? Es war schließlich der erste Tag an diesem zauberhaften See.
Dass sie sich den hochpreisigen Urlaub in einem der Thermenhotels nicht leisten konnte, störte sie wenig. Sie hatte ja vor, den ganzen Tag in der Gegend herumzuwandern. Da reichte das winzige Kämmerchen zum Schlafen. Badbenutzung war zugesichert und unterlag festen Zeiten. Für die Morgenwäsche reichte das Waschbecken im Zimmer.
Sie entschied sich soeben, durch den Garten eines Hotels in die Altstadt zurückzuwandern, wo sie Öffnungszeiten und Preise der kleinen Cafés und Restaurants unter die Lupe nehmen wollte. Weil kein Verbotsschild für Hotelfremde zu sehen war, tat sie es auch. Durch die Scheiben des ersten Lokals erspähte sie nichts und niemanden, außer gelangweilt schauende Kellner.
Wenn’s andere meiden, tu ich’s auch, dachte sie. Wird schon Gründe haben.
Ihr entging aber nicht das großformatige Bild an der Wand. Es zeigte einen wundervollen Sonnenaufgang in zarten Pastellfarben. Lynn schaute sogar zwei Mal hin, weil sie die eigenartige Stimmung tief berührte. Fakt: Es passte nicht zur übrigen Ausstattung des Raumes.
Sie wanderte weiter, blätterte in den ausgelegten Speisekarten und kam zu der Überzeugung, man müsse den Einkaufspreis eines gesamten Tisches aufgeschlagen haben. Mehrmals stieß sie auf Bilder, die an das im ersten Lokal erinnerten, obwohl sie völlig andere Landschaften und Tageszeiten zeigten. Aus lauter Neugier trank sie schließlich in einem der kleinen Cafés einen Cappuccino, um das Kunstwerk ganz in Ruhe betrachten zu können.
„Das Bild ...“, wandte sie sich schließlich an den Ober.
„Ist ein Original von Feretti“, antwortete er fast ehrfürchtig.
„Ein Künstler von hier?“, fragte Lynn weiter, weil der gute Mann mit verklärtem Blick das etwa drei mal zwei Meter große Foto maß, welches perfekt die Nische zwischen zwei Säulen füllte.
„Ja, ja, ja. Von hier! Seeeehr bekannt. Überall. In ganz Italien.“
Aha, also deshalb in jedem Lokal, das etwas auf sich hielt. Ein Wettlauf um das größte Bild, die meisten Bilder oder wie auch immer. Aber die Arbeiten waren unbestritten sehr edel und berührend, wie Lynn erneut feststellte. Sie wirkten fast wie gemalt. Hier hatte man zwei große Pflanzengefäße so drapiert, dass die lebendigen Blätter dem Foto direkt zu entspringen schienen. Die perfekte Illusion eines Blickes von einer kleinen Terrasse.
Lynn suchte etwas Preiswertes in der Speisekarte. Worauf der Ober sofort erschien und erwartungsvoll schaute.
„Ich möchte gern heute Abend wiederkommen“, erklärte sie. „Muss ich reservieren oder wird sich ein Platz finden?“
„Ein Platz ist kein Problem“, erwiderte der Kellner im Brustton der Überzeugung.
Lynn zahlte, gab ordentlich Trinkgeld und nahm ihre Wanderung durch die mittelalterlichen Gässchen wieder auf. Nach fast zwei Stunden setzte sie sich ans Ufer und ließ die schmerzenden Füße ins Wasser hängen. Sie hatte es, wie immer, übertrieben. Die Altstadt lief nicht weg. Man musste ja nun wirklich nicht an einem Tag alles anschauen.
Der Strom der Tagestouristen ebbte langsam ab. Bus um Bus verließ den Parkplatz. Lynns Magen forderte lautstark feste Nahrung. Mit Eis und Cappuccino allein gab er sich nicht zufrieden. Sie schüttelte das Wasser ab und schlüpfte mit noch feuchten Füßen in die Trekking-Sandalen. Ein kurzes Überlegen, dann stand fest, dass sie sich nicht umziehen werde. Sie ging ja schließlich nicht zum Date. Also tigerte sie zielgerichtet zum Lokal ihrer Wahl, wie sie es amüsiert bezeichnete. Es war schon gut gefüllt. Sie fand gleich neben der Tür einen Tisch für zwei. Dafür aber mit bestem Blick auf das Bild, welchem sie es verdankte, wieder hier zu sein.
Der Ober vom Nachmittag hatte noch Dienst und begrüßte sie lächelnd mit: „Buonasera, signorina!“
Um den Geldbeutel zu schonen, bestellte Lynn eine große Flasche Wasser ohne Kohlensäure und Pasta mit Steinpilzen. Alle Gerichte wurden auch tatsächlich frisch zubereitet, wie sie durch den Türspalt sehen konnte, wenn der Ober Speisen aus der Küche holte. Das dauerte zwar, duftete und schmeckte aber vorzüglich. Die Wartezeit nutzte sie natürlich wieder, um das großformatige Foto akribisch zu betrachten. Blühende Kakteen und Palmen, zwischen denen eine tiefblaue Wasserfläche im Sonnenschein glitzerte, deren winzige Wellenkämme fast silbern wirkten. Erinnerungen stiegen auf. Langsam, einzelne Sequenzen ... Dann machte es buchstäblich „klick“. Genau an dieser Stelle, von wo aus das Bild entstanden war, hatte sie auch schon verweilt und mit ihrer Pocketkamera den Moment festgehalten.
„Das sind die Gärten von St. Martin in Monaco. Stimmt das?“, stellte sie fest, als sie zahlte.
Erstaunt musterte sie der Ober. „Ja, das ist richtig. Sie waren schon dort?“
„Ja, an genau der gleichen Stelle, und habe genau das gleiche Motiv aufgenommen. Nur bei mir war das Wasser glatt wie ein Spiegel und die Kakteen hatten mehr Blüten.“
Der gute Mann verstand zwar nicht alles, was sie sagte, aber, dass sie die Stelle kannte, beeindruckte ihn offensichtlich. Er fragte sogar beim Abschied nach, ob sie wiederkommen werde und er den Tisch reservieren solle. „Morgen um die gleiche Zeit“, blinzelte Lynn.
„Auch am Nachmittag auf einen Cappuccino?“
Sie schmunzelte. „Das weiß ich noch nicht.“
Dabei plante ihr Unterbewusstsein schon so, dass der „Cappu“, wie sie das Getränk kurz nannte, durchaus drin war.
Sie schlenderte durch die laue Nacht zu ihrem Urlaubsdomizil, betrachtete den samtschwarzen sternenübersäten Himmel und freute sich auf den nächsten Morgen. Die letzte Viertelstunde ihrer verbrieften Badbenutzungszeit nutzte sie zum Duschen, dann saß sie mit dem Sektfläschchen im Bett und begoss den wundervollen ersten Urlaubstag. Anschließend schlief sie wie ein Stein.
Mit den ersten Sonnenstrahlen war sie putzmunter. Körperpflege, Anziehen, die Wetter-App checken, geschahen fast automatisch, dann schaute sie sich die Landkarte mit den eingezeichneten Sehenswürdigkeiten der kleinen Landzunge an. Die Grotten des Catull erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte schon einiges über die Ausgrabungen an den Resten der riesigen Villa aus der Römerzeit gelesen. Tägliche Eintrittsgelder waren fest im Budget eingeplant, sodass sie sich wieder in Richtung der Altstadt aufmachte. Statt eines Croissants oder anderen Gebäcks zum Frühstück, wie sie es sich eigentlich vorgenommen hatte, hielt sie schon bald wieder ein Schlumpfeis in der Hand. Dessen Waffel ließ sie, um sich selbst zu beschwichtigen, durchaus als Backwerk gelten. Die Eiscreme fungierte als Aufstrich.
Und wieder lehnte sie an der Mauer am Hafen der Scaligerburg, leckte mit halb geschlossenen Augen an der blauen Köstlichkeit. Es musste auf die männlichen Betrachter wohl besonders sinnlich wirken, denn hin und wieder machte jemand eine anzügliche Bemerkung, die sie gar nicht auf sich bezog. Eine Fahrradklingel trieb den Pulk der ersten Bustouristen auseinander. Lynn schaute neugierig auf.
„Buongiorno!“, wünschte der Radfahrer, als er sie passierte und Lynn blieb fast das Herz stehen. Es war der Fremde vom Vortag.
„Buongiorno!“, rief sie hinterher.
Er schien es eilig zu haben, denn er klingelte, das äußere Tor passierend, schon wieder.
Lynn seufzte. Mit einem Fahrrad unterwegs zu sein, hieß noch lange nicht, hier zu wohnen. Möglicherweise machte er Urlaub auf einem der Campingplätze der Umgebung und holte morgens für eine ganze Schar das Frühstück.
Na mindestens, meldete sich ihr Unterbewusstsein sarkastisch. Man fährt ausgerechnet in die teure Altstadt, obwohl es Kaufhallen in der Nähe der Zeltplätze gibt. Lynn grinste breit. Wenn er sie sogar grüßte, hatte er sie im Gewimmel der Tagesgäste wirklich wahrgenommen. Die Chancen, ihn hier wiederzutreffen, schienen zu steigen.
Diesmal gingen die Möwen leer aus. Lynn steckte sich mit zufriedenem Gesicht den letzten Happen Waffel in den Mund. Sie taxierte die Menschenmassen und wanderte gemächlich zur Spitze der Halbinsel, um den Hinterlassenschaften der alten Römer ihre Aufwartung zu machen. Sie schmunzelte wegen der Doppeldeutigkeit des Wortes. Dann lief sie ausschließlich auf der rechten Seite der Gassen, weil sie den Rückweg auf der anderen Seite absolvieren wollte. Sie hasste es, wie ein Hase im Zickzack durch die Gegend zu springen. Auch so zweigte sie immer wieder zu den unzähligen Souvenirgeschäften ab. Schauen und Staunen kosteten nichts. Zudem war die Fülle des Angebots erdrückend und sie wollte sich in Ruhe einen ersten Überblick verschaffen. In einer Seitengasse gewahrte sie einen kleinen Laden, der sowohl Fotos als auch gemalte Bilder verkaufte, die denen in ihrem Lokal glichen.
„Alles von Feretti?“, staunte sie.
„Ja, denn der Laden gehört ihm“, bekam sie zur Antwort.
Lynn nickte verstehend. „Es sind herrlich Kunstwerke.“ Dabei wunderte sie sich, dass die Mittvierzigerin hinter der Kasse nicht mit der gleichen Inbrunst den Fotografen rühmte, wie der Ober im Lokal. Gerade hier wäre es doch angebracht gewesen, um den Verkauf zu fördern.
Lynn verließ das Geschäft recht schnell wieder, denn die Verkäuferin wirkte genervt. Zuerst hatte sie freundlich gegrüßt und war auf Lynn zugekommen. Doch zwei Schritte vor ihr hatte sich das Gesicht plötzlich verfinstert. Möglich, dass man sich hier nur mit jenen Kunden gern beschäftigte, die schon auf den ersten Blick nach dickem Geldbeutel aussahen. Dazu zählte Lynn nun wirklich nicht. Sich im Urlaub aufzudonnern, als gehöre sie zur Hautevolee, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
Der wahre Grund, warum die Verkäuferin so auf ihre Anwesenheit reagierte, übrigens auch nicht, der wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen.
So trat sie aus dem kühlen Halbdunkel des Ladens wieder in den grellen Sonnenschein der Gasse, um ihren Weg zu den Ausgrabungsfeldern fortzusetzen. Natürlich schaute sie noch einmal zum Schild des Ladens hinauf, das den Inhaber nicht verriet. Es war eine englisch-italienische Wortschöpfung, die nur auf einen Künstler hindeutete.
Lynn zuckte mit den Schultern und flanierte weiter. Unterwegs wurde sie von straff voranschreitenden Gruppen überholt, deren Unterhaltungen sie entnahm, dass nur anderthalb Stunden Zeit blieben, ehe sie wieder am Bus sein mussten. Lynn kannte das. Sie war auch schon mehrmals als Tagestouristin hier gewesen, die überall nur an der Oberfläche schnüffeln konnte, eben weil nicht genügend Zeit für tiefergehende Betrachtungen war. Genau deshalb war sie nun für fast zwei Wochen mit Flixbus angereist.
Am Eingang des archäologischen Bezirks löste sie ihr Wunschticket und begann den Rundgang mit dem Museum gleich rechter Hand. Die stille Kühle tat nach der Wanderung in der Sonne gut. Still deshalb, weil nur zwei andere Besucher den Weg hier hinein genommen hatten, die sich nun flüsternd über die Exponate austauschten.
Beim Anblick wundervoll mit Schiffen bemalter, glasierter Fliesen überlegte sie, dass Feretti auch in jener Zeit ein Star gewesen wäre. Sicher hätte jeder Imperator und alle, die sonst etwas auf sich hielten, ihre Wände oder Fußböden mit Bildern oder Mosaiken des Künstlers geschmückt. Sie nahm sich vor, beim nächsten freien WLAN-Hotspot über Feretti zu recherchieren.
Vorerst schwelgte sie in der Vorstellungswelt der alten Römer. Das Modell der Villa beeindruckte sie. Damals wie heute musste man über Macht, Geld oder sonstigen Einfluss verfügen, um an so exponierter Stelle einen Prunkbau errichten zu können. Es war heute wie damals ein grandioser Ausblick über den See.
Lynn berührte mit den Fingerspitzen eine Mauer am Wegesrand. Was mochten die waagerecht liegenden hellen Steinplatten schon alles gesehen haben? Freudenfeste? Dramen? Sicher von jedem etwas.
Beim Gedanken an Dramen teilte Lynns Magen lautstark mit, dass die Mittagsstunden bereits überschritten waren. Zeit für einen Cappuccino. Am besten da, wo sie wusste, dass er schmeckte. Also ab ins Gewirr der Gässchen und das Gewimmel der Touristen.
In ihrem auserkorenen Lieblingslokal gaben sich die Gäste die Klinke in die Hand. Sie war nahe daran, auf dem Absatz kehrtzumachen, als sie der Ober erspähte. „Ah, signorina! Prego! Ich habe einen Platz für Sie!“
Lynn musste schmunzeln. Sie trat ein und bedankte sich erfreut mit: „Grazie mille!“
Er führte sie zu einem Zweiertischchen, das man wohl nur als Insider finden konnte. Es lag versteckt in einer Nische, schräg gegenüber den Pflanzenkübeln und blieb komplett vor neugierigen Blicken verborgen.
Sie bestellte und bekam ihren Cappuccino. Diesmal war das beiliegende Gebäckstück auffallend groß. Der Kellner registrierte zwar Lynns erstauntes Gesicht, reagierte aber nicht darauf. Lächelnd stürzte er sich wieder in die Arbeit zwischen den Tischen. Lynn schüttelte kaum merklich den Kopf, nachdenklich Tasse und Teller betrachtend. Warum bekam sie Sonderbehandlung?
Nicht, dass ihr das nicht gefallen hätte – sie hätte nur zu gern den Grund gewusst. Die Welt war schon merkwürdig eingerichtet. Hier behandelte man sie wie eine VIP, im Kunstgeschäft hingegen schon fast als lästigen Störenfried.
Beim Abkassieren fragte der Kellner auch heute: „Werden Sie am Abend wiederkommen?“
„Ganz bestimmt!“, versprach Lynn.
Als sie schon die Klinke in der Hand hatte, fiel an einem der Tische ein Glas zu Boden und zerbarst mit einem Knall in tausend Scherben. Erschrocken drehte sie sich mitten im Gehen um und lief mit dem nächsten Schritt jemandem genau in die Arme. Beide gerieten ins Wanken und Lynn stammelte, tomatenrot anlaufend: „Per favore, perdona!“ Verzeihung, bitte.
„Prego!“, lachte der Fremde, sie noch einen Augenblick festhaltend, als wolle er sicher sein, dass sie nicht stürzte.
Nach einem Blick in sein Gesicht war Lynn erst recht kurz davor, weil die Knie weich wurden – es war der gut aussehende Fahrradfahrer vom Hafen. Sie lächelte verstört und machte, dass sie fortkam. Wie peinlich, ihn fast über den Haufen gerannt zu haben! Nun werde er sie sicher für die größte Idiotin auf Erden halten! Aus den Augenwinkeln gewahrte sie noch, wie ihr heimlicher Schwarm dem Ober freundschaftlich auf die Schulter klopfte und genau jenen Tisch ansteuerte, den sie soeben verlassen hatte.
Sie wanderte in ihrer Verzweiflung zum Plattenweg hinüber, ließ die Beine baumeln und schaute zu, wie in den auslaufenden Wellen am Ufer die Muschelschalen durcheinandergewirbelt wurden. So ähnlich fühlte es sich in ihrem Kopf an. Chaos. Von Kräften verursacht, denen sie nichts entgegenzusetzen hatte.
Wieder blieb sie sitzen, bis der Trubel in der Altstadt abebbte. Das Unterbewusstsein schlug für den nächsten Tag vor, mit dem Schiff den See zu überqueren und da auf Entdeckungstour zu gehen. Lynn ignorierte es. Etwas anderes brachte sich auf ziemlich perfide Art ins Gedächtnis – ganz Schwärme von Mücken, die mit einem Mal wie eine Wolke aus dem Schilf auftauchten. Um sich schlagend ergriff Lynn die Flucht vor den blutsaugenden Quälgeistern. Fast im Laufschritt eilte sie am Ufer entlang, bis endlich die erste Querung in die Gassen auftauchte. Gerade noch mal Glück gehabt! Drei Stiche. Es hätte erheblich schlimmer kommen können.
In dem kleinen Lokal erwartete man sie schon mit einem Platz am Tisch in der Nische. Sie bestellte Meeresfrüchte und wunderte sich, dass ein Teller mit Beilagen kam, die so nicht auf der Karte standen. Sie schaute sogar noch einmal nach. Der Kellner schmunzelte, als sie ihn prüfend ansah. Dann brachte er plötzlich ein Viertel Weißwein und diesmal fragte Lynn nach, wer das für sie geordert habe.