Milarepa - Herr der Yogis - Sequoyah Verlag - Edition Mandarava - E-Book

Milarepa - Herr der Yogis E-Book

Sequoyah Verlag - Edition Mandarava

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Beschreibung

Das Leben von Jetsün Milarepa.
Die bewegende Lebensgeschichte von Tibet’s berühmtestem Yogi und tantrischen Meister aus dem 11. Jahrhundert. Er war Praktikant des „inneren Feuers“ und Vorvater einer großen buddhistischen Übertragungslinie Tibets (Kagyü) und ist bekannt für seine „hunderttausend“ spontanen Erleuchtungsgesänge, die Macht seiner Hingabe, sein allumfassendes Mitgefühl und die Tiefe seiner Verwirklichung. Dies ist die erste deutsche Übersetzung direkt aus dem Tibetischen.

„Die Lehren der geflüsterten Übertragungs-Linie sind der warme Atem der Dakini“
Milarepa

Kaum eine Lebensgeschichte eines großen Meisters und Yogis ist inspirierender als jene von Jetsün Milarepa, der angesichts unvorstellbarer Schwierigkeiten am Ende doch zur Befreiung gelangte. Bodhiraja, einer seiner Hauptschüler, zeigt sich von Milarepas Qualitäten und unglaubliche Hingabebereitschaft in seiner Praxis so beeindruckt, dass er fest daran glaubt, dieser sei kein Mensch, sondern bereits von Geburt an ein Buddha oder höherer Bodhisattva. Darauf angesprochen, entgegnet Milarepa: „….. es gibt keine hinderliche Einstellung und keine schlimmere Art, den Dharma misszuverstehen. Eine solche eingeengte Sicht macht es Dir unmöglich zu akzeptieren, dass ein gewöhnlicher Mensch wie ich, nachdem er in seiner Jugend schlimme Verbrechen beging, durch den Glauben an das Gesetz von Ursache und Wirkung das Interesse an den Belangen dieser Welt aufgeben und auf dem unbeirrten Weg unabgelenkter Meditation Erleuchtung erlangen kann.“
Milarepa macht damit deutlich, dass ein Jeder von uns in seinem jetzigen Leben Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich wie tief er in den Kreislauf der Existenzen verstrickt ist, weil die Unterweisungen und Praktiken des Vajrayana ein unvorstellbares Kräftepotential besitzen. Voraussetzung ist nur ein angemessenes Bemühen, die richtige Einstellung und Motivation.

In dem von Milarepa hinterlassenen Vermächtnisbrief heißt es: „Die früheren Buddhas prophezeihten, dass ein jedes Wesen, das Hingabe verspürt, wenn es nur einmal meinen Namen hört, für die nächsten sieben Lebenszeiten nicht in niederen Bereichen wiedergeboren wird und sich überdies an die Lebenszeiten wir erinnern können.“

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Seitenzahl: 477

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Milarepa – Herr der Yogis

Die bewegende Lebensgeschichte von Tibet’s berühmtestem Yogi und tantrischen Meister aus dem 11. Jahrhundert. Er war Praktikant des „inneren Feuers“ und Vorvater einer großen buddhistischen Übertragungslinie Tibets (Kagyü) und ist bekannt für seine „hunderttausend“ spontanen Erleuchtungsgesänge, die Macht seiner Hingabe, sein allumfassendes Mitgefühl und die Tiefe seiner Verwirklichung. Dies ist die erste deutsche Übersetzung direkt aus dem Tibetischen.

„Die Lehren der geflüsterten Übertragungs-Linie sind der warme Atem der Dakini“

Milarepa

Kaum eine Lebensgeschichte eines großen Meisters und Yogis ist inspirierender  als jene von Jetsün Milarepa, der angesichts unvorstellbarer Schwierigkeiten am Ende doch zur Befreiung gelangte. Bodhiraja, einer seiner Hauptschüler, zeigt sich von Milarepas Qualitäten und unglaubliche Hingabebereitschaft in seiner Praxis so beeindruckt, dass er fest daran glaubt, dieser sei kein Mensch, sondern bereits von Geburt an ein Buddha oder höherer Bodhisattva. Darauf angesprochen, entgegnet Milarepa: „….. es gibt keine hinderliche Einstellung und keine schlimmere Art, den Dharma misszuverstehen. Eine solche eingeengte Sicht macht es Dir unmöglich zu akzeptieren, dass ein gewöhnlicher Mensch wie ich, nachdem er in seiner Jugend schlimme Verbrechen beging, durch den Glauben an das Gesetz von Ursache und Wirkung das Interesse an den Belangen dieser Welt aufgeben und auf dem unbeirrten Weg unabgelenkter Meditation Erleuchtung erlangen kann.“

Milarepa macht damit deutlich, dass ein Jeder von uns in seinem jetzigen Leben Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich wie tief er in den Kreislauf der Existenzen verstrickt ist, weil die Unterweisungen und Praktiken des Vajrayana ein unvorstellbares Kräftepotential besitzen. Voraussetzung ist nur ein angemessenes Bemühen, die richtige Einstellung und Motivation.

Milarepahat nicht bloß mit den Zehenspitzen das Wasser berührt und dem buddhistischen Dharma mit gravitätischem Kopfnicken gnädig seinen Beifall gezollt, er hat auch nicht in der Sicherheit seichter Gewässer herumgespielt, sondern ist kopfüber in den Ozean der Lehre gesprungen und hat sich seinem Weg mit ganzem Herzen verschrieben.

Die Lebensgeschichte Milarepas will diese Einstellung und Bereitschaft in uns wecken. Wir brauchen nicht zu befürchten, dass die Befreiung jenseits unserer Fähigkeiten liegt, dass unsere Lebensumstände dafür ungeeignet sind oder dass wir nicht die Kraft für die notwendige Anstrengung haben. Anstatt uns mit solchen Erwägungen aufzuhalten, sollten wir besser unsere Einstellung ändern unf uns ohne Zweifel und Vorbehalte in unseren Übungweg stürzen. Unsere Lebenssituation und unser Zeitalter mögen anders aussehen, im wesentlichen jedoch sind wir mit denselben Problemen und Emotionen konfrontiert, wird unser Geist von denselben Plagen heimgesucht wie alle großen Yogis der Vergangenheit vor uns.

Edward Henning

Aus dem Buch „Verrückte Weisheit“

Edition Mandarava

Milarepas Lied vom galoppierenden Pferd des Yogi

„Ich verneige mich zu Füßen Marpas,

meinem gütigen Vater!

Im Bergtempel, der mein Körper ist,

im Schreinraum in meiner Brust,

auf der Spitze des Dreiecks in meinem Herzen,

fliegt wie der Wind dahin

mein Geist – der edle Hengst.

Um ihn einzufangen, nehme ich das Lasso der Nicht-Zweiheit.

Um ihn zu halten, werde ich ihn an den Pflock der meditativen Versenkung binden.

Wenn er hungrig ist, will ich ihn mit den Unterweisungen meines Lamas füttern.

Ist er durstig geworden, will ich ihn am Strom der Achtsamkeit tränken.

Ist ihm kalt, werde ich ihn in den Stall der Leerheit führen.

Ich will ihn mit Sattel und Zaumzeug von Methode und Weisheit rüsten.

Ich werde ihm den Scherriemen unerschütterlicher Festigkeit anlegen.

Und als Zügel soll die Kontrolle des Lebenswindes dienen.

Der Hengst stürmt im Galopp durch die Ebene der großen Beseligung dem Ziel nach, auf zur Buddhaschaft.

Von dort stürmt er herab, um Samsaras Wurzel durchzuschneiden – und wieder hinauf, um endlich ins Land der Erleuchtung zu gelangen.

Auf einem solchen Pferd galoppierend erlangt man Buddhaschaft.

Seht selbst, ob sich Euer Glück mit diesem vergleichen lässt.

Herr der Yogis

Das Leben von Jetsün Milarepa

Eine neue Übersetzung aus dem

Tibetischen von Thomas Roth

Edition Mandarava

im Sequoyah Verlag

„Verlagshaus zum Wohle aller fühlenden Wesen“

Kalligraphie von S.H. dem XVII. Karmapa Urgyen Trinley Dorje

Die Acht Arten von Meisterschaft

Ein Vajra-Lied von Milarepa

Erscheinungen und Leerheit nicht zu trennen,

Dies ist Sichtweise, wie sie nur gemeistert werden kann.

Träume und Tag nicht als verschieden zu betrachten,

Dies ist Meditation, wie sie nur sein kann.

Wonne und Leerheit nicht zu unterscheiden,

Dies ist Verhalten, wie es gemeistert nur sein kann.

Das Hier und das Leben danach sind nicht unterschieden zu sehen

Dies ist ihre Natur, wie sie nur gemeistert werden kann.

Geist und Raum nicht als verschieden zu betrachten,

Dies ist Dharmakaya, wie es nur sein kann.

Wenn Vergnügen und Schmerz nicht zwei Verschiedene sind,

Dies ist Anweisung, wie sie nur gemeistert werden kann.

Not und Plage und Leiden als nichts von Weisheit Verschiedenes zu sehen,

Dies ist Verwirklichung so vollendet wie sie nur sein kann.

Deinen Geist und Buddha nicht als verschieden zu sehen,

Edition Mandarava

im Sequoyah-Verlag

Blättertal 9, A-2770 Gutenstein

0043-(0)2634-7417

[email protected]

www.sequoyah-verlag.at/Edition--Mandarava

Visuelle Gestaltung: Elisabeth Poller-Frischengruber

Lektorat: Sylvester Lohninger

eBook-Gestaltung: Martin Hantsch

Bildnachweis:

Alle Bilder von den Milarepa-Höhlen und vom Lapchi Gangra und dessen Umgebung

stammen von Thomas Roth. Herzlichsten Dank dafür.

Mit freundlicher Genehmigung von Joss Bachhofer sind einige Abbildungen von

Thanka-Ausschnitten abgebildet, die Ereignisse aus Milarepas Leben wiedergeben

und ursprünglich in „Verrückte Weisheit – Leben und Lehre Milarepas“ 1986

erschienen sind. Ebenfalls herzlichen Dank.

Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechteinhaber der verwendeten Bilder festzustellen,

was bei einer Reihe von Abbildungen nicht möglich war. Die Rechteinhaber mögen

sich melden und die Bildrechte werden auf Wunsch im üblichen Maß abgegolten.

© der deutschen Ausgabe: 2006 Sequoyah-Verlag

© eBook der deutschen Ausgabe: 2014 Sequoyah-Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Vorwort des Übersetzers.13

Einleitung.15

Die Geschichte.19

Teil Eins.24

Kapitel Eins - Milas Geburt25

Kapitel Zwei - Das Leid der frühen Jahre.32

Kapitel Drei - Die Zerstörung seiner Feinde.37

Teil Zwei48

Kapitel Eins - Auf der Suche nach dem Dharma.49

Kapitel Zwei - Prüfungen.55

Kapitel Drei - Ermächtigung und Unterweisung.72

Kapitel Vier - Der Beginn der Meditation.76

Kapitel Fünf - Meisterschaft und Abschied von Marpa.87

Kapitel Sechs - Entscheidung zu Praktizieren.98

Kapitel Sieben - Entsagung in der Bergeinsamkeit104

Kapitel Acht - Praxis zum Wohle Anderer.135

Kapitel Neun - Nirvana.141

Abschließende Bemerkungen.178

Kolophon.180

Nachwort182

Anhang – Milarepas Nachfolge: Die Kagyü-Schulen.184

Bilderteil191

Glossar.242

Fußnoten.255

 

Vorwort des Übersetzers

Lange Jahre trug ich mich mit dem Gedanken, eine deutsche Übersetzung der Lebensgeschichte des wohl berühmtesten aller tibetischen Yogis, Jetsün[1]Milarepa (1040-1123), anzufertigen. Ebenso lange Jahre schreckte ich vor der schieren Größe dieses Projektes zurück, denn ich wollte nicht einfach eine Übersetzung der vorliegenden englischen Versionen vorlegen, sondern diesen Text direkt aus dem Tibetischen ins Deutsche übertragen, was meines Wissens bisher noch nie getan wurde. Die „Größe dieses Projektes“ liegt dabei weniger in der Seitenzahl oder Stärke des Originals begründet, sondern eher darin, eine sowohl leserliche als auch akkurate Übersetzung vorzulegen. Drei, bzw. vier meiner Vorgänger haben sich bereits um diese Arbeit verdient gemacht. Jaques Bacot, der bereits 1925 die wohl erste Übersetzung in eine westliche Sprache überhaupt vorlegte, „La Poete Tibetain Milarepa“, 1971 nachgedruckt als„Milarepa: Ses mefaits, Ses epreuves, Son illumination“; Kazi Dawa-Samdup und W.Y. Evans-Wentz, die 1928 mit einer englischen Version folgten, „Tibet‘s Great Yogi Milarepa“, eine Adaption dieser Übersetzung erschien 1965 in London; und Lobsang P. Lhalungpas englische Neuübersetzung „The Life of Milarepa“ von 1984. Trotz einiger Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten, welche die ersten beiden Übersetzungen enthalten, muss ich den Hut vor diesen frühen Übersetzern ziehen, denn es ist ihnen trotz allem gelungen, den Geist der Biographie Milarepas einzufangen und Werke von fast ebenso poetischer Tiefe und Schönheit abzuliefern, wie sie das tibetische Original enthält. Ich habe mich oft gefragt, wie Bacot und Samdup/Wentz überhaupt soweit kommen konnten, ohne die Tibetischen Wörterbücher, Lexika und Geschichtsbücher, die uns heute zur Verfügung stehen. Zwei weitere Werke, die sich mit dem Leben von Milarepa beschäftigen, sind der Beschreibung von traditionellen tibetischen Rollbildern gewidmet, Thangkas genannt, die das Leben dieses beispiellosen Meisters illustrieren. Sie wurden 1952 von Toni Schmid und 1986 von Edward Henning verfasst.[2]

 

Von diesen drei erstgenannten war es die englische Übersetzung von Dawa-Samdup und Evans-Wentz, die vor vielen Jahren, 1971, ins Deutsche übertragen wurde. Warum nun, so mag man sich fragen, eine neue Übersetzung? Nun, zum einen wurden Bacots und Evans-Wentzs Übersetzungen zu einer Zeit angefertigt, da die Lehren des sogenannten Vajrayana-Buddhismus im Westen noch nahezu unbekannt waren. Die ihm eigene Terminologie war den damaligen Übersetzern nicht geläufig, und viele Textstellen in Milarepas Biographie wurden zwangsläufig nicht immer ganz korrekt verstanden oder zumindest mitunter falsch interpretiert. Seit nunmehr über 30 Jahren haben viele tibetische Meister, insbesondere aus der Kagyü-Tradition des Jetsün Milarepa selbst, den Westen bereist und die Lehren und Unterweisungen des Buddhismus zu uns gebracht. Deswegen sind wir heutzutage in der glücklichen Lage, auf das Wissen und die Hilfe authentischer tibetischer Meister zugreifen zu können und so viele Schwierigkeiten bei der Übersetzungsarbeit relativ schnell und einfach aus dem Weg zu räumen. Besonders die Übersetzung von Lobsang P. Lhalungpa muss hier nochmals Erwähnung finden, denn wohl kaum jemandem ist es gelungen, die oft obskuren umgangssprachlichen Redewendungen des Tibetischen des 12. Jahrhunderts, die der Text enthält, so gut und treffend in die „moderne Sprache“ unserer Zeit zu übertragen. Kaum jemand kann hoffen, ihn dort zu übertreffen, und ich habe mich bei solchen Textstellen oft an seiner Übersetzung orientiert.

 

Zum anderen hat mich dieser Text selbst seit über 25 Jahren immer wieder derart fasziniert und inspiriert, dass es mir einfach ein persönliches Bedürfnis war, eine neue Übersetzung anzufertigen. Oft wurde und wird Milarepa nach wie vor als ein Beispiel für einen Praktizierenden herangezogen, der das Ideal des Vajrayana-Buddhismus verkörpert: ein Praktizierender, der die vollständige Befreiung oder Erleuchtung in einem Leben erlangt hat. Und schließlich hat es mich gereizt, diesen Text erstmals direkt aus dem Tibetischen ins Deutsche zu übertragen. Oft verliert sich der ursprüngliche Sinn und Charme des Originals, wenn man es aus einer dritten Sprache übersetzt. Daher habe ich mich nach Kräften bemüht, so nahe wie möglich am Originaltext zu bleiben und auch den mitunter etwas rustikalen Sprachgebrauch beizubehalten, anstatt möglichst elegante oder gekünstelte Redewendungen zu finden. Ich hoffe, es ist mir wenigstens anflugsweise gelungen.

 

Die tibetischen Ausgaben, die mir bei meiner Arbeit zur Verfügung standen, sind ein Blockdruck aus Manali/Indien mit dem Titel„rnal ‘byor gyi dbang phyug dam pa rje btsun mi la ras pa‘i rnam thar thar pa dang thams cad mkhyen pa‘i lam ston“und eine weitere Version desselben Textes, zusammen mit dem„rje btsun mi la ras pa‘i rnam thar rgyas par phye ba mgur ‘bum“, den sogenannten „Hunderttausend Gesängen des Milarepa“, die ich vor Jahren in einem tibetischen Buchladen in Boudhanath in Kathmandu/Nepal erstand, sowie eine vor einigen Jahren in Nangchen/Osttibet herausgegebene Neuauflage des ersten Textes. Eine weitere Ausgabe, die mir erst kürzlich zukam, trägt den Titel„rnal ‘byor gyi dbang phyug chen po mi la ras pa‘i rnam mgur“. Sie wurde in Amdo in Nordosttibet herausgegeben. Auch in Tibet erfreut sich die Biographie dieses ,Herrn der Yogis‘ nach wie vor größter Beliebtheit.

 

Darüber hinaus habe ich die Geschichtswerke„chos byung mkhas pa’i da‘ ston“vom zweiten Pawo Rinpoche, Tsuglag Threngwa (dpa‘ bo gtsug lag phreng ba, 1504-1566) und„bka‘ brgyud gser phreng“vom achten Situ Rinpoche, Chökyi Jungne (si tu chos kyi ‘byung gnas,1700-1774) sowie„deb ther sngon po“von Gö Lotsawa Shönu Pal (‘gos lo tsa ba gzhon nu dpal,1392-1481) zu Rate gezogen. Alle drei Werke enthalten diverse Kurzbiographien der frühen Kagyü-Meister.

 

All diese verschiedenen Ausgaben der Biographie Milarepas stimmen im Großen und Ganzen miteinander überein. Vor- und Nachworte unterscheiden sich mitunter, und hier und da gibt es einige orthographische Unterschiede. Der Inhalt ist aber zu 95 % identisch. Lediglich die abschließenden Bemerkungen unterscheiden sich von Ausgabe zu Ausgabe ein wenig.

 

Obwohl es seit einigen Jahren fast schon üblich ist, manche Namen und Fachtermini in westlichen Übersetzungen ins Sanskrit zurück zu übertragen, habe ich in diesem Fall – bis auf einige wenige Stellen – ganz explizit davon abgesehen. Dieser Text wurde nicht in Indien verfasst, sondern in Tibet. Er wurde nicht in Sanskrit, sondern in Tibetisch geschrieben. Ich hoffe, damit ein kleines bisschen an Authentizität beibehalten zu haben. Wo es mir nötig erschien, habe ich ergänzende Worte in Klammern eingefügt. Auch alle Fußnoten, sowie Anhang und Glossar stammen von mir.

 

Thomas Roth (Sherab Drime), Kathmandu 2005

Einleitung

Diese Biographie von Jetsün Milarepa wurde von einem tibetischen Meister namens Tsang Nyön Heruka (gtsang smyon he ru ka,1452-1507)[3] Jahrhunderte nach Milarepas Tod verfasst und erstmals 1488 in Latö (la stod lho shel phug) herausgegeben. Bis dahin wurden die vielen Geschichten, die sich um sein Leben ranken, und seine berühmten spirituellen Gesänge ausschließlich mündlich überliefert. Aus Tsang Nyön‘s eigener Biographie ersehen wir, dass es ihm ein Anliegen war, diese spezielle Version des Lebens von Milarepa, die bis dahin ausschließlich mündlich überliefert wurde und im Begriff war, in Vergessenheit zu geraten, zu Papier zu bringen, um sie so für die Nachwelt zu erhalten. Ihm verdanken wir es also, dass diese Geschichten und Gesänge nicht im Dunkel der Jahrhunderte verloren gingen, sondern uns auch heute immer noch zugänglich sind und uns so gestatten, uns auf relativ einfache Art und Weise mit den Lehren und Ideen des Buddhismus vertraut zu machen. Darüber hinaus mag das Beispiel Milarepas den einen oder anderen zum Nacheifern inspirieren, so wie es Generationen tibetischer Praktizierender inspiriert hat und es nach wie vor tut.

 

Es liegt auf der Hand, dass in der heutigen Zeit und Gesellschaft, gleich ob man im Westen oder im Osten lebt, wohl kaum noch jemand in der Lage sein wird, wie Milarepa alles hinter sich zu lassen und den Rest seines Lebens meditierend in einsamen Höhlen zu verbringen. Aber das ist auch nicht der Punkt. Was uns diese beispiellose Biographie vermitteln will ist, dass es für ausnahmslos jedermann möglich ist, den Pfad, der zur Befreiung aus dem Kreislauf der Existenzen führt, zu beschreiten. Das Beispiel Milarepas zeigt uns, wie selbst jemand, der größte Negativität auf sich geladen und schlimmste Verbrechen begangen hat, diesen Pfad erfolgreich bewandern und zur vollen Reifung bringen kann. Dazu ist es allerdings auch notwendig, wenigstens ein Mindestmaß an buddhistischen Grundlagen zu studieren und den stufenweisen Weg der Praxis, mit seinen herkömmlichen und außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen, den Praktiken der diversen Yidam[4]-Gottheiten und den damit einhergehenden Übungen der Entstehungs- und Vollendungsprozesse etc., zu beschreiten. Einzig und allein auf einer solchen Grundlage kann weiterführende Praxis erfolgreich sein. Die heutzutage, besonders im Westen grassierenden Ideen und fadenscheinigen Begründungen, warum man sich diese Übungen sparen könne, sind nichts weiter als falsche Ansichten, die auf der Unkenntnis grundlegender Punkte basieren. Wie man im ersten Kapitel des zweiten Teils der Biographie nachlesen kann, gab sich auch Milarepa kurzzeitig solchen Ideen hin, sah aber schnell ein, dass es auf solche Art und Weise keinen Erfolg oder Fortschritt geben kann.

 

Milarepa verlor seinen Vater früh und fiel mit seiner Mutter und Schwester in die raffgierigen Hände eines Onkels und dessen Frau, die die Familie wie Leibeigene behandelten und sie systematisch ihres nicht unbeträchtlichen Reichtums beraubten. Verbittert über dieses schwere Los, trug ihm seine Mutter auf fortzugehen und Schwarze Magie zu erlernen, um sich so an den verräterischen Verwandten zu rächen. Er tat, wie ihm geheißen wurde und praktizierte die erlernte Magie mit verheerendem Erfolg. Gleich fünfunddreißig Mitgliedern der Familie wurden seine Verwünschungen gleichzeitig zum Verhängnis. Schließlich erkannte Milarepa die Tragweite seines Tuns und wurde von tiefster Reue erfasst. In diesem Augenblick wurde der Wunsch in ihm geboren, den wahren Dharma zu finden und zu praktizieren und er begab sich auf die Suche nach einem authentischen Meister. Wie wir sehen werden, musste er sich zahlreichen Prüfungen und großen Härten unterziehen, bis er schließlich die ersehnten Lehren und Unterweisungen erhielt. Aber er gab nicht auf und wurde schließlich zu dem, als den wir ihn kennen, einem ,Herrn der Yogis‘.

 

Es ist also wichtig zu verstehen, dass Milarepa sich nicht nur der Möglichkeiten, die sich ihm boten, versicherte und sich dann wohlwollend nickend zurücklehnte, wie es sowohl zu seiner Zeit als auch heutzutage nur all zu viele sogenannte Praktizierende tun. Er stürzte sich stattdessen Hals über Kopf in die „Materie“ hinein, wohlwissend, dass nur das tatsächliche Praktizieren dieser Lehren zum Erfolg führen kann.

 

Ein weiterer wichtiger Punkt, der dem Leser vermittelt werden soll, ist die Effizienz der Lehren und Praktiken des Vajrayana. Egal wie tief der Einzelne in die Wirrnisse von Samsara verstrickt sein mag, er oder sie kann sich daraus befreien. Einzig und allein unser starker Wunsch, dies zu tun, willens zu sein, die eine oder andere Annehmlichkeit aufzugeben und eventuell einige Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, und letztendlich unser Durchhaltevermögen sind ausschlaggebend.

 

Die Ideen und Unterweisungen, die sich in dieser Biographie finden, sind also keineswegs nur das Gedankengut einer längst vergangenen Epoche, sondern nach wie vor lebendig und anwendbar. Tatsächlich ist die Tradition oder Schule Milarepas, begründet von seinem Meister „Marpa Lotsawa[5], dem Übersetzer“ (mar pa lo tsa ba chos kyi blo gros,1012-1097), nämlich die Kagyü-Tradition des Tibetischen Buddhismus, weiterhin sehr lebendig und wird von den Nachfolgern dieser beiden Meister bis zum heutigen Tag aufrechterhalten und fortgeführt.

 

Diese Tradition oder Schule nahm ihren Anfang im alten Indien mit den Meistern Tilopa (ti lo pa,988-1069) und Naropa (na ro pa,1016-1100). Marpa, weder Mühen noch Kosten oder Gefahren scheuend, reiste dreimal nach Nepal und Indien um die kostbaren mündlichen Unterweisungen von Naropa und anderen Meistern wie Maitripa, Kukuripa etc. zu erhalten und brachte diese nach Tibet zurück, wo er sie ins Tibetische übersetzte und an seine Schüler weitergab. Unter seinen vier Hauptschülern[6]war Milarepa derjenige, der dazu bestimmt war, diese Lehren nach ihrer Meisterung an seine eigenen Schüler weiterzugeben. Die beiden wichtigsten Schüler Milarepas waren der berühmte Gampopa[7](sgam po pa,1079-1153) und der weniger bekannte Rechung Dorje Dragpa (ras chung rdo rje grags pa,1084-1161) oder kurz Rechungpa[8]. Rechungpa finden wir in der vorliegenden Biographie wieder als denjenigen, der Jetsün Milarepa immer wieder bittet, doch weitere Geschichten aus seinem Leben zum Besten zu geben, zur Erbauung und Inspiration seiner Zuhörer. Gampopa, anders als Milarepa und Rechungpa, war ein ordinierter Mönch und begründete eine heute noch starke klösterliche Tradition, die es ermöglichte, die Linie und Lehren der Kagyü-Schule bis auf den heutigen Tag lebendig zu erhalten. Seine Schüler – und wiederum deren Schüler – wurden so zu den Begründern der sogenannten „Vier Großen und Acht Kleinen Kagyü-Linien“.[9]

 

Rechungpa und seine Schüler folgten eher dem Beispiel Milarepas und zogen als nicht sesshafte Yogis durch Tibet und die Grenzregionen von Nepal, Bhutan und Ladakh und meditierten in einsamen Wäldern oder menschenleeren Bergeinöden und Höhlen. Dies erklärt sicherlich zum Teil, weshalb er weit weniger bekannt ist als sein berühmter Mitstreiter Gampopa. Die Lehren und Unterweisungen von Rechungpa werden heutzutage in erster Linie innerhalb der Drugpa-Kagyü-Linie praktiziert und lebendig erhalten.

 

Die Geschichte von Milarepa fand in einer Zeit statt, die in Tibet als die „zweite Übersetzungsperiode“ bekannt ist. Die erste Übersetzungsperiode fand im achten und neunten Jahrhundert statt und wurde von Meistern wie Guru Padmasambhava, Khenpo Bodhisattva, Vimalamitra, Vairochana etc. initiiert. Der damalige tibetische König, Trisong Detsen (khri srong de‘u btsan,790-844), dessen Herzenswunsch es war, den Dharma – die Lehre des Buddha – in Tibet als die Hauptreligion einzuführen, lud diese Meister nach Tibet ein und bat sie die buddhistische Lehre im Lande zu etablieren und mit der Ausbildung von kompetenten Übersetzern zu beginnen, die in der Lage sein würden, die große Menge der Unterweisungen des Buddha und der reichhaltigen Kommentarliteratur – in erster Linie aus dem Sanskrit –ins Tibetische zu übersetzen. Diese Arbeit begann im großen Stil und vieles wurde übersetzt und kommentiert, Klöster wurden gegründet, Mönche und Nonnen ordiniert, und alles nahm einen glücksverheißenden Anfang. Dieser Periode folgte jedoch eine Zeit der Verfolgung und Unterdrückung durch einen Nachfolger des Königs, Langdarma (glang dar ma, 906 ermordet), der sich nach Kräften bemühte, den Buddhismus in Tibet wieder auszulöschen. Klöster wurden zerstört und gebrandschatzt, Mönche ermordet, Bibliotheken verbrannt, und es ist nur einer kleinen Gruppe von nicht ordinierten Laienpraktizierenden zu verdanken, dass die so mühevoll übersetzten Lehren im Untergrund fortgeführt und weiter praktiziert wurden.

 

Nur allmählich erholten sich die buddhistischen Institutionen Tibets von diesem Schlag, und erst im zehnten und elften Jahrhundert kam der Buddhismus dort zu einer neuen Blüte. Auch in Indien war die Zeit nicht stehen geblieben, und die verstrichenen Jahrhunderte hatten eine große Zahl von gelehrten und realisierten Meistern hervorgebracht. Insbesondere die Tradition der indischen Mahasiddhas[10]sollte sich als äußerst fruchtbar erweisen. Es muss eine Zeit des Aufbruchs und Neuanfangs in Tibet gewesen sein, und heute berühmte Meisterübersetzer wie Drogmi Lotsawa (brog mi lo tsa ba, 993-1050), Ra Lotsawa (rwa lo tsa ba), Lochen Rinchen Sangpo (blo chen rin chen bzang po, 957-1055), um nur einige der berühmtesten zu nennen, scheuten weder Mühen oder Gefahren noch Kosten, um nach Indien zu reisen und die kostbaren Lehren des Buddha von den dort lehrenden Meistern zu erbitten. Oft unterzogen sie sich langwierigen Perioden der Akklimatisierung in Nepal, um sich auf die so völlig anderen klimatischen Bedingungen Indiens einzustellen. Wie man sich vorstellen kann, war auch das Reisen selbst mitunter von vielen Gefahren begleitet, wie etwa von unbekannten Krankheiten, Banditen und wilden Tieren. Diese Perioden der Akklimatisierung konnten mitunter Jahre dauern und wurden oft dazu genutzt, die Kenntnisse des Sanskrit und anderer indischer Sprachen zu vertiefen, bevor diese tibetischen Übersetzer dann weiterzogen, um die indischen Lehrer aufzusuchen.

 

In diesem Klima brach auch Milarepas Lehrer, Marpa der Übersetzer auf, um den Buddhadharma zu erlernen und nach Tibet zu bringen. Er wurde zu einem der berühmten großen Meisterübersetzer dieser Zeit, der sich nicht nur – wie auch viele seiner Kollegen – durch große Gelehrsamkeit auszeichnete, sondern insbesondere auch dadurch, dass er die Lehren, die er übersetzte und verbreitete, selbst praktiziert und vollständig realisiert hatte. Nach außen hin lebte er das Leben eines wohlhabenden Bauern und Grundbesitzers, Ehemannes und Familienvaters, und selbst einigen seiner nächsten Nachbarn war nicht bekannt, dass er ein höchst realisierter buddhistischer Meister war. Seine Lebensgeschichte, die mindestens ebenso inspirierend ist wie die von Milarepa, kann man an anderer Stelle nachlesen.

 

Ich will den Leser nun nicht mit weiteren langatmigen Vorreden aufhalten, sondern gleich mit dem Text selbst fortfahren. Mein Dank gilt meinem eigenen Lehrer, dem Ehrwürdigen Tenga Rinpoche, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand, wenn ich nicht recht weiterkam und mich wieder und wieder ermutigte, dieses Projekt zu Ende zu bringen, und meinem guten und langjährigen Freund und Kollegen Edward Henning, mit dem ich den einen oder anderen schwierigen Punkt mal mehr, mal weniger heftig diskutierte. Sollten sich trotzdem Fehler oder Unklarheiten in die Übersetzung eingeschlichen haben, so sind diese einzig in meinem Unverstand begründet, und ich hoffe, der Leser möge nachsichtig mit mir sein.

 

Zuletzt lassen Sie mich dem Wunsch Ausdruck geben, dass zumindest der eine oder andere Leser die Lektüre dieser einzigartigen Biographie als ebenso lehrreich und inspirierend empfinden möge wie ich selbst. Milarepa mag zwar nicht mehr unter uns weilen, aber seine Lehren und sein Beispiel sind so lebendig wie zu seinen Lebzeiten. Es liegt allein an uns, sie anzunehmen und in die Tat umzusetzen.

 

Thomas Roth

rnal ‘byor gyi dbang phyug dam pa rje btsun mi la ras pa‘i rnam thar

thar pa dang thams cad mkhyen pa‘i lam ston

Die Geschichte

der vollständigen Befreiung

des Herrn der Yogis,

des höchsten Meisters Milarepa;

das Aufzeigen des Pfades,

der zur Allwissenheit führt.[11]

Namo Guru![12]

Seit Anbeginn, im himmlischen Bereich des Dharmakaya,

Frei von Unwissenheit,

Strahlen deine beiden Manifestationen, Sonne und Mond,

Frei vom Dämon Rahu,[13]

Aktivitäten von Mitgefühl und Weisheit aus – in unermesslicher Pracht.

 

Die Gesamtheit allen Wissens umfassend,

Vertreibst du die Dunkelheit der Unwissenheit über den Dharma in allen fühlenden Wesen.

Nicht nur für solche auf dem Pfad, sondern für alle von jeglichem Temperament und Bewusstsein,

Für alle Wesen, die durch eine der sieben Arten von Geburt geboren werden.

 

Frieden bringst du den Wesen der Vergangenheit und Gegenwart,

Die sich auf dem Irrweg des Haftens an den sinnlichen

Erfahrungen der fünf Skandhas verirrten,

Die aus den schädlichen Handlungen,

Hervorgerufen von Geistesgiften, entstanden,

Indem du sie von diesem Irrweg fortführst.

 

Damit nicht genug, führst du die Wesen auf den Pfad vollständiger Befreiung,

Zu den acht hervorragenden Charakteristiken dieses Lebens.

Du, der du ausgestattet bist mit den zehn alles übersteigenden Kräften,

Du, der du berühmt bist als Mila.

Glorreiche Zuflucht aller Wesen des gesamten Universums,

Vor dir verbeuge ich mich.

Aus dem Ozean deines Mitgefühls

Entstehen Wellen von Aktivität zum Wohle fühlender Wesen

Und füllen meinen Geist, wie einen hohlen Hufabdruck,

Mit Tropfen von ursprünglichem Gewahrsein,

Voll der Juwelen von Hingabe und anderen Tugenden.

So werde ich befreit von spiritueller Verarmung

Und der sengenden Hitze innerer Verunreinigung.

 

Ich bin voll der Freude,

Wie die Freude eines heißblütigen Mannes,

Der eine juwelengeschmückte Frau von majestätischer Schönheit an einem einsamen Ort antrifft.

Obwohl er die Gelübde der Entsagung aufrechterhält,

Kann er, im Angesicht ihrer Schönheit,

Nicht einmal den Wunsch formulieren,

Sich auch nur einen Schritt von ihr zu entfernen.

 

Als die Geschichte der Befreiung des Meisters die Ohren dieses Suchenden erreichte,

Wie eine bezaubernde Schönheit, geschmückt mit den Juwelen des Mitgefühls,

Erfüllte mich dies mit Freude.

Nun teile ich das Fest dieser wunderbaren und glorreichen Geschichte,

Um allen Freude und Lachen zu bringen.

 

Mit den duftenden Wassern von Hingabe und Anstrengung

Wasche ich den Makel des Geheimhaltens vom Juwel der Geschichte des Meisters;

Und indem ich dieses Juwel an der Spitze des Banners der Lehre des Buddha befestige,

Bringe ich ihm meine Verehrung dar.

Mögen der Lama und die Dakinis mir ihren Segen zuteil werden lassen.

 

Und so war es, dass zu Beginn, im Schneeland von Tibet, der Meister von der schmerzlichen Natur von Samsara abgestoßen wurde als wäre es ein loderndes Feuer. Nichts davon begehrend, nicht einmal die himmlischen Freuden von Brahma und Indra, war er stattdessen in den Bann gezogen von dem Ideal und den lotus-gleichen Qualitäten der Befreiung und der vollkommenen Erleuchtung. Er besaß solch große Weisheit und Mitgefühl, Glauben und Beharrlichkeit, dass er frei von der geringsten Furcht oder jeglichem Zögern sein Leben zum Wohle des Dharma hingegeben hätte. Im mittleren (Abschnitt seines Lebens) wurde er von seinem heiligen Lama angeleitet. Nachdem er den Nektar, der von den Lippen seines Lamas floss, gekostet hatte, befreite er sich selbst in der Einsamkeit der Berge von den Fesseln der Verdunkelung, und die Triebe des Erwachens keimten in ihm.

Durch seine feste Entschlossenheit, weltliche Ziel aufzugeben, und durch sein Aufrichten des Banners der Meditation durch sein höchstes Beispiel seiner unaufhörlichen Anstrengungen, war er in der Lage, im Geist seiner glücklichen Schüler ein Verlangen nach dem Pfad, der zur Befreiung führt, wachzurufen, frei von weltlichem Anhaften oder Gleichgültigkeit.

Von seinen Yidams und den Dakinis geleitet, erreichte er die Vervollkommnung seiner selbst im Dharma, indem er einerseits jedwedes Hindernis in seiner Praxis überwand und andererseits seine spirituellen Fortschritte vertiefte und die Erfahrungen des Erwachens erweiterte.

Seine Verehrung für die Meister der Linie war so vollkommen, dass er mit den geheimen mündlichen Unterweisungen der mitfühlenden Meister betraut wurde, und so unzählige Übertragungslinien sein Erbe wurden, und er auf diese Art und Weise im Besitz der Zeichen von unvergleichlicher spiritueller Inspiration und Segen war.

In seinem eigenen Wesen brachte er eine derart intensive Erleuchtungshaltung (Bodhicitta) hervor, dass Menschen, die ihm zuhörten oder auch nur seinen Namen vernahmen, Tränen der Hingabe und des Vertrauens vergossen und ihre Haare zu Berge standen, auch wenn sie bis dahin keinerlei Interesse am Dharma verspürten. All dies veränderte ihre Wahrnehmung derart, dass der Samen der Erleuchtung in ihnen gesät war und sie so vor den Ängsten und Sorgen von Samsara und den niederen Daseinsbereichen geschützt waren. Die Dakinis welche den Zustand von ,Helfern auf dem Pfad des Vajrayana‘ erlangt hatten, unterstützten den Jetsün bei der Realisation des höchsten Gewahrseins, indem sie die körperliche Erfahrung von Freude in ihm hervorriefen.

Und schließlich, nachdem er die beiden Verdunkelungen vollkommen in den Raum der Leerheit aufgelöst hatte und nachdem er sich von allem befreit hatte, von dem man sich befreien kann, erlangte er echtes Gewahrsein jenseits jeglicher Dualität und brachte die Tugenden wie Weisheit und Mitgefühl zu vollkommener Perfektion, sodass er durch seine eigene Anstrengung zu einem Buddha wurde.

Wie das Juwel an der Spitze eines Siegesbanners wurde er zum größten aller Meister, anerkannt von allen religiösen Gruppen, Buddhisten wie Nicht-Buddhisten, als das beste und unumstrittene Beispiel für die höchste Erleuchtung. Diese höchste Erleuchtung realisierte er schnell und ohne Umschweife, durch seine Meisterschaft auf dem Pfad des Vajrayana.

Das Banner seines Ruhmes weht in allen zehn Richtungen, denn die Dakas und Dakinis sprechen überall von seiner Größe.

Die herabströmende Freude, die von seinem Körper bis zu seinen Zehenspitzen hinabfloss und die bis zu seiner Scheitelkrone aufsteigende Freude brachten ihm die höchste Freude des Erlangens der Frucht. Durch diesen Prozess stellte sich ein Entwirren der groben und subtilen Knoten in den drei Hauptkanälen und vier Zentren ein. Auf diese Art und Weise wurden sie alle zur Essenz des Zentralkanals.

Aufgrund dieser Realisation war er in der Lage, wie ein endloser Strom spontan Gesänge unzerstörbarer Wahrheit von sich zu geben, in denen er die wahre Bedeutung der zwölf Sammlungen von Sutras und vier Klassen von Tantras offenlegte.

Jenseits der täuschenden Dualität des Geistes gehend, nahm er alle Erscheinungen und Phänomene als Dharmakaya wahr. Er erlangte solche Meisterschaft über inneres Gewahrsein, dass er alle äußeren Erscheinungen der Welt wie ein heiliges Buch betrachtete.

Die Kraft seiner Weisheit und seines Mitgefühls waren so unvorstellbar groß, dass er (tote) Tiere erwecken und sie zur Befreiung geleiten konnte. Indem er das Annehmen oder Ablehnen der acht weltlichen Handlungen gänzlich hinter sich gelassen hat, und indem er sich von dem Bedürfen, anderen zu gefallen, befreit hat, ist er wie ein gelassenes und prachtvolles Objekt der Verehrung für himmlische und menschliche Wesen.

Durch sein höchstes Streben auf dem tiefgründigen Pfad der Meditation wurde er zu einem unvergleichlichen Meister, verehrt selbst von ähnlich gesegneten Bodhisattvas.

Mit dem großartigen Löwengebrüll der „Selbst-Losigkeit“[14], die er realisiert hatte, flog er, der weiße Löwe, ungezügelt über die Schneeberge inmitten der endlosen Weite des Raums und überwältigte so die Rehe falscher Ansichten.

Innerlich erlangte er die meditative Einsicht und Kraft, alle äußeren Kräfte zu verwandeln und sich die Einflüsse der vier Elemente zunutze zu machen.

Aufgrund seiner höchsten, alles übersteigenden Kräfte war er in der Lage, durch den Himmel zu gleiten wie ein Adler und beim Gehen, Stehen und Sitzen in der Luft zu verweilen.

Durch die Fähigkeit seinen Körper auf wunderbare Weise zu transformieren und loderndes Feuer oder reißende Gewässer hervorzubringen, beseitigte er die falschen Ansichten der Fehlgeleiteten und führte sie durch Sehen, Meditation und rechtes Handeln zur Verwirklichung.

Basierend auf den Vier Ermächtigungen erlangte er höchste Perfektion durch die alles transformierenden Übungen des Vajrayana und Dakas und Dakinis versammelten sich an den vierundzwanzig Orten seines Vajra- Körpers. Er war ein Heruka[15], der von Dakas und Dakinis verehrt wurde.

Mit einem Geist gänzlich frei von Furcht und ausgestattet mit unerschütterlichem Vertrauen unterwarf er die acht Armeen von Göttern und Dämonen, so dass sie zu seinen Dienern wurden.

Er war ein Meister, der die essenzielle Leerheit aller Erscheinungen und Phänomene erkannte.

Er war wie ein Arzt, der die Krankheit der fünf (Geistes-)Gifte mit der Medizin der fünf Arten von Gewahrsein behandelte und heilte.

Er nahm alle versteckten Dinge – sowohl im Geist der Menschen als auch andere – klar und deutlich wahr.

Er war ein Meister, der durch direkte Wahrnehmung alle Erscheinungen und Phänomene als gänzlich leer von jeglicher Substanz wahrnahm.

Er war ein wahrhaft gelehrter Meister, der ausnahmslos alle äußeren Erscheinungen als den Ausdruck innerer geistiger Phänomene erkannte und den Geist selbst als ungeboren, leer und klar erfuhr.

Durch die Kraft, die aus der ungehinderten Wahrnehmung, alle Dinge als leer und klar zu erkennen, entsteht, verwirklichte er die Befreiung in den untrennbaren Drei Kayas.

Er erlangte die wunderbare Fähigkeit, in einem Augenblick all die unvorstellbar zahlreichen Buddhabereiche zu besuchen. In diesen Bereichen sprachen selbst die Buddhas und Bodhisattvas während ihrer Dharmaunterweisungen über seine wundersame Erleuchtung.

Auf diese Art und Weise erfüllte der Meister auch seine Rolle in den Buddha-Bereichen.

Indem er in angemessener Form vor den Wesen der sechs Bereiche erschien, säte er die Samen der Erleuchtung in ihnen, indem er ihnen den Pfad aufzeigte, durch angemessene Beispiele und Unterweisungen, die im Einklang mit den Worten des Buddha stehen, und führte sie so zu Reifung und Befreiung.

In einem Leben und einem Körper erlangte er den Zustand des Buddha Vajradhara mit seinen vier Aspekten der Erleuchtung und den fünf Arten von Gewahrsein.

Er ist der heiligste unter den Heiligen und befreite zahllose Wesen aus unerträglichem Leiden und half ihnen die Befreiung zu erlangen.

Überall war der Name Mila Shepa Dorje berühmt und bekannt wie die Sonne und der Mond.

All die wunderbaren und erstaunlichen Taten, die er zum Wohle seiner Schüler ausführte, waren unvorstellbar und unaussprechlich.

All die genannten Punkte sind lediglich ein kurzer Abriss der großartigen Geschichte von Milarepas Befreiung. Selbst die Handlungen, die er zum Wohle gewöhnlicher Leute ausführte, sind unbeschreiblich und jenseits unserer Vorstellungskraft.

So besteht die Geschichte des Jetsün also aus zwei Teilen. Der erste beschreibt sein weltliches Leben, der zweite Teil beschreibt sein schnelles Erlangen der vollkommenen Erleuchtung.

Teil Eins

Wie er zu seinem Namen „Mila“ kam; die Herkunft seiner Vorfahren und die Art und Weise seiner Geburt.

Wie sich in seiner Jugend, nach dem Tod seines Vaters, die nächsten Verwandten als Feinde erwiesen, und wie er, nachdem er alles verloren hatte, die Wahrheit und Realität des Leidens erfuhr.

— Kapitel Eins —

Milas Geburt

Die Geschichte der Herkunft der Linie seiner Vorfahren

EMa Ho![16]Während er in der Dröpaphuk-Höhle in Nyanang weilte, war er, der berühmte Meister Milarepa[17], ein Heruka unter den Yogis, umgeben von seinen großen Schülern und Gefolgsleuten, den erwachten Yogis und Bodhisattvas: Rechung Dorje Dragpa, Repa Shiwa Ö, Ngendzong Repa, Seban Repa, Kyira Repa, Drigom Repa, Lengom Repa, Repa Sangye Khyab, Shengom Repa, Dampa Gyakphuwa, dem Lehrer Shakyaguna und anderen. Auch die weiblichen Schülerinnen Lekse Bum und Shen Dormo waren anwesend, zusammen mit anderen. Ebenfalls unter den Anwesenden befanden sich die Tashi Tsering Chenga,[18]die Fünf Schwestern des Langen Lebens und andere Dakinis, welche die subtilen (feinstofflichen) Regenbogenkörper erlangt hatten. Und viele andere waren ebenfalls anwesend – Götter, Männer und Frauen – die sich an diesem Ort versammelt hatten. Der Meister drehte das Rad der heiligen Lehre im Einklang mit den Lehren des Mahayana.

 

Zu dieser Zeit befand sich Rechung in seiner Behausung, in tiefer meditativer Versenkung. Eine ganze Nacht lang hatte er den folgenden Traum: In einem bezaubernden Land mit Namen Urgyen Khandro Ling betrat er eine große Stadt, in der die Häuser aus kostbaren Materialien gebaut waren und deren Dächer ebenso gedeckt waren. Die Bewohner dieser Stadt waren von wunderbarer Schönheit, in Seide gekleidet und mit Ornamenten aus Juwelen und Knochen geschmückt. Sie sprachen nicht sondern lächelten nur freudig und tauschen Blicke untereinander aus.

 

Unter ihnen war eine Schülerin des Lama Tiphupa,[19]mit Namen Bharima, die Rechung zuvor in Nepal kennen gelernt hatte. Sie sagte zu ihm: „Neffe, da bist du ja. Willkommen!“ Nachdem sie ihn so begrüßt hatte, führte sie ihn in ein großes Haus aus kostbaren Steinen, angefüllt mit unzähligen Schätzen die die Sinne erfreuten. Sie behandelte ihn wie einen Ehrengast und bewirtete ihn mit großartigen Speisen und Getränken.

 

Dann sagte sie: „Zur Zeit lehrt der Buddha Mikyöpa, der Unerschütterliche, in Urgyen. Neffe, wenn du wünschst ihn zu hören, werde ich um Erlaubnis fragen.“ Vom Wunsch erfüllt, den Buddha zu hören, erwiderte Rechung: „Ja, ja!“ und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Im Zentrum der Stadt sah Rechung dann einen hohen Thron aus kostbaren Materialien. Auf diesem Thron saß der Buddha Mikyöpa, strahlender und erhabener als Rechung ihn sich je in seiner Meditation vorgestellt hatte. Inmitten eines Ozeans von Schülern unterrichtete er die Lehre. Als er dies sah, dachte Rechung, dass er, trunken vor Freude, wohl in Ohnmacht fallen müsse. Bharima sagte dann zu ihm: „Neffe, warte hier für einen Augenblick. Ich werde den Buddha um Erlaubnis fragen.“

 

Sie trat vor und ihr Wunsch wurde ihr gewährt. Von ihr vor den Buddha geführt, warf sich Rechung vor ihm nieder. Er erbat seinen Segen, verblieb vor ihm und lauschte den Unterweisungen. Der Buddha betrachtete ihn für eine Weile mit einem Lächeln auf den Lippen. Rechung dachte, „Er denkt an mich voller Mitgefühl.“ Während Rechung den Geschichten der Buddhas und Bodhisattvas lauschte, standen seine Haare zu Berge und fester Glaube entstand in ihm. Schließlich erzählte der Buddha die Geschichten von Tilopa, Naropa und Marpa, die noch erstaunlicher waren als all die vorangegangenen. Alle, die zuhörten, fühlten ihren Glauben anwachsen. Als er fertig war, sagte der Buddha: „Morgen werde ich die Geschichte von Milarepa erzählen, die noch wunderbarer ist als die vorangegangenen. Lasst also jedermann kommen, um sie zu hören.“

 

Einige der Schüler sagten: „Wenn es etwas gibt, noch wunderbarer als alles, was wir bereits gehört haben, dann kennt das Wunderbare wahrlich keine Grenzen.“ Andere sagten: „Die Tugenden, von denen wir gerade gehört haben, sind das Ergebnis des spirituellen Verdienstes von Kalpas, Zeitaltern, unzähligen Geburten und der Beseitigung von Täuschung und Begierde. Milarepa erreichte dasselbe Ziel, die gleiche Vervollkommnung, in einem Leben und einem Körper!“ Die ersteren sagten wiederum: „Nun, wenn wir nicht zum Wohle aller Wesen um eine solch wunderbare Unterweisung bitten, dann sind wir unwürdige Schüler. Wir müssen uns von ganzem Herzen und mit Anstrengung darum bemühen.“

 

Ein anderer fragte: „Wo ist Milarepa jetzt?“ Jemand antwortete: „Er ist entweder im Buddhabereich von Ngön Ga oder in Ogmin. Daraufhin dachte Rechung: „Tatsächlich lebt der Jetsün in Tibet. All diese Bemerkungen bezwecken nichts anderes, als meine Hingabe zu wecken. Daher muss ich den Meister unbedingt, zum Wohle aller Wesen, darum bitten seine Geschichte zu erzählen.“ Während Rechung auf diese Art und Weise dachte, nahm ihn Bharima bei der Hand, schüttelte ihn und sagte: „Neffe, du hast verstanden!“

 

Rechung erwachte mit dem Sonnenaufgang und hatte das Gefühl, als wäre seine Wahrnehmung nie klarer gewesen oder seine Meditation stabiler. Sich seines Traumes erinnernd, dachte er, „Ich hörte den Buddha Mikyöpa, wie er unter den Dakinis von Urgyen Khandro Ling Belehrungen gab. Das ist bereits wunderbar. Aber noch wunderbarer ist es, dass ich meinen verehrten Meister Milarepa getroffen habe! Den Buddha gehört zu haben, kam nur durch den Segen des Meisters zustande. Es hieß, der Meister lebe in Ngön Ga oder in Ogmin...“ Rechung musste sich schließlich selbst schelten: „Wie dumm zu denken, der Meister lebe in Tibet! Dadurch stellst du dich auf die gleiche Ebene wie er und beweist bereits deinen Mangel an Respekt! Erstens, da der Meister in Körper, Rede und Geist ein vollkommener Buddha ist, sind seine Handlungen unvorstellbar großartig und tiefgründig. Und du, du ignoranter Idiot, hast vergessen, dass wo auch immer der Meister sich aufhält Ngön Ga oder Ogmin ist! Er der in meinem Traum den Dharma lehrte und jene die zuhörten, Bharima und die anderen, ließen mich wissen, dass ich den Meister nach seiner Geschichte fragen sollte. Und so werde ich es tun!“

 

Mit einem außerordentlich tiefen Gefühl von Verehrung für den Jetsün betete er zu ihm aus der Tiefe seines Herzens und dem Mark seiner Knochen. Während er einige Augenblicke in tiefer Meditation versenkt war, sah er, in einer Mischung aus Geistesruhe und Klarheit, fünf schöne junge Mädchen, gekleidet in den Gewändern und dem Schmuck von Urgyen. Eine war weiß, eine blau, eine gelb, eine war rot und eine war grün. Eine von ihnen sagte: „Morgen wird die Geschichte von Milarepa erzählt. Lasst uns hingehen und zuhören.“ Eine zweite fragte: „Wer wird darum bitten?“ Und eine andere antwortete: „Die großen spirituellen Herzenssöhne werden darum bitten.“ In diesem Augenblick lächelten und zwinkerten sie Rechung zu.

 

Eine von ihnen fügte hinzu: „Jedermann wäre glücklich, eine solche Unterweisung zu hören, daher ist es nur passend, dass wir entsprechende Gebete machen.“ Und eine andere fuhr fort: „Es ist an den älteren Schülern, um die Lebensgeschichte des Jetsün zu bitten. Unsere Aufgabe ist es sie zu verbreiten und die Lehren und Unterweisungen zu beschützen.“ Nach diesen Worten lösten sich die Mädchen wie ein Regenbogen auf. Dann erwachte Rechung – wie aus einer Vision – und dachte: „Ich verstehe diesen Traum als eine Anweisung der Fünf Schwestern des Langen Lebens, Tashi Tsering Chenga.“

 

In einem Zustand von nach-meditativer Erfahrung bereitete Rechung seine Mahlzeit zu. Als er gesättigt war und guter Dinge, begab er sich in die Gegenwart des Meisters und fand ihn umringt von Mönchen, Schülern und Laienanhängern. Rechung verbeugte sich und erkundigte sich nach der Gesundheit des Jetsün. Dann, niederkniend und die Hände am Herzen faltend, richtete er dieses Gebet an den Meister:

 

„Verehrter und kostbarer Meister, vor langer Zeit haben die Buddhas der Vergangenheit, zum Wohle der Wesen, die Geschichte ihrer zwölf großen Taten und anderer unvorstellbarer Taten, die zur Befreiung führen, erzählt. Auf diese Art und Weise verbreiteten sich die Lehren der Buddhas über die Welt. Dieser Tage haben jene, die den Weg zur Befreiung suchen, die Möglichkeit geführt zu werden, weil die Meister Tilopa, Naropa, Marpa und andere ihre Geschichten erzählt haben. Meister, zur Freude deiner Schüler, jener, die es in Zukunft sein werden und um andere auf dem Pfad anzuleiten, erzähle uns vom Ursprung deiner Familie, erzähle uns deine Geschichte und deine Taten.“ So trug er seine Bitte vor.

 

Dann, mit einem Lächeln auf den Lippen, antwortete der Jetsün: „Weil du darum fragst, Rechung, will ich dir deinen Wunsch erfüllen. Der Name meines Klans ist Khyungpo[20]. Mein Familienname ist Josä. Mein Name ist Milarepa. In meiner Jugend habe ich schwarze Taten begangen. Jetzt, da ich reifer bin, übe ich mich in weißen Handlungen. Nun, befreit von schwarzem und weißem Karma, habe ich die Wurzeln karmischer Handlungen abgeschnitten. Daher habe ich keinerlei Bedarf mehr für zukünftige Handlungen. Mehr zu sagen würde nur Tränen und Gelächter hervorrufen. Welcher Nutzen läge wohl darin, mehr zu sagen? Ich bin ein alter Mann, also lass mich nun in Frieden.“

 

So sprach er. Rechung verbeugte sich abermals vor ihm und sprach abermals folgende Bitte aus: „Jetsün Rinpoche, kostbarer Meister, am Anfang führtest du fürchterliche Askese aus und drangst so zu den inneren Wahrheiten durch. Indem du dich voll und ganz der Meditation gewidmet hast, erlangtest du Einsicht in die wahre Natur der Dinge und den Zustand von Leerheit. Von den Fesseln des Karma befreit, befindest du dich jenseits von jeglichem zukünftigen Leid. Das ist allgemein bekannt. Deswegen sind wir so interessiert an der Geschichte deiner Herkunft aus dem Khyungpo Klan, aus der Familie der Josä, warum man dich Mila nennt, und warum denn die schwarzen Taten deiner Jugend und deine heutigen weißen Handlungen Tränen und Gelächter hervorrufen mögen. Mit Mitgefühl an das Wohl aller fühlenden Wesen denkend, bitte verweile nicht in Gleichmut, sondern erzähle uns die ganze Geschichte. Ihr alle, Brüder und Schwestern auf dem Pfad, Laien die ihr durch eure Hingabe hierher geführt wurdet, schließt euch meinem Gebet an!“

 

Nachdem er so gesprochen hatte, führte Rechung einige Verbeugungen aus. Und nachdem auch die engsten Schüler, spirituellen Söhne, und vertrauensvollen Laien sich verbeugt hatten, wiederholten sie alle Rechungs Bitte und baten den Meister, das Rad der Lehre zu drehen.

 

Der Jetsün sprach danach wie folgt: „Da ihr mich so drängend bittet, will ich meine Lebensgeschichte nun nicht länger verbergen, sondern euch alles offen legen. Meine Familie stammt von einem Klan von Nomaden namens Khyungpo ab, die im nördlichen Teil von Ü lebten. Einer meiner Vorfahren war ein Nyingma Lama mit Namen Josä. Durch die Praxis seiner Yidamgottheit erlangte er große Kraft bei der Rezitation von Mantras. Nachdem er durch das Land gereist war und viele heilige Stätten besucht hatte, kam er im oberen Tsang, im Norden, an, an einem Ort namens Chungwashi. Seine Fähigkeit, Segen zu geben und Dämonen unter seine Kontrolle zu bringen, machte ihn in dieser Gegend weithin bekannt, und er war dort sehr hilfreich. Er war dort als Khyungpo Josä bekannt und blieb einige Jahre in dieser Region.

 

Man lud ihn immer dann ein, wenn sich Probleme mit körperlichen oder geistigen Krankheiten einstellten. An einem Ort gab es einen Dämon, dem es nie gelungen war, auch nur in Josäs Nähe zu kommen, der aber alle anderen in Furcht und Schrecken versetzte. Eine Familie, die kein Vertrauen in Josäs Fähigkeiten hatte, wurde von diesem Dämon terrorisiert, und sie luden einen anderen Lama ein. Aber seine Rituale waren nutzlos und der Dämon fuhr fort, sich über diese Familie lustig zu machen und sie zu provozieren. Ein Mitglied dieser Familie schlug schließlich im Geheimen vor Khyungpo Josä zu bitten, sich des Problems anzunehmen und erinnerte an das Sprichwort: ,Wenn es hilft, eine Wunde zu heilen, läßt man sich selbst Hundefett verabreichen.‘

 

Also lud man Josä ein, und während dieser sich dem Dämon näherte, rief er stolz aus: ,Ich, Khyungpo Josä, komme! Ich werde das Fleisch aller Dämonen und Teufel essen und ihr Blut trinken! Wartet nur!‘ Als Josä näher kam, war der Dämon völlig verängstigt und schrie voller Entsetzen wieder und wieder: ,Papa Mila, Papa Mila!‘ Als Josä ihn erreicht hatte bettelte er: ,Bitte verschone mich! Ich habe dir nie etwas getan!‘ Nachdem Josä ihm das heilige Versprechen abgenommen hatte, niemals wieder jemandem Schaden zuzufügen, schickte er ihn fort. Der Dämon kehrte nun zu der Familie zurück die ihn geschickt hatte und sagte: ,Mila! Mila! Da war dieser Mann, der mir sagte, dass mein Leben noch nie in solcher Gefahr war.‘ Die Familie fragte wer dieser Mann war und er erwiderte: ,Khyungpo Josä war es, und er hat gedroht mich zu töten, wenn ich mein Versprechen mit euch nicht breche!‘

 

Da der Dämon nun keinerlei Probleme mehr verursachte, ging man davon aus, dass er tatsächlich tot sei. Als Ausdruck der Anerkennung von Josäs Fähigkeiten und Größe nannte man ihn fortan Mila und er behielt diesen Namen als Familiennamen bei. Später nahm Khyungpo Josä eine Frau, die ihm einen Sohn gebar. Dieser Sohn hatte zwei Söhne, von denen der ältere Mila Dotön Senge genannt wurde. Er hatte einen Sohn, dessen Name Mila Dorje Senge war. Seit dieser Zeit gab es immer nur einen Sohn in jeder Generation.