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Beste Pferdefreundinnen für immer! Lina ist im Glück! Sie darf ihr geliebtes Pony Flo weiterhin sehen und reiten, und sie hat durch ihn sogar eine tolle neue Freundin gefunden. Stella ist ein echtes Pferdemädchen, mit der sie durch dick und dünn gehen kann. Wenn die beiden nicht gerade ausreiten, sitzen sie zusammen in der kleinen Sattelkammer, putzen und fetten das Sattelzeug, trinken Kakao und kennen nur ein Thema: die Ponys! Als Stella plant, mit ihrem Pony Carlos am großen Wettreiten teilzunehmen, ist klar, dass Lina und Flo sie dorthin begleiten. Doch das Rennen verläuft ganz anders als gedacht … Realistische Ponyreihe für junge Pferdefans, voller Freundschaft und Ponyglück
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Seitenzahl: 350
Bisher bei Schneiderbuch erschienen: Millenia Magika. Der Schleier von Arken (Band 1) Millenia Magika. Das Vermächtnis der Raben (Band 2)Millenia Magika. Der Schlüssel zur Vergangenheit (Band 3)
Originalausgabe © 2023 Schneiderbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Alle Rechte vorbehalten
Falk Holzapfel wird vertreten durch die Agentur Brauer. Illustrationen und Coveridee: Falk Holzapfel Covergestaltung von Designomicon | Anke Koopmann, München E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783505150463
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Hammer und Amsel
Einsam ist man nur in Gesellschaft anderer.
Und mit Einsamkeit kannte sich Merle aus. Spätestens, seit sie in Arken lebte. Doch erst jetzt, eingesperrt in einem Van, der durch die dunklen Straßen jagte, verstand sie den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein.
Sie rutschte mit gefesselten Händen über die Ladefläche, während sich der Wagen scharf in die Kurve legte. Um sich abzulenken, dachte sie wie so oft zurück an jene Nacht, die alles verändert hatte.
Alle waren sie da gewesen. Adrian, Juri, sogar Jazz. Sie waren ihretwegen gekommen, hatten alles für sie riskiert.
Noch immer echote Adrians Stimme in ihrem Kopf.
»Ihr könnt gehen, aber meine Freundin bleibt hier!« Die Worte hatten Merle berührt und ihre Einsamkeit mit sich genommen, auch wenn sie letztlich nichts genutzt hatten.
Der Wagen raste um die nächste Kurve. So gut es die gefesselten Hände zuließen, hob Merle die Schultern, um den Aufprall zu dämpfen. »Autsch!« Das kalte Blech der Karosserie presste sich gegen ihre Wange. Wie lange lag sie jetzt schon hier eingesperrt? Sie konnte es nicht sagen. Außer ihrem Hunger blieb ihr nichts, um das Verstreichen der Zeit zu messen, denn der Van hatte im hinteren Teil keine Fenster. Durch die schmale Scheibe zur Fahrerkabine drang kaum mehr als ein schwacher Schimmer.
Immer wieder fiel Merle in einen unruhigen Schlummer, aus dem sie das Poltern des Wagens riss. Die bunten Haare hingen ihr wirr vor dem Gesicht. Anfangs hatte sie noch die Kurven gezählt, die sie in ihrem Gefängnis hin und her warfen. Wann hatte sie damit aufgehört? Vor Stunden?
Es war auch egal. Und solange sie hier allein im Frachtraum kauerte, geschah ihr zumindest nichts Schlimmeres. Wer wusste schon, wohin sie die Männer in den eisernen Rüstungen brachten? Sie ahnte, dass es ihr dort noch weniger gefallen würde.
Merle streckte die Finger und ballte sie dann zu Fäusten. Sofort breitete sich das vertraute Kribbeln über ihre Arme aus. Sie blickte auf ihre dunklen Fingernägel, die sie in der diffusen Dunkelheit kaum erahnen konnte. Immerhin zeigte ihr das Prickeln, dass ihre tauben Hände wieder aufwachten.
Sie schob sich in eine hockende Haltung, lehnte sich gegen die Wagenwand und tastete mit steifen Fingern nach der löchrigen Decke, die dort lagerte. Sie war rau und roch nach Staub. Aber Merle drückte sie an sich wie einen Schatz. Warum hatte ihr Entführer sie ihr gegeben? War es ein Zeichen des Mitleids? Das Gesicht des jungen Mannes hatte keine Regung gezeigt, bis auf die Augen, die hart wie Smaragde auf sie herabblickten. Genau wie in der Nacht, als er Merle gefangen genommen hatte. Harte Finger hatten sich ihr in die Schulter gebohrt. Der Ritter hatte sie gepackt wie ein Falke eine Taube. Sie hatte nach ihm getreten, geschrien, versucht, sich aus seinem Griff zu winden, aber seine Hände waren die reinsten Schraubstöcke gewesen. Als schließlich seine Kameraden in ihren funkelnden Rüstungen erschienen waren, hatte Merle gewusst, es war vorbei. Auch Adrian hatte nichts mehr tun können.
War es das letzte Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatte? Oder würde er ihr auch diesmal folgen?
Merle ließ ihre Finger knacken. Nein, sie fühlte sich nicht einsam. Nicht mehr. Sie hatte Freunde. Juri, der stark genug war, um durch Wände zu stürmen. Jazz, die Zauber wirken konnte. Die Ritter würden sich noch wundern, mit wem sie sich da angelegt hatten. Denn ihre Freunde würden sie finden.
Ein Schlagloch ließ Merle hochschrecken. Die Stoßdämpfer schlugen durch, als der Wagen über die unebene Straße holperte. Vergeblich suchte sie nach Halt, wurde aber gegen die andere Seite des Wagens geschleudert.
»Warum fahren wir nicht langsamer, wenn die Straßen so schlecht sind?«, stöhnte sie. Von einer Biegung schossen sie in die nächste. Etwas Hartes rammte sich ihr in die Seite. »Ahh!« Sie schrie auf. Dann spürte sie Holz unter ihren Fingern. Sie lächelte, tastete kurz und umfasste dann den Hals ihrer Gitarre. Wenigstens sie war ihr geblieben.
Plötzlich drehte sich alles. Reifen quietschten. Grelles Licht blitzte auf und erstarb genauso schnell. Merle überschlug sich, verlor die Gitarre. Ihr Kopf wurde nach hinten geworfen. Schwärze.
Merle blinzelte die Dunkelheit fort. Alles war verschwommenes Grau und Schmerz. Der Geschmack von Eisen erfüllte ihren Mund. Es roch nach Abgasen und Benzin. Sie lag auf der Seite. Überall waren Glassplitter. In ihrem Kopf hämmerte es, sobald sie sich regte. Alles um sie herum schwankte. Sie stützte die Hände auf den Boden und wartete, bis das Schwindelgefühl nachließ. Stirnrunzelnd schaute sie zu dem kleinen Fenster. Irgendetwas stimmte da nicht. Es war viel zu nah am Boden. »Der Wagen muss auf dem Dach liegen«, murmelte sie vor sich hin. Und tatsächlich: Das Fenster war geborsten und ihr so nah, dass sie hindurchblicken konnte.
Warnlampen blinkten bunt. Rauch stieg von der Motorhaube auf. Die Fahrerkabine war verlassen. Ein Blick auf die zerbrochene Glasscheibe machte ihr klar, dass sie nicht hindurchpassen würde, ohne sich dabei aufzuschlitzen. »Mist verdammter!«
Sie rollte über ihre Schulter und zuckte zusammen, als erneut Schmerz in ihrem Arm aufflammte. Mit ungelenken Bewegungen robbte sie zum anderen Ende des Wagens.
Durch einen Spalt im Heck drangen Straßenlicht und finstere Nacht. Die Tür musste sich aus der Verankerung gelöst haben. Das war ihre Chance! Sie legte sich auf den Rücken und rammte ihre Stiefel gegen die Tür. Wieder und immer wieder ließ sie die Sohlen gegen das Metall hämmern, aber das Ergebnis war stets das gleiche: Die Tür blieb verschlossen.
Schreie erklangen in der Nähe. Ein Knall wie von einer Explosion zerriss die Luft. Dann noch einer. Merle erstarrte. Was war da draußen los? Sie musste hier raus, so schnell wie möglich. Mit steifen Fingern tastete sie nach dem Spalt, der sich aber nicht verbreitern ließ. Sie drückte ihr Gesicht dagegen und spähte nach draußen. Etwas huschte an der Tür vorbei, zu schnell, um es zu erkennen. Dann sah sie nackten Beton, der von Kratern aufgerissen war. Eine Straße mit verblasster Fahrbahnmarkierung. Unweit ein schwarzer Van. Rauch stieg von ihm auf. Dahinter duckten sich zwei Männer in Rüstungen. Sie hielten lange Stangen in ihren Fäusten. Nein, keine Stangen. Lanzen!
Was zum Henker geschah hier?
Eine Gestalt in einem schwarzen Anzug kam über die Straße gerannt. Ein Mann mit flatternder Krawatte und einem Aktenkoffer. Die beiden Gerüsteten entdeckten ihn und rannten ihm hinterher, die Lanzen weit von sich gestreckt. Wieder erklangen Schreie. Zorniger diesmal. Danach weitere Schüsse und ein klagendes Kreischen, wie es kein lebendes Wesen von sich geben sollte. Schließlich Stille. Schlagartig war es so ruhig, dass Merle das Knacken des Motors hören konnte. Ihr Atem bildete Wolken. Mit jedem Luftzug wurde es kälter. Sie blickte erneut durch den Spalt. Ein Ritter lief die Straße hinunter, dem qualmenden Wagen schenkte er keinen Blick. Stattdessen lief er geradewegs auf sie zu. Jeder Schritt trug ihn näher zu ihr. Sein Umhang wogte hinter ihm wie zerrissenes schwarzes Segel. An seiner Hüfte baumelte ein Schwert, und über den Brustpanzer zogen sich frische Kratzer. Aber Merles Blick war nur auf den Helm gerichtet. Auf den schmalen dunklen Spalt in dem Visier. Sie ahnte, dass die Augen dahinter smaragdgrün waren. Als der Ritter nur noch zwei Schritte entfernt war, hob er seine Lanze und richtete die Spitze auf Merle. Hastig wich sie zurück und versuchte, sich mit den Stiefeln von der Tür wegzuschieben. Dann verschwand der Spalt, und alles wurde dunkel.
Merle achtete nicht auf die Scherben am Boden. So schnell sie konnte, kroch sie fort. Sie musste es zu dem zerbrochenen Fenster schaffen. Wenn sie sich durch die Öffnung schieben konnte, könnte sie durch die Fahrerkabine entkommen. Während sie sich quälend langsam über die Ladefläche schob, hörte sie das Knirschen von Metall auf Metall. Die Tür gab mit einem protestierenden Laut nach. Kalte Nachtluft, der Gestank von brennendem Gummi und das flackernde Licht von Straßenlaternen erfüllten den Laderaum. Die Gestalt des Ritters war ein Schattenriss vor der tintenblauen Nacht. In der Faust funkelte sein Schwert. Metall ächzte unter den gepanzerten Stiefeln, als der Ritter in den Wagen stieg.
Arkens Äpfel
Als sich die Ladentür öffnete, bereute Adrian spontan, mit Juri befreundet zu sein.
Die Milchglasscheibe der Eingangstür ließ nur einen verschwommenen Blick auf die Gestalt hinter der Tür zu. Doch die Silhouette war Adrian von seinen Botengängen vertrauter, als ihm lieb war.
Vielleicht konnte er sich noch verstecken? Wenn er sich augenblicklich zu Boden fallen ließe, hinter der Verkaufstheke abtauchte … Doch es war zu spät. Die Frau, die über die Schwelle stapfte, hatte ihn bereits erspäht. Schon schob sie das Kinn vor, straffte ihre Schürze und hielt mit der Entschlossenheit eines Panzers auf ihn zu. Die Comics, Brettspiele und Bücher, die sich in den Regalen des Seetrolls bis zur Decke türmten, würdigte sie keines Blickes.
Adrian unterdrückte ein Stöhnen und machte sich eine mentale Notiz, nie wieder für Juri einzuspringen.
Jeder in Arken kannte und fürchtete die widerborstige Apfelverkäuferin. Adrian hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie den riesigen Björn Eriksson mit einem einzigen Blick auf die andere Straßenseite zwang. Und nun war der einen Meter fünfzig große »Albtraum von Arken« hier im Seetroll. Adrians Blick schoss durch den Verkaufsraum. Es gab nur den einen Eingang, zwei Tische, auf denen sich Miniaturen und Manga-Neuheiten sammelten, und meterhohe Regale, die den ovalen Raum säumten. Vielleicht könnte er sich in den angrenzenden Raum flüchten, in dem sich Juris Rollenspielrunde jeden Samstag traf?
Du könntest auch einfach einen Herzanfall vortäuschen, Kleiner. Bleich genug dafür bist du jedenfalls.
Wenn Katze Kommentare wie diese machte, bedauerte Adrian es, nicht von einem anderen Totem auserwählt worden zu sein.
Du glaubst doch nicht etwa, dass sich irgendwer sonst mit dir abgegeben hätte?
Adrian rollte nur mit den Augen. Dass Katze seine Gedanken lesen konnte, machte es nicht einfacher.
Ein Blick in das verkniffene Gesicht der Alten machte klar, dass sie das Augenrollen missverstand. Um ihren Zorn nicht herauszufordern, hob Adrian beschwichtigend die Hände und kämpfte sich ein falsches Lächeln ab:
»Äh, Frau Giersch-Grantowitz, was kann ich …«
»Du gefährdest dein Seelenheil, Bursche!«
Adrian klappte den Mund zu und blinzelte zweimal. Die Alte richtete den gekrümmten Zeigefinger wie eine Waffe auf ihn. Der pralle Jutebeutel an ihrem Handgelenk pendelte gefährlich.
»Wie könnt ihr dieses Teufelszeug zum Verkauf anbieten? Wisst ihr denn nicht, wie gefährlich das ist?«
Adrians künstliches Lächeln erstarb vollends. Sein Blick glitt von dem faltigen Gesicht der Frau über die Regale voller Brettspiele, die in der Luft schwebenden Plastikraumschiffe, den Tisch mit den Miniaturdrachen und schließlich zu den Elfenohren aus Latex. Schräger Krempel sicherlich, aber Teufelszeug?
»Ich glaube, Sie haben sich in der Tür geirrt«, versuchte er es vorsichtig, »das Geschäft mit den Lavalampen ist eine Tür weiter.«
Die Alte trat näher an die Verkaufstheke, was Adrian einen Schritt zurückweichen ließ. Sie roch nach sauren Äpfeln, Mottenkugeln und Kohl.
»Halt mich nicht zum Narren, Bursche. Meinst du, ich habe mir die Zaubersprüche im Schaufenster etwa eingebildet? Zauberei ist Teufelszeug und hat in Arken nichts verloren!«
Siehstdu, deshalb essen Katzen keine Äpfel. Die weichen nur das Hirn auf.
Ausnahmsweise musste Adrian Katze zustimmen. Um die Frau davon abzuhalten, noch näher zu kommen, sagte er:
»Tut mir echt leid, aber wir verkaufen keine Zaubersprü …« Adrian unterbrach sich selbst, als ihm etwas einfiel. Er konnte ein Grinsen kaum unterdrücken.
»Ach, Sie meinen die Zaubersprüche des Schwarzen Auges?«
Als sich das Gesicht der Frau weiter verfinsterte, beeilte sich Adrian hinzuzusetzen: »Das ist ein Regelbuch für ein Rollenspiel.«
Ihr Blick wurde nicht milder.
»Ähm, also so was wie ein Brettspiel.«
Sie zuckte mit keiner Wimper.
»Verstehen Sie, das sind keine echten Zaubersprüche, die gehören zu einem Spiel.«
Die Begeisterung, das Missverständnis aufgeklärt zu haben, schien die Alte nicht zu teilen. Ihre beiden Brauen verbanden sich zu einer, während sich ihre Augen zu Schlitzen verengten.
»Du glaubst also, das Spiel mit dem Teufel ist ein Zeitvertreib für Kinder? Du setzt dein Seelenheil aufs Spiel, Bursche! Nimm diesen Unsinn aus dem Schaufenster, bevor es jemanden ins Verderben reißt!«
Adrian wich einen weiteren Schritt zurück und hob die Hände.
»Ähm, hören Sie. Ich arbeite hier eigentlich gar nicht. Ich bin nur für einen Freund eingesprungen …«
Aber die Alte hatte sich schon umgedreht, stiefelte auf das Schaufenster zu und ließ ihn mit Worten, unverrückbar wie Pflastersteine, wissen: »Du kannst mir später danken, Bursche.«
Schon beugte sie sie sich hinab zur Ware in der Auslage.
»Warten Sie! Sie können doch nicht einfach Sachen aus dem Schaufenster nehmen.«
Adrian wedelte wenig elegant mit den Armen, während er sich hinter der Theke hervortraute. Doch noch bevor sich die Alte das Buch über die Zaubersprüche Aventuriens unter den Arm klemmen konnte, schwang die Eingangstür erneut auf.
Ein kleiner dreibeiniger Hund stolperte schwanzwedelnd in den Laden, gefolgt von einem zottligen braunen Haarschopf.
»Adrian, du wirst nicht glauben, was ich gerade von der Post …«
Der Junge, der schon einen Fuß in den Laden gesetzt hatte, erstarrte. Seine breiten Schultern füllten den Türrahmen beinahe aus. Eine Strähne seines langen braunen Haars löste sich hinter gewundenen Hörnern und fiel ihm in die Stirn.
Die Alte fuhr herum. »Ah, da ist er ja! Wie ich schon deinem begriffsstutzigen Spielkameraden erklärt habe, könnt ihr nicht Zaubersprüche und anderes Teufelswerk verkaufen!«
Pampelmuse wich zurück und versteckte sich unter einem Tisch. Juri schluckte und schob sich, als würde er einen unsichtbaren Widerstand überwinden, vollends in den Comicladen.
»… Wir gefährden unser Seelenheil. Ja, das habe ich schon beim letzten Mal verstanden und eigentlich auch schon bei dem Mal davor.«
Die Alte stemmte ihre Fäuste in die Hüften und streckte den Kopf angriffslustig nach vorne. Adrian fragte sich, wie sie wohl reagiert hätte, wenn sie die Hörner auf Juris Stirn hätte sehen können. Wahrscheinlich hätte sie einen wütenden Mob versammelt, um den gesamten Seetroll abzufackeln.
»Und warum steht dieser Unfug dann immer noch hier herum?« Die Frau machte eine Geste, die den gesamten Laden und Adrian einschloss. »Gerade von der Jugend Arkens hätte ich mehr erwartet. Statt euer Hirn mit Teufelskram zu vergiften, solltet ihr euer Taschengeld für etwas Gesundes ausgeben!«
Und wie aus dem Nichts erschien ein roter Apfel in ihrer rechten Hand.
Zwanzig Minuten später verließ Giersch-Grantowitz mit einem deutlich leichteren Beutel den Laden.
Juri biss in einen roten Apfel und stützte sich schwer auf den Tresen, der protestierende Laute von sich gab. Pampelmuse traute sich unter dem Tisch hervor und warf misstrauische Blicke in Richtung Tür.
»Ich bin jetzt völlig pleite.« Juri schob sich die wilde Mähne hinter die Hörner und blickte auf den Haufen Äpfel vor sich. »Immerhin schmecken die nicht übel.«
Adrian packte seinen Freund bei den breiten Schultern.
»Wieso hast du mich nicht vorgewarnt, dass die Giersch-Grantowitz hier vorbeikommen könnte?«
Juri wandte den Blick ab. Die vielen Medaillons auf seiner Brust klimperten.
»Äh ja, hätte ich wohl machen können …« Er wischte sich die Hände an seiner von Aufnähern übersäten Weste ab und spähte aus den Augenwinkeln zu Adrian. »… aber dann wärst du ja nie für mich eingesprungen.«
Adrian nickte heftig. »Ganz genau! Also verdrückst du dich, um mal eben zum Postamt zu gehen, und lässt mich mit dem Albtraum von Arken allein?«
»Ach was.« Juri klopfte ihm auf den Arm, dass es Adrian fast umwarf. »Für einen Katzenschamanen ist so eine Giersch-Grantowitz doch eine Kleinigkeit.«
Adrian wollte erwidern, dass er lieber mit einem siechen Ghul diskutieren würde als mit der irren Apfelverkäuferin. Doch Juri kam ihm zuvor. Er schob seine breite Hand in eine Tasche seiner löchrigen Jeans und machte ein angestrengtes Gesicht. »Ah, da ist er ja.«
Als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie einen zerknitterten, fleckigen Briefumschlag. Er sah aus, als hätte er eine Weile in einem Mülleimer gelegen und sich dann von einem Bus überfahren lassen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Adrian, dass der Umschlag aus Papierresten zusammengeklebt war. Er beugte sich weiter vor, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können. Der zerknitterte fleckige Umschlag hatte keinerlei Briefmarke.
»Von wem ist der?«, wollte Adrian wissen.
Der Troll hob nur die kräftigen Arme. »Keinen Schimmer. Steht kein Absender drauf. Ich wollte ihn mit dir zusammen aufmachen.«
»Warum?«
»Darum!«
Juri hielt ihm grinsend das fleckige Stück Papier vor die Nase. Die Schrift war etwas ausgeblichen, und Adrian brauchte einen Moment, um die schiefen Buchstaben zu Worten zu verknüpfen. Dann klappte sein Mund auf, und er las die Adresse noch mal. In handgeschriebenen Buchstaben stand dort:
Juri, Adrian und Jazz
Seetroll
Arken
Töchter des Zirkels
Die Dielen stöhnten im immer gleichen Rhythmus in der winzigen Dachkammer. Lediglich vier Schritte trennten die Tür vom Dachfenster. Jazz tigerte die Strecke auf und ab. Von der Tür zum beschlagenen Fenster und wieder zurück, den Blick auf den Stoß Papier in ihren Händen gerichtet. Es gab Probleme. Viele Probleme.
Immer wieder berichteten jetzt Magika vom Versagen des Schleiers. Was hieß, dass sie von den anderen Bewohnern Arkens erkannt wurden, was für jede Menge Probleme sorgte.
Getrocknete Kräuter pendelten von den Dachbalken, während Kerzen tanzende Schatten auf die Dachschräge warfen, als Jazz wieder in die andere Richtung lief.
Sie blätterte auf die nächste Seite und änderte erneut die Richtung.
In der Unterstadt machten die Bannkreise Probleme. Diese waren einst von der Magista gezogen worden, um die Ghule vor den Siechen zu schützen. Wurden sie nicht regelmäßig kontrolliert, waren alle Unterstädter gefährdet. Jazz würde sich die Bannkreise selbst ansehen müssen.
Sie erreichte die Tür, von der grüne Farbe blätterte, und marschierte wieder zurück, vorbei an gezeichneten Glyphen, Talismanen und Sternenkarten, welche die Wände bedeckten.
Björn wollte mit ihr reden. Dringend. Doch seit Jazz erfahren hatte, dass er ein Ritter des Ordens gewesen war, jenes Ordens, der seit Jahrhunderten Jagd auf Hexen machte, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, mit ihm allein zu reden. Sie rieb sich über die Stirn. Natürlich ahnte sie, worüber er mit ihr sprechen wollte. Als wenn sie nicht selbst spürte, wie die Magista mit jedem Tag schwächer wurde.
Das Knarzen der Dielen schien mit jedem Schritt lauter zu werden, als ob die alte Villa von dem ständigen Auf und Ab genervt wäre. Jazz legte den Kopf in den Nacken und stöhnte. »Ich weiß, aber ich kann einfach besser denken, wenn ich gehe.«
Sie lehnte sich gegen einen der Balken wie gegen einen alten Freund und rutschte daran zu Boden. Ihre müden Augen wanderten zu dem Dachfenster, gegen das sachter Regen prasselte. Wahrscheinlich sollte sie das Fenster trotzdem öffnen. Schleier blauen Dunstes wogten durch die Kammer. Aber Jazz zuckte nur mit den Schultern und atmete den lavendelschweren Duft der Räucherstäbchen ein. Schon heftete sich ihr Blick wieder auf die Liste in ihren Händen. Mit jedem Tag wurde sie länger.
Eine halbe Stunde später gab sie auf.
Zwar berichtete die Arken Laterne jetzt deutlich wohlwollender über paranormale Begegnungen in Arken. Aber die Eltern der Kinder, die tagelang im Wald verschwunden waren, hatten eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen, die nachts in Arken patrouillierte. Zudem schien es Spannungen unter den Wehrwölfen zu geben. Jazz wusste, wieso. Seitdem Titus in einer Gestalt zwischen Wolf und Mensch gefangen war, brodelte ein Konflikt. Jazz würde mit den Wölfen reden müssen, damit die Lage nicht eskalierte. Sollte sich das Rudel aufspalten, würden sich auch die Probleme verdoppeln.
Die Glyphen auf Jazz’ Fingern schimmerten matt, als sie die Zettel zu Boden fallen ließ. Die Hexe rieb sich die müden Augen, wobei die Reifen an ihren Armen klimperten. Eigentlich hätte sie daran arbeiten sollen, ihr Diarium so schnell wie möglich mit Glyphen zu füllen. Aber dafür fehlte ihr ebenso die Zeit wie für eine heiße Dusche oder eine ganze Nacht Schlaf. Egal, was sie auch tat, die Probleme wuchsen zu schnell, um sie zu lösen. »Ist die Bettdecke zu kurz, wird man frieren, egal wie man sich darunterlegt«, lautete ein weiterer Spruch der Magista. Einer, den sie viel zu oft gehört, aber noch nie so deutlich gespürt hatte.
Alle Schwierigkeiten wurzelten in dem einen Problem: Es gab nur zwei Hexen in Arken, und die eine wurde mit jedem Tag schwächer. Die einzige Lösung: Jazz musste andere Hexen finden. Versucht hatte sie es schon, war extra nach Frankfurt gereist, doch der Ausflug hatte ihr nicht mehr eingebracht als ein Buch mit leeren Seiten. Das unscheinbare Notizbuch, das der verstaubte Dieb in der Bibliothek verloren hatte, lag auf ihrem Nachttisch. Jeden Abend, bevor sie für wenige Stunden in einen traumlosen Schlaf dämmerte, blätterte sie es durch. Der Kerl hatte Dinge gewusst, die niemand außerhalb des Zirkels wissen konnte, und das als Mann: Denn Männer gab es im Orden nicht. Er kannte sogar das Motto des Hauses Eisenhut und die Sprichwörter der Magista. Wie konnte das sein? Und was wusste er noch? Das Buch musste einfach ein Geheimnis enthalten, eine Spur, die zu anderen Hexen führte, etwas, das ihr weiterhelfen konnte. Oder war das lediglich Wunschdenken?
Wie schon Dutzende Male zuvor griff Jazz nach dem Buch. Die vergilbten Seiten hatten gerissene Kanten, keine geschnittenen. Doch davon abgesehen sah es normal und unscheinbar aus. Es war kaum größer als ihre Hand und nicht dicker als zwei Finger. Sie blätterte es durch, untersuchte den Rücken, hielt einzelne Seiten gegen das Licht, doch nichts geschah. Weißes Papier zwischen zwei Buchdeckeln. Genau wie die anderen Dutzend Male zuvor auch. Auch wenn sie sich das wünschte: Dieses Buch war kein Zauberbuch, dessen Inhalt auf magische Weise all ihre Probleme löste. Das wäre auch zu schön gewesen. Jazz klappte das Buch zusammen und strich seufzend mit dem Daumen über den Vorderschnitt. Gerade wollte sie es wieder auf den Nachttisch legen, als ihr etwas auffiel. Die Kanten der geschlossenen Seiten waren plötzlich fleckig geworden. Noch während sie auf das Buch blickte, verschwanden die Flecken wieder. Spielten ihr ihre Augen einen Streich?
Mit zitternden Fingern strich sie erneut über das Buch. Nichts geschah. Sie holte Luft und blies vorsichtig auf die geschlossenen Buchseiten. Als hätte sie gegen beschlagenes Glas gehaucht, veränderte sich das Papier. Beinahe rutschte ihr das Buch aus den Fingern, als dunkle Umrisse auf den Papierkanten erschienen und sich zu einem Muster formten. Es sah aus wie ein Kreis mit einer geschlossenen Hand in der Mitte … oder? Nein, keine Hand. Etwas Ähnliches, etwas Vertrautes. Doch das Muster verschwand bereits wieder. Jazz füllte ihre Lungen mit Luft, als lautes Trampeln und ächzende Treppenstufen unerwarteten Besuch ankündigten.
Die Tür flog auf, ohne dass jemand angeklopft hätte. Etwas kleines Graues hopste durch den Spalt, dann schoben sich zwei gewundene Hörner ins Innere der Dachkammer.
»Jazz, du glaubst nicht, wer uns geschrieben hat!«
Jazz ließ das Buch sinken und versuchte, den kleinen Hund davon abzuhalten, sie abzulecken. Das fehlende Bein schien Pampelmuse durch besondere Hartnäckigkeit auszugleichen.
»Wenn das wieder ein Versuch ist, die Runde zusammenzubringen, ich hab echt keine Zeit.«
Jazz blickte zu dem Buch neben sich, während sie den Hund kraulte. Sie war so kurz davor, hinter das Geheimnis des Buches zu kommen. Doch Juri ließ sich nicht aufhalten.
»Glaub mir, das willst du hören.«
Nachdem der Troll seine breiten Schultern durch den Türrahmen gezwängt hatte, quetschte sich auch Adrian in die Kammer. Juri warf sich auf Jazz’ Bett. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zwinkerte er ihr verschwörerisch zu.
Jazz seufzte. Bestimmt wollte Juri sie zum vierten Mal diese Woche überzeugen, die Dungeon-Slayer-Runde und ihre Warlock-Bardin wiederzubeleben.
»Hör zu, Juri, es ist echt lieb, dass du mich dabeihaben willst, aber ich kann gerade echt überhaupt nicht. Frag doch einfach Kassandra, ob …«
»Nein, das ist es nicht«, unterbrach sie Adrian.
Zum ersten Mal wandte Jazz den Blick von dem Schatz neben sich ab. Etwas in Adrians Blick ließ sie aufhorchen.
»Wir haben eine Nachricht erhalten. Wir alle drei.«
In den Händen hielt er ein zerknittertes Papier. Jazz’ Gedanken lösten sich immer mehr von ihrem Buch. Was für eine Nachricht? Hoffentlich nicht noch ein Problem, um das sie sich kümmern musste. Doch Adrians Augen strahlten, als er vor ihr in die Hocke ging und ihr den Brief entgegenhielt wie eine Kostbarkeit.
»Merle hat uns geschrieben!«
Jazz klappte der Mund auf.
»Ja, Merle! Sie hat einen Brief an den Seetroll geschickt.« Wie zum Beweis hielt Adrian das zerknitterte Papier hoch. Jazz warf einen Blick darauf, konnte die gekritzelten Buchstaben aber kaum erkennen, weil Adrian anfing, wild zu gestikulieren. Seine Lippen bewegten sich immer schneller, doch Jazz hörte die Worte nicht. Merle hat uns geschrieben!, hallte es in ihrem Kopf. Langsam blickte sie zu Juri, der auf der Bettkante saß und sie mit seinem breitesten Trollgrinsen anstarrte. Pampelmuse hockte auf seinem Schoß mit einem ganz ähnlichen Gesichtsausdruck.
Etwas Warmes breitete sich in Jazz’ Brust aus. Merle hatte geschrieben! Sie war am Leben! Jazz spürte, wie sich ihr Mund verzog und sie Juris Lächeln erwiderte. Eine Hand ergriff ihre, und sie fühlte Adrians warme Finger zwischen ihren. Sein Griff verstärkte sich, als sie ihn wieder ansah.
»Sie ist entkommen, Jazz. Sie scheint dem Orden entkommen zu sein und braucht unsere Hilfe, um zurück nach Arken zu kommen.«
Helle Zähne blitzten zwischen seinen Lippen auf. Jazz wusste, dass Adrian seit dem Tag von Merles Entführung nach ihr suchen wollte. Er hatte die Magista, Björn und jeden, der zuhören wollte, regelrecht bedrängt. Doch wo hätten sie suchen sollen? Und selbst wenn Björn ihnen verraten hätte, wo die Ordensburg zu finden war – was hätten sie der Macht des Ordens entgegenzusetzen gehabt?
Wie jedes Mal, wenn sie an ihre Freundin dachte, schnürte sich Jazz die Kehle zu. Sie hatte Merle damals zurückgelassen, um in Frankfurt erfolglos nach Antworten zu suchen. Wäre sie in Arken geblieben, wären die Kinder nicht verschwunden und Merle nicht entführt worden.
Adrian scheuchte sie aus ihren düsteren Gedanken, als er ihre Finger losließ und ihr den Zettel mit einer auffordernden Geste in die Hand drückte.
Das Papier war eingerissen und sah überhaupt so aus, als hätte es jemand länger mit sich herumgetragen. Die Buchstaben wirkten, als wären sie unter großer Eile geschrieben worden. Einige waren verwischt oder gänzlich unlesbar. Aber schließlich entzifferte Jazz den ersten Eintrag, und danach wurde es einfacher.
Mittwochnacht
Kein Schlaf. Arme gefesselt. Von Ritter gefangen. Bauwagen. Nacht voller Laute.
Donnerstag
Ritter holt Essen/Wasser. Fesseln sind eng. Knie schmerzt. In Bauwagen gefangen.
Freitag
Verstecken uns jetzt in den Tunneln. Kommen wegen Knie kaum voran. Der Ritter (Gabriel) hat meine Fesseln gelöst. Schreie in der Nacht.
Samstag
Gabriel hat einen Snackautomaten geplündert. Endlich Essen! Er wechselt mehrmals den Verband um mein Knie. Wollen in der Nacht aus Grotenheim fliehen.
Montag
Konnten nicht entkommen. Am Bahnhof überall Verzehrer. Gabrielhat aufgehört, nach anderen Rittern zu suchen. Wir verstecken uns wieder in den Tunneln.
Dienstag
In der Nacht Kampflärm. Wir sind in ein anderes Versteck geflohen – alte Lagerhalle. Hier gibt es Wasser! Mein Bein wird nicht besser. Ich will zurück nach Arken, aber wie? In den Straßen Männer in Anzügen. Verzehrer?
Mittwoch
Wir schaffen es nicht. Gabriel ist zurück im Versteck. Er ist verletzt. Die Verzehrer bewachen alle Ausgänge aus Grotenheim. Wenn wir zum Orden gehen, sperren sie mich ein. Gabriel meint, er wird das nicht zulassen. Ohne ihn hätten sie mich längst.
Wir brauchen Hilfe!
Der letzte Satz war so verschmiert, dass Jazz ihn zweimal lesen musste. Sie schob sich die Locken aus der Stirn, atmete ein und ließ die Luft mit einem tiefen Seufzen entweichen.
»Wir müssen sie da rausholen!«, sagte Adrian, nachdem Jazz weiterhin schweigend auf den Brief starrte.
Juri sprang auf und hob eine hechelnde Pampelmuse in die Höhe.
»Das ist der Ruf zu unserer Quest! Wir bringen die Gruppe wieder zusammen. Ich hab ja gesagt, die Gruppe aufzuspalten, ist immer eine schlechte Idee. Gemeinsam kann uns nichts aufhalten.«
Adrian und Juri klatschten sich ab. Dann jubelte der Troll: »Auf nach … äh, wo genau liegt Grotenheim eigentlich?«
Jazz schob sich in die Höhe und hob die Hand, um die beiden zu stoppen.
»Jetzt wartet mal. Merle ist auch meine Freundin, und ich will sie so schnell wie möglich dort rausholen, aber …«
»Aber?« Adrian hob eine Augenbraue.
»Merle ist nicht die einzige Magika, die uns braucht.« Jazz hielt den Stapel Papiere hoch. »Der Schleier ist so schwach wie nie. Überall wird die Luft für Magika dünner. Arken ist die letzte Zuflucht, und selbst hier türmen sich die Probleme. Wir … Ich kann nicht einfach loslaufen und alle hier im Stich lassen.«
Juri plumpste zurück aufs Bett. Adrian wich einen Schritt zurück und blickte Jazz aus zusammengekniffenen Augen an.
»Also lässt du lieber Merle im Stich?«
»Sei nicht unfair. Natürlich will ich ihr helfen. Aber wir müssen uns das genau überlegen. Wer soll hier die Stellung halten? Es gibt keine anderen Hexen in Arken. Und selbst wenn wir gehen: Dort, wo Merle ist, scheint es vor Verzehrern nur so zu wimmeln. Was, wenn wir denen in die Hände fallen, wer kümmert sich dann um Arken? Oder was, wenn der Brief eine Falle ist?«
»Stimmt, es wäre nicht das erste Mal, dass wir so aus Arken gelockt werden«, brummte Juri.
Adrian breitete die Arme aus.
»Aber ihr habt es doch gelesen: Merle braucht Hilfe, und zwar jetzt. Wir können nicht ewig hier sitzen und überlegen. Und ja, der Schleier wird schwächer.« Er hob die Handflächen. »Du und Tante Lia, ihr tragt einfach zu viel. Alle Magika in Arken verlassen sich auf euch. Und meiner Tante geht es nicht gut. Wir brauchen jemanden, der ihr und dir mehr abnehmen kann. Wir brauchen andere Hexen, um den Schleier neu zu weben.«
Jazz verschränkte die Arme, aber nickte.
»Und Merle ist mit diesem Ritter unterwegs. Einem Ritter des Ordens, der Magika jagt. Vielleicht war deine Mutter nicht die einzige Hexe des Ordens. Vielleicht ist dieser Ordensritter die Spur, die uns zu anderen Hexen führt.« Versöhnlicher setzte er hinzu: »Wir sehen, wie du dich um alles kümmerst. Aber das kann so nicht weitergehen. Tante Lia braucht mehr Ruhe und du auch.«
»Aber wir können nicht zu dritt über die Zukunft von Arken entscheiden. Das Risiko ist einfach unüberschaubar. Deine Tante braucht uns. Arken braucht uns und Merle auch. Und wir können nicht an zwei Orten gleichzeitig sein«, sagte Jazz.
Adrian legte den Kopf schief, als fände er im Dachgebälk die Antwort auf alle Fragen. »Ich könnte auch nur mit Juri gehen.«
»Oh nein! Wir spalten nicht die Gruppe auf! Das ist immer eine schlechte Idee.« Der Troll hatte die Augen aufgerissen und blickte zwischen Adrian und Jazz hin und her. Auch die Hexe schüttelte den Kopf.
»Sie haben schon Merle, ich lasse nicht zu, dass sie euch auch noch bekommen.« Sie machte einen Schritt auf Adrian zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir werden Merle helfen. Aber wie, werden wir nicht allein entscheiden.«
Adrian ließ die Schultern sinken und sah sie aus seinen blauen Augen durch den Vorhang aus braunen Haaren an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und drehte den Kopf zur Tür.
»Da kommt jemand.«
Jazz hörte nichts außer dem Regen. Sie wollte schon zur Tür gehen und nachsehen, als es leise klopfte und eine schwache Stimme erklang.
»Jasmina, ich dachte meine Elevin könnte etwas Tee und Kekse brauchen. Nichts ersetzt Sonnenschein an Regentagen besser.«
Jazz öffnete die Tür und blickte in das faltige Gesicht der Magista. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, ihre Mentorin so gealtert zu sehen. Die mächtige Hexe, die Arken und seine Bewohner beschützte, hatte sich in eine alte, gebeugte Frau verwandelt. Knotige Finger umklammerten ein Tablett, während sich die Falten um ihre Augen zu einem Lächeln vertieften.
»Ach Jasmina, mein Kind, dein Gesicht ist viel zu jung für all die Sorgen, die ich darauf erkenne. Glaub mir, nach einer Tasse Tee sieht die Welt schon anders aus.«
Jazz erwiderte das Lächeln, nahm ihr das Tablett ab und führte die Magista in ihre Kammer.
Schmunzelnd sah diese sich um. »Ich hätte mir ja denken können, dass ihr alle beieinandersitzt«, sagte sie und ließ sich auf dem Bett nieder, während ihr Blick über die Wände glitt. »Sehr gut, Jasmina –« Sie deutete auf eine Zeichnung. »Das Signum für Konzentration ist dir gut gelungen. Deine Linienführung wird immer sicherer. Du hast wirklich viel gelernt, seit du nach Arken gekommen bist.«
Sie blickte Jazz mit funkelnden Augen an. Dann klopfte sie neben sich auf die Tagesdecke. »Mein Lieblingsneffe, willst du dich nicht zu deiner Großtante setzen und berichten, was für Pläne ihr hier ausbrütet?«
Jazz und Adrian wechselten einen schnellen Blick, während Juri versuchte, sich weiter unter das Dachfenster zu zwängen und so unsichtbar wie möglich zu werden.
Adrian räusperte sich, um Zeit zu gewinnen, und setzte sich. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, tätschelte ihm seine Tante das Knie.
»Seit es Jugendliche gibt, haben sie etwas vor den Erwachsenen zu verbergen. Glaubt bloß nicht, dass ihr die ersten wärt.«
Sie förderte eine Dose aus ihrem Umhang zutage und verteilte Kekse an alle. Nach einem zweiten Blick auf Juri gab sie ihm die ganze Dose. Ihre Stimme klang wie das Rascheln von trockenem Pergament, als sie sprach: »Hab ich euch erzählt, wie ich mich damals auf das Sommersonnenwendfest geschlichen habe?«
Jazz und Juri machten es sich auf dem warmen Dielenboden bequem und teilten sich eine Tasse Tee.
»Es war mir und meinen Schwestern verboten, dorthin zu gehen. Wir waren noch zu jung, um abends so lange aufzubleiben. Aber das machte es für mich nur noch interessanter. Ich wartete, bis meine Schwestern schliefen, und schlich mich aus dem Haus. Die Dielen knarzten furchtbar, und ich rechnete jeden Moment damit, die Stimme meiner Mutter zu hören. Schließlich schaffte ich es aber aus dem Haus. Doch die Straßen waren voll mit Leuten, und die meisten davon kannten unsere Familie. Ich wartete also auf einen günstigen Moment und schlüpfte durch einen Abflussschacht in die Unterstadt, wo schon meine Freundin auf mich wartete. Sie war auch eine Tochter des Zirkels und kannte …«
Jazz unterbrach sie.
»Aus der Oleander- oder Goldregenfamilie?«
Die Magista hielt inne und blinzelte.
»Aus einer anderen Familie«, sagte sie nach einer Pause. Die Tasse in ihrer Hand zitterte, und der Tee schwappte bedenklich.
»Und so konntet ihr ungesehen bis in die Altstadt gelangen?«, fragte Juri, bevor Jazz eine weitere Frage stellen konnte. Die Magista stellte lächelnd die Tasse ab.
»Ja, meine Freundin führte mich durch die Kanäle der Unterstadt. Sie stanken furchtbar, aber schließlich gelangten wir bis zum Grundsee. Dort hatte sie ein kleines Boot versteckt. Wir paddelten in der Dämmerung hinaus und konnten das Sommernachtsfeuer am Kai beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Glut wirbelte gen Himmel wie Glühwürmchen. Ich sehe noch heute die Fackelträger in der Dämmerung vor mir und höre den Gesang herüberwehen. Am meisten begeisterte uns jedoch, wie gerissen wir waren. Wir hatten einen Weg gefunden, beim Fest dabei zu sein, obwohl unsere Mütter es uns verboten hatten.«
Das Zittern ihrer Finger griff auf ihren restlichen Körper über. Obwohl es in der Dachkammer behaglich war, schlang sie sich ihren Umhang enger um die Schultern. Jazz wollte aufstehen und ihr helfen, aber die Magista schüttelte nur den Kopf. Eine Strähne weißen Haars löste sich und fiel ihr in die Stirn. Die Amulette um ihren Hals klimperten, und sie wartete, bis das Zittern abebbte, ehe sie weitersprach.
»Wir waren schon so weit gekommen, ohne dass jemand uns bemerkte, also versuchten wir, noch näher an das Geschehen im Hafen zu kommen. Und das hätte auch geklappt, wenn das Boot nicht so geschaukelt hätte. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist kaltes Wasser überall. Meine Kleidung sog sich voll mit Wasser, und ich wurde schwer wie ein Stein. Schlimmer waren jedoch all die Geschichten über das Ungeheuer, das sich im Grundsee verbergen sollte, die mir schlagartig einfielen. Schon sah ich die silbernen Schuppen im dunklen Wasser blitzen. Ich trat um mich und schrie, als ich die Wasserfläche durchbrach. Da packte mich meine Freundin und zerrte mich zurück ins Boot. Wir saßen noch eine Weile klitschnass und frierend beieinander, während sich Boote mit Laternen näherten. Wir fingen uns eine heftige Erkältung ein, aber das war nichts im Vergleich zu dem Donnerwetter, das zu Hause auf uns wartete.«
Die Magista kicherte leise und wirkte für diesen Moment wieder wie ein kleines Mädchen. Der Umhang schien fast zu groß für sie, als sie den Zeigefinger hob.
»Es war allerdings nicht das letzte Mal, dass wir uns hinausschlichen. Manche Regeln muss man einfach brechen, wenn man jung ist, oder man befolgt sie ein Leben lang, ohne sie zu hinterfragen.«
Sie lächelte in sich hinein, als würde sie alte Fotoalben durchblättern. Stille machte sich im Raum breit. Der Dunst der Räucherstäbchen hing in blauen Schwaden in der Luft. Medaillons pendelten träge von den Balken. Nur der Nieselregen und das Hecheln von Pampelmuse waren zu vernehmen.
»Das klingt nach einer guten Freundschaft«, sagte Adrian schließlich.
Die Magista wandte sich ihm zu. Nacheinander blickte sie auch Juri und Jazz an, jetzt wieder ganz die alte Frau, die den Raum betreten hatte.
»Ich fürchte, nicht alle sind so glücklich in der Auswahl ihrer Freunde wie du, Adrian.«
Sie schien noch etwas sagen zu wollen, als ihr Körper auf einmal zu beben begann. Ihre Glieder zitterten wie Zweige im Sturm. Wäre Adrian nicht gewesen, der ihr schnell den Arm um die Schulter legte, wäre sie vom Bett gestürzt. Jazz sprang auf und griff nach der Hand der Magista. Die Haut war kalt und so dünn, dass Jazz fürchtete, sie schon durch diese Berührung zu verletzen. Vorsichtig rieb sie über die bebenden Finger, um etwas von ihrer eigenen Wärme abzugeben. Nach einigen Atemzügen wurde das Zittern wieder schwächer.
»Magista, bitte, Sie brauchen Ruhe«, sagte Jazz. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich begleite Sie hinunter und setze einen Baldrian-Anis-Sud auf.«
Die Magista öffnete die Lippen, konnte sich aber nur ein Nicken abringen.
Während Juri die Tür aufhielt, stützten Adrian und Jazz die Magista auf beiden Seiten. Als sie die Dachkammer verließen, blickte Jazz zurück auf das Buch am Boden. Ohne es zu wollen, hatte ihr die Magista den entscheidenden Hinweis gegeben. Sie wusste jetzt, welches Zeichen sie auf dem Buch gesehen hatte und warum es ihr so bekannt vorkam. Und das machte das Buch noch viel gefährlicher, als sie angenommen hatte.
Golddistel und Nachtschatten
Milchige Schwaden stiegen vom Grundsee auf und wogten durch Arkens Gassen. Ein stummer Versuch des Sees, alles in Feuchtigkeit zu ersticken. In diesen zwielichtigen Morgenstunden bedeckte ein nebeliger Teppich das Pflaster der Stadt. Nicht zum ersten Mal rutschten Jazz’ Stiefel über die glatten Steine. Ihr Wollmantel sog die Nässe aus der Luft und wurde schwer. Doch der Blick der jungen Hexe war nur auf den schwachen Schimmer gerichtet, der in unvorhersehbaren Bahnen über ihr in der Luft kreiste. Der Verirrdichnicht-Zauber hatte ihr schon einmal gute Dienste erwiesen. Auch diesmal sollte sie der schimmernde Käfer zu ihrem Ziel führen.
Jazz befand sich in einem der ältesten Winkel der Stadt. Die Jahrhunderte hatten die Steine blank poliert. Einige fehlten ganz. Das bräunliche Gras in den Ritzen war stummer Zeuge des Verfalls.
Nur selten verirrte sich Jazz in das zwischen Kai und Kanal eingekeilte Hafenviertel. Und wenn, dann nur, weil sich hier einige der scheuesten Bewohner Arkens verbargen. Die vorstehenden Dächer berührten sich und verwandelten die krumme Gasse in einen schmalen Tunnel. Fensterläden hingen schief in den Angeln, wo sie nicht gänzlich vernagelt waren. Vor ihr quiekte eine katzengroße Ratte, durch das Schimmern des Verirrdichnicht aufgeschreckt. Das Nagetier warf ihr einen hungrigen Blick zu, bevor es durch ein gesplittertes Kellerfenster huschte. Ein verwittertes Schild, auf dem schwächlich ein grüner Krake zu erkennen war, bewarb eine längst aufgegebene Schankwirtschaft. An den Fassaden machten vergilbte Plakate auf die Dienste von Gossenfischern und Forellengerbern aufmerksam. Niemand kam ihr entgegen, doch Jazz vermutete, dass ihr hinter den Fensterläden wachsame Augen folgten.
Als sie schließlich das aufgerissene Karpfenmaul eines Wasserspeiers über sich erkannte, wusste sie, dass ihr Ziel nah war.
Nach zwei weiteren Biegungen gabelte sich die Gasse. Direkt vor ihr trotzte ein einsames Haus. Der schmiedeeiserne Zaun reckte sich ihr abwehrend entgegen, Unkraut hatte längst den Vorgarten übernommen. Efeu erstickte einen alten Apfelbaum. Am Schmiedezaun wanden sich Kletterrosen empor, während Golddistel und schwarzer Nachtschatten um Platz und Licht kämpften. Wirkte der wilde Garten voller Leben, war die Villa ohne jede Spur davon. Nebel und Regen hatten jegliche Farben aus dem Gebäude gewaschen. Und dieses hatte entschieden zu viele Ecken und Kanten, befand Jazz. Die Villa glich mehr einer Festung als einem Heim. Wie ein altes verletztes Raubtier, dem Ende nah und doch gefährlich. Jazz unterdrückte ein Schaudern und wandte den Blick wieder zu dem rostigen Zaun, der in der Mitte von einem Torbogen unterbrochen wurde. Über der Pforte prangte ein Symbol. Ein metallener Kreis, in dessen Mitte die Klaue eines Vogels zu sehen war. Jazz trat näher und blies herzklopfend auf das Buch, das sie unter ihrem Mantel hervorzog. Das Muster auf dem Vorderschnitt erschien, und jetzt erkannte sie deutlich, dass es in der Tat eine Klaue und keine Hand darstellte. Es war das gleiche Symbol wie auf dem Haus!
Jazz schluckte und hielt das Buch mit beiden Händen fest, während ihr Blick erneut zum Gebäude wanderte. Der Zaun war komplett geschlossen, fiel ihr auf, und seine Spitzen noch dazu nach außen gerichtet. Die Fenster waren so schmal, dass sie Schießscharten glichen. Sie konnte es nicht genau erkennen, meinte aber, vor der Eingangspforte ein Fallgitter zu sehen. Jazz war sich sicher: Ein solches Haus gab es in Arken kein zweites Mal. Blinzelnd betrachtete sie die goldenen Leylinen, die einem Spinnennetz gleich von dem Gebäude ausgingen. Nein, nicht wirklich von dem Gebäude. Die Villa war ohne Zweifel auf einem magischen Knotenpunkt errichtet worden.
Das hier musste der Ort sein, an dem Antworten auf sie warteten. Eine Spur, die zu anderen Hexen und vielleicht zur Rettung des Schleiers führen mochte.