Miss Daisy und der Mord unter dem Mistelzweig - Carola Dunn - E-Book
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Miss Daisy und der Mord unter dem Mistelzweig E-Book

Carola Dunn

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Beschreibung

Toodle-oo, Miss Daisy!

Daisy Dalrymple verbringt die Weihnachtstage mit ihrer Familie bei Verwandten – samt nörgelnder Mutter und Ehemann Alec Fletcher von Scotland Yard. Um das prächtige Anwesen in Cornwall ranken sich alte Geistergeschichten, und draußen zieht ein Wintersturm auf. Die Atmosphäre im eingeschneiten Gutshaus ist angespannt, denn schon bald kommen gut gehütete Familiengeheimnisse zum Vorschein. Und eines Morgens liegt im Schnee eine Leiche ... 

Ein atmosphärischer Kriminalfall für alle Fans von »Downton Abbey«.

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Über Carola Dunn

Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.

Eva Riekert ist nach längerer Verlagstätigkeit als freischaffende Übersetzerin und Lektorin in erster Linie in den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur und Junge Erwachsene tätig. Daneben übersetzt sie gelegentlich O-Töne für Dokumentarfilme im Bereich Jazz und Ökologie. Für Aufbau übersetzt sie Bücher von Carola Dunn und Kathryn Croft. Sie lebt derzeit in Berlin.

Informationen zum Buch

Cosy Crime vor dem Kamin

Daisy Dalrymple verbringt die Weihnachtstage mit ihrer Familie bei Verwandten – samt nörgelnder Mutter und Ehemann Alec Fletcher von Scotland Yard. Um das prächtige Anwesen in Cornwall ranken sich alte Geistergeschichten, und draußen zieht ein Wintersturm auf. Die Atmosphäre im eingeschneiten Gutshaus ist angespannt, denn schon bald kommen gut gehütete Familiengeheimnisse zum Vorschein. Und eines Morgens liegt im Schnee eine Leiche.

Ein atmosphärischer Kriminalfall für alle Fans von »Downton Abbey«

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Carola Dunn

Miss Daisy und der Mord unter dem Mistelzweig

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Inhaltsübersicht

Über Carola Dunn

Informationen zum Buch

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Prolog Cornwall, 1874

Kapitel 1 London, 1923

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Danksagung

Impressum

Prolog Cornwall, 1874

Das Boot glitt im Sog der Ebbe sanft den Fluss Tamar hinunter. Da die Segel das Rudern unnötig machten, konnte die Schiffsmannschaft die beiden jungen Herren beobachten, die im Bug saßen.

Abgesehen von den offensichtlichen Ähnlichkeiten – blonde Schnauzer und Backenbärte – verrieten auch ihre Gesichtszüge eine enge Verwandtschaft. Der Ältere war Lord Norville, Erbe des Sechsten Earls von Westmoor. Sein ländlicher Tweedanzug mit den Knickerbockerhosen hob sich von der Militärmontur seines Bruders ab. Albert war gerade aus Indien zurückgekehrt und trug die Uniform eines Leutnants aus dem Regiment des Herzogs von Cornwall.

Die Gesichter der Brüder verrieten mehr als nur die gemeinsame Abkunft. Die beiden Männer schienen sich zu streiten, hatten jedoch die Stimmen gesenkt, so dass nicht einmal die Matrosen in ihrer Nähe verstehen konnten, was der Grund ihrer Auseinandersetzung war. Immerhin schien es sich nicht um eine Bagatelle zu handeln.

Die vergilbten Schilfreihen an den Ufern wichen zurück. Die Barke, die sich dem breiter werdenden Mündungstrichter näherte, begann zu schaukeln. Der Kapitän rief einen Befehl, und die Mannschaft setzte sich in Bewegung, um die Segel zu hissen. Die Norvilles nahmen nichts davon wahr und stritten weiter.

Eine Fregatte kam dampfend aus der Marinewerft von Devonport.

»Du bist ein Narr!«, rief Lord Norville schließlich aus. »Dieser Schwachsinn kann nur Unheil bedeuten. Gib mir das Schreiben!«

Seine Hand griff blitzartig in Alberts Rock und zog ein Schriftstück aus dessen Brusttasche. Er zerriss es, stand auf und machte Anstalten, es über Bord zu werfen. Albert sprang auf und rang mit ihm.

Was er dabei schrie, wurde von dem Motorenlärm der Fregatte übertönt. Mit der vollen Kraft ihrer Überlegenheit schnitt sie der Barke den Weg ab. Ihre Bugwelle traf auf das kleine Boot und warf es umher wie ein Herbstblatt im Wind. Die beiden Männer verloren unversehens das Gleichgewicht und stürzten über Bord.

Als die entsetzte Bootsmannschaft den Kahn wieder unter Kontrolle hatte, waren die Brüder bereits spurlos verschwunden.

Kapitel 1 London, 1923

Also wirklich, Mutter, das geht doch nicht!«

»Jetzt sei bitte nicht schwierig, Daisy.« Die Stimme der Dowager Viscountess klang durch das Knacken in der Leitung recht selbstgefällig. »Vielleicht hast du falsch verstanden, was ich sagte – die Verbindung ist ja entsetzlich schlecht. Nachdem Violet erwähnt hatte, dass du kurz vor Weihnachten nach Brockdene fährst, habe ich Lord Westmoor sofort geschrieben. Und ich muss dir sagen, ich finde, dass ich eigentlich nicht erst über deine Schwester von deinen Plänen erfahren sollte.«

»Entschuldige, Mutter, ich hatte furchtbar viel zu tun, seit Alec und ich aus Amerika zurück sind. Aber …«

»Lord Westmoor war äußerst zuvorkommend. Alles ist geregelt. Wir stoßen am dreiundzwanzigsten Dezember zu euch.«

»Alle?«

»Ich habe Westmoor darauf aufmerksam gemacht, dass du einen Polizisten geheiratet hast. Du hättest den Earl zur Hochzeit einladen müssen, Daisy. Die Norvilles sind schließlich Verwandtschaft.«

»Aber nur entfernte«, murmelte Daisy aufmüpfig. »Cousins zweiten Grades oder so.« Immerhin hatte sie es wegen dieser geringfügigen Verbindung gewagt, Seine Lordschaft um Erlaubnis zu bitten, über Brockdene zu schreiben, daher konnte sie sich eigentlich nicht wirklich beklagen.

Womit Lady Dalrymple ihrerseits fortfuhr. Daisy hatte nicht alles verstanden, was ihre Mutter sagte, aber sie nahm an, dass Alec nicht aus dem Familientreffen ausgeschlossen worden war, trotz seines unterirdischen Berufs.

»Ich gehe davon aus, dass man ihn an Weihnachten nicht von seinem kleinen Mädchen trennen kann.«

»Das will ich doch nicht hoffen, Mutter! Abgesehen davon, Belinda ist ja jetzt auch meine Tochter.«

Aus dem Hörer drang ein resigniertes Seufzen an ihr Ohr. »Ja, Liebes. Und wie Violet berichtet, sind sie und Derek inzwischen dicke Freunde. Vielleicht halten sie sich ja gegenseitig davon ab, Unsinn zu machen.«

Oder sie stacheln sich dazu an, dachte Daisy. »Was ist mit Mrs. Fletcher?«

»Liebling, meinst du denn, dass sich deine Schwiegermutter in dieser Gesellschaft wohl fühlt? Sie ist die Witwe eines Bankdirektors, soviel ich weiß, und auch nur des Direktors einer Zweigstelle …«

»Mutter, Bel ist ihr einziges Enkelkind, und wir reden schließlich von Weihnachten!« Eine nicht ganz überzeugte Stille zwang Daisy, ihren Trumpf auszuspielen. »Und sie spielt Bridge. Gerade eben ist sie zu ihrem wöchentlichen Bridgeabend unterwegs.«

»Hmmm.« Es folgte eine nachdenkliche Pause, dann sagte Lady Dalrymple unwirsch: »Na gut, da du ja nicht bereit warst, Bridge zu lernen … Ich habe Westmoor gegenüber erwähnt, dass sie eventuell mitkommt, und er hatte nichts dagegen einzuwenden. So, Daisy, ich kann es mir wirklich nicht leisten, endlos zu plaudern, bei den Ferngesprächspreisen. Wir sehen uns am Sonntag. Auf Wiederhören.«

Daisy legte auf, verließ die Diele und ging rasch ins Wohnzimmer zurück. Es war ein freundlicher Raum, was Daisy Alecs erster Frau zugutehielt. Die schweren Mahagonimöbel waren mit hübsch gemusterten Stoffen bezogen; die Wände, früher zweifelsohne in düsteren Farben tapeziert, wie man sie in der Viktorianischen Ära liebte, hatte man schlicht weiß gestrichen; und über dem Kaminsims, wo – so vermutete Daisy – dereinst ein Hirsch geröhrt hatte, hing eine farbenfrohe Ansicht von Montmartre.

Diese Umgestaltung konnte Alecs Mutter ihr zwar nicht anlasten, aber sie konnte ihr zu Recht etwas Unordnung vorwerfen: Bücher und Zeitschriften lagen offen auf Tischen herum, ebenso ein halbangefangenes Puzzlespiel, ein Seidentuch hing über einer Stuhllehne und solche Unsitten.

Der schlimmste Fehltritt fläzte sich auf dem Kaminvorleger vor dem knisternden Feuer: Nana, Belindas buntgescheckter kleiner Mischlingshund, sprang auf, als Daisy den Raum betrat, und begrüßte sie mit einem Tanz, als wäre sie fünf Monate fort gewesen, nicht fünf Minuten.

»Platz, Nana!«, sagte Bel und warf ihre rotblonden Zöpfchen zurück, als sie sich von der Schachpartie umdrehte, die sie mit ihrem Vater spielte. »Tut mir leid, Mummy.«

»Ist schon in Ordnung, Schätzchen, sie ist ja nicht an mir hochgesprungen. Sie wird immer lieber.«

Genau wie Belinda. Sie stotterte nicht mehr, wenn sie Daisy »Mummy« nannte, wie sie es anfangs gemacht hatte, obwohl sie sich an ihre leibliche Mutter kaum erinnern konnte. Umarmungen und andere Liebesbekundungen fielen ihr inzwischen leicht. Ihre Großmutter hatte sie stets vermieden, aus Angst, das Kind zu verwöhnen. Belinda lachte nun viel häufiger.

Daisy erkannte in ihrem eigenen zufriedenen Sinnieren den Versuch, nicht sofort eröffnen zu müssen, was sich die Dowager Viscountess mal wieder ausgedacht hatte. Immerhin wäre es Alecs Aufgabe, seine Mutter später behutsam einzuweihen.

Als Alec einen Läufer bewegte, aufsah und fragte: »Was wollte deine Mutter denn, Daisy?«, setzte sie schuldbewusst an.

»Liebling, das willst du lieber nicht wissen.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen. »Du erinnerst dich doch, dass Mutter gejammert hat, ihr Haus sei zu klein, um die ganze Familie zu Weihnachten zu sich einzuladen? Aber sie wollte sich nicht darauf einlassen, dass Cousin Edgar uns alle nach Fairacres einlädt. Ich würde mir wünschen, dass sie sich endlich mit Edgar und Geraldine abfindet. Es ist jetzt fast fünf Jahre her, dass Vater tot ist und der arme Edgar alles geerbt hat.«

»Es wäre vielleicht leichter für sie, wenn das Dower House nicht so nahe bei Fairacres läge.«

»Irgendeinen Grund findet sie immer. Wenn sie im Sarg liegt, wird sie sich darüber beklagen, dass sie ein paar Zentimeter zu tief unter der Erde liegt.«

»Vorsicht!«, warnte Alec sie.

»Oje, vergiss, dass ich das gesagt habe, Bel!«

»Dass du was gesagt hast?«, fragte Belinda und sah vom Schachbrett auf. »Daddy, ich glaube fast, dass du meine Dame in die Enge getrieben hast.«

»Unmensch«, sagte Daisy, die für Schach zu ungeduldig war.

»Ist er nicht! Ich habe Daddy gesagt, er soll mich nicht gewinnen lassen.«

»Gut gemacht, Liebling. Er ist trotzdem ein Unmensch.«

»Nein, ist er nicht«, sagte Bel mit Nachdruck. »Er hat mir vier Bauern geschenkt, ehe wir angefangen haben.«

»Na gut, dann ist er entlastet.«

»Du aber nicht, Daisy«, warf Alec ein und grinste. »Was hat Lady Dalrymple diesmal ausgeheckt?«

»Du wirst es nicht glauben. Irgendwie hat sie Lord Westmoor dazu verdonnert, uns alle über Weihnachten nach Brockdene einzuladen. Auch Vi und Johnnie. Und natürlich auch deine Mutter.«

»Kommt Derek auch?« Als Daisy nickte, breitete sich ein Strahlen über Bels sommersprossiges Gesicht aus. »Toll!«

»Du hattest doch gesagt, dass dir Superintendent Crane über Weihnachten freigibt, Darling?«

»Ja, ich habe also keine Ausrede, um die Einladung von Lord Westmoor auszuschlagen. Ob er wohl weiß, auf was er sich da eingelassen hat?«

»Er wird gar nicht da sein, da bin ich ziemlich sicher; aber ich wette mit dir, um was du willst, dass Mutter glaubt, er sei da. Sie hat mich nicht zu Wort kommen lassen, als ich ihr die schlechte Nachricht mitteilen wollte.«

»Unser Gastgeber wird gar nicht anwesend sein?«

»Als er mir erlaubt hat, einen Artikel über Brockdene zu schreiben, hat er erzählt, es sei eine alte Familientradition, Weihnachten dort zu verbringen, die jedoch schon seit Jahren abgerissen sei. Inzwischen wird das Haus von verarmten Verwandten bewohnt. Ich glaube kaum, dass er Mutter darüber informiert hat. Vielleicht war das seine kleine Rache dafür, dass sie ihn zu der Einladung manipuliert hat. Sie wird außer sich sein!«

*

Und ihre Mutter würde auch nicht erfreut sein über die Anreise nach Brockdene, dachte Daisy, die aus dem Motorboot, das sie von Plymouth über den Tamar gebracht hatte, auf den gepflasterten Anleger trat. Sie drehte sich um und winkte dem Bootsführer zum Abschied zu.

Lord Westmoor hatte sie bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Brockdene ziemlich abgeschieden lag. Die Reise auf dem Landweg sei nicht nur äußerst umständlich, die Straßen in Cornwall seien zu dieser Jahreszeit auch voller Schlamm. Motorfahrzeuge, die sich daraufwagten, müssten oft mit Pferdefuhrwerken herausgezogen werden. Von der nächstgelegenen Bahnstation in Calstock könne man zwar über einen sumpfigen Fußweg nach Brockdene gelangen, aber der Earl glaube nicht, dass Daisy darüber begeistert sein würde. Eine Barkasse zu mieten und den Fluss heraufzufahren sei am schnellsten, einfachsten und günstigsten.

Daisys musste ihren Verleger bei der Zeitschrift Town and Country zwar mühsam davon überzeugen, dass er ihr keinen Vergnügungsausflug bezahlen würde, doch schließlich ließ er sich überreden. Wie auch immer, die Bootsfahrt war tatsächlich ein Vergnügen gewesen.

Vor allem war es ein schöner Tag. In ihrem heidekrautfarbenen Tweedkostüm konnte Daisy sogar auf einen Wintermantel verzichten. Die sanfte, milde Luft Südwestenglands war kaum zu vergleichen mit der feuchten Kälte in London, voller Rauch und Benzindämpfe. Die Sonne schien durch einen Wolkenschleier und ließ das blaugraue Wasser der Bucht von Plymouth glitzern. Über ihr kreisten Silbermöwen. Der gesprächige Bootsführer hatte sie mit seinem trägen Devonshire-Dialekt auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam gemacht, während sie den Tamar entlangtuckerten: Plymouth Hoe, Drake’s Island, die geschäftigen Marinedocks von Devonport, die Mayflower Steps.

Je weiter sie kamen, desto enger wurde das Flussbett, und das Wasser nahm eine graugrüne Farbe an. Der Tamar wand sich durch gelbe Schilfbeete und bewaldete Hänge, hinter denen zu beiden Seiten die grün, golden und braun gefleckten Hügel von Devon und Cornwall anstiegen. Der Bootsführer wies sie auf eine winzige Steinkapelle am Ufer von Halton Quay hin. Er habe von einer weiteren auf Brockdene gehört, die man vom Fluss aus jedoch nicht sehen könne. Nahe bei der Kapelle stießen Kalkbrennereien Rauch aus, in denen Kalkerde zu Düngemitteln gebrannt wurde.

»Verätzt das nicht die Pflanzen?«, fragte Daisy. Sie konnte sich vage erinnern, gelesen zu haben, dass man mit ungelöschtem Kalk auch verseuchte Tierleichen beseitigte.

»Er wird mit Wasser gelöscht, ehe man ihn auf die Felder aufbringt«, beruhigte sie der Bootsführer. »Sehen Sie die Katen dort? Man sagt, dass in den alten Schmugglerzeiten ein roter Unterrock an den Wäscheleinen vor Durchsuchungen warnte und dass man an der Art, wie er aufgehängt war, ablesen konnte, in welcher Gegend die Suche stattfand.«

Er klang etwas nostalgisch, wie Daisy belustigt feststellte, und sie entlockte ihm weitere Geschichten über die Schmuggler. Vielleicht konnte sie daraus ja einen Artikel machen.

»Man sagt«, beendete der Bootsmann seinen Bericht, während er den Liegeplatz von Brockdene Quay ansteuerte, »dass einer der Schmugglerbosse, Red Jack, mit der Familie in Brockdene verwandt war und dass sie ihn vor den Dragonern versteckten, als er schlimm verletzt war. Aber das ist schon um die hundert Jahre her, und was daran stimmt, kann ich nicht wirklich sagen.«

»Das ist aber auf jeden Fall eine interessante Geschichte.«

»Richtig. Die Docks hier versanden allmählich, seit es in Calstock einen Bahnhof gibt. Noch ein paar Jahre, dann kann man nur noch bei Flut herkommen. Tja, die Zeiten ändern sich. Vielen Dank auch, Miss«, setzte er hinzu, als sie ihm ein Trinkgeld gab. »Kommen Sie, ich bringe Ihr Gepäck an Land und halte das Boot für Sie fest.«

Daisy sah etwas beklommen zu, wie er ihre Reisetaschen auf den Anleger warf, einschließlich ihrer Schreibmaschine und ihrer Fotoausrüstung mit dem Stativ, einem vorzeitigen Weihnachtsgeschenk von Alec. Dann stieg sie aus, und das Boot tuckerte flussabwärts zurück.

Kein Mensch war in der Nähe. Daisy sah sich um und entdeckte einen kleinen Pub, ein paar Katen, ein Lagerhaus, weitere der unheimlichen, Rauch ausstoßenden Kalköfen und ein Pförtnerhaus am Fuß einer sehr steilen Auffahrt. Brockdene selbst, das befestigte Herrenhaus, war nicht zu sehen und lag wahrscheinlich auf der Anhöhe.

Daisy musterte den Hügel, dann ihr Gepäck, und stöhnte. Lord Westmoor hatte gesagt, er werde ihre Ankunft ankündigen, und sie selbst hatte an Mrs. Norville geschrieben, wann sie eintreffen werde. Sie hoffte, dass sie nicht unerwünscht war.

In dem Moment wurde eine Tür zugeschlagen. Ein sehniger junger Mann in Wams, Reithose und Gamaschen kam aus dem Pub und blickte zum Anleger herüber. Als er Daisy sah, kam er auf sie zugeschlurft. Er schob einen Handwagen über die Pflastersteine.

»Guten Tag«, sagte Daisy. »Ich hoffe, Sie kommen vom Haus, um mein Gepäck hinaufzubringen?«

»Aye.« Der junge Mann, ein Gärtner wahrscheinlich, berührte seine Mütze, lud wortlos das Gepäck auf den Karren und machte sich auf den Weg.

Daisy beeilte sich, um mit ihm Schritt zu halten. Mit ihrer üblichen freundlichen Art versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen, aber selbst wenn er redete, war sein cornischer Dialekt nahezu unverständlich. Sie hatte größte Mühe, auch nur ein einziges Wort zu verstehen, und gab die Hoffnung bald auf, etwas über die Hausbewohner zu erfahren, denen sie gleich gegenüberstehen sollte.

Ehe sie die Anhöhe erreichten, bekam sie sowieso kaum noch genug Luft, um sich zu unterhalten. Da sie nicht keuchend ankommen wollte, blieb sie oben erst mal stehen. Dessen ungeachtet trottete der Gärtner weiter und verschwand zwischen einer Reihe riesiger Ahornbäume und einem langen, niedrigen Gebäude aus Granit, das mit Flechten bewachsen war. Es sah ziemlich alt aus, war jedoch in bestem Zustand. Eine Scheune vielleicht oder ein Stall? Ein schwacher Geruch nach Farmtieren hing in der Luft. Ob es wohl ein Pferdefuhrwerk gab, mit dem ihre Mutter vom Anleger abgeholt werden konnte?, fragte sich Daisy. Die Dowager Lady Dalrymple würde es gar nicht zu schätzen wissen, wenn sie zu Fuß gehen musste.

Daisy wandte sich wieder dem Weg zu und sah jetzt das Gebäude. Das dreistöckige, mit Zinnen versehene Torhaus mit seinen winzigen Fenstern und dem schmalen Torbogen schien geeignet, um einer Belagerung standzuhalten. Es schrie geradezu nach einem Foto.

»Halt!«, rief Daisy. »Warten Sie bitte.«

Der Gärtner drehte sich um und glotzte sie an.

Sie eilte auf den Handkarren zu und zog ihren Fotoapparat und das Stativ heraus. »Ich möchte ein Foto machen, solange das Licht so gut ist«, sagte sie zur Erklärung. »Morgen regnet es vielleicht.«

Der junge Mann starrte in den blauen Himmel hinauf. Selbst der leichte Dunstschleier hatte sich inzwischen verzogen. »Aye«, sagte er und setzte seinen Weg mit dem Karren fort, durch das eisenbeschlagene offen stehende Tor unter dem Bogen.

Daisy trat zurück und machte mehrere Fotos, worin sie allmählich recht gut wurde. Ihr Verleger murmelte inzwischen nichts mehr davon, ihr einen professionellen Fotografen zur Seite zu stellen. Seit sie verheiratet war, ging es ihr nicht mehr um das Geld, aber sie hatte schließlich ihren Stolz.

Nachdem sie den Apparat abmontiert und das Stativ wieder zusammengeklappt hatte, folgte sie dem Gärtner durch den Torbogen. Der tunnelartige Durchgang war gepflastert und schmal genug für den Verteidigungsfall. An der Wand zur Rechten befanden sich zwei Türen. Daisy überlegte anzuklopfen. Sie unterschieden sich nicht, deshalb ging sie einfach weiter und trat in einen hellen Innenhof mit weiteren Torbögen und Türen. Der Junge mit dem Karren und ihrem Gepäck war verschwunden.

Das war ja kein besonders vielversprechender Beginn ihres Besuchs.

Sie schlug den Weg des geringsten Widerstandes ein, geradeaus, und pochte mit dem eisernen Türklopfer an die große zweiflügelige Tür.

Einen Augenblick später öffnete ein großer schlanker, leicht gebückter Mann und starrte sie durch seine Nickelbrille verdutzt an.

Er trug eine schäbige Tweedjacke über einer grünen Strickweste, einen grau-blau gestreiften Schal um den Hals und eine marineblaue Hose. Wohl nicht der Butler.

»Guten Tag«, sagte Daisy, »ich bin Mrs. Fletcher. Man hat mich doch wohl angekündigt?«

Sein Ausdruck wurde noch verdutzter. »Mrs. Fletcher? Entschuldigen Sie, kenne ich Sie?«

»Nein, keineswegs. Lord Westmoor …«

»Ach so, natürlich, Sie sind der Gast von Lord Westmoor«, sagte er, und seine Miene hellte sich auf. »Der Eingang zum Haus liegt eigentlich auf der anderen Seite, aber kommen Sie doch herein.«

Daisy betrat eine beeindruckende Halle, die ungefähr zwölf Meter lang und sechs Meter breit war. An den weiß getünchten Wänden hingen Standarten und Waffen, von Piken und Schwertern über Musketen bis hin zu alten Pistolen. Ein langer, vom Alter geschwärzter Tisch nahm die Mitte des Raumes ein, und an den Wänden reihten sich Stühle mit geschnitzten Lehnen, die unbequem aussahen. Die bleigefassten Buntglasfenster zeigten Wappen und heraldische Lilien. Eine dekorative offene Balkendecke erhob sich hoch über dem Steinfußboden. Neben dem riesigen Kamin stand eine Rüstung, die sich die Hände an dem mickrigen Feuer zu wärmen schien. Hier drinnen war es tatsächlich kälter als draußen, was den Wollschal des Herrn erklärte.

Daisy wandte ihm nun wieder ihre Aufmerksamkeit zu und sagte lächelnd: »Ich bin nicht direkt ein Gast von Lord Westmoor, wenigstens vorerst noch nicht. Der Earl hat mir gestattet, für Town and Country einen Artikel über Brockdene zu schreiben.«

Zu ihrer Überraschung hellte sich das blässliche Gesicht des Mannes auf.

»Ein wundervolles Thema«, sagte er voller Enthusiasmus. »Ich lebe schon immer hier und kann wohl behaupten, dass ich so etwas wie ein Experte für das Herrenhaus und seine Inneneinrichtung bin, die mindestens genauso außergewöhnlich ist wie das Gebäude selbst. Ich bin damit beschäftigt, eine ausführliche Beschreibung samt historischem Überblick zu erstellen … Aber wo bleiben nur meine Manieren! Darf ich mich vorstellen? Ich bin Godfrey Norville.« Als sei ihm die Geste nicht geläufig, streckte er ihr linkisch seine Hand hin. Sein dürrer Arm ragte aus seinem Ärmel.

»Daisy Fletcher.« Es fühlte sich eher so an, als ob man einer filetierten Scholle die Hand schüttelte. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ja, jawohl, freut mich ebenfalls, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Fletcher. Mein Leben ist ganz und gar dem Studium von Brockdene gewidmet, müssen Sie wissen. Ich werde Sie gerne herumführen, und Sie können mich ruhig dazu ausfragen. Soviel Sie wollen! Die Halle hier ist ein hervorragender Ausgangspunkt. Sie wurde im späten fünfzehnten Jahrhundert errichtet von …«

»Etwas später würde ich sehr gerne an einer Führung teilnehmen«, unterbrach ihn Daisy eilig. »Aber wenn es Ihnen recht ist, würde ich mir erst mal gerne die Hände waschen und mich Mrs. Norville vorstellen.«

»Sie wollen sich Mutter vorstellen?« Er sah sie verwirrt an. »Ach so, ich verstehe! Ja, ja, ich nehme an, das geht in Ordnung. Wo Mrs. Pardon um diese Zeit wohl sein mag?«

»Mrs. Pardon?«

»Die Hauswirtschafterin. Lord Westmoor hat eine zuverlässige Belegschaft hier angestellt, die das Haus in Ordnung hält. Einige Einrichtungsgegenstände sind sehr wertvoll, ganz besonders wertvoll, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch für Wissenschaftler. Diese Armschiene zum Beispiel.« Er wandte sich ab.

Obwohl sie neugierig wurde, ließ sich Daisy nicht von der geheimnisvollen Armschiene ablenken. »Mrs. Pardon?«, wiederholte sie.

»Ach ja. Ich klingele mal, aber ich bezweifle eigentlich, dass jemand darauf reagiert. Das Personal ist nicht dazu angestellt, uns zu bedienen, verstehen Sie, sondern soll sich lediglich um das Haus und die Anlage kümmern.«

Was für eine seltsame Regelung, dachte Daisy, und sie fragte sich, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu dem Earl stand. Ihre Mutter wusste es vielleicht, aber im Allgemeinen war die verwitwete Lady Dalrymple mehr an ihren eigenen Befindlichkeiten interessiert, als an den Details entfernter Verwandtschaft, vor allem, wenn sie nicht davon profitierte.

Godfrey Norville schien jedoch unbekümmert. Er zog am Klingelzug neben dem Kamin, dann wandte er sich mit gerunzelter Stirn der Rüstung zu.

Durch einen Bogen hinter dem Kamin erschien eine Frau in einem dunkelgrauen Kleid mit weißen Manschetten und weißem Kragen. Norville drehte sich beim Klang der Schritte um.

»Mrs. Pardon, die Rüstung muss poliert werden! Sehen Sie mal, die linke Schulterplatte ist schon ein wenig angelaufen.«

»Soviel ich weiß, steht die Rüstung für nächste Woche auf meiner Liste, Mr. Norville«, sagte die Hauswirtschafterin gleichermaßen beruhigend wie abweisend. »Ich werde mal nachsehen. Mrs. Fletcher? Der Junge hat Ihr Gepäck nach oben gebracht, Madam. Ihr Zimmer ist im Ostflügel, denn im übrigen Teil des Hauses gibt es keine sanitären Einrichtungen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Sie ging voraus durch eine der Türen am Ende der Halle, an deren gegenüberliegender Seite Daisy eingetreten war.

Sie vermutete, dass Lord Westmoors Personal wohl doch bereit war, sich um die Gäste Seiner Lordschaft zu kümmern. Die Situation war nicht nur seltsam, sondern sogar unbehaglich. Sie konnte nicht umhin, in der ihr unbekannten Mrs. Norville gewissermaßen ihre Gastgeberin zu sehen, selbst für den Fall, dass der Earl sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.

»Haben Sie viele Besucher?«, fragte Daisy und folgte Mrs. Pardon durch einen Speiseraum und einen Korridor.

»Überhaupt nicht viele, Madam. Ab und zu gestattet es Seine Lordschaft einem Historiker oder dergleichen herzukommen und sich das Haus anzusehen. Es ist nicht mehr wie früher, als wir im Sommer ein großes Fest ausgerichtet und an Weihnachten die ganze Familie hier hatten. Seit dem Krieg ist Seine Lordschaft leider nicht mehr der Alte.« Sie seufzte und öffnete eine Tür mit Glasfenstern, die zu der geräumigen Eingangshalle führte.

»Ich hoffe, dass mein … dass unser Besuch nicht allzu viele Unannehmlichkeiten bereitet«, sagte Daisy und sah sich um. Diese Halle war etwas moderner eingerichtet: Über einem ziemlich mitgenommenen Säulentisch hing ein Spiegel; es gab einen Hutständer mit Tweedkappen und Wollmützen, einen Schirmständer, einige Stühle mit verzierten Lehnen und seltsamerweise eine abgewetzte Chaiselongue.

»Aber nein, Madam, wir schaffen das. Zumindest, wenn Lady Dalrymple nichts dagegen hat, mit Mrs. Norville und der Familie zu speisen. Das würde uns einiges erleichtern, muss ich sagen.«

»Warum sollte sie etwas dagegen haben?« Das wird ja immer kurioser, dachte sie und hoffte, eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen, die Mrs. Pardon jedoch als rein rhetorisch anzusehen schien.

»Würden Sie Ihren Mantel gerne in der Garderobe aufhängen?«, fragte sie und deutete auf eine Tür in der Wand links der Haustür.

»Danke, ich glaube, ich nehme ihn mit hinauf.«

»Wie Sie wünschen, Madam. Hier entlang, bitte. Dieser Teil des Hauses wurde 1862 umgebaut für die damalige verwitwete Gräfin. Meine Großmutter war zu der Zeit die Hauswirtschafterin.« Mrs. Pardon seufzte wieder. »Sie hätte sich nie vorstellen können, was aus der Familie geworden ist. Hier ist Ihr Zimmer, Madam, und Bad und Toilette sind dort hinten. Klingeln Sie, wenn Sie etwas brauchen. Meine Mädchen sind es nicht gewöhnt, Damen zu bedienen, aber sie werden ihr Bestes tun.«

»Danke, ich werde bestimmt gut zurechtkommen. Wo kann ich Mrs. Norville finden?«

»Es steht mir wahrlich nicht zu, zu wissen, wo sie sich aufhält, Madam, aber ihr Salon ist dort am Ende der Treppe, direkt über der Haustür.«

Daisys Zimmer war klein und vollgestellt mit schweren, dunklen, ziemlich abgenutzten viktorianischen Möbeln, aber es gab ein Handwaschbecken mit warmem und kaltem Wasser. Beim Blick aus dem Fenster sah sie Gärten und Wälder, dahinter einen Fluss und eine kleine Stadt, bei der es sich wohl um Calstock handeln musste, sowie ein Eisenbahnviadukt. Daisy hielt sich nicht länger mit der Aussicht auf. Sie wusch sich Gesicht und Hände, frisierte sich rasch und puderte sich die Nase, dann machte sie sich auf, um ihre Gastgeberin zu suchen, die mutmaßliche Herrin dieses Haushalts, der alles andere als gewöhnlich war.

Kapitel 2

Die Tür am Ende der Treppe stand offen. Daisy klopfte an.

»Herein!«

Die Stimme war hoch und so leise, dass Daisy nicht sicher war, ob sie sie tatsächlich gehört hatte. Wäre die Tür geschlossen gewesen, hätte sie erneut angeklopft, so aber trat sie ein. Dann jedoch glaubte sie, sich wohl doch getäuscht zu haben, denn sie konnte niemanden inmitten des bunten Wirrwarrs sehen, den sie mit staunenden Augen wahrnahm.

Im Sonnenlicht, das schräg durch ein Südfenster hereinfiel, glitzerten Pailletten, schimmerte Gold und funkelte buntes Glas. Auf jeder verfügbaren Fläche standen kleine Statuen, von den Wänden blickten gemalte Gestalten unterschiedlich wohlwollend herab. Zwischen sechsarmigen Göttern, Göttern mit Elefantenköpfen oder Göttern mit blauen Gesichtern und zwischen meditierenden Buddhas entdeckte Daisy verschiedene Madonnen, mit oder ohne Jesuskind, und ein Kruzifix.

Mitten aus diesem bizarren Aufgebot kam eine leise, sanfte Stimme: »Mrs. Fletcher?«

Von einem Stuhl neben dem Kamin, in dem ein Holzfeuer glühte, blickten Daisy schwarze Augen in einem runzeligen Gesicht mit dunklem Teint beunruhigt an. Die winzige Frau war in eine Unzahl bunter Schals gehüllt. Sie arbeitete an einer Stickerei, und ihre Nadel flog geübt durch den Stoff.

»Ja, ich bin Daisy Fletcher. Sie sind Mrs. Norville? Sehr erfreut.«

»Guten Tag. Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Sie hatte keinen Akzent, aber das Melodische, das Indern eigen war, wenn sie Englisch sprachen, verlieh ihren Worten einen exotischen Klang, der zu ihrer Umgebung passte.

Daisy nahm gegenüber ihrer Gastgeberin Platz. Die edlen Earls von Westmoor hatten es wohl nicht freundlich aufgenommen, dass eine Fremde Teil der Familie geworden war. Seit wie vielen Jahrzehnten die arme Frau wohl auf Brockdene verbannt war, aus den Augen, aus dem Sinn? Zweifellos war ihr verängstigter Blick das Resultat vieler Brüskierungen.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich aufzunehmen«, sagte Daisy warm. »Ich freue mich darauf, über Ihr Zuhause zu schreiben. Das Haus sieht ja faszinierend aus.«

»Es ist ziemlich alt. Mein Sohn Godfrey sagt, dass sich der übrige Teil von Brockdene, abgesehen von diesem Flügel, über die Jahrhunderte erstaunlich wenig verändert hat. Er weiß alles über das Haus«, sagte Mrs. Norville mit offensichtlichem Stolz.

»Ja, Mr. Norville hat sich schon bereit erklärt, mich herumzuführen. Das wird sehr nützlich sein, einen Experten zur Hand zu haben. Mrs. Norville, als ich Ihnen geschrieben habe, wusste ich nicht, dass Lord Westmoor meine gesamte Familie zu einem Weihnachtsbesuch hierher eingeladen hat. Ich hoffe doch, dass er Sie vorgewarnt hat.«

»Er hat an Mrs. Pardon geschrieben, die es Dora mitgeteilt hat.« Sie schien es für völlig normal zu halten, dass man sie übergangen hatte. Als Reaktion auf Daisys fragenden Blick erklärte sie: »Dora ist meine Schwiegertochter.«

»Die Frau von Mr. Godfrey Norville?« Daisy fragte sich, wie viele Norvilles noch im Haus lebten.

Ihre Neugier musste jedoch warten. Sie hatte zu arbeiten, ehe ihre restliche Familie eintraf, und sie wollte los, um Fotos zu machen, solange das Wetter gut war. Es wäre jedoch nur höflich, sich noch etwas länger zu unterhalten, fand sie. Mit einem Blick durch den Raum bemerkte sie: »Was für eine interessante Sammlung Sie hier haben.«

Mrs. Norville lächelte. »Mein älterer Junge, Victor, ist Seemann, Kapitän eines Handelsschiffes. Er schickt mir diese Dinge oder bringt sie mit, wenn er Zeit hat, ein paar Tage zu Hause zu verbringen. Sie erinnern mich an meine Kindheit, ehe ich auf die Missionsschule kam.«

»In Indien? Bestimmt fehlt Ihnen Ihre Heimat.«

»Ich habe mich nie an den englischen Winter gewöhnen können, obwohl ich seit fast fünfzig Jahren in Brockdene lebe. Aber meine Söhne sind schließlich Engländer«, setzte sie fast trotzig hinzu.

Eine so entschiedene Verteidigung musste das Ergebnis vergangener Attacken sein. Daisy hätte zu gerne mehr erfahren, aber sie musste wirklich mit ihrem Artikel anfangen. »Natürlich sind sie das«, sagte sie. »Ich habe Kapitän Norville noch nicht kennengelernt, aber Mr. Godfrey Norville könnte nie für etwas anderes gehalten werden. Ich gehe jetzt besser und suche ihn, um sein Angebot anzunehmen, mich herumzuführen.«

»Ich hoffe, Sie kommen zum Tee noch mal wieder.« Mrs. Norville wirkte jetzt wieder verschüchtert. »Dora bringt immer um halb fünf Tee herauf.«

»Ich werde kommen«, versprach Daisy. Es schien schon eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit sie am Bahnhof von Plymouth zum Lunch ein trockenes Käsesandwich gegessen hatte.

Als sie das Wohnzimmer verließ, kam ein junges Mädchen über den Gang auf sie zu. In ihrem blauen Rock mit der blauen Strickjacke und der weißen Bluse, die flachsblonden Haare zurückgebunden wie Alice im Wunderland, sah sie wie eine Vierzehnjährige aus, die etwas zu groß geraten war für ihr Alter. Auf ihrem rundlichen Gesicht lag ein misstrauischer Ausdruck.

»Was haben Sie zu meiner Großmutter gesagt?«, wollte sie wissen.

»›Guten Tag.‹«

»Guten Tag«, sagte das Mädchen ungeduldig und mit finsterem Blick. »Ich bin Jemima Norville.«

»Guten Tag!«, antwortete Daisy, diesmal mit ganz anderer Betonung. »Ich bin Mrs. Fletcher. Ich habe mich Mrs. Norville nur vorgestellt.«

Jemima blinzelte sie so verwirrt an, dass sie an Godfrey Norville erinnerte, der wohl ihr Vater sein musste. »Warum?«, fragte sie.

»Weil ich als ihr Gast nach Brockdene gekommen bin. Man stellt sich doch gewöhnlich seiner Gastgeberin vor, sobald man nach einer Reise vorzeigbar ist. Und jetzt will ich nach Mr. Norville suchen, der mir den alten Teil des Hauses zeigen will.«

»So was macht Daddy gerne«, sagte das Mädchen zustimmend, wenn auch widerwillig. »Er ist ganz besessen von dem Haus. Ich glaube, er ist im Salon.«

»Kannst du mir den Weg zeigen?«

»Er ist im Turm. Also gut, von mir aus.«

»Ich hole nur schnell meinen Fotoapparat.«

Jemima führte sie zurück zu der waffenbehängten Halle, wo Daisy ihren Fotoapparat und das Stativ zurückgelassen hatte. Sie gingen durch eine Tür am anderen Ende und eine steile Eichentreppe hinauf, die spiegelglatt gebohnert war. Eine zweite Treppe unter gemeißelten Granitbögen führte zu einer Tür mit geschnitzten Rosen. Sie öffnete sich zu einem holzgetäfelten Vorraum, der sich seinerseits zu einem hübschen Raum mit Fenstern an drei Seiten öffnete und an dessen Wänden Wandteppiche hingen.

»Daddy, hier ist Mrs. Fletcher.«

»Einen Moment. Bin in einer Minute bei Ihnen.« Godfrey Norville vermaß gerade einen kunstvoll verzierten Schreibsekretär. Er machte sich auf der ausgeklappten Platte ein paar Notizen.

Daisy trat näher, um sich den Sekretär anzusehen. Die Schnitzerei im Hochrelief bestand aus Putten und menschlichen Figuren, alle unbekleidet. Sie trat zurück und bemühte sich, nicht in dieser schrecklichen viktorianischen Prüderie zu erröten, die sie so verabscheute.

»Mummy sagt, ich darf nicht hinsehen«, sagte Jemima.

»Wundervoll, nicht wahr?«, schwärmte Norville. »Italienisch, ungefähr um 1600. Ich habe eine Anfrage zu dem Stück von einem Professor aus Italien. Ich stehe in reger Korrespondenz mit Historikern und Antiquaren auf der ganzen Welt, müssen Sie wissen. Meine ausführlichen Beschreibungen sind der Forschung auf bescheidene Weise dienlich, wenn ich das sagen darf.«

»Ich bin überzeugt, dass sie äußerst hilfreich sind«, murmelte Daisy.

»Nehmen Sie dieses Stück zum Beispiel. Jeder kann sehen, dass es nicht nur alt, sondern auch schön ist, aber ich bin in der Lage, seine verborgenen Merkmale ausführlich zu benennen. Hätten Sie vermutet, meine liebe Mrs. Fletcher, dass es eine Vielzahl – ja, ich glaube, ich darf sagen, eine wahrhafte Unmenge – an Geheimfächern hat? Ich bezweifle, dass selbst ich alle entdeckt habe, aber ich zeige Ihnen gerne ein oder zwei.«

»Erzähl ihr von der Schatztruhe, Daddy«, drängte ihn Jemima.

»Ich möchte unbedingt etwas über die Schatztruhe hören«, sagte Daisy, »und einige der Geheimfächer sehen; aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne erst mal ein paar Außenaufnahmen machen, solange das Wetter gut ist. Ich dachte, Sie wären vielleicht so freundlich, mit hinauszukommen, Mr. Norville, um mir zu erklären, was ich da fotografiere.«

»Solange das Wetter gut ist?« Mr. Norville warf einen unsicheren Blick aus dem Fenster. Bestätigt von dem gleißenden Sonnenschein fuhr er fort: »Sicher, sicher. Jemima, lauf und bring meine Gummistiefel und meinen Mantel in die Halle, und meine Mütze und die Handschuhe auch. Sei ein braves Mädchen.«

Jemima gehorchte schmollend.

Während sie ihr folgten, erzählte Norville Daisy von der Schatztruhe. Sie war angeblich von einem holländischen Kaufmann, der im sechzehnten Jahrhundert vor der Spanischen Inquisition geflohen war und auf Brockdene Zuflucht gefunden hatte, irgendwo im Haus oder im Park versteckt oder vergraben worden.

»Ein geheimnisumwitterter Mann«, räumte Norville ein, »über den ich wenig erfahren konnte. Er war möglicherweise für den Bau des Turms verantwortlich, der 1627 vollendet wurde.«

»Und keiner hat den Schatz jemals gefunden?«

»Generationen haben vergebens danach gesucht.«

»Er hat keine Schatzkarte angefertigt? Sehr leichtsinnig!«

»Nein, auch von dem Geheimgang habe ich niemals eine Karte entdeckt, der, so besagt die Legende, jahrhundertelang von Schmugglern benutzt wurde.«

Sie kamen in die Halle, und Daisy nahm ihr Notizbuch heraus, um die Geschichte in ihrer eigenen Version von Stenografie aufzuschreiben. Dann war sie bereit, hinauszugehen, doch Norville konnte ohne seinen Mantel und seine Gummistiefel nicht dazu bewegt werden.

»Feuchtes Klima«, brummte er, »nasse Füße, absolut fatal.«

Jemima brachte schließlich nicht nur die Gummistiefel und den Mantel ihres Vaters, sondern auch Fäustlinge und eine Strickmütze mit Pompon, die zu dem Schal passte, den er bereits trug. Umständlich zog er alles an, schien jedoch nicht besorgt, als seine Tochter sie ohne warme Kleidung hinausbegleitete. Da es recht mild war und auch trocken, solange sie nicht den Rasen betraten, war Daisy ebenfalls unbekümmert.

Während sie Aufnahmen von dem Hof vor der Halle, dem Vorhof bei den Stallungen, dem Holländerturm, dem Küchenhof und der nachgebauten Ostfassade machte – die auf ungewöhnlich geschmackvolle Art zu den alten Gebäudeteilen passte –, erzählte Norville ihre Geschichte. Er konnte jede Einzelheit abrufen, und der Eifer, mit dem er sein Wissen weitergab, war richtiggehend liebenswert.

Jemima wich ihnen nicht von der Seite. Einmal mischte sie sich ein. »Daddy, erzähl ihr von dem Gespenst!«

»Unsinn!«, rief er aus und winkte mit seinem gestreiften Fäustling ab. »Gespenst, also wirklich! Absoluter Unsinn. Mrs. Fletcher will Fakten hören.«

Jemima machte ein mürrisches Gesicht.

»Du kannst mir gerne von dem Gespenst erzählen, Jemima«, versicherte ihr Daisy. »Aber später.«

»Vielleicht«, sagte das Mädchen unwirsch und wandte sich ab.

Norville runzelte die Stirn. Um ihn abzulenken, fragte Daisy: »Was ist das für ein hoher Turm auf dem Hügel hinter dem Haus?«

Das Stirnrunzeln hielt an. »Der Prospect Tower. Ich habe keine zuverlässige Information darüber gefunden, aber er stammt wahrscheinlich aus dem späten achtzehnten Jahrhundert und ist wahrscheinlich nur eine nostalgische Narrheit. Möchten Sie ihn fotografieren?«

Daisy überlegte. Sie bezweifelte, dass ihre Fotografierkunst für so eine schwierige Aufnahme ausreichte. »Nein, ich glaube nicht. Aber wie steht’s mit der Kapelle am Fluss? Der Bootsmann hat sie erwähnt.«

»Die Kapelle der Heiligen Georg und Thomas Becket. Sie wurde im fünfzehnten Jahrhundert vom ersten Baronet erbaut, Sir Richard Norville – ehe die Norvilles in den Adelsstand erhoben wurden –, und zwar an dem Ort, wo er seinen Feinden durch einen schlauen Trick entkam. Er warf seine Mütze in den Fluss und versteckte sich im Gebüsch. Sie sahen die Mütze schwimmen und glaubten, er sei ertrunken.«

»Das ist eine gute Geschichte«, sagte Daisy und schrieb wie verrückt. »Können Sie mir die Kapelle zeigen?«

»Meine liebe Mrs. Fletcher, es ist so feucht! Nichts ist so nass wie Wälder im Winter. Ich halte mich in der kalten Jahreszeit fern davon, und ich rate Ihnen sehr, das auch zu tun.«

Daisy lachte. »Ach, ich fürchte, ich habe eine Pferdenatur. Ich würde die Kapelle im Wald gerne ansehen. Ist es weit? Wenn Sie mir eine Wegbeschreibung geben, finde ich sie schon selbst.«

»Nein, nicht sehr weit«, gab er vage zu. »Überhaupt nicht weit. Aber Sie täten besser daran, mitzukommen und die Kapelle im Haus anzusehen. Ich habe Ihnen die Fenster gezeigt, wie Sie sich vielleicht erinnern.«

»Später«, sagte Daisy. »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, mein Stativ mit ins Haus zu nehmen? Ich möchte es nicht mit mir herumtragen.«

Sie folgte seiner widerwillig gegebenen Wegbeschreibung und stieg die Terrassengärten hinunter zu einem kurzen, wenn auch dunklen Tunnel, der unter einem Feldweg hindurchführte. Hier könnte ein Geheimgang enden, dachte sie.

An diesem düsteren Ort merkte sie plötzlich, dass Jemima sie zwar nicht begleitete, aber mürrisch hinter ihr herschlich. Daisy kam im Talgarten heraus und blieb stehen, um den Fischteich zu bewundern, von dem ein Weg zu einem reetgedeckten Sommerhaus führte. Gleichzeitig wartete sie, damit Jemima sie einholen könnte.

Jemima jedoch trödelte und tat so, als interessiere sie eine blühende Christrose. Jetzt hatte Daisy genug. Sie ging weiter, vorbei an einem überkuppelten Taubenhaus, das uralt aussah und in dem weiße Pfauentauben herumflatterten. Sie blieb stehen, um ein paar Fotos zu machen. Jemima trödelte ihr noch immer hinterher.

Godfrey hatte gesagt, sie müsse sich rechts halten, auf das Tor zu, das zu dem öffentlichen Weg von Brockdene Quay nach Calstock führte. Die Kieswege waren verwirrend, manchmal mit scharfen Kurven, dann und wann unterbrochen von ein paar Stufen. Daisy folgte einem rasch dahinfließenden Bach, der ins Tal zum Fluss führte, spähte durch Bäume und hoffte, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte.

Sie musste zugeben, dass der Boden hier ziemlich nass war, manchmal sogar rutschig, und als sie durch das Tor in den Wald trat, warfen die Bäume kalte Schatten. Sie konnte nun doch verstehen, dass jemand, der zu Erkältungen neigte, den Ort meiden würde.

Sie entdeckte mehrere Stechpalmenbüsche, die voller roter Beeren waren, und hoffte, dass der seltsame Haushalt sich nicht gegen Weihnachtsdekoration sträubte. Belinda und Derek würden sich in ihrem Alter noch beschweren, wenn die Feierlichkeiten nicht traditionell waren.

Daisy erreichte die Kapelle, ein kleines, sehr schlichtes Steingebäude halbversteckt hinter Lorbeerbäumen und Rhododendren. Eine Tafel über der Tür berichtete von Sir Richards schlauer Flucht. Drinnen gab es nur zwei Kirchenbänke, die einander gegenüberstanden, dazu einen kleinen Holzaltar mit einfachem Schnitzwerk.

Sie ging um die Kapelle zum Rand des Abhangs und blickte hinunter zum Fluss. Von hier hatte der erste Baronet also seine Mütze geworfen. Seine Feinde mussten ihm dicht auf den Fersen gewesen sein, sonst wäre die Mütze wohl untergegangen oder von der Strömung fortgetragen worden.

Ein Rascheln in den Büschen hinter ihr erschreckte Daisy. Instinktiv machte sie einen Satz zurück, weg von dem Abhang, wo es tief nach unten ging. Ein Sturz aus dieser Höhe wäre schmerzhaft, selbst wenn man im Wasser landete. Oder gestoßen würde.

Gestoßen? Wie kam sie nur darauf? Das war doch nur Jemima dort im Gebüsch, die im Moment kehrtmachte und den Weg zurückging. Das Kind war mürrisch, aber bestimmt nicht hinterhältig.

Daisy kehrte zum Herrenhaus zurück. Godfrey Norville wartete schon, um sie weiter durch die Innenräume zu führen.

»Nur erst mal ein kurzer Rundgang, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie. »Ich habe London heute Morgen furchtbar früh verlassen, und ich werde allmählich ein wenig müde, und Mrs. Norville hat mich für halb fünf zum Tee eingeladen. Vielleicht könnten Sie mir nur die interessantesten Sachen zeigen. Ich mache mir eine Liste, dann kann ich morgen weiterforschen.«