Miss Julia und das unerwartete Erbe - Ann B. Ross - E-Book

Miss Julia und das unerwartete Erbe E-Book

Ann B. Ross

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Beschreibung

Gestatten, Miss Julia - Die Miss Marple der Südstaaten

Nach über vierzig Ehejahren tritt Miss Julia zwei überraschende Hinterlassenschaften ihres verstorbenen Gatten an: Zum einen erbt sie sein beträchtliches Vermögen, von dem sie nichts ahnte. Zum anderen steht eine junge Frau mit Kind vor ihrer Tür und behauptet, dies sei der uneheliche Sohn ihres Mannes. Plötzlich wird Miss Julia der Mittelpunkt des Dorfklatsches - und verantwortlich für einen neunjährigen Jungen, dessen Mutter auf einmal verschwunden ist. Die scharfzüngige, aber weichherzige alte Dame macht sich beherzt daran, die Frau aufzufinden und andere ungeheuerliche Ereignisse zu verhindern ...

Miss Julia ermittelt weiter - reizend und resolut, charmant und couragiert:

Band 2: Miss Julia und die seltsame Entführung.

Band 3: Miss Julia und ein Strauß voller Überraschungen.

Band 4: Miss Julia und die Reise ins Glück.

Dieser gemütliche Kriminalroman ist in früheren Ausgaben unter den Titeln "Das unerwartete Erbe" und "Ein Geschenk für Miss Julia" erschienen.

Bonus-Material: Das eBook enthält eine Leseprobe des charmanten Eichhörnchen-Krimis "Ein unerhörter Mord im High Park" von Andreas Fennek - dessen tierische Ermittler knacken jede Nuss!

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Leseprobe - Ein unerhörter Mord im High Park

Weitere Titel der Autorin:

Miss Julia und die seltsame Entführung

Miss Julia und ein Strauß voller Überraschungen

Miss Julia und die Reise ins Glück

Über dieses Buch

Gestatten, Miss Julia – Die Miss Marple der Südstaaten

Nach über vierzig Ehejahren tritt Miss Julia zwei überraschende Hinterlassenschaften ihres verstorbenen Gatten an: Zum einen erbt sie sein beträchtliches Vermögen, von dem sie nichts ahnte. Zum anderen steht eine junge Frau mit Kind vor ihrer Tür und behauptet, dies sei der uneheliche Sohn ihres Mannes. Plötzlich wird Miss Julia der Mittelpunkt des Dorfklatsches – und verantwortlich für einen neunjährigen Jungen, dessen Mutter plötzlich verschwunden ist. Die scharfzüngige, aber weichherzige alte Dame macht sich beherzt daran, die Mutter des Jungen aufzufinden und andere ungeheuerliche Ereignisse zu verhindern …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über die Autorin

Ann B. Ross ist die Autorin von mittlerweile mehr als zwanzig Romanen über Miss Julia, »die Miss Marple der Südstaaten«. Als ihre drei Kinder erwachsen waren, nahm Ross ein Studium an der Universität von North Carolina auf, wo sie im Anschluss Literatur- und Geisteswissenschaften lehrte. Mit ihrem erfolgreichen ersten Roman über Miss Julia begann ihre Vollzeitkarriere als Autorin von lustigen Landhauskrimis. Zahlreiche Bücher von Ross standen bereits auf der erweiterten New-York-Times-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ob sie etwas Gutes geschrieben hat, erkennt die Autorin nach eigenen Angaben daran, dass sie »vor Lachen vom Stuhl fällt«.

Ann B. Ross lebt in Hendersonville, North Carolina. Website der Autorin: http://www.missjulia.com/.

Ann B. Ross

Miss Julia und das unerwartete Erbe

Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Strasser

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1999 by Ann B. Ross

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Miss Julia Speaks Her Mind«

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2004/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Das unerwartete Erbe«. Dieser Krimi ist in einer früheren Ausgabe auch unter dem Titel »Ein Geschenk für Miss Julia« erschienen.

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © NadzeyaShanchuk/Shutterstock, © majivecka/Shutterstock, © Macrovector/Shutterstock, © irysha/Shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8551-9

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Ein unerhörter Mord im High Park« von Andreas Fennek.

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Alice, Charles und John Michael

Danksagung

Ich danke allen Wordwrights, insbesondere Elizabeth, Katie, Susan, Sally und Ted, unserem furchtlosen Anführer. Ich danke auch den Anwälten Boyd B. Massagee jun., Charles Waters und Sharon Alexander, die mir gute Ratschläge gaben, die ich jedoch nicht immer befolgte (also geben Sie nicht ihnen die Schuld!); sowie Marion für seine Geduld und Marian, Claudia und John für ihre unermüdliche Unterstützung und Aufmunterungen. Ferner danke ich jenem Freund, dessen Name mein Geheimnis bleibt, und ganz besonders Jennifer Robinson, Delin Cormeny und Katharine Cluverius.

Kapitel 1

Ich hatte mich gerade vom Schock über das plötzliche Ableben meines Ehemanns erholt, als sein jüngstes Vermächtnis an einem heißen, stillen Augustmorgen unverhofft an meine Tür klopfte. Wir hatten Wesley Lloyd Springer einige Monate zuvor zu Grabe getragen, und ich hoffte, dass endlich alle Formulare unterschrieben, jede Einzelheit mit den Anwälten besprochen und sämtliche Dokumente und Unterlagen durchgesehen wären. Also ich muss schon sagen, man sollte gar nicht glauben, wie viel Papierkram das Sterben mit sich bringt. Der Verstorbene hat ja keine Ahnung, was man alles mitmacht, bis man seine Angelegenheiten geordnet hat, und die von Wesley Lloyd hätten nicht geordneter sein können. Dachte ich jedenfalls.

Himmel, das war vielleicht eine Hitze an diesem Morgen, und ich musste wieder einmal daran denken, dass Wesley Lloyd sich immer gegen den Einbau einer Klimaanlage gesträubt hatte, selbst dann noch, als die Conovers eine ihr Eigen nannten, noch dazu eine zentral gesteuerte! Reine Geldverschwendung, meinte Wesley Lloyd, und außerdem sei frische Luft viel gesünder. Das galt anscheinend nur für zu Hause, denn sein Büro in der Bank war so gut klimatisiert, dass er tagein, tagaus im dreiteiligen Anzug hinging. Aber man soll nicht schlecht über Tote reden, nicht einmal dann, wenn es der Wahrheit entspricht.

Ich saß also im Wohnzimmer und versuchte mich von der Hitze abzulenken, indem ich einige Versandhauskataloge durchblätterte, eine Liste von den Dingen anfertigte, die ich mir bestellen wollte, und mich glänzend dabei amüsierte. Binkie Enloe hatte mich nämlich beschworen, mehr Geld auszugeben. Sam Murdoch war der gleichen Ansicht, und er sollte es wissen, schließlich war er der Vollstrecker des Testaments, das mir dieses überaus weiche finanzielle Polster beschert hatte. Herrgott, es war mehr Geld da, als ich je vermutet hätte, und es gehörte alles mir, Wesley Lloyds trauernder Witwe. Einer Witwe, die es mit Stolz erfüllte, sich einen so wunderbaren Mann ausgesucht zu haben.

Ich kann Ihnen sagen, mich hätte fast der Schlag getroffen, als ich ihn mausetot in seinem neuen Buick fand, einem stahlgrauen mit Velourspolstern. Er hatte ihn draußen in der Einfahrt geparkt und war tot hinter dem Steuer zusammengebrochen.

Das war so ein Schock, dass ich dachte, ich käme nie darüber hinweg. Aber ich hab’s schließlich doch geschafft und ein anständiges presbyterianisches Begräbnis für Wesley Lloyd organisiert, wie er sich das gewünscht hätte. Danach bekam ich einen weiteren Schock, als ich herausfand, wie vermögend er war. Abgesehen von der Bank, die sein Daddy ihm hinterlassen hatte, gehörte ihm anscheinend nicht nur das halbe County, sondern auch Aktien und Rentenpapiere, und alles zusammen brachte Tag für Tag noch mehr Geld ein. Wenn ich daran denke, wie er mir jeden Freitag mein Haushaltsgeld in die Hand gedrückt und mahnend gesagt hatte: »Sieh zu, dass du damit auskommst, Julia. Geld wächst nicht auf Bäumen, weißt du.« Und dabei nannte er einen ganzen Wald sein Eigen! Genützt hat es ihm letztendlich gar nichts, weil jetzt jeder Penny mir gehörte.

Nachdem ich also vierundvierzig Jahre in seliger Ahnungslosigkeit verbracht hatte, was Wesley Lloyds finanzielle und sonstige Aktivitäten betraf, genoss ich jetzt die Vorzüge der Witwenschaft und eines dicken Bankkontos. Ich kam mit beidem ohne nennenswerte Probleme zurecht.

Ich schaute zum Fenster hinaus. Auf der Polk Street fuhren einige Autos Richtung Main Street. Heutzutage hatte anscheinend jeder ein Telefon am Ohr kleben, obwohl diese Stadt so klein war, dass man auf der Fahrt zum Supermarkt getrost auf die Dienste der Telefongesellschaft verzichten konnte. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, erstreckte sich ein Parkplatz bis zur Rückseite der First Presbyterian Church von Abbotsville, der Kirche, der ich angehörte und die Wesley Lloyd wie vor ihm sein Vater mit seiner Anwesenheit, seiner Kirchensteuer, seinen Spenden und seinen Stiftungen beehrt hatte. Nicht zu vergessen, mit seinem Rat, der allerdings nicht immer willkommen war. Die heiße Luft waberte über dem Asphalt des Parkplatzes, und ich betrachtete die Autos, die dort standen, genauer. Es interessierte mich nun mal, was um mich herum vor sich ging, und da Pastor Ledbetter montags frei hatte, fragte ich mich natürlich, warum er sich an seinem freien Tag mit einigen Vorstandsmitgliedern unserer Kirchengemeinde traf. Nicht, dass ich neugierig wäre, Gott bewahre!

In der Küche summte Lillian zu einer Melodie aus dem Radio und klapperte mit den Töpfen. Noch etwas, das sich jetzt, wo Wesley Lloyd nicht mehr zum Essen nach Hause kam, geändert hatte. Ruhe, pünktliche Mahlzeiten und ein geregelter Tagesablauf waren ihm über alles gegangen. Ich hatte diesen geregelten Ablauf nach seinem Ableben rasch und freudig durchbrochen, indem ich Lillian sagte, künftig würden wir essen, wenn einer von uns Hunger bekäme oder sie den Drang verspürte, etwas Leckeres auf den Tisch zu bringen.

Ich befeuchtete den Zeigefinger und blätterte eine Seite im Weihnachtskatalog um. Was Sam und Binkie wohl sagen würden, wenn ich etwas von diesem Kitsch bestellte? Also wirklich, manche Angebote waren offenbar für Leute mit mehr Geld als Verstand, was auf mich glücklicherweise nicht zutraf, obwohl einige Leute das vielleicht anders sehen würden.

Wie auch immer. Einen Herzanfall hatte Wesley Lloyd bei aller Umsicht und allem Weitblick nicht mit einkalkuliert. Ich wusste so sicher, wie ich hier saß, dass es niemals seine Absicht gewesen war, mir seinen gesamten Besitz zu hinterlassen. Klar geworden war mir das, als sich Pastor Ledbetter keine zwei Tage nach Wesley Lloyds Beerdigung an mich herangepirscht und gemeint hatte, er wisse natürlich, dass ich Mr. Springers letzten Willen erfüllen würde, auch wenn er nie schriftlich festgehalten worden sei. Da hatte ich zum ersten Mal gehört, dass Wesley Lloyd geplant hatte, sein Vermögen der First Presbyterian Church zu vermachen und Pastor Ledbetter sowie ein Vorstandsmitglied der Kirchengemeinde zu Treuhändern zu bestimmen. Mir sollte lediglich ein monatliches Taschengeld ausbezahlt werden.

Und wo wir gerade vom Geld reden: Sie glauben gar nicht, mit wie vielen Anrufen und Postwurfsendungen und Prospekten und Schreiben auf geprägtem Briefpapier von Vermögens-‍, Wirtschafts-‍, Finanz- und sonstigen Beratern ich bombardiert wurde, und alle wollten, dass ich ihnen mein Vermögen anvertraue. Ganz egal, ob Kirche, College, Wohltätigkeitsverein oder Geschäftsmann: Jeder wusste, was das Beste für mich war. Ich solle ruhig alles ihnen überlassen, dann bräuchte ich mich um nichts mehr zu kümmern und erhielte für den Rest meines Lebens garantiert vierteljährlich ein kleines Sümmchen ausbezahlt. Doch genau davon hatte ich nach vierundvierzig Jahren genug, vielen Dank! Ich wollte mein Geld nicht tröpfchenweise, ich wollte alles, und zwar auf einmal!

Die Morgensonne schien herein, und ich zog die weinroten Samtvorhänge ein Stückchen zu – wenn man nicht aufpasst, sind die Orientteppiche schnell verschossen – und rückte meinen Stuhl aus dem grellen Licht. Dabei rutschte mir eine Haarnadel aus den Locken, und als ich sie wieder hineinsteckte, fiel mir ein, wie Velma bei meinem letzten Friseurbesuch angefangen hatte zu plaudern, anstatt sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, die darin bestand, mir Dauerwellen zu legen. Mir war richtig schlecht geworden, als ich das Ergebnis sah. Die Welle würde lockerer fallen, wenn das Haar erst einmal gewaschen sei, meinte sie beschwichtigend. Außerdem hätte ich eben sehr feine Haare, und die Haarstruktur verändere sich im Alter, ob ich das denn nicht wüsste? Vielleicht nähme ich ja auch ein Medikament ein, das sich nicht mit dem Fixiermittel vertrug. Also wirklich, ich möchte ein einziges Mal erleben, dass die Frau zugibt, einen Fehler gemacht zu haben, anstatt mir oder meinen Haaren die Schuld daran zu geben, dass ich aussehe wie ein Topfreiniger aus Stahlwolle.

Aber mit manchen Dingen muss man wohl einfach leben. Mit krausen Haaren zum Beispiel. Oder der Tatsache, dass keine Kinder da sind, die einem im Alter zur Seite stehen. Beides Grund genug zum Heulen.

Man muss es eben von der positiven Seite sehen: Die Krause wächst sich aus, und Kinder werden älter und streiten sich irgendwann übers Erbe, also sollte ich mich nicht allzu sehr bemitleiden. Nicht, dass ich einem Kind je verweigern würde, was ihm rechtmäßig zustand, aber möglicherweise würden sie sich untereinander zanken. So blieb mir wenigstens das beschämende Schauspiel einer Familie, die sich über der Frage, wer was bekommt, in die Wolle kriegt, erspart. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich das in unserer Stadt leider allzu oft gesehen habe. Ich glaube, kein Testament hat es jemals allen Begünstigten recht gemacht, deshalb nahm ich es relativ gelassen hin, die einzige Hinterbliebene zu sein.

Ich seufzte und blätterte um. Ich war so in die Glitzerwelt des Katalogs versunken, dass ich zu Tode erschrak, als die Türglocke schrillte.

Ich ging zur Vordertür. Durch das Fliegengitter sah ich eine Frau auf viel zu hohen Absätzen, in einem viel zu kurzen Rock und mit viel zu blonden Haaren. Obendrein war sie viel zu jung für die sichtbaren Spuren, die ein hartes Leben rings um ihre Augen und die glänzenden roten Lippen hinterlassen hatte. Hinter ihr stand, mit hängendem Kopf, ein magerer kleiner Junge, und ich dachte, sie wolle mir etwas verkaufen. Hausierer machen das gern, wissen Sie, ein Kind mitnehmen, damit man ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man sie abwimmeln möchte. Ich machte schon den Mund auf, um »Vielen Dank, ich brauche nichts« zu sagen, doch da hatte sie bereits angefangen zu reden.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte sie und hakte den Daumen unter den Schulterriemen ihrer Handtasche. Unter der Schminke glänzte ihr Gesicht feucht vom Schweiß. Sie holte tief Luft und platzte heraus: »Ich würde das nicht tun, wenn ich nicht müsste. Aber er hat mir keine andere Wahl gelassen, und ich muss uns irgendwie durchbringen. Sie wissen ja, wie das ist. Na ja, vielleicht auch nicht. Jedenfalls will ich auf die Kosmetikschule in Raleigh und einen Kurs in Nagelpflege besuchen, Kunstnägel und all so was, wissen Sie. Mit Nägeln kann man ganz schön was verdienen, und ich weiß auch nicht, was ich sonst machen könnte.«

Ich öffnete ein paar Mal den Mund, um ihr zu sagen, sie habe sich in der Adresse geirrt, ich würde sie überhaupt nicht kennen, aber sie gab mir keine Gelegenheit dazu. Sie zog das Kind hinter sich hervor und schubste es zur Fliegengittertür. Der kleine Kerl sah zum Erbarmen aus, mager und blass. Mit Armesündermiene stand er da, eine braune Einkaufstüte von einem Supermarkt in beiden Händen.

»Das hier ist Wesley Lloyd junior, obwohl das nicht unbedingt sein rechtmäßiger Name ist, wie Sie selbst wohl am besten wissen dürften«, fügte sie mit einem nervösen Lachen hinzu. »Ich nenn ihn Wesley Lloyd junior Springer, mir egal, was auf der Geburtsurkunde steht. Aber sein Daddy ist als Vater eingetragen. Sehen Sie? Hier steht’s.« Sie streckte mir ein Blatt Papier hin, auf dem ganz oben »Geburtsurkunde« stand.

Wie eine Schlafwandlerin machte ich die Tür auf, nahm den Wisch in die Hand und las den Namen meines Mannes. »Vater: Wesley Lloyd Springer. Mutter: Hazel Marie Puckett.«

»Ich muss ihn bei Ihnen lassen«, sagte Hazel Marie Puckett und schob mir den Kümmerling hin. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf Ihre christliche Nächstenliebe zu hoffen. Wesley Lloyd hat mir nämlich keinen roten Cent hinterlassen. Ich hab mit Ihrer Anwältin gesprochen, und sie hat gesagt, ich krieg nicht mal das Haus, in dem ich seit zwölf Jahren wohne. Ich bin völlig abgebrannt, Mrs. Springer, und ich bitte Sie um nichts weiter, als dass Sie sich um meinen Jungen kümmern, während ich auf der Schule bin. Ich hab sonst niemanden, und ich meine, er ist ja fast so was wie Ihr Stiefsohn, oder? In spätestens sechs Wochen hol ich ihn wieder ab, ich mach das wirklich nicht gern, glauben Sie mir, aber es geht nicht anders. Sei brav, hörst du?«, fügte sie, an den Jungen gewandt, hinzu und tätschelte ihm den Rücken, während sie mit dem Fuß einen Pappkoffer neben ihn schob.

»Du tust, was Mrs. Springer dir sagt, verstanden?« Sie küsste ihn flüchtig aufs Haar, drehte sich um, tänzelte die Treppe hinunter und eilte auf einen kastanienbraunen und weißen Wagen zu, der vor dem Haus parkte und meine Buchsbaumsträucher in dicke Abgaswolken hüllte.

Endlich fand ich die Sprache wieder. »Miss! Miss!«, rief ich und hastete auf die Veranda hinaus. »Kommen Sie sofort zurück! Das können Sie doch nicht machen! Ich kann das Kind nicht bei mir aufnehmen! Ich rufe den Sheriff, wenn Sie nicht auf der Stelle zurückkommen!«

Aber sie sprang schon in das wartende Auto, und es preschte davon, bevor sie die Beifahrertür richtig geschlossen hatte. Die Beifahrertür, schoss es mir durch den Kopf. Jemand anders saß am Steuer.

»Was ist denn das für ein Geschrei?« Lillian stand an der Tür, ihre weiße Tracht schimmerte durch das Fliegengitter. Man hätte sie für eine stämmige Krankenschwester oder Kellnerin halten können, wären da nicht die Schuhe mit den abgetretenen Absätzen gewesen, die bei jedem Schritt flappten. Sie sah erst mich an, und dann schauten wir beide auf den Jungen.

Ich hatte noch nie so ein Häufchen Elend gesehen. Ich schätzte, dass er neun oder zehn war. Das glatte braune Haar hing ihm in die Augen, die große Hornbrille war ihm auf die Nase gerutscht, die blasse Haut mit Sommersprossen übersät, und die Augen huschten unruhig hin und her. Er stand da mit hängenden Schultern. Die Ansteckfliege saß schief auf dem dünnen Baumwollhemd, und die glänzende Hose wurde fast auf Brusthöhe von einem braunen Stretchgürtel, zweifellos Marke Wal-Mart, zusammengehalten. Ich musterte den Knirps eingehend, während Lillian mit offenem Mund dastand. Ich fasste ihn am Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. Ein prüfender Blick in sein Gesicht bestätigte das Offensichtliche, und mir plumpste das Herz in die Hose. Vor mir stand der um gut sechzig Jahre verjüngte Wesley Lloyd Springer. Er glich ihm wie ein Ei dem andern, bloß dass der jüngeren Ausgabe die Selbstsicherheit der älteren fehlte.

Ich holte tief Luft. »Schau mal, Lillian, was Mr. Springer mir noch hinterlassen hat.«

Kapitel 2

»Ruf den Sheriff«, sagte ich und wandte mich wieder Richtung Straße. Ich hätte mir das Kennzeichen merken sollen. Aber als mir das einfiel, war der Wagen schon davongerast und rechts in die Lincoln Street verschwunden. Schwarze Abgaswolken wälzten sich träge die Straße hinunter.

Als sich hinter mir nichts rührte, drehte ich mich um und sah, dass Lillian die Arme um den kleinen Bastard gelegt hatte und er den Kopf an ihren weißen Nylonkittel lehnte. Er ließ die Einkaufstüte lange genug los, um sich mit dem Ärmel den Rotz abzuwischen, wobei er seine Brille noch mehr verschmierte. Ein Anblick, bei dem einem wahrlich schlecht werden konnte.

Lillian guckte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Sie können den armen kleinen Kerl doch nicht dem Sheriff übergeben. Was hat er Ihnen denn getan?«

»Er hat mir gar nichts getan. Außer dass er da ist. Aber seine Mama werde ich anzeigen.« Ich verschränkte die Arme über der Brust und setzte mich auf mein höchstes Ross. »Sie kann ihr Kind doch nicht einfach bei irgendjemandem abgeben. Ich werde den Sheriff und den Staatsanwalt und jeden verständigen, der mir einfällt. Stellt ihn einfach vor meiner Tür ab und verschwindet! Das muss man sich mal vorstellen! Und ob ich den Sheriff rufen werde. Wenn er sich beeilt, erwischt er sie vielleicht noch. Sie hat die Verantwortung für das Kind, nicht ich!«

Meine Rede hatte ein neuerliches schleimiges Schniefen von dem lebenden Strandgut und einen weiteren bösen Blick von Lillian zur Folge.

»Oh ja, natürlich, und Sie freuen sich bestimmt schon darauf, die ganze Geschichte auf der Titelseite der Abbotsville Press lesen zu können, hab ich Recht? Haben Sie daran schon mal gedacht? Haben Sie an das Gerede und das Getuschel und die wilden Spekulationen gedacht? Haben Sie daran gedacht, was Ihr Pfarrer dazu sagen wird? Und die Kirchengemeinde? Und Mrs. Conover?«

Nein, daran hatte ich ehrlich gesagt nicht gedacht. In den zwanzig Jahren, die Lillian jetzt bei mir war, hatte ich mich immer auf ihren Rat verlassen können. Wir kannten einander in- und auswendig und nahmen kein Blatt vor den Mund, wussten aber, wo die Grenzen lagen. Deshalb waren wir wohl auch so etwas wie Freundinnen geworden. LuAnne Conover warf mir vor, ich sei meiner Hausangestellten gegenüber zu großzügig, das würde nur zum Stehlen ermuntern, was wiederum zu frechen Antworten und dann, wenn ich nicht Acht gäbe, zu ausgesprochener Faulheit führen würde. Besser eine geschäftsmäßige Beziehung mit der nötigen Distanz, meinte sie. Aber da es keine Haushaltshilfe je länger als sechs Monate bei LuAnne ausgehalten hatte, sah ich keinen Grund, ihren Rat zu befolgen.

Außerdem war Lillian eine tüchtige, selbstbewusste Frau, nicht so wie ich: Ich hatte Wesley Lloyd immerzu fragen müssen, was ich über dieses oder jenes denken sollte. Lillian hingegen hatte eine gehörige Portion gesunden Menschenverstand – trotz des Goldzahns, den sie sich vor einigen Jahren hatte einsetzen lassen. Ich gab offen gestanden mehr auf ihre als auf LuAnnes Meinung. LuAnne erzählte doch jedem, der es hören wollte, was für eine wichtige Person ihr Mann sei. Leonard, ein hängeschultriger, dickbäuchiger Kerl, mit dem Wesley Lloyd nie viel anfangen konnte, war ein hohes Tier in der Kommunalpolitik. Er hatte für ein halbes Dutzend Ämter kandidieren müssen, um wenigstens eins zu ergattern. In der Stadt hatte sich schon jeder über Leonards immer wiederkehrenden Namen auf den diversen Wahllisten amüsiert, sodass wir ihn vor ein paar Jahren aus lauter Mitleid hinter einen Schreibtisch im Anbau des Gerichtsgebäudes wählten, nur damit endlich Ruhe war. Für diesen Job müsse man weder Anwalt sein noch eine Collegeausbildung haben oder sich in den Gesetzen auskennen, erklärte mir Wesley Lloyd, als er sagte, ich solle meine Stimme Leonard geben. Da Leonard alle diese Bedingungen erfüllte, stimmte ich also für ihn, und zum Dank musste ich mir jetzt von LuAnne in einem fort anhören, wie einflussreich seine Entscheidungen und wie sehr Anwälte und Richter auf ihn angewiesen seien. Wenn man sie hörte, könnte man glauben, ohne Leonard liefe im County überhaupt nichts mehr. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Wesley Lloyd gemeint hatte, auf diesem Posten könne er wenigstens keinen Schaden anrichten. LuAnne sonnte sich genüsslich im vermeintlichen Glanz von Leonards Stellung. Natürlich hatte ich es als Wesley Lloyds Frau nicht anders gemacht, doch das versuchte ich jetzt zu verdrängen.

Um auf Lillian zurückzukommen: Sie hatte mehr Verstand als LuAnne und ich zusammen. Ich trat ans Verandageländer. Ich musste mich daran festhalten, als ich mir Lillians Worte durch den Kopf gehen ließ und meine Knie zu zittern anfingen. Ich wusste, sie hatte weiter vorausgesehen als ich in meinem Schock.

»Also gut«, sagte ich. »Dann weck Deputy Bates.«

»Ich werde nichts dergleichen tun. Der Mann hat die ganze Nacht gearbeitet, er braucht seinen Schlaf.«

Ich seufzte theatralisch und ging ins Haus. »Dann bring wenigstens den Jungen herein, bevor ihn die ganze Stadt sieht. Oder hast du dagegen auch etwas einzuwenden?«

Deputy Coleman Bates wohnte bei mir zur Miete. Sam hatte mir nach Wesley Lloyds Tod zum Vermieten geraten. Nicht, weil ich das Geld gebraucht hätte, sondern weil Sam meinte, er würde ruhiger schlafen, wenn er wüsste, dass ein Mann im Haus war. »Es gibt eine Menge Gesindel, Julia«, hatte er gesagt. »Und eine Frau allein, vor allem eine vermögende wie du, würde jeden Dieb und schlimmeren Abschaum anlocken.« Das Auto eines Deputys in meiner Einfahrt würde abschreckender als jede Alarmanlage wirken, fügte er hinzu. Also richtete ich das Schlafzimmer im oberen Stock her, das über die Hintertreppe und die hintere Veranda zu erreichen ist, und vermietete es. Zuerst gab es Gerede deswegen, es wurde darüber spekuliert, ob Wesley Lloyd mir doch nicht so viel hinterlassen hatte, wie alle dachten. Aber kurz nachdem der junge Mann eingezogen war, verkaufte ich Wesley Lloyds Buick, weil ich keine Lust hatte, sozusagen in seinem Totenbett herumzufahren, und kaufte mir stattdessen ein kleines ausländisches Sportcoupé. Dann ließ ich die Hausfassade streichen, leistete mir neue Wohnzimmervorhänge und spendete obendrein eine beträchtliche Summe für die Kirchenorgel. Das stopfte den Klatschmäulern den Mund.

Ich hämmerte an Deputy Bates’ Tür. Er solle aufstehen, wir hätten ein ernstes Problem, rief ich. Ich hatte absolut kein schlechtes Gewissen, weil ich ihn aus dem Schlaf riss. Immerhin wohnte er jetzt schon volle sechs Wochen bei mir, und ich hatte ihn bisher noch nie wegen irgendetwas belästigt. Er habe einen ruhigeren, weniger anstrengenden Posten gesucht und deshalb bei der Polizei in Atlanta gekündigt, hatte er mir erzählt. Aber ich dachte mir, ein bisschen Stress gelegentlich könne nicht schaden, und so hämmerte ich abermals an die Tür.

Ich hörte, wie er aus dem Bett sprang und eine Schublade aufgerissen wurde. Dann flog die Tür auf, und Deputy Bates stand in rot-weiß gestreiften Boxershorts vor mir, mit glasigen Augen und einer mattgrauen Pistole in der Hand.

»Was ist?« Sein Blick huschte hin und her. »Was für ein Problem?«

»So ernst, dass Sie jemanden erschießen müssten, ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich und deutete auf die Waffe. Derjenige, der es verdient hätte, war bereits tot.

Er sah mich blinzelnd an und schüttelte dann den Kopf. »Ich will mir nur schnell was anziehen.«

Ich ging wieder hinunter und in die Küche, wo ich Lillian herumhantieren hörte. Der Junge saß am Tisch, vor sich ein riesiges Stück Schokoladenkuchen und ein Glas Milch. Ich schnappte empört nach Luft. Mein Mund zog sich zu einer dünnen Linie zusammen.

»Das ist kein Gast, den du bewirten musst, Lillian«, sagte ich säuerlich. »Der Junge wird uns verlassen, sobald ich weiß, wohin ich ihn abschieben kann.«

»Kinder haben nun mal Hunger«, erwiderte sie mit einem prüfenden Blick in einen Topf auf dem Herd. Sie vermied es, mich anzusehen, was bedeutete, sie billigte meine Haltung ganz und gar nicht. Nun, damit konnte ich leben.

Ich ignorierte sie und trat neben den Jungen. Ich stand da und klopfte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden, während es in mir gärte. Ich ballte die Fäuste. Der Kleine sackte mehr und mehr in sich zusammen, bis sich sein Gesicht etwa auf gleicher Höhe mit der zweiten Tortenschicht befand. Die Einkaufstasche lag neben dem Stuhl.

»Wie heißt du, mein Sohn?«, fragte ich.

Tränen strömten unter den verschmierten Brillengläsern hervor, aber er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Er saß einfach da, die Hände im Schoß, und heulte lautlos vor sich hin.

»Du meine Güte!«, entfuhr es mir. »Ich hab dir eine einfache Frage gestellt, also setz dich gerade hin und antworte mir.«

Er tat sein Bestes, aber schon fingen die knochigen Schultern an zu zucken. Da beschloss Lillian einzugreifen. Der Himmel weiß, dass es dazu nicht viel brauchte.

»Junior«, sagte sie zu mir, und zwar in scharfem Ton. »Junior heißt er, und das ist keine Art, mit einem kleinen Kind zu reden.«

Ich verdrehte die Augen. Kleines Kind! Das kleine Kind war ungefähr neun! Ich wusste, ich hätte nicht so gehässig sein sollen, aber jedes Mal, wenn ich den Jungen ansah, verspürte ich den Wunsch, jemandem ordentlich wehzutun, und derjenige, der es verdient hätte, war nun mal nicht greifbar.

»Hier wird jedenfalls niemand Junior zu ihm sagen«, erklärte ich. »Nicht in diesem Haus. Das ist nicht rechtens, und solange du dich in meinem Haus aufhältst«, fügte ich an den kleinen Schniefer gewandt hinzu, »was nicht sehr lange sein wird, werden wir dich Lloyd nennen.«

»Ja, Ma’m«, murmelte er. Es klang, als wäre er unter Wasser. Was er ja auch war.

Deputy Bates kam herein. »Okay, Miss Julia.« Das durchs Fenster hereinströmende helle Sonnenlicht flutete über ihn hinweg und ließ seine vergoldete Armbanduhr und die feinen blonden Härchen auf seinen Armen funkeln, und ich musste an einen braun gebrannten, lichtumspielten Rettungsschwimmer denken, der mir einmal auf Pawley’s Island aufgefallen war. Der Deputy trug jetzt Jeans über den Boxershorts – und Cowboystiefel, um Himmels willen! Dennoch machte er eine gute Figur mit seinem weißen T-Shirt, das sich über seinen muskulösen Oberkörper spannte. Und er hatte keine Waffe mehr in der Hand, wie ich erleichtert feststellte. »Wo ist das Problem?«

»Hier sitzt es«, sagte ich und deutete mit dem Zeigefinger auf den Jungen, der daraufhin das Gesicht verzog und von neuem überfloss.

»Hallo, Kleiner«, sagte der Deputy. Er nickte dem Kind freundlich zu, ohne sein Geheule zu beachten, und wandte sich dann Lillian zu. »Noch Kaffee da?«, fragte er grinsend.

»Ich brüh gerade welchen auf«, antwortete sie und strahlte, wie jedes Mal, wenn sie einen Mann verwöhnen konnte. Vor allem diesen. Sie hatte Deputy Bates vom ersten Moment an, als er in dunkelblauer Uniform samt Abzeichen, Gummiknüppel, Pistole, Funkgerät und was weiß ich noch allem ins Haus marschiert war, ins Herz geschlossen. Sie wissen ja, wie manche Frauen sind!

Ich verdrehte abermals die Augen und setzte mich Deputy Bates gegenüber. »Wenn dann endlich alle versorgt sind, könnten wir uns vielleicht auf mein Problem konzentrieren«, sagte ich gereizt, nachdem Lillian eine dampfende Tasse vor ihn hingestellt und dem Kind eine Gabel in die Hand gedrückt hatte.

»Erzählen Sie«, forderte Deputy Bates mich auf. Und das tat ich.

»Das ist ja eine schöne Geschichte«, meinte er, als ich mit einem entrüsteten Kopfschütteln geendet hatte. »Und Sie hatten keine Ahnung?« Er zog eine Augenbraue in die Höhe und streifte Little Lloyd mit einem Seitenblick.

»Nicht die geringste! Kein Mensch hat etwas davon geahnt. Ist es nicht so, Lillian?«

»Ja, Ma’m«, brummelte sie und rührte den Mais in der Pfanne, als erforderte das ihre ganze Konzentration.

»Lillian! Hast du es etwa gewusst?«, fragte ich beunruhigt und richtete mich halb auf. »Antworte mir!« Angst und Scham spülten über mich hinweg wie eine riesige Welle. Ich hatte das Gefühl, umgerissen und herumgewirbelt zu werden, bis mir der Sand zwischen den Zähnen knirschte.

»Sie kennen doch das Gerede der Leute.« Sie vermied es, mich anzusehen, und hantierte stattdessen mit ihren Töpfen.

Ich griff mir an die Brust und krächzte: »Soll das etwa heißen, dass alle außer mir wussten, was Wesley Lloyd die ganze Zeit trieb?«

Ich konnte es nicht fassen. Da war ich nichts ahnend, den Kopf stolz erhoben, durch die Stadt gelaufen, in die Kirche, zum Friseur, in den Winn-Dixie-Supermarkt gegangen, während alle gewusst hatten, dass mein Mann – der Bankdirektor, der Kirchenälteste, das Finanzgenie, die Leitfigur – ein Verhältnis mit einem Flittchen hatte. Ich sah im Geist die Gesichter von Freunden, Nachbarn, Mitgliedern der Kirchengemeinde, Kaufleuten – sogar der Zeitungsjungen! – vor mir, und alle tuschelten, glotzten, kicherten oder grinsten hämisch. Einige lachten mich aus, andere hatten Mitleid mit mir. Ich wusste nicht, was schlimmer war.

Kapitel 3

Ganz benommen ließ ich mich in meinem Stuhl zurückfallen. »Was in aller Welt soll ich denn jetzt nur machen?«, flüsterte ich.

»Gehen wir die Sache doch einmal in Ruhe durch«, sagte Deputy Bates. »Das Jugendamt könnte sich ein paar Tage um den Jungen kümmern, während wir versuchen, seine Mutter ausfindig zu machen. Gelingt uns das nicht, werden sie Pflegeeltern für ihn suchen.« Er fuhr sich nachdenklich mit dem Finger über den Mund. »Falls wir seine Mutter aber doch finden, wird es vermutlich eine Verhandlung geben. Und dann müssten Sie als Zeugin aussagen. Möglicherweise wird ihr das Sorgerecht entzogen werden, dann würde das Jugendamt die Vormundschaft für den Jungen übernehmen.«

Das Kind hatte den Deputy keine Sekunde aus den Augen gelassen, während es, immer noch schniefend, an seinem Kuchen knabberte. Als die Worte »Jugendamt« und »Vormundschaft« fielen, ließ Little Lloyd den Kopf hängen. Lillian kam zu uns an den Tisch; ihre Absätze schlappten über den Linoleumboden. Die Arme in die Seiten gestemmt, blickte sie mir in die Augen und sagte:

»Wenn Sie das tun, Miss Julia, werden alle Leute wissen, dass sie die ganze Zeit mit ihren Vermutungen Recht gehabt haben. Ziehen Sie das Gesetz und die Gerichte mit rein und alles wird rauskommen, das garantier ich Ihnen!«

Sie hatte natürlich Recht. Ich sah mich im Geist vor einem Richter stehen und erzählen, wie ich zu Wesley Lloyd junior Springer gekommen war. Ich konnte schon hören, wie sich die Leute vor Lachen ausschütten würden. Wesley Lloyd war ein zu gerissener Geschäftsmann gewesen, als dass sein jäher Sturz selbst noch nach seinem Tod nicht ein schadenfrohes Grinsen auslösen würde. Und was mich betraf, so war ich selbst zu stolz – und war zu stolz auf meinen Mann gewesen –, um die viel sagenden Blicke oder das süffisante Lächeln der Leute, während sie gleichzeitig Respekt heuchelten, ignorieren zu können.

»Was soll ich denn jetzt bloß machen?«, flüsterte ich abermals.

»Ich könnte ein paar Nachforschungen anstellen«, schlug Deputy Bates vor. »Inoffiziell natürlich. Wenn ich die Mutter finde und sie nimmt den Jungen wieder zu sich, hat sich der Fall erledigt. Wenn sie sich aber weigert oder ich sie nicht ausfindig machen kann, können Sie immer noch überlegen, ob Sie das Jugendamt einschalten wollen. Dann wird es sich allerdings nicht vermeiden lassen, dass die Sache an die Öffentlichkeit kommt, die Presse lauert doch nur auf so was.«

»Inoffiziell?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Könnten Sie das wirklich tun? Ich meine, so, dass niemand mitkriegt, warum Sie sich für diese Frau interessieren?«

Er fuhr sich übers Haar und verzog den Mund. »Versuchen kann ich’s, aber ich kann nichts versprechen. Was ich jedoch tun könnte«, fuhr er, sich aufrichtend, fort, »ist, mich hier ein wenig umsehen, die Verhaftungsprotokolle und die Wahllisten durchgehen, bei der Kfz-Zulassungsstelle nachfragen, überprüfen, ob sie vielleicht Verwandte in der Stadt hat. Nur um sicherzugehen, dass an ihrer Geschichte was dran ist.«

»Und ob da was dran ist«, meinte Lillian, wobei sie den Jungen ansah. »Es sei denn, Mr. Springer hätte einen Bruder gehabt, von dem niemand was wusste.«

»Lillian, bitte!«, stöhnte ich. Dann hatte ich einen Gedankenblitz und rief: »Ich hab’s! Wir sagen einfach, der Junge ist ein Neffe von Mr. Springer! Ein Sohn seines Bruders oder seiner Schwester, der zu Besuch da ist. Das würde auch die Ähnlichkeit erklären.« Ich lachte erleichtert auf. Warum war mir diese geniale Idee nicht schon früher gekommen?

»Hm-hm«, machte Lillian kopfschüttelnd und spitzte die Lippen. »Das wird nicht funktionieren. Die Springers sind seit Generationen bekannte Leute in dieser Stadt. Mr. Springer ist hier aufgewachsen und abgesehen von der Zeit auf dem College nie weg gewesen. Kein Mensch würde Ihnen abnehmen, dass er noch einen Bruder oder eine Schwester hatte – oder die Leute würden denken, sein Daddy hätte ein uneheliches Kind gehabt.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Lillian hatte ja Recht. Cousins oder Cousinen hatte Wesley Lloyd auch nicht. Er war allein gewesen, seit er auf der Welt war. In dieser Stadt konnte jeder die Verwandtschaftsverhältnisse des anderen über einen Zeitraum von mindestens hundert Jahren zurückverfolgen. Die alten Männer, die im Frisiersalon und an der Ecke vor der Bank miteinander plauschten, würden jeden Versuch, einer anderen Generation eine Lügengeschichte anhängen zu wollen, sofort aufdecken und weitererzählen.

»Ich will mich nicht dem Gerede der Leute aussetzen, die ganze Sache ist auch so schon schlimm genug«, murmelte ich. Ich fühlte mich zutiefst gedemütigt. »Im Augenblick ist es mir ziemlich egal, was sie von Mr. Springer denken, aber dass ich mich zum Gespött der Leute mache, das ist mir nicht egal. In dieser Stadt bin ich doch erledigt!«

Ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich presste ein Taschentuch vors Gesicht und versuchte mich zusammenzunehmen. Jedes Mal, wenn ich die Augen zumachte, sah ich das Bild dieses Jungen vor mir. Und wenn ich sie aufmachte, sah ich ihn dasitzen, mit weit aufgesperrtem Mund, und mich hinter den dicken Brillengläsern hervor anstarren. Womit hatte ich das bloß verdient?

»So schlimm wird es schon nicht werden, Miss Julia«, sagte Deputy Bates beschwichtigend. »Ich finde, Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie diesen Jungen bei sich behalten, bis wir seine Mutter ausfindig gemacht haben. Außerdem haben Sie doch nichts getan, dessen Sie sich schämen müssten.«

Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Er wollte mich nur trösten, das war mir klar, aber er war ja so naiv! »So läuft das leider nicht, Deputy Bates. Wenn ein Mann fremdgeht oder zu trinken anfängt oder zum Spieler wird oder bankrottgeht, ist immer die Frau schuld daran – haben Sie das nicht gewusst? Es sind die Ehefrauen, die ihre Männer aus dem Haus oder zur Verzweiflung treiben. So sieht’s aus.«

»Das stimmt doch gar nicht!«

»Oh doch! Und es gibt nichts, was man dagegen tun könnte. Schon gar nicht jetzt, wo Pastor Ledbetter ständig predigt, wie sehr das Wohlergehen der Familie von der Ehefrau und Mutter abhängt.« Ich atmete tief durch und faltete mit zitternden Fingern mein Taschentuch zusammen. »Ich werde mich daran gewöhnen müssen, dass die Gerüchteküche brodeln und die Telefone in der Stadt heiß laufen werden. Die Leute werden alle nur denkbaren Entschuldigungen für Wesley Lloyd suchen, damit sie mir die Schuld in die Schuhe schieben können.«

Lillian nickte zustimmend. »Für einen Mann finden Frauen immer eine Entschuldigung. Darin sind sie ganz groß.«

»So ist es«, pflichtete ich ihr bei. »Sie glauben, wenn sie sich anstrengen, werden ihre Männer nicht über die Stränge schlagen. Aber selbst wenn sie perfekt wären – ein Mann macht, was er will, ganz gleich, was für eine Frau er hat«, fügte ich bitter hinzu. Diese Ungerechtigkeit trieb mir von neuem die Tränen in die Augen, und ich tupfte sie schniefend trocken. Der Junge sah mich unverwandt an. Er war sichtlich auf der Hut, was in seiner Situation nur verständlich war.

Ich wischte mir ein letztes Mal über die Augen und straffte dann energisch die Schultern. Mein Selbstmitleid verflog, stattdessen wurde ich zornig. »Ich bin der beste Beweis dafür! Ich habe mir rein gar nichts zuschulden kommen lassen, ich habe immer alles, wirklich alles so gemacht, wie Wesley Lloyd es wollte. Ich habe weder das Haus verlassen noch den Mund aufgemacht, ohne ihn vorher zu fragen! Die Frau sei dem Manne untertan, heißt es in der Bibel, und daran hab ich mich gehalten, und was ist der Dank dafür? Dass ich jetzt die Suppe auslöffeln soll, die er mir eingebrockt hat!«

Mit jedem Wort fühlte ich mich stärker und entschlossener. Ich setzte mich noch aufrechter hin. Mir war nicht mehr nach Weinen zumute. Den Kochlöffel in der Hand, von dem sahnige Maissoße auf den Boden tropfte, stand Lillian da und guckte mich blinzelnd an. Little Lloyd war die Kinnlade heruntergeklappt, und Deputy Bates lächelte ein wenig unsicher.

»Ich weiß, was ich machen werde«, sagte ich.

»Oh-oh«, machte Lillian.

»Da bin ich aber gespannt«, meinte Deputy Bates.

Little Lloyd schniefte wieder gotterbärmlich.

»Gib dem Jungen doch mal ein Taschentuch, Lillian, das ist ja furchtbar«, sagte ich und fuhr dann fort: »Also: Ich werde auf keinen Fall das Jugendamt einschalten. Mich um dieses Kind zu kümmern ist das Kreuz, das ich tragen muss, auch wenn ich das nicht verdient habe, aber das ist die einzige Möglichkeit, es Wesley Lloyd heimzuzahlen. Zehn Jahre lang hat er den Jungen versteckt – ich werde ihn nicht verstecken. Und mich auch nicht. Warum sollte ich auch? Ich kann schließlich nichts dafür. Reden werden die Leute sowieso, also sollen sie wenigstens einen Grund haben. Ich werde den Kopf so hoch wie möglich tragen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Und ich werde keine Rücksicht auf Wesley Lloyd Springer nehmen. Sollen ruhig alle wissen, dass das da sein Sohn ist. Ich werde das Kind in der ganzen Stadt herumzeigen!«

»Schön und gut«, warf Deputy Bates ein, »ich versteh nur nicht, wie Sie Mr. Springer damit treffen wollen.«

»Glauben Sie denn nicht an das ewige Leben? Wir Presbyterianer schon. Verlassen Sie sich drauf: Wo immer Wesley Lloyd Springer jetzt auch sein mag – er wird Qualen leiden. Sein guter Ruf ging ihm über alles, und ich habe mein Leben lang versucht, seinen hohen Maßstäben gerecht zu werden. Damit ist jetzt Schluss! Ich werde das Kind überallhin mitnehmen, und ich werde dafür sorgen, dass alle erfahren, wessen Sohn er ist! Sollen sie sich selbst einen Reim darauf machen!«

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, meinte Lillian zweifelnd.

»Haben Sie sich schon mal überlegt, wie sich der Junge dabei fühlen wird?«, meinte Deputy Bates. »Ich will Ihnen ganz bestimmt keine Vorschriften machen, aber für ihn könnte es ganz schön hart sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Sollte man vielleicht dran denken.«

Der Kopf des Jungen war während unserer Unterhaltung von einem zum andern geschwenkt, und ich fragte mich, wie viel er wohl von dem, was gesprochen wurde, verstehen mochte. Offensichtlich nicht viel, seinem verwirrten, konfusen oder – der Himmel bewahre! – schwachsinnigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

Ich musterte das Kind eingehend, ließ den Blick über sein fleckiges, tränennasses Gesicht, die schiefe Brille, die verrutschte Fliege, die ganze knochige Gestalt gleiten und spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte ich. »Er kann sich’s aussuchen. Entweder er steht die Sache mit mir gemeinsam durch und zeigt es den Leuten, oder aber er versteckt sich im Schrank, bis seine Mutter zurückkommt. Vielleicht möchte er ja auch, dass ich ihn dem Sheriff und dem Jugendamt übergebe.« Ich beugte mich über den Tisch und schaute dem Jungen ins Gesicht. »Möchtest du das, Kleiner? Willst du ins Waisenhaus gesteckt werden?«

»Nein, Ma’m.« Seine Schultern zuckten vor Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten.

»Seht ihr? Er weiß, was gut für ihn ist«, rief ich triumphierend. Jetzt, da ich eine Entscheidung getroffen hatte, war mir bedeutend wohler.

»Hören Sie auf, dem Kind Angst einzujagen, Miss Julia«, sagte Lillian tadelnd. »Iss du nur deinen Kuchen, Schätzchen, und achte nicht auf sie.«

»Hör du lieber auf, mir in den Rücken zu fallen«, konterte ich. »Wir werden Folgendes machen. Deputy Bates, Sie versuchen alles über den Jungen und seine Mutter herauszufinden, aber unauffällig, damit nicht plötzlich irgendeine Behörde bei mir anklopft, die meint, sie müsste die Sache in die Hand nehmen. Lillian wird mir hier mit dem Jungen helfen, und du, Little Lloyd« – er zuckte zusammen, als ich mich ihm zuwandte – »du bist Mr. Springers einziges Kind – hoffe ich jedenfalls –, du hast allen Grund, stolz zu sein. Verstehst du das?«

Er nickte kläglich, aber ich hatte keine Zeit für Mitleid.

»Hoffentlich wissen Sie, was Sie da tun. Sie bringen nämlich sich selbst und alle andern in ganz schöne Schwierigkeiten«, sagte Lillian anklagend. »Mr. Springer hatte nun mal keine rechtmäßigen Kinder, und Sie machen die Sache womöglich noch komplizierter, als sie jetzt schon ist.«

»Es war auch nicht rechtmäßig, dass er noch eine andere Frau außer mir hatte«, fauchte ich zurück. »Es ist, wie es ist, und ich muss sehen, wie ich damit fertig werde. Dieser Junge ist Mr. Springers Sohn, und früher oder später werde ich den gerechten Lohn dafür bekommen, dass ich meiner Christenpflicht mehr als nur Genüge getan habe!«

»Na schön, wie Sie meinen.« Lillian wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sie wusste, wie sehr ich das hasste.

»Sie sind mir vielleicht eine, Miss Julia«, meinte Deputy Bates und grinste übers ganze Gesicht. »Ich habe Atlanta immer für ein gefährliches Pflaster gehalten, aber ich habe das Gefühl, das war gar nichts gegen das, was mich hier erwartet.«

Kapitel 4

An diesem Nachmittag verzweifelte ich schier bei dem Versuch, Sam zu erreichen. Ich konnte mir schon denken, wo er steckte, aber das machte das Warten nicht leichter. Sam hatte seine Kanzlei kurz nach Wesley Lloyds Tod aufgegeben – zu einer Zeit, als ich ihn dringender denn je gebraucht hätte. Und wofür? Um seinem Hobby zu frönen und angeln zu gehen! Man sollte es nicht für möglich halten! Meine Routineangelegenheiten hatte er Binkie Enloe übergeben, sodass ich jetzt zwei Anwälte hatte: eine junge Frau, deren Fähigkeiten ich erst angezweifelt hatte, und einen alten Mann, der lieber fischte statt Geld zu verdienen.

»Einen Versuch noch«, sagte ich halblaut zu mir selber, »und wenn er immer noch nicht da ist, geh ich rüber zu ihm und setz mich auf die Veranda, bis er nach Hause kommt.«

Hinterm Haus sah ich Deputy Bates und den Jungen. Eigentlich hätte er das Kind ausfragen sollen, um mehr über diese Puckett und ihre Pläne herauszufinden, aber ich hatte eher den Eindruck, dass er mit dem Kleinen spielte. Anscheinend behandelte er die Angelegenheit nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit!

Als ich am Fenster stand und dieses Kind beobachtete, das so gar nichts Liebenswertes an sich hatte – wer außer der eigenen Mutter konnte so ein Kind lieben? (Und sogar die hatte es im Stich gelassen!) –, packte mich plötzlich und für mich selbst unerklärlich Mitleid mit dem kleinen Kerl. Es wurde noch schlimmer, als ich sah, wie er von einem Weinkrampf geschüttelt wurde und Deputy Bates in die Hocke ging und den Jungen in die Arme nahm. Ich hielt mich an der Spüle fest und ließ den Kopf sinken. Gefühle, die keinen Sinn zu machen schienen, stürmten auf mich ein. Aber ich bin ja immer schon weichherzig gewesen, wenn es um Kinder geht.

Obwohl ich die Absicht hatte, den Jungen in der ganzen Stadt herumzuzeigen, war ich in diesem Moment froh, dass die Tannenhecke rings um den Garten ihn vor neugierigen Blicken abschirmte. Ich musste mich ganz schön zusammenreißen, wenn ich in der Öffentlichkeit so tun wollte, als wäre dieses unerwartete Erbe nicht der Schock meines Lebens gewesen. Ich hob den Kopf und schaute wieder zum Fenster hinaus. Der Junge nahm seine schiefe Brille ab und wischte sich mit dem Taschentuch, das der Deputy ihm gegeben hatte, über die Augen. Der Kleine brauchte dringend ein bisschen Abwechslung und Ablenkung, sonst würde er bald die halbe Stadt unter Wasser gesetzt haben. Da Wesley Lloyd und mir Kinder versagt geblieben waren – besser gesagt, da mir Kinder versagt geblieben waren –, gab es natürlich keine Spielsachen im Haus. Ich würde lediglich ein paar Schecks für eine Schaukel und Ähnliches ausstellen müssen, und schon würden alle wissen, wie sehr ich mich über den Besuch des Kleinen freute.

Ich wandte mich seufzend um und wählte ein weiteres Mal Sams Nummer.

Endlich nahm er den Hörer ab. »Sam! Ich muss mit dir reden, kannst du rüberkommen?«

»Schön, von dir zu hören, Julia«, erwiderte Sam Murdoch. Seiner Stimme war anzuhören, dass er lächelte. Ich hatte diesen Tonfall, in den er seit Wesley Lloyds Tod noch öfter als vorher verfiel, nie sonderlich geschätzt, aber in diesem Moment ging er mir noch mehr auf die Nerven als sonst. »Wo brennt’s denn?«

»Das sag ich dir, wenn du da bist. Also leg deine Angelrute oder was du gerade in Händen hältst beiseite und setz dich in Bewegung! Ich habe mehr Probleme, als ich bewältigen kann.«

»Meine Güte, dann muss es ja was Ernstes sein. Bin schon unterwegs.«

Ich wartete im Wohnzimmer auf meinem antiken Sofa auf ihn. Obwohl er mich so oft auszulachen schien, hatte ich Vertrauen zu ihm. Früher hatte ich ihn für Wesley Lloyds besten Freund gehalten, aber inzwischen hatte ich den Eindruck, mein Mann hatte überhaupt keine guten Freunde gehabt. Wesley Lloyd hatte Wert darauf gelegt, alles selbst unter Kontrolle zu haben – eine lobenswerte Eigenschaft für einen gerissenen Geschäftsmann, die das Herzinfarktrisiko allerdings stark erhöhte, wie er zu seinem Leidwesen selbst erfahren hatte.

Ich kannte Sam Murdoch, seit ich als Jungverheiratete nach Abbotsville gekommen war, und ich hatte ihn und Mildred immer als Freunde betrachtet. Früher, bevor der Herr Mildred vor ein paar Jahren zu sich geholt hatte, hatten wir sonntagnachmittags oft eine Spritztour zusammen unternommen – Sam und Wesley Lloyd saßen vorne und Mildred und ich hinten. Die Männer hatten sich über Geschäftliches und die Kirche unterhalten – beide waren Kirchenälteste – und wir Frauen über den Haushalt und die Kirche, wobei wir das Ganze mit ein paar Klatschgeschichten würzten, im Flüsterton, weil Wesley Lloyd Getratsche nicht ausstehen konnte.

Jeder Ausflug endete an der Milchbar, wo Sam uns ein Eis – Vanillesofteis mit Schokoladeüberzug – spendierte. Nur Wesley Lloyd aß sein Eis aus einem Becher und mit dem Löffel. Er wollte sich seinen Dreiteiler nicht bekleckern. Er war in allen Dingen die Umsicht in Person, und damals war ich insgeheim stolz darauf. Er rührte zum Beispiel seinen Eistee exakt siebzehn Mal um – ich habe mitgezählt –, und jedes Mal stieß er mit dem Löffel hörbar gegen den Glasboden.

Man durfte sich von Sam Murdochs zerknautschtem Äußeren und seiner bedächtigen Art nicht täuschen lassen. Er brachte es fertig, zu einem auswärtigen Anwalt aus Charlotte oder Raleigh zu sagen: »Ich bin bloß ein kleiner Advokat aus einem Provinzkaff.« Kam der Betreffende dann siegessicher zu einer Verhandlung nach Abbotsville, nahm Sam ihn im Gerichtssaal derart auseinander, dass der andere mit eingezogenem Schwanz aus der Stadt schlich.

Sam hielt seinen schweißfleckigen Panamahut in der Hand, als ich ihm öffnete. Er war offensichtlich die vier Straßen hierher gelaufen, und das bei dieser Hitze!

»Komm rein, Sam, du bist ja schweißgebadet«, sagte ich und hielt ihm die Fliegengittertür auf. »Wie kann man nur bei solcher Hitze in der Gegend herumlaufen! Wir müssen ja an die fünfunddreißig Grad haben!«

»Ja, es ist ganz schön warm.« Sam trat ins Wohnzimmer. »Ob Lillian wohl einen Eistee für mich hat?«

Ich nickte. »Zu einem Stück Schokoladenkuchen wirst du vermutlich auch nicht Nein sagen, wie ich dich kenne. Komm mit in die Küche. Ich möchte dir sowieso etwas hinterm Haus zeigen.«

Er folgte mir in die Küche und setzte sich an den Tisch, an dem Lillian und ich schon viele Male bei einer Tasse Kaffee gesessen und geplaudert hatten. Mir fiel auf, wie selbstverständlich ich mit Sam in die Küche ging – mit Wesley Lloyd wäre mir das im Traum nicht eingefallen. Er war kein Mann für die Küche gewesen. Er pflegte seine Mahlzeiten im Esszimmer einzunehmen. »Alles an seinem Platz, Julia«, sagte er immer.

Lillian war nicht da. Ich schaute zum Fenster hinaus und sah sie draußen im Garten mit Deputy Bates und dem Jungen. Ich stellte Sam ein Glas Eistee und ein Stück Kuchen hin, setzte mich dann ebenfalls und erzählte von der schweren Prüfung, die mir auferlegt worden war.

Sam aß und hörte mir schweigend zu, nickte gelegentlich und zog die Stirn in Falten. Als ich geendet hatte, sagte er sanft: »Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise herausfinden musstest, Julia.«

Einen Augenblick starrte ich ihn nur an. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Die leise Hoffnung, dass Wesley Lloyds schändliche Aktivitäten sich vielleicht doch nicht in der ganzen Stadt herumgesprochen hätten, war zerstoben.

»Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?«, fragte ich fassungslos. Ich wusste nicht, ob ich mir die Seele aus dem Leib schreien oder losweinen sollte.

»Solche Dinge erzählt man einer Ehefrau nicht.« Das Mitleid in seiner Stimme brachte mich schier um. »Und außerdem wusste ich es nicht mit Sicherheit. Ich hatte nur den starken Verdacht, dass da eine andere Frau war. Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, würde aufgrund eines Gerüchts zu dir kommen und so eine Geschichte ausplaudern.«

»Es gibt eine Menge Leute in dieser Stadt, die keinen Funken Verstand haben«, versetzte ich trocken. »Deshalb wundert es mich auch, dass nie jemand auch nur eine Andeutung gemacht hat.«

»Die Leute haben eben Angst vor dir, Julia«, meinte Sam. Seine Augen lächelten mich schon wieder an.

»Angst – dass ich nicht lache! Warum sollte jemand vor mir Angst haben?«

»Du hast einen starken Gerechtigkeitssinn, und du scheust dich nicht, den Leuten unmissverständlich den Unterschied zwischen Recht und Unrecht klar zu machen.«