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Miss Julia ist entrüstet! Ihre Haushälterin Lillian und deren gesamte Nachbarschaft werden schon bald kein Dach mehr über dem Kopf haben, weil der Gebäudeeigner profitablere Pläne für sein Eigentum verfolgt. "Eine untragbare Situation, äußerst ungerecht!", befindet Miss Julia und beschließt einzugreifen. Sie organisiert eine Spendenaktion, die jedoch nicht reibungslos vonstatten geht. Aber Miss Julia nimmt den Kampf mit der ihr eigenen Mischung aus trockenem Humor und Haltung auf ...
Miss Julia ermittelt in Serie - lesen Sie auch die weiteren Bände der gemütlichen Krimireihe!
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Dieser Wohlfühlkrimi ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Die Reise ins Glück" erschienen.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Cover
Weitere Titel der Autorin:
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Miss Julia und das unerwartete Erbe
Miss Julia und die seltsame Entführung
Miss Julia und ein Strauß voller Überraschungen
Miss Julia ist entrüstet! Ihre Haushälterin Lillian und deren gesamte Nachbarschaft werden schon bald kein Dach mehr über dem Kopf haben, weil der Gebäudeeigner profitablere Pläne für sein Eigentum verfolgt. »Eine untragbare Situation, äußerst ungerecht!«, befindet Miss Julia und beschließt einzugreifen. Sie organisiert eine Spendenaktion, die jedoch nicht reibungslos vonstatten geht. Aber Miss Julia nimmt den Kampf mit der ihr eigenen Mischung aus trockenem Humor und Haltung auf …
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.
Ann B. Ross ist die Autorin von mittlerweile mehr als zwanzig Romanen über Miss Julia, »die Miss Marple der Südstaaten«. Als ihre drei Kinder erwachsen waren, nahm Ross ein Studium an der Universität von North Carolina auf, wo sie im Anschluss Literatur- und Geisteswissenschaften lehrte. Mit ihrem erfolgreichen ersten Roman über Miss Julia begann ihre Vollzeitkarriere als Autorin von lustigen Landhauskrimis. Zahlreiche Bücher von Ross standen bereits auf der erweiterten New-York-Times-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ob sie etwas Gutes geschrieben hat, erkennt die Autorin nach eigenen Angaben daran, dass sie »vor Lachen vom Stuhl fällt«.
Ann B. Ross lebt in Hendersonville, North Carolina. Website der Autorin: http://www.missjulia.com/.
Ann B. Ross
Miss Julia und die Reise ins Glück
Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Strasser
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2003 by Ann B. Ross
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Miss Julia Hits the Road«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2007/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Die Reise ins Glück«
Textredaktion: Werner Wahls
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © NadzeyaShanchuk/Shutterstock, © majivecka/Shutterstock, © Macrovector/Shutterstock, © irysha/Shutterstock
eBook-Erstellung: 3 w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-8554-0
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Pamela DormanundSusan Hans O’Connor
Ihr seid einsame Spitze!
Ich bin einer ganzen Reihe von Menschen dankbar, die sich meiner Unwissenheit erbarmt und mir meine Fragen ebenso geduldig wie enthusiastisch beantwortet haben. Manche sind auf spezielle Fragen eingegangen, andere haben mich mit langen, gleichwohl unterhaltsamen Vorträgen belehrt. Das sind die echten Motorradliebhaber gewesen. Also noch einmal herzlichen Dank an Greg Rummans, Cathy und Steve Gospodinoff, Tim Sitton, Diane Ludden und Dennis Dunlap.
Ab und zu hatte ich auch Fragen aus anderen Bereichen. Ich danke Delin Cormeny, Jon Blatt und John Ross, die mir dafür freundlicherweise zur Verfügung standen.
Mein Dank gilt weiterhin Pamela Dorman für ihre klasse Idee und Susan Hans O’Connor, die stets zurückrief, und dann auch noch mit den richtigen Antworten.
Zuletzt möchte ich der Frau danken, von der ich zum ersten Mal von den Poker Runs gehört habe. Leider ist mir ihr Name entfallen. Ihre Bemerkung, die sie während eines zufälligen Gesprächs machte, brachte mich auf die Idee für dieses Buch.
Ich schob mich vom Esszimmer her durch die Schwingtür und platzte damit heraus, noch bevor ich richtig in der Küche war. »Lillian, ich muss dich etwas fragen, und ich will eine ernsthafte Antwort. Was um alles in der Welt ist in Sam Murdoch gefahren?«
Lillian wandte sich von der Spüle ab und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »In Mr Sam ist rein gar nichts gefahren. Und ich glaube, Miss Julia, Sie sollten nicht auf ihm rumhacken.«
»Also, wenn du mich fragst, benimmt er sich entschieden merkwürdig.«
Lillian wandte sich wieder der Spüle zu und brummelte vor sich hin, dass aber niemand jemanden gefragt hätte. Sie war groß darin, vor sich hin zu brummeln, wenn sie ganz anderer Meinung als jemand anderer war, vor allem, wenn es sich bei der anderen um mich handelte. Mir machte das jedoch nichts aus, da ich meinem Unmut bisweilen auf die gleiche Weise Luft machte. Lillian kümmerte sich nun schon so lange um mein Haus, um meine Mahlzeiten und um mich, dass wir immer ziemlich genau wussten, was die andere gerade dachte, ob wir es nun aussprachen oder nicht. Und ich wusste, dass sie nichts auf Sam kommen ließ, weshalb ich von meiner Sorge, was ihn betraf, bisher geschwiegen hatte.
»Lillian«, sagte ich, »würdest du dich bitte hinsetzen und mich mithelfen lassen?«
»Wenn Sie diese grünen Bohnen heute Abend essen wollen, dann überlassen Sie es besser mir, sie abzuziehen.«
»Um Himmels willen, im Sitzen ist das doch viel einfacher. Bring sie her, und lass dir von mir helfen.«
»Vielleicht sollte ich erst einmal fragen, was mit dir eigentlich los ist«, hakte ich nach, während sie die Bohnen – die in der Plastiktüte und die bereits abgezogenen in der Schale – an den Tisch brachte. »Wahrhaftig, Lillian, du warst in letzter Zeit nicht mehr wiederzuerkennen, genau wie Sam.«
»Ich weiß nichts über Mr Sam«, sagte sie und machte sich mit übertriebenem Eifer daran, die Morgenzeitung auf dem Tisch auszubreiten. »Soweit ich das beurteilen kann, benimmt er sich wie immer.«
»Nein, das tut er nicht. Du weißt ja nur die Hälfte von dem, was passiert ist.« Ich nahm mir eine Hand voll Bohnen und ließ die Fäden, die ich abzog, auf die Zeitung fallen. »Zum einen hat er mir Blumen geschickt. Nun, die hast du ja gesehen. Das ganze Haus steht voll davon.«
»Das macht er bloß, weil er weiß, dass sie einsam sind, wo doch Miss Hazel Marie und Little Lloyd jetzt bei Mr Pickens wohnen. Er weiß, dass Sie die beiden vermissen, und er versucht, Sie aufzumuntern.«
»Das ist vermutlich wahr.« Ich nickte zustimmend. »Aber ein Blumenstrauß und eine Topfpflanze wären zu diesem Zweck mehr als reichlich gewesen.« Ich warf die fertigen Bohnen in die Schale und griff mir die nächsten. »Sobald ein Strauß zu verwelken beginnt, kommen zwei neue. Und die Karten, Lillian, du hast diese Karten nicht gelesen.«
»Nein, weil Sie es mir nicht erlaubt haben.«
»Und das werde ich auch nicht tun. Ich werde sie auch sonst niemandem zeigen. Sie sind nämlich peinlich. Sehr peinlich sogar.«
Lillian warf mir einen Blick zu und lachte ihr altes Lachen, dass ihr Goldzahn nur so blitzte. Mir fiel auf, dass sie herzlich wenig gelacht hatte, seit Hazel Marie und Little Lloyd mit Sack und Pack bei Mr J.D. Pickens eingezogen waren. Nur um festzustellen, ob es funktionieren würde, hatte Hazel Marie gesagt. Mr Pickens war dieser Privatdetektiv, den ich einmal engagiert hatte und der im Begriff stand, Hazel Maries Herz zu erobern. Niemand hatte bisher ein Wort darüber verloren, die Situation zu legalisieren. Niemand außer mir, und ich hatte eine Menge zu dem Thema zu sagen gehabt. Wahrhaftig, ich werde nie wieder einen gutaussehenden Mann mit einer Schwäche für Frauen und einer Abneigung gegen die Ehe engagieren.
»Was steht denn auf diesen Karten drauf?«, fragte Lillian. Sie stand auf und drehte die Herdplatte unter dem Topf mit durchwachsenem Speck, der bereits kochte, herunter.
»Es spielt keine Rolle, was draufstand. Aber wenn du es wüsstest, würdest du dir auch Sorgen um ihn machen.« Ich holte bebend Atem und dachte an einige der poetischen Passagen, die, allesamt in Sams Handschrift, die Blumen begleitet hatten. »Außerdem, Lillian, ruft er mich jeden Tag an, angeblich nur um zu reden, aber du weißt ja, wie ich es hasse, mich am Telefon mit jemandem zu unterhalten, wenn es nichts zu sagen gibt. Und er ruft zu jeder Tages- und Nachtzeit an, als lägen andere Leute nicht auch mal im Bett oder hätten Wichtigeres zu tun.« Ich brach ab und schickte mich dann an, auch den Rest noch zu erzählen. »Außerdem wäre da noch etwas. Er kommt vorbei, ohne sich vorher anzumelden; er taucht einfach aus heiterem Himmel hier auf. Angeblich um zu sehen, wie es mir geht. Das ist dir doch auch aufgefallen, Lillian. Versuch nicht, es abzustreiten.«
»Ich hab’s bemerkt, ja. Aber Sie und Mr Sam haben sich bei der Hochzeit von Miss Binkie und Coleman so gut verstanden, dass ich dachte, die Dinge würden sich endlich entwickeln.«
»Von welchen Dingen sprichst du?«, fragte ich und wappnete mich dagegen, alle Schlussfolgerungen abzustreiten, zu denen sie gekommen sein mochte.
»Na ja, Sie wissen schon. Vielleicht hat diese Hochzeit Sie ja auf irgendwelche Ideen gebracht …« Sie kehrte an den Tisch zurück und machte sich wieder daran, grüne Bohnen abzuziehen – mit einem Gesicht, als könne sie kein Wässerchen trüben.
»Mein Gott, Lillian, eine weitere Hochzeit ist das Letzte, wonach mir der Sinn steht«, sagte ich und warf die nächste Hand voll Bohnen in die Schüssel. »Es sei denn, es wäre die Hochzeit von Hazel Marie. Wie kann man nur auf den Gedanken kommen, auf Probe mit einem Mann zusammenzuziehen?«
»Viele Leute kommen auf diese Idee, das passiert jeden Tag. Und es geht niemanden was an außer Hazel Marie«, rief Lillian mir ins Gedächtnis, wie sie es häufig tat, wenn sie glaubte, ich trüge mich mit der Absicht, mich einzumischen. »Also, für mich sieht’s ganz so aus, als wollte Mr Sam nur nett zu Ihnen sein.«
Ich ließ meine Bohnen fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Oh, Lillian, es ist nicht nur das, was er sagt, sondern die Art, wie er es sagt. Ich weiß nicht, was er meint oder ob er überhaupt irgendetwas meint.«
»Wenn Sie sich anstrengen, werden Sie’s bestimmt rauskriegen.«
Diese Bemerkung ignorierte ich, weil ich von Anfang an nicht allzu genau darauf hatte eingehen wollen, was hinter Sams beunruhigenden Aufmerksamkeiten stecken mochte. Gebranntes Kind scheut das Feuer, wie man so schön sagt, und nach meiner vorangegangenen, nur mäßig zufrieden stellenden Erfahrung mit einem Ehemann hatte ich die feste Absicht, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen.
Ich stützte das Kinn in die Hand und den Ellbogen auf den Tisch und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf Sam, wo sie hingehörte. »Ich fürchte, irgendetwas stimmt nicht mit ihm, Lillian, und das ist die reine Wahrheit. Die Art, wie er sich benimmt, sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Du weißt, wie er ist. Das heißt, wie er normalerweise ist. So höflich, ein Gentleman von Kopf bis Fuß, und jetzt …« Plötzlich kam mir ein neuer Gedanke, und ich hob den Kopf. »Weißt du, an wen er mich erinnert? An Mr Pickens! Er flirtet mit mir, Lillian, und sagt die unmöglichsten Dinge.«
»Für mich klingt das gar nicht so schlimm.«
»Aber es sieht Sam nicht ähnlich! Ich sage dir, er macht gerade seinen zweiten Frühling durch. Und das in seinem Alter!«
»Er ist nicht viel älter als Sie«, rief Lillian mir ins Gedächtnis.
Ich funkelte sie an. »Das Alter wirkt sich bei verschiedenen Menschen unterschiedlich aus. Mich wirst du nicht in Cowboystiefeln und Jeans sehen, wie ich jemand anderem etwas ins Ohr flüstere.«
»Es würde Ihnen gar nicht schaden, das mal zu versuchen; vielleicht würde es Ihnen sogar guttun. Für mich hört sich das so an, als würden Sie langsam merken, dass Sie nicht jünger werden. Ich kenne eine Menge Damen, die überglücklich wären, wenn ihnen ein gestandener Mann wie Mr Sam was ins Ohr flüstern würde. Wenn Sie so weitermachen, wird er sich am Ende noch woanders umschauen.«
Ich schnappte verärgert nach Luft. »Komm mir jetzt nicht mit all den Witwen in dieser Stadt, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, bloß um wieder zu heiraten. Ich weiß, wie die sich aufführen. Sobald irgendeinem Mann die Frau wegstirbt, stehen sie da mit Eintöpfen und Kuchen und Pasteten und Einladungen zum Essen. Ich sag dir eins, diese Frauen wissen gar nicht, wie gut sie es haben.«
»Lassen Sie mich jetzt erst mal diese Bohnen aufsetzen«, erklärte sie, stemmte sich vom Tisch hoch und trug die Schüssel zum Herd. »Das Fleisch hat jetzt lang genug gekocht.«
»Du bist nicht gerade hilfreich, Lillian. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Zuerst dachte ich, er macht eine Midlifecrisis durch, bloß dass er zu alt dafür ist. Vielleicht wird er langsam senil.«
»Also was denn nun? Zweiter Frühling oder vergreist?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich und sank auf meinem Stuhl zusammen. »Und um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, was schlimmer wäre.«
Plötzlich erklang von der Straße ein lautes Jaulen und Knurren, und ich fuhr auf. Der Lärm schien den ganzen Raum zu erfüllen. »Was um alles in der Welt ist das?«
Während das Getöse immer lauter wurde und immer näher kam, stand ich auf, hielt mir beide Ohren zu und lief zum Fenster hinüber.
Lillian kippte die Bohnen in den Topf und knallte die Schüssel auf die Theke. Als sie neben mir ans Fenster trat, dachte ich zuerst, ein Schwarm Hornissen hätte sich in meinem Garten niedergelassen und würde mir meine Buchsbaumhecke ruinieren.
Als wir feststellten, dass wir vom Küchenfenster aus nichts sehen konnten, liefen Lillian und ich zur Haustür und hatten es dabei so eilig, dass wir einander beinahe aus dem Weg stießen. Das Knattern und Dröhnen von draußen schmerzte in den Ohren.
»Was ist los? Was ist passiert?«, keuchte ich, als wir beide gleichzeitig nach dem Türknauf griffen.
»Oh, lieber Herr Jesus!«, rief Lillian atemlos und mit brechender Stimme. »Das ist die Heimsuchung! Hier bin ich, lieber Jesus, ich komme!«
»Lillian, um Himmels willen. Reiß dich zusammen, und mach diese Tür auf.«
Sie holte tief Luft und kam wieder auf die Erde herunter. »Vielleicht ist ja ein Ufo da draußen gelandet.«
Bevor ich ihr sagen konnte, was ich von dieser Bemerkung hielt, schob sie meine Hand zur Seite, drehte den Knauf und öffnete die Tür. Als wir auf die Veranda hinausstürzten, hätte ich jedes beliebige fliegende Objekt dem vorgezogen, das uns hier erwartete. Eine donnernde, jaulende zweirädrige Maschine schlitterte aus meinem Garten auf die Polk Street hinaus, raste wie angestochen die Straße hinunter, drehte und kehrte dann in meine Einfahrt zurück, wich dabei dem rollbaren Müllcontainer aus, schlängelte sich die Einfahrt hinauf und fräste sich mitten durch einen Laubhaufen hindurch, sodass die Blätter aufstoben und wild durch die Luft wirbelten. Während wir mit offenem Mund zusahen, brachte das laute, dröhnende Ding seinen Fahrer zwischen zwei Buchsbaumhecken, rasierte die Zweige einer Kräuselmyrte ab und zerfetzte zu allem Überfluss auch noch meinen Rasen, als es in einem mächtigen Halbkreis über den Boden schlitterte, bevor es endlich mitten in meinem Garten zum Stehen kam.
»Mein Gott«, stieß ich hervor und umklammerte mit festem Griff Lillians Arm. »Wer fährt dieses Ding?«
»Sieht so aus, als würd es sich selber fahren«, meinte Lillian.
Während das Röhren der Maschine erstarb, knallte und spotzte sie noch ein paar Mal, dass es einem durch Mark und Bein ging. Eine in schwarzes Leder gekleidete Gestalt schwang sich von dem Ungetüm aus Stahl, Chrom und Auspuffrohren, kickte den Ständer heraus, der sich mit Lust in den Rasen bohrte, drehte sich zu uns um und sah uns an.
Zumindest vermutete ich, dass sie uns ansah, denn ihr Kopf steckte in einer Art schwarz glänzender Bowlingkugel mit dunklem Visier. Der Fahrer des Ungetüms zog die schwarzen Handschuhe aus und kam knarrend und quietschend auf uns zu, wobei seine mit Stahlkappen bewehrten Stiefel auf meinem betonierten Gehweg bei jedem Schritt laut klackten.
»Ist das Mr Pickens, Lillian?«, fragte ich und versuchte, durch die schwarze Gesichtsbedeckung hindurchzuspähen. »Ist er das?«
»Nein, Ma’am, ich glaube nicht. Der da ist nicht so gelenkig wie Mr Pickens.«
Wer immer es war, er blieb jedenfalls am Fuß der Treppe stehen und zog den Helm vom Kopf. Einige spärliche silbrige Haarbüschel ragten in die Höhe, die so aussahen wie Little Lloyds Tolle. Den Helm unterm Arm stand schließlich Sam vor uns und grinste uns an. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass meine Sorgen wegen Sams Geisteszustand wohlbegründet waren, dann stand er jetzt unmittelbar vor uns.
»Siehst du, Lillian!«, flüsterte ich ihr zu, obwohl es mir auch egal gewesen wäre, wenn Sam mich gehört hätte. »Genau davon habe ich gesprochen! Wenn es nicht die eine Narretei ist, dann ist es eine andere. Und jetzt saust er wie ein Verrückter auf einem Zweirad durch die Gegend.« Ich hob die Stimme und wandte mich, die Hände in die Hüften gestemmt, zu ihm um: »Sam, was für eine Idee, hierherzukommen und mit all diesem Gedonner und Geknatter den Frieden zu stören und mich so zu erschrecken, dass ich einen Herzinfarkt bekomme. Was sollen nur die Nachbarn denken. Ich bitte dich!«
Bevor er antworten konnte, sagte Lillian: »Fallen Sie doch nicht gleich so über ihn her, Miss Julia. Er amüsiert sich so gut wie noch nie in seinem Leben.« Ihr Lächeln war genauso breit wie seins. Und das war die Frau, die noch vor weniger als einer Minute das Ende der Welt erwartet hatte!
»Wahrhaftig! So gut wie noch nie in seinem Leben. Er ist gerade dabei, seinem Leben mit diesem Ding ein Ende zu machen. In seinem Alter sollte er klüger sein, als auf einem solchen Gerät durch die Gegend zu rasen.« Ich verschränkte die Arme über meinem Busen und funkelte Sam am Fuß der Treppe wütend an. Sein Grinsen war eine Mischung aus Stolz und etwas anderem, das nach meiner nur mäßig wohlwollenden Begrüßung Verlegenheit hätte sein sollen. »Seniler alter Narr«, murmelte ich.
»Hallo, Julia, Lillian«, sagte Sam, der immer noch lächelte, als er nun die Stufen zur Veranda hinaufkam und neben mir stehen blieb. »Wie gefällt euch mein neues Spielzeug?«
Wahrhaftig, ich hatte ja keine Ahnung, dass der Geruch, das Geräusch und das Aussehen von Leder einen Menschen, der an eine solche Gewandung so wenig gewöhnt war wie ich, derart überwältigen konnten. Sam schien doppelt so groß zu sein wie sonst – und er war nun wirklich kein kleiner Mann –, als er da neben mir stand, schwer atmend von der Anstrengung, eine Maschine zu lenken, die offenkundig einem eigenen Willen gehorchte. Ich nahm den Geruch des Leders wahr und das Übermaß an Reißverschlüssen an seiner Jacke, während er sich leicht zu mir herunterbeugte und sagte: »Also, Julia, was sagst du dazu?«
Ich trat einen Schritt zurück. »Ich sage, Sam Murdoch, dass du den Verstand verloren hast.«
»Jetzt geh schon ins Haus«, sagte ich, »bevor die halbe Stadt dich in dieser Aufmachung sieht.« Ich öffnete die Tür und versetzte ihm einen kleinen Stoß, um das Ganze noch zu beschleunigen. Immerhin war mir zum ersten Mal auf der Veranda beim Anblick von Pastor Ledbetters Familienzentrum, das auf der anderen Straßenseite über uns aufragte, nicht schlecht geworden. Sams erstaunliches Spektakel hatte mich zu sehr in Anspruch genommen, um auch nur einen einzigen Gedanken auf das Gebäude gegenüber zu verschwenden. Nicht dass es einen Gedanken verdient hätte, denn es war der Fluch meiner Existenz.
»Ich kann nicht bleiben, Julia«, sagte er und ging trotzdem hinein. »Ich bin nur vorbeigekommen, um dir meine neue Harley-Davidson Road King zu zeigen.«
»Ich habe sie gesehen, was mehr ist, als ich jemals wollte.« Ich bedeutete ihm, auf meinem Duncan-Phyfe-Sofa Platz zu nehmen, das jetzt mit leuchtend gelbem Chintz bezogen war statt des graubraunen Samts, den mein jüngst verblichener Mann, Wesley Lloyd Springer, für unser Wohnzimmer als geziemend erachtet hatte. Ich nahm in dem dazu passenden viktorianischen Damensessel gegenüber Platz und unterzog Sam einer gründlichen Musterung. »Was um alles in der Welt ist in dich gefahren, Sam, auf eine Maschine wie dieses lebensbedrohliche Ding da draußen zu steigen?«
»Oh, das ist nur eins der Dinge, die ich schon immer tun wollte«, sagte er, während er sich zurücklehnte und es sich bequem machte. »Und mir ist klar geworden, dass ich es, wenn ich es nicht bald tue, niemals tun werde. Wir werden nicht jünger, Julia. Wir müssen diese Dinge tun, solange wir noch können.«
»Hm«, sagte ich und warf Lillian einen wütenden Blick zu, die im Durchgang zum Esszimmer stand und Sams Ledermontur bewunderte. »Das ist heute bereits das zweite Mal, dass ich an mein Alter erinnert werde, und ich wäre dir dankbar, das Thema nicht noch einmal zur Sprache zu bringen.«
Sam lachte. »Genau das ist es, Julia. Wir sind beide gesund und aktiv, und wir interessieren uns dafür, was in der Welt vorgeht. Aber wenn wir nur die Hände in den Schoß legen und in der Vergangenheit leben, werden wir im Nu alt sein. Also habe ich beschlossen, zur Abwechslung mal etwas Neues auszuprobieren, etwas, das Spaß macht.« Er tätschelte den Helm auf seinem Schoß und lächelte träumerisch. »Ich habe mich immer gefragt, was für ein Gefühl das wäre, mit einer Harley auf offener Straße unterwegs zu sein und sich vom Wind treiben zu lassen, frei wie ein Vogel.«
»Wahrhaftig, frei wie ein Vogel.« Über eine derart verantwortungslose Idee konnte ich nur den Kopf schütteln. »Du bist ein erwachsener Mann und wirst von allen, die dich kennen, respektiert und bewundert – und von vielen, die dich nicht kennen. Und plötzlich willst du Spaß haben? Sam, du weißt sehr gut, dass das nicht Sinn und Zweck des Lebens ist. Warum um alles in der Welt willst du jetzt die Uhr zurückdrehen und dich in eine Art Hell’s Angel verwandeln?«
»Viele Menschen fahren Motorrad, Julia, und sie sind nicht alle Hell’s Angels – oder auch nur etwas Vergleichbares. Ich trete einem Motorradklub bei, in dem eine Menge Akademiker sind, denen es einfach Spaß macht, zu fahren und die herrliche Natur zu genießen.«
Mein zweifelnder Blick musste ihn wohl aufgestachelt haben, denn er fuhr fort: »Außerdem tun sie eine Menge Gutes. Sie veranstalten zum Beispiel Wettrennen für wohltätige Zwecke und spenden das Geld zu Weihnachten Einrichtungen wie dem St.-Jude-Kinderkrankenhaus und Toys for Tots. Du würdest staunen, was die alles auf die Beine stellen.«
»Das würde ich wahrscheinlich, vor allem, nachdem ich in der Zeitung von diesen so genannten Motorradfeten gelesen habe. Du weißt, wovon ich spreche, nicht wahr, Lillian?«
Ich drehte mich bestätigungsheischend zu ihr um, aber sie zuckte nur die Achseln, sagte: »Ich hab Bohnen auf dem Herd«, und verschwand in der Küche.
»Also, Sam«, sprach ich weiter, wohl wissend, dass er einige strenge Worte brauchte, um wieder zur Vernunft zu kommen. »Das gehört nicht zu den Dingen, auf die du dich einlassen solltest, und es interessiert mich nicht, wie viele gute Sachen diese Leute unterstützen. Sie haben früher drüben bei Asheville diese Woodstock-Treffen veranstaltet, bis der Stadtrat diesem Treiben ein Ende gemacht hat. Tausende von Motorradfahrern aus sämtlichen Staaten haben sich da auf dem Campingplatz versammelt und alle Hemmungen verloren. Ich hab das alles in der Zeitung gelesen, ich weiß also, wovon ich rede. Ich sage dir, sie haben die ganze Stadt in Aufruhr versetzt mit ihrer lauten Musik und ihren Motorrädern, mit denen sie rudelweise durch die Straßen geknattert sind und den Verkehr behindert haben. Und als wäre das alles noch nicht genug gewesen, haben sie auch noch solche Narreteien wie Kohlsalat-Wrestling und Miss-Wet-T-Shirt-Wettbewerbe veranstaltet und andere unappetitliche Sachen, die ich gar nicht erwähnen möchte, den Bierbauchwettbewerb zum Beispiel. Das ist einfach … gewöhnlich, Sam, du solltest nicht in derart schlechter Gesellschaft verkehren. Dasselbe erkläre ich auch Little Lloyd immer wieder: Man beurteilt dich nach dem Umgang, den du pflegst. Ich denke, du solltest dieses Ding zurückbringen und dir dein Geld wiedergeben lassen.«
Sam lachte abermals – vielleicht hatte er aber auch gar nicht aufgehört zu lachen. »Ich habe nicht die Absicht, an so einem Treffen teilzunehmen, Julia. Sei ganz beruhigt. Der Klub, dem ich beitreten werde, fährt größtenteils am Wochenende und in Gruppen von etwa zehn Leuten. Wir werden den Parkway hinauffahren oder auf der Interstate bleiben und uns in jedem Fall von den Wohngebieten fernhalten. Außerdem ist das die beste Zeit des Jahres, um zu fahren – die Blätter färben sich, das Wetter ist schön und gerade kühl genug. Es wird einfach herrlich sein, die Berge in ihrer ganzen Farbenpracht zu sehen und dann irgendwo Halt zu machen und zu grillen oder zu picknicken. Es wird dir großen Spaß machen, das verspreche ich dir.«
»Und ich kann dir versichern, dass du dich in diesem Punkt irrst. Denn mich werden keine zehn Pferde auf dieses Ding bringen.« Wenn er erwartet hatte, dass ich an einer derart unziemlichen Aktivität teilnehmen würde, zeigte das nur, wie weit er sich von seinem normalen Geisteszustand entfernt hatte.
»Aber das ist der Grund, warum ich vorbeigekommen bin, Julia. Ich wollte dich zu einer Spritztour abholen. Warte«, sagte er, als ich mich auf meinem Stuhl aufbäumte. »Wir fahren nur einmal um den Block, damit du dich daran gewöhnen kannst.«
»Ja, und wenn du versuchst, das Ding zu bremsen, lande ich der Länge nach auf der Straße. Nein, Sam, ich fahre nicht auf zwei Rädern, ganz gleich, wer vor mir sitzt. Außerdem ist auf diesem Ding überhaupt kein Platz für eine zweite Person, und wenn du glaubst, ich würde mich auf deinen Schoß setzen, bist du auf dem Holzweg.«
»Das wäre gar keine schlechte Idee, aber die Harley hat einen Sozius, sogar mit Armlehnen und allem Drum und Dran. Du wirst glauben, du säßest in deinem Sessel, ich habe dir auch einen Helm mitgebracht.«
Ich sah ihn nur an, während vor meinem inneren Auge Visionen aufstiegen, wie ich rittlings auf diesem Monstrum saß, mein Hemdblusenkleid bis weit über die Knie hochgezogen und im Fahrtwind flatternd, während ich mich in Todesangst an Sam festklammerte. »Du hättest dein Geld nicht für irgendwelche Ausrüstungsteile für mich verschwenden sollen, Sam, denn du wirst mich nie im Leben auf diese Maschine kriegen. – Was für eine Vorstellung!«, fuhr ich fort, denn es schien mir der absolute Gipfel von Verrücktheit zu sein, dass Sam tatsächlich angenommen hatte, ich würde auch noch begeistert darüber sein, mit diesem Höllengerät durch die Landschaft zu rasen. »Dass du überhaupt auf den Gedanken kommen konntest, ich könne an einer derart undamenhaften Aktivität interessiert sein, Sam Murdoch. So etwas ist unter meiner Würde, und wenn du es genau wissen willst, es ist auch unter deiner Würde. Nein«, sagte ich kopfschüttelnd, »vergiss es. Ich werde mich nicht auf dieses Höllending schwingen. Nur über meine Leiche.«
»Hm, ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, Julia«, erwiderte Sam und stand auf. Die Schichten seiner Ledermontur knarrten bei jeder Bewegung. »Ich gebe zu, dass ich noch ein wenig Übung brauche, aber ich brauche auch einen Partner auf diesem Rücksitz. Alle anderen Fahrer im Klub bringen ihre Ehefrauen und Freundinnen mit. Du möchtest doch sicher nicht, dass ich der einzige Mann ohne eine gut aussehende Frau bin, die hinter ihm sitzt und ihre Arme um seine Taille schlingt, nicht wahr?«
Ich verdrehte die Augen; eine solche Frage verdiente einfach keine Antwort. Es kümmerte mich nicht, ob er eine Frau auf seinem Rücksitz haben würde, die sich an ihn klammerte, ob gut aussehend oder nicht. Oder sagen wir besser, über dieses Thema würde ich noch einmal nachdenken müssen, wenn ich Zeit hatte, der Angelegenheit die geziemende Aufmerksamkeit zu widmen.
»Also gut«, sagte Sam und blickte zur Küche hinüber. »Ich muss noch kurz mit Lillian sprechen. Eine juristische Angelegenheit, in der sie meinen Rat braucht.«
»Und was, bitteschön, soll das für eine Angelegenheit sein?«, fragte ich, sofort beunruhigt. Lillian hatte juristische Angelegenheiten, von denen ich nichts wusste? »Ist sie in Schwierigkeiten? Geht es um ihre Familie? Was ist los, Sam, und warum hat sie mir kein Wort davon gesagt?«
»Das weiß ich nicht, Julia«, sagte Sam, während er den Raum verließ. »Aber jetzt möchte sie erst einmal unter vier Augen mit mir darüber reden. Außerdem …«, fügte er mit einem hinterhältigen Grinsen hinzu. »Außerdem wird sie vielleicht mit mir fahren, wenn du es nicht tust.«
Ich machte Anstalten, ihm zu folgen, hielt dann jedoch jäh inne: Lillian hatte den Wunsch geäußert, allein mit Sam zu sprechen. Das beunruhigte mich. Ich dachte, Lillian und ich hätten keine Geheimnisse voreinander. Zumindest kannte sie all meine Geheimnisse.
Aber was wusste ich denn schon von ihren? Nur sehr wenig, um die Wahrheit zu sagen. Oh, ich wusste, dass ihr Neffe einige Male verhaftet worden war und jetzt wegen Diebstahls im Gefängnis saß. Und ich wusste, dass ihre beiden Töchter uneheliche Kinder hatten und Lillian ihre kleinen Enkel großgezogen hatte, während die Mütter auf der Suche nach Arbeit in den Norden gegangen waren. Und ich wusste, dass Lillian mindestens zwei Ehemänner gehabt hatte, dass jedoch keiner von ihnen sehr lange geblieben war. Soweit ich es mir zusammenreimen konnte, war einer von ihnen vor Jahren ohne ein Wort einfach verschwunden, und den anderen hatte sie selbst hinausgeworfen. Und, so unglaublich das war, es war der, den sie vor die Tür gesetzt hatte, von dem sie noch immer sprach und nach dem sie sich sehnte.
Außerdem wusste ich, dass Lillian in ihrem Glauben und in sich selbst ruhte. Sie hatte ihr Leben größtenteils allein gelebt und hatte zwei Töchter und zwei Enkeltöchter großgezogen, praktisch ohne jede Hilfe von außen und ohne ein Wort der Klage. Darüber hinaus, und auch das wusste ich, war es ihr zu verdanken, dass ich jedes Mal, wenn ich an die Decke zu gehen drohte, doch auf dem Boden blieb – wenn auch nur mit knapper Not. Und ich wusste, dass ich sie respektierte und bewunderte für ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Ehrlichkeit, obwohl ich bisweilen wünschte, sie würde ihre Ansichten für sich behalten und mich das tun lassen, was ich tun wollte.
Aber ich wusste rein gar nichts von irgendwelchen juristischen Problemen. Noch mehr beunruhigte mich die Frage, warum sie mit Sam darüber reden wollte. Sam hatte sich vor einigen Jahren aus der Anwaltskanzlei zurückgezogen, was bedeutete, dass er ihr keinerlei offiziellen Beistand leisten konnte. Und wenn sein gegenwärtiges Interesse an Motorrädern, Blumen und Gedichten irgendwelche Rückschlüsse auf die gegenwärtige Verfassung seines Verstandes zuließ, war nicht auszuschließen, dass er ihr einen schlechten Rat geben würde. Und Lillian würde ihn befolgen, weil sie glaubte, die Sonne gehe mit Sam auf und unter.
Und wenn ich mir gestattet hätte, darüber nachzugrübeln, hätte die Tatsache, dass sie sich mir nicht anvertraut hatte, meine Gefühle verletzt. Es gab also nur eins: Ich musste herausfinden, was Lillian so zusetzte, dass sie sich an einen Anwalt wandte, von dem ich ihr ganz offen gesagt hatte, dass er nicht mehr ganz richtig im Kopf sei. Und sie hatte sich an ihn gewandt, ohne das mir gegenüber auch nur mit einer Silbe zu erwähnen.
Nach einiger Zeit kam Sam ins Wohnzimmer zurück, um mir mitzuteilen, dass er die Hoffnung nicht aufgeben werde, mich als Sozia zu gewinnen. Ich hatte inzwischen beschlossen, zuerst das unmittelbare Problem anzugehen, das Sam darstellte, bevor ich mich Lillians juristischen Schwierigkeiten widmete. Eins nach dem anderen, sage ich immer, und meine Angst um Sam war drängender als die nagende Sorge um Lillian.
Von der Veranda aus sah ich zu, wie Sam dieses Monstrum anließ, den Motor hochjagte und einen solchen Krach dabei veranstaltete, dass die ganze Straße darunter erbebte. Als er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden war, lenkte er das vibrierende Ding auf die Straße hinaus. Mir stockte der Atem, als er Gas gab, ein Auto überholte und dann schwungvoll davonbrauste.
»Er wird sich umbringen«, sagte ich und biss mir auf die Lippen, während das Donnern des Motors in der Ferne verklang.
Kopfschüttelnd fragte ich mich, wie er die herrliche Natur genießen wollte, wenn er in einem Ganzkörpergips im Krankenhaus lag.
Da gab’s nur eins, beschloss ich. Es musste jemand her, der ihn wieder zur Vernunft brachte. Dass er auf mich nicht hören würde, war eine unerschütterliche Tatsache. Er hatte über meine Sorgen nur gelacht, was eins der wenigen normalen Dinge war, die er noch tat.
Die erste Adresse, an die ich mich wenden konnte, war Deputy Coleman Bates. Seinen Rat würde Sam vielleicht beherzigen, da Coleman Sam die Ehre erwiesen hatte, ihn bei seiner Hochzeit mit Binkie zum Trauzeugen zu bestellen. Davon abgesehen war Coleman ein Ordnungshüter, der Sam auf eine Art und Weise ins Gewissen reden konnte, wie es mir nicht möglich war. Vielleicht konnte er ihm einige Unfälle beschreiben, die er gesehen hatte, und ihm erzählen, was einem Motorradfahrer zustoßen konnte, wenn zwischen ihm und dem Pflaster oder einem Tieflader mit Baumstämmen nichts war außer Luft. Himmel, von Sam würde nichts übrig bleiben als ein Fettfleck, wenn er mit diesem Ding verunglückte.
Von solcherlei Sorgen geplagt, ging ich nach oben, um von dem Apparat an meinem Bett aus zu telefonieren. Ich wollte nicht, dass Lillian das Gespräch mithörte. Wenn sie Geheimnisse haben konnte, dann konnte ich das ebenfalls. Außerdem schien sie mir zu fasziniert von Motorrädern im Allgemeinen zu sein, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer mit einem davon herumzufahren versuchte und – wenn ich das hinzufügen darf – seine Sache nicht besonders gut machte. Das konnte selbst ich sehen, die keinerlei Erfahrung mit diesen zweirädrigen Maschinen hatte.
Aber der Teufel steckte mal wieder im Detail. Coleman war auf Streife und unerreichbar.
»Könnte ich ihm dann bitte eine Nachricht hinterlassen?«, fragte ich den Mann von der Vermittlung.
»Auf dieser Leitung dürfen wir keine persönlichen Nachrichten entgegennehmen«, informierte er mich. »Ist es dringend?«
»Nun, das möchte ich meinen«, blaffte ich in den Hörer. »Wenn eine unerfahrene, geistig verwirrte Person im Straßenverkehr unterwegs ist, könnte man das wohl dringend nennen.«
»Soll das heißen, da lenkt jemand ein Fahrzeug, obwohl er behindert ist?«
»Das ist es! Ich würde tatsächlich sagen, dass er behindert ist, und Coleman muss ihn aus dem Verkehr ziehen, bevor er sich umbringt.«
»Wo befindet sich diese Person, Ma’am?«
»Oh, er ist inzwischen wieder zu Hause, also richten Sie Coleman einfach aus, er solle mich zuerst anrufen und dann zu ihm rüberfahren. Er weiß, wo Sam wohnt.«
»Ähm, Ma’am, Sie sind nicht zufällig Mrs Julia Springer, oder?«
»Nun, genau die bin ich. Woher wissen Sie das?«
Nachdem ich Coleman auf diesem Wege gebeten hatte, mich zurückzurufen, legte ich auf, einmal mehr erfüllt von dem Gedanken, wie angenehm es war, in einer kleinen Stadt zu leben, in der jeder jeden kannte mitsamt seiner Sorgen. Natürlich hatte das auch seine Nachteile – vor allem wenn man nicht wollte, dass jeder wusste, was einen gerade plagte.
Enttäuscht darüber, dass ich Coleman nicht hatte erreichen können, wandte ich mich an die nächste Person, die vielleicht in der Lage wäre, Sams Dickschädel zu durchdringen. Während ich wählte, ging mir einmal mehr durch den Kopf, wie leer mir das Haus ohne Little Lloyd vorkam. Nicht dass er dazu neigte, Lärm zu schlagen, ganz im Gegenteil: Er war so ruhig und wohlerzogen, wie man sich ein Kind nur wünschen konnte. Aber er hauchte den Räumen durch seine bloße Anwesenheit Leben ein, und ich vermisste ihn schrecklich.
»Hazel Marie«, sagte ich, als sie sich am anderen Ende der Leitung meldete, »ich muss mit Mr Pickens sprechen. Ist er da?«
»Nein, noch nicht. Er wird zum Abendessen wieder zu Hause sein. Zumindest hat er das gesagt. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Das wäre schön, aber ich fürchte, du kannst mir nicht weiterhelfen«, sagte ich mit einem Seufzen. »Oh, Hazel Marie, es ist einfach jämmerlich. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem ein rüstiger, intelligenter Mann sehenden Auges in sein Verderben rennt.«
»Oh, Miss Julia, wer tut denn das?«
Ich konnte echte Sorge und Anteilnahme in Hazel Maries Stimme hören. Sie war so liebenswert in dieser Hinsicht; ihr Herz flog jedem Menschen zu, der gerade in Nöten war.
»Es ist Sam«, sagte ich kläglich, während mich das Bewusstsein um den Verfall dieses wunderbaren, anständigen Mannes überwältigte. »Du wirst nicht glauben, was er treibt.«
Ich machte mich daran, ihr zu berichten, welche Art von Kleidung er seit neuestem trug, was für ein Gefährt er sich zugelegt hatte und was ich seiner Meinung nach mit ihm auf besagtem Gefährt tun sollte. »Und, Hazel Marie, er gibt ein Vermögen für Blumen aus, er hat mir einige der schlechtesten Gedichte geschickt, die die Menschheit je gesehen hat, er kleidet sich ganz anders als früher, taucht stets und ständig hier auf und geht mir schlicht und ergreifend auf die Nerven.«
Einen Moment lang herrschte Totenstille in der Leitung, dann hörte ich ein gedämpftes Geräusch, während Hazel Marie nach Luft schnappte.
»Hazel Marie!«, rief ich in den Hörer. »Da gibt es nichts zu lachen. Es ist eine ernste Angelegenheit, das versichere ich dir.«
»Oh, Miss Julia«, japste sie, halb erstickt von der Anstrengung, ihr Gelächter im Zaum zu halten. »Ich sage es furchtbar ungern, aber wir wissen bereits davon. Von dem Motorrad, meine ich.« Sie brach ab, während sie abermals mit einem Lachanfall kämpfte. »Von den Blumen und den Gedichten wusste ich allerdings nichts. Wie süß von ihm.«
»Süß!« Ich hätte wissen müssen, dass Hazel Marie so reagieren würde. Sie fiel furchtbar leicht auf Männer herein. Man brauchte sich nur ihre jetzige Situation anzusehen, ganz zu schweigen von ihrer früheren mit meinem Mann. Und genau das beabsichtigte ich jetzt zu tun – darüber zu schweigen. »Ich mache mir Sorgen um ihn, Hazel Marie, und trotz aller Anzeichen beginnender Senilität hat er Lillian in einer juristischen Angelegenheit beraten, und du weißt, dass sie tun wird, was immer er ihr sagt. Und bei seinem gegenwärtigen Geisteszustand befürchte ich das Schlimmste.«
»Warum braucht Lillian juristischen Rat? Ist irgendetwas passiert?«
»Frag mich nicht«, antwortete ich, aufs Neue bestürzt davon, dass Lillian Geheimnisse vor mir hatte. »Ich sage dir, Hazel Marie, hier benimmt sich mehr als eine Person merkwürdig. Und jetzt hör mir zu. Ich möchte, dass du Mr Pickens bittest, mit Sam zu reden und ihn aus dieser motorisierten Todesfalle zu befreien, bevor sie ihn umbringt.«
»Ich glaube nicht, dass J.D. da der Richtige wäre, Miss Julia. Sie wollen das wahrscheinlich nicht hören, aber es war J.D., der Sam geholfen hat, dieses Motorrad auszusuchen. Er hat nämlich selbst auch eins.«
»Nein! Das wusste ich nicht. Aber wenn ich darüber nachdenke«, fuhr ich fort, »überrascht es mich nicht. Das ist genau das, was ich von Mr Pickens erwartet hätte. Aber es überrascht mich durchaus, dass du ihm das erlaubst.«
»So schlimm ist es gar nicht«, erwiderte sie. »Um ehrlich zu sein, es macht mir selbst auch irgendwie Spaß. Wir fahren an den Wochenenden, und Little Lloyd ist schlichtweg begeistert.«
»Hazel Marie! Du lässt das Kind auf diesem Ding fahren? Ach du meine Güte, er wird einen Schaden für sein Leben davontragen. Du musst diesem Unsinn Einhalt gebieten, bevor etwas Schreckliches passiert.«
»Aber Miss Julia, natürlich trägt er einen Helm, und J.D. passt besonders gut auf, wenn Little Lloyd mit ihm fährt.«
»Gütiger Gott«, stieß ich hervor und hielt mir meinen schmerzenden Kopf, »ich habe erlebt, wie dieser Mann ein Auto fährt. Der Himmel allein mag wissen, was er mit einem Motorrad anstellt.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Hazel Marie. »Wie wär’s, wenn Sie am Wochenende herkommen und sich von J.D. zeigen lassen, wie sicher ein Motorrad sein kann? Wenn Sie erst einmal selbst auf einem mitgefahren sind, wird Sie das bestimmt beruhigen.«
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Jetzt versuchte also noch jemand, mich auf eins von diesen Ungetümen zu bekommen. Und wenn Hazel Marie glaubte, dass sie dazu imstande wäre, dann war Sam nicht der Einzige, der eine Schraube locker hatte.
Nun, aus dieser Richtung war also keine Hilfe zu erwarten, dachte ich, während ich den Hörer auflegte. Wie dumm von mir, von Mr Pickens auf irgendeinem Gebiet Vernunft zu erwarten.
Dann fiel mir Binkie ein – und ich schlug sie mir genauso schnell wieder aus dem Kopf. Normalerweise wäre sie diejenige, an die ich mich mit einem Problem, das Sam betraf, hätte wenden können. Sam hielt immerhin so viel von ihr, dass er ihr nach seinem Rückzug aus der Juristerei seine Kanzlei übergeben hatte. Die beiden standen sich so nah, dass kein Blatt dazwischen passte, Binkie hätte ihm ohne viel Federlesens die Gefahren für Leib und Leben klarmachen können, ganz zu schweigen von seiner Haftbarkeit bei einem Unfall.
Aber Binkie kam nicht in Frage. Das Mädchen stand so kurz vor der Entbindung, dass sie kaum noch laufen konnte. Tatsächlich hatte sie mir bei unserem letzten Gespräch erzählt, dass sie inzwischen nur noch halbtags arbeitete. Sie sei zu müde und fühle sich zu unwohl, um einen ganzen Tag durchzustehen, hatte sie gesagt. Also fuhr sie jetzt gegen drei Uhr nachmittags nach Hause statt wie üblich um sieben oder acht Uhr abends.
Ich konnte ihr unmöglich noch eine weitere Last aufbürden. Und wer blieb dann noch übrig?
Lillian natürlich. Ich würde ihr lediglich klarmachen müssen, dass Sam unsere Hilfe brauchte und dass sie eine gewisse Vorsicht walten lassen solle, wenn sie seinen juristischen Rat annahm. Auf diese Weise würde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und mit vereinten Kräften konnten wir uns um ihn kümmern und ihn dazu überreden, sich eine ruhigere und seinem Alter angemessenere Freizeitbeschäftigung zu suchen.
Plötzlich hatte ich das Bild unseres Shuffleboardplatzes, auf dem sich ältere Mitbürger drängten, vor Augen. Ich schauderte bei dem Gedanken, aber wenn das die Maßnahme war, die Sam aus seiner Todesfalle befreien konnte, würde ich lernen, mit einem dieser Stöcke umzugehen. Eine verirrte Spielscheibe konnte jedenfalls nicht annähernd so viel Schaden anrichten wie ein sich überschlagendes Motorrad.
Jetzt musste ich nur noch zusehen, dass ich Lillian in ein allgemeines Gespräch verwickelte und ihr dann nach und nach entlockte, was sie quälte. Ich fand eine solche Strategie berechtigt, denn sie brauchte keine unausgegorenen juristischen Ratschläge von Sam anzunehmen, wenn ich mehr als bereit war, alles Notwendige zu tun, um ihr zu helfen.
Vielleicht sollte ich ihr einige der jämmerlichen Gedichte zu lesen geben, die Sam mir geschickt hatte, und wenn sie dann nicht an seinem Verstand zweifelte, dann sah ich für sie ebenfalls schwarz.
Ich wollte meine Nase nicht allzu unverfroren in Lillians Angelegenheiten stecken. Wenn sie wollte, konnte sie in solchen Dingen sehr verschlossen sein. Was natürlich nicht bedeutete, dass mir das gefiel.
Da gab es nur eins: Ich musste mich dem Thema auf Umwegen nähern, sie sollte um Gottes willen nicht bemerken, dass ich mich einzumischen versuchte. Trotzdem konnte ich mir immer noch nicht vorstellen, warum sie sich mir nicht anvertraut hatte.
Und das machte mir wirklich zu schaffen. Warum hielt sie etwas vor mir verborgen? Vertraute sie mir nicht? Und wenn dem tatsächlich so war – in welchem Licht musste mir dann all das erscheinen, was wir im Laufe dieser vielen Jahre miteinander durchgestanden hatten?
Ich ging schnurstracks in die Küche, und bevor ich mich noch recht besinnen konnte, sprudelte es einfach aus mir heraus: »Lillian, ich will wissen, was für Probleme du hast. Ich will, dass du dich jetzt hier hinsetzt und es mir erzählst. Wahrhaftig, von jemand anderem erfahren zu müssen, dass du in Schwierigkeiten steckst, ist mehr, als ich ertragen kann.«
»Miss Julia«, sagte sie, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und starrte dann zum Fenster hinaus. »Es gibt nichts, was Sie da tun könnten. So wie’s aussieht, kann überhaupt niemand was tun. Deshalb brauchen Sie sich damit auch gar nicht zu belasten.«
»Jetzt hör mir mal zu, Lillian«, erwiderte ich und zog ihr einen Stuhl vom Tisch. »Was immer dir Sorgen macht, macht auch mir Sorgen. Ob ich nun weiß, was es ist, oder nicht. Also kannst du es mir geradeso gut erzählen. Du bläst jetzt schon so lange Trübsal, ich dachte immer, es läge daran, dass du Little Lloyd vermisst.«
»Hm, ich hab ihn auch vermisst und tue es immer noch. Aber was das Trübsalblasen betrifft, waren Sie auch nicht besser.«
»Das stimmt, aber es ist nicht das Einzige, was mich plagt, wie du sehr wohl weißt, denn ich habe dir erzählt, welche Sorgen ich mir um Sam mache. Und jetzt stelle ich fest, dass hinter deinem Kummer ebenfalls mehr steckt als die Tatsache, dass du Little Lloyd vermisst. Erzähl es mir, Lillian, und wenn ich nichts tun kann, um dir zu helfen, dann hast du zumindest jemanden zum Reden, der immer noch geradeaus denken kann.«
»Na ja, dann soll es eben so sein«, sagte sie und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl sinken. Im nächsten Moment stand sie jedoch wieder auf. »Ich mache uns eine Tasse Kaffee.«
»Meinetwegen, solange du nicht versuchst, mich abzuwimmeln. Ich werde nicht locker lassen, bevor ich dieser Geschichte auf den Grund gekommen bin.«
Sie antwortete nicht, denn sie wusste, dass es mir ernst damit war und dass sie sich ebenso gut in ihr Schicksal fügen konnte. Sie stellte die Kanne auf den Tisch, die tagsüber stets mit Kaffee gefüllt war, und ich holte zwei Tassen und Unterteller aus dem Schrank.
Als wir beide wieder am Tisch saßen, sagte ich: »Also, raus mit der Sprache.«
»Nun, die Sache ist die, Miss Julia.« Sie brach ab, gab noch etwas Zucker in ihre Tasse und rührte beträchtlich länger in ihrem Kaffee, als es notwendig gewesen wäre.
»Ich warte.«
»Nun ja, es ist dieser Mr Clarence Gibbs«, erklärte sie schließlich in einem Tonfall, als schmerze es sie, den Namen auch nur auszusprechen. Dann sprudelte es plötzlich aus ihr hervor. »Ich weiß, er ist ein Freund von Ihnen, und deshalb wollte ich es Ihnen auch nicht erzählen, und ich will ja auch kein Wort gegen ihn sagen, aber er bringt uns furchtbar in Schwierigkeiten.«
»Clarence Gibbs!«, rief ich aus. »Das ist kein Freund von mir. Wie um alles in der Welt bist du bloß auf diese Idee gekommen?«
»Nun ja, ich weiß, dass er zur Presbyterium Church gehört, und ich weiß, dass er früher Grundstücksgeschäfte mit Mr Springer gemacht hat, deshalb dachte ich, Sie hätten vielleicht immer noch mit ihm zu tun.«
»Dann hast du falsch gedacht«, erwiderte ich. Aber ich musste innehalten, um die Angelegenheit von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Wahrhaftig, wenn einem plötzlich der Mann wegstirbt und einem eine bis dahin unbekannte Anzahl von Erwerbungen hinterlässt – sowohl dinglicher als auch persönlicher Art –, dann verliert man schon mal den Überblick darüber, mit wem man im Geschäft ist. Darüber würde ich unbedingt einmal mit Little Lloyd sprechen müssen. Das Kind hatte in letzter Zeit ein hochwillkommenes Interesse am Immobiliengeschäft zu erkennen gegeben, etwas, worin ich ihn nur ermutigen konnte. Der Grund lag auf der Hand: Der Junge würde, wenn er erwachsen war, eine beträchtliche Anzahl von Liegenschaften erben und noch einige weitere, wenn ich starb. Was ich im Übrigen nicht allzu bald zu tun gedachte.
»Ich werde mir einige von Mr Springers Beteiligungen ansehen müssen«, fuhr ich fort, »aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass mich keinerlei persönliche Beziehungen mit Clarence Gibbs verbinden. Oh, ich sehe ihn bisweilen in der Kirche, aber bei diesen Gelegenheiten nicke ich ihm lediglich aus der Ferne zu. Er ist nämlich Diakon.«
»Ja, ich weiß. Und er ist in der Stadt ziemlich bekannt. Aber, Miss Julia, dieser Diakon will uns vertreiben.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen.
Ich rückte näher an sie heran; ich verstand noch immer nicht ganz, wovon sie sprach. »Euch vertreiben? Von wo?«
»Er will unsere ganze Straße vertreiben, jawohl. Ihm gehören nämlich alle Häuser in der Straße, und er sagt, er braucht die Grundstücke und er wird keine Mietverträge mehr erneuern und wir müssen alle ausziehen.«
»Du meinst«, sagte ich und lehnte mich wieder auf meinem Stuhl zurück, »er hat euch einfach aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass ihr ausziehen müsst, und er hat euch keine Gründe dafür genannt?«
»Nun ja, er sagt, der Stadtrat hätte das beschlossen, weil die Häuser so hinüber sind, dass da kein Mensch mehr drin wohnen kann, was für einige von uns wahrhaftig nichts Neues ist. Und was den Sheriff angeht, der sagt dasselbe. Reverend Mr Abernathy war nämlich bei ihm, um ein gutes Wort für uns einzulegen. Und der Sheriff sagt, es tut ihm leid, aber er hat einen Räumungsbefehl, den er ausführen muss.«
»Also, wahrhaftig«, sagte ich, verblüfft darüber, dass Clarence Gibbs den Stadtrat dazu hatte bewegen können, den Abriss dieser Häuser zu genehmigen, ohne dass ein Wort davon in der Zeitung gestanden hatte. Gibbs war ziemlich dick mit einigen Stadträten, daher konnte er so ziemlich alles durchbekommen, was er wollte. »Seit wann wohnst du jetzt dort?«
»Wir alle wohnen schon sehr lange in dieser Straße«, antwortete sie und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Ein paar von uns haben schon dort gelebt, bevor das Gericht gebaut wurde, aber die sind inzwischen alle tot. Früher haben die Häuser den Leuten gehört, die darin gewohnt haben. Aber was Mr Gibbs angeht, der wusste immer, wenn jemand in Schwierigkeiten steckte, und dann hat er den Leuten ihre Häuser abgekauft, ihnen das Geld gegeben und ihnen dann ihre eigenen Häuser wieder vermietet.« Sie griff nach einer Serviette, weil sie das Gesicht mit den Händen nicht richtig trocken bekam. »Jetzt gehören ihm alle Häuser, bis auf eins oder zwei, und die will er auch noch haben. Er sagt, sie müssen alle verkaufen, oder sie sitzen bald mitten drin in etwas, das ihnen gar nicht gefallen wird.«
»Und was soll das sein?«, hakte ich nach. »Was hat er mit dem Land vor?«
»Das wissen wir nicht. Uns erzählt ja niemand was, außer dass wir ausziehen sollen.« Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und sie drückte sich die Serviette aufs Gesicht. »Miss Julia, wir haben sogar einen Friedhof oben auf dem Hügel. Heutzutage benutzt ihn zwar niemand mehr, aber manche Gräber sind schon hundert Jahre alt.«
»Hm, an der Stelle kann er bestimmt nichts bauen«, meinte ich. »Es gibt Gesetze, die Friedhöfe schützen.« Zumindest glaubte ich, dass es solche Gesetze gab.
Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand Lillian übervorteilte, und die Vorstellung, dass Leute wie Clarence Gibbs mit seinen Hängeschultern und seinen verkniffenen Augen sie von irgendwo vertreiben könnten, zerriss mich förmlich.
»Mir scheint«, sagte ich und streute einige Ausdrücke ein, von deren Bedeutung ich keinen Schimmer hatte, »dass dir und deinen Nachbarn so eine Art angestammtes Bleiberecht zusteht. Wie kann er euch einfach mit Mann und Maus auf die Straße setzen?«
»Das weiß ich nicht, aber es sieht so aus, als könne er. Der Räumungsbefehl ist schon vor ein paar Wochen gekommen, und diese Woche sollen wir raus sein.«
»Diese Woche! Lillian! Warum hast du mir das nicht erzählt? Ich hätte irgendetwas tun können, zumindest hätte ich es versuchen können.«
Sie senkte den Kopf und begann vor sich hin zu murmeln. »Wir hatten gehofft, dass Mr Gibbs ein Einsehen haben würde, aber das wird wohl nicht so sein.«
Ich runzelte die Stirn und dachte darüber nach, was Clarence Gibbs wohl im Sinn haben mochte. Da er berüchtigt war für seine aalglatten Geschäftspraktiken, musste mit dieser Sache irgendwie Geld zu verdienen sein.
»Was ist mit euren Mietverträgen?«, fragte ich. »Ihr wohnt jetzt alle schon so lange dort, dass ihr sicher langfristige Verträge habt.«
»Nein, Ma’am. Die Verträge sind immer nur von Woche zu Woche verlängert worden. Mr Gibbs schickt jeden Freitag jemanden, der die Miete kassiert.«
Ich dachte kurz nach und stellte mir die Straße vor, in der Lillian lebte. Es war ein ungepflasterter Abzweig einer Straße gleich jenseits der Stadtgrenze, im Grunde kaum mehr als eine Gasse, in der eine Hand voll Kinder im dichten Staub des Sommers Seilchen sprangen und Verstecken spielten. Wenn ich mich recht erinnerte, lag am Ende des Weges ein Acker, der früher einmal eine Viehweide gewesen sein mochte. Der Acker verlief hinter den Häusern entlang, bis zu einem bewaldeten Hügel, der mir nicht für irgendeine Art von Bebauung geeignet zu sein schien. Aber die Grundstückserschließer sahen ja Möglichkeiten, wo die meisten Menschen nur Felsen, Schluchten und steile Berghänge bemerkten.
Willow Lane, dachte ich, und keine einzige Weide in Sicht. Hohe Eichen säumten die Straße, deren Zweige einen schattigen Baldachin bildeten. Die kleinen Häuser, von denen es auf jeder Seite nicht mehr als vier oder fünf gab, waren alle gleich: handtuchschmal und langgestreckt, die Giebelseite der Straße zugewandt und mit einer kleinen Veranda nebst Geländer versehen. Die Wände bestanden aus verwitterten Schindeln, und viele von ihnen neigten sich auf ihren Grundfesten aus übereinandergestapelten Steinen zur einen oder anderen Seite. Ich hatte Lillian oft nach Hause gefahren, daher kannte ich die Gegend gut. Ihr Haus wirkte sehr gepflegt. In Töpfen und Wannen blühten Blumen vor der Veranda, und die Erde des kleinen Hofes davor war stets in säuberlichen Reihen geharkt, was mich an einen japanischen Garten erinnerte, den ich einmal gesehen hatte. Wie ich Lillian kannte, hatte sie im Haus gewiss alles ebenso gut in Schuss.
Je länger ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich. So wie diese Häuser aussahen, hatte Clarence Gibbs keinen Penny in ihre Instandhaltung investiert und sie von Jahr zu Jahr weiter verfallen lassen. Kein Wunder, dass er den Stadtrat dazu hatte bewegen können, mit ihnen kurzen Prozess zu machen.
»Wenn ich nur wüsste, warum er plötzlich das Land braucht«, sagte ich, während ich darüber nachgrübelte, welchen Plan Clarence Gibbs wohl verfolgen mochte.
»Das weiß niemand, Miss Julia. Aber wir haben ihn manchmal im Wald auf dem Hügel hinter unserer Straße herumlaufen sehen. Einmal hat er ein paar Männer mitgebracht, und es hat so ausgesehen, als hätten sie irgendwas ausgemessen.«
»Klingt nach Landvermessern«, meinte ich.
Ich dachte einen Moment lang über die Angelegenheit nach und besann mich auf den Geschäftssinn, den ich jüngst entwickelt hatte – genaugenommen nach Wesley Lloyds Dahinscheiden. »Es muss etwas Kommerzielles sein«, sagte ich schließlich. »Nichts anderes könnte mehr wert sein als die Mieteinnahmen.«
»Ich weiß nicht, Miss Julia«, sagte Lillian, die unglücklicher aussah, als ich sie jemals erlebt hatte. »Ich weiß bloß, dass wir ausziehen müssen, und zwar bald. Und die Leute wissen nicht wohin, außer in Häuser, die mehr kosten, als irgendjemand von uns bezahlen kann.«
»Oh«, sagte ich, solchermaßen daran erinnert, dass nicht jeder einfach einen Scheck ausstellen konnte, um zu bekommen, was immer er haben wollte. Natürlich wusste ich, mit welcher Summe Lillian auskommen musste, denn ich wusste, was ich ihr bezahlte. Ich war sehr stolz auf mich gewesen, als ich kurz nach Wesley Lloyds Dahinscheiden ihren Lohn erhöht hatte, und seither hatte ich ihr jedes Jahr Prämien ausgezahlt und ihren Lohn weiter heraufgesetzt. Aber verglichen mit meinem Einkommen war das Geld, das ihr zur Verfügung stand, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Das Vermögen meines verstorbenen Mannes ermöglichte es mir, zu tun, was immer ich wollte, und es brachte mich immer wieder aufs Neue aus dem Gleichgewicht, wenn ich mir klarmachen musste, dass es nicht jeder so leicht hatte.
Andererseits hatte auch nicht jeder Wesley Lloyd Springer und die Schande ertragen müssen, die er mir hinterlassen hatte – daher betrachtete ich sein Vermögen als gerechte Entschädigung.
»Nun, du zumindest weißt, wo du hingehen kannst. Ich möchte, dass du hier einziehst, oben in Colemans Wohnung, die er ja nun nicht mehr braucht, und du kannst bleiben, solange du willst.«
»Das ist furchtbar nett von Ihnen, Miss Julia, und ich bin Ihnen auch dankbar dafür. Aber ich weiß nicht, was aus den anderen werden soll, und Sie verstehen sicher, dass ich gern meine eigene Wohnung hätte.«
»Das verstehe ich, aber zumindest weißt du, wo du unterkommen kannst, bis du etwas gefunden hast. Oh, Himmel, Lillian«, sagte ich, überwältigt von dem Kummer, den sie so lange allein mit sich herumgetragen hatte. »Es tut mir so leid, was da passiert ist. Aber hör zu, noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht gibt es irgendwelche juristischen Wege, die man beschreiten könnte. Wenn ihr aber nur noch ein oder zwei Tage Zeit habt, müssen wir zunächst einmal deine Sachen zusammenpacken und herschaffen. Danach werden wir weitersehen.«
Sie schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube, es ist schon zu spät, Miss Julia. Coleman war die Tage drüben bei uns, und es hat ihn schier zerrissen, dass der Sheriff ausgerechnet ihn mit dieser Räumungsklage zu uns geschickt hat.«
»Mein Gott«, sagte ich. Dann wurde mir bewusst, dass ich ihn in letzter Zeit furchtbar oft angerufen hatte, aber an irgendjemanden musste ich mich schließlich wenden, da niemand den Anstand gehabt hatte, mich über irgendetwas auf dem Laufenden zu halten. »Nun, passiert ist passiert. Jetzt müssen wir über deine Möbel und den Rest deiner Sachen nachdenken.
»Coleman hat mir geholfen«, antwortete sie und wischte sich abermals mit der Serviette übers Gesicht. »Ich habe zusammengepackt und alle möglichen Sachen weggeworfen oder verschenkt. Außer meinem Bett und den Kartons ist praktisch nichts übrig geblieben.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Miss Julia, ich würd mit Freuden aus diesem klapprigen Haus ausziehen, wenn ich eine anständige Wohnung hätte, in die ich gehen könnte.«
Ich sah sie an, hin und her gerissen zwischen Mitleid und Wut. Die Wut gewann die Oberhand. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass du es so weit hast kommen lassen, ohne mir ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Wahrhaftig, Lillian, ich bin verletzt, verletzt, dass du so etwas vor mir verborgen halten konntest.«
Sie rang die Hände und musterte ihre Finger, statt mich anzusehen. »Ich weiß doch, dass Sie selbst so viel um die Ohren haben, und ich dachte, vielleicht passiert ja noch irgendwas oder Mr Gibbs ändert seine Meinung. Und Coleman hat mir geholfen, mich nach einer Wohnung umzusehen, in die ich einziehen kann. Aber die anderen aus unserer Straße, die sind in derselben Klemme wie ich.«
»Gütiger Gott«, sagte ich. Es setzte mir furchtbar zu, dass ich fröhlich vor mich hin gelebt hatte, während Lillian ihr Heim verlor. »Wie viele Leute sind denn außer dir noch betroffen?«
»In unserer Straße stehen neun Häuser. Früher waren es mal zehn, aber bei einem ist das Dach eingestürzt. Manche Leute leben allein, wie ich jetzt, nachdem meine Enkelkinder weg sind. Ein paar sind verheiratet, und Mr William und seine Frau, die haben ihren alten Daddy bei sich. Und manche haben Kinder, die zu ihnen ziehen, wenn sie mal wieder arbeitslos sind. Niemand hat bisher eine neue Wohnung, bis auf die Whitleys, die schon nach Durham gezogen sind. Ihre Tochter hat nämlich einen guten Job im Duke Hospital.«
Ach du meine Güte, dachte ich und zermarterte mir das Hirn, wo man so viele Leute unterbringen konnte. Es gab in Abbotsville nicht viele erschwingliche Häuser, erst recht nicht für Leute mit wenig Geld.
Ich beugte mich zu ihr vor. »Was hat Sam denn zu der ganzen Geschichte gesagt?«
»Er meinte, er würd sich drum kümmern und mit Mr Gibbs reden, um zu sehen, ob sich doch irgendwas machen lässt. Aber er sagt, da wir keine Mietverträge haben, könnte Mr Gibbs womöglich tun, was immer er will.«
»Nun, das wollen wir doch erst mal sehen«, erklärte ich, bereit, auf mein hohes Ross zu steigen. »Lillian, fern sei es mir, Sam und seinen Rat in Zweifel zu ziehen, aber ich habe dir ja gesagt, dass ich mir große Sorgen wegen seines Geisteszustands mache. Was immer er dir rät, du solltest es mit Vorsicht genießen.«
Himmel, wie ich es hasste, ihr das sagen zu müssen. Es schien Sam gegenüber so schändlich zu sein. Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie aus ihrem Zuhause vertrieben wurde, weil Sam die Sache vermasselte.
»Wir gehen heute Abend zu einer Versammlung«, bemerkte Lillian und schob ihre Tasse mit kaltem Kaffee von sich. »Reverend Abernathy hat alle, die in unserer Straße wohnen, zusammengerufen, um darüber zu reden, was wir tun können. Er hat auch Mr Gibbs gebeten zu kommen, aber Mr Gibbs meinte, er würde heute Abend wohl keine Zeit haben. Er meinte, er hätte was Besseres zu tun, wir könnten nicht von ihm erwarten, dass er zu einer Versammlung käme, die sowieso nichts ändern würde.«
»Nun«, erklärte ich, stand auf und ging um den Tisch herum. »Der Mann hat Nerven. Lillian, du darfst einfach nicht aufgeben. Wenn es irgendetwas gibt, das man tun kann, dann muss man es tun.«
»Ich hab Mr Sam von der Versammlung erzählt, und er hat versprochen zu kommen und uns zu sagen, was er rausgefunden hat. Er wollte sich heute im Gericht mal die Grundstücksunterlagen und solche Sachen ansehen. Wenn irgendjemand was ausrichten kann, dann Mr Sam. Wir verlassen uns auf ihn.«