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Tiffany Reisz

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Beschreibung

Unter anderen Umständen würde Nora Sutherlin es genießen, nackt und gefesselt zu sein. Doch ihre Kidnapperin ist nicht an erotischen Spielen interessiert. Sie kennt nur ein Ziel: Rache an Søren, dem Mann, dem Nora mit Leib und Seele verfallen ist. Ihre Peinigerin stellt Nora vor die Wahl: Sie kann sich dafür entscheiden, ihren geliebten Søren zu töten - oder selbst zu sterben, damit Søren weiterleben darf. Doch dann wird er auf immer ein Gefangener sein. Nora weiß: Nichts wäre schlimmer für ihn, als sich einem anderen Menschen zu unterwerfen. Um ihm dieses Schicksal zu ersparen, ist sie gewillt, die ultimative Todsünde zu begehen. Langsam streckt sie die Hand nach dem Dolch aus, den die Entführerin ihr reicht, um ihrem Meister ein letztes Mal zu Willen zu sein …

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Seitenzahl: 512

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Tiffany Reisz

Mistress

Erotischer Roman

Aus dem Amerikanischen von Vera Möbius

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: The Mistress Copyright © 2013 by Tiffany Reisz erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Covergestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Maya Gause Titelabbildung: f1 online Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-335-5

www.mira-taschenbuch.de

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Dieses Buch widme ich Mistress Amiko, Mistress Astria, Mistress Sade Ami, Mistress Michelle Lacy und allen Dominas, die unsere Welt in ihren Fußschemel verwandeln.Ich knie zu euren Füßen und küsse eure Stiefel. Stets eure Dienerin, Tiffany

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.

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GEFANGENNAHME

1. KAPITEL

DIE DAME

Als Nora zu sich kam, war sie wieder fünfzehn Jahre alt. Es fühlte sich auf jeden Fall so an. Warum sonst sollte sie wieder auf diesem kalten Stuhl sitzen, das gnadenlose Metall der Handschellen an ihren Handgelenken spüren, mit nichts als nackter Angst in ihrem Herzen?

Verwirrt öffnete Eleanor Schreiber die Augen und hob den Kopf. Father Stearns, der neue Priester der Sacred Heart, saß ihr im Vernehmungsraum des Polizeireviers gegenüber. Um drei Uhr an einem Samstagmorgen. Vom Gesicht her sah er aus, als wäre er neunundzwanzig Jahre alt – aber seine Augen wirkten so uralt, als hätte er Jesus Christus noch in Fleisch und Blut gesehen. Zumindest hoffte sie das, weil sie schon immer wissen wollte, wie groß Jesus gewesen war.

Der Priester – in der Kirche nannte man ihn so, für Nora war er Søren – sagte nichts und starrte sie nur an, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. Wenigstens einer, der ihr Elend genoss. Wo blieb ihr Vater? Den brauchte sie, nicht Father Stearns. Wegen ihres Dads war sie kurz vor dem Morgengrauen in Manhattan verhaftet worden.

Aber nein, da saß nur ihr Priester. Am liebsten hätte sie ihm das Lächeln aus seinem perfekten Gesicht geschlagen.

„Was ich Sie fragen wollte …“ Sie beschloss die Kontrolle über die Situation zu übernehmen und das Schweigen zu brechen. „Sind Sie einer dieser Priester, die alle Kinder in der Kirchengemeinde ficken?“

Welche Reaktion sie auch erwartet haben mochte, sie blieb aus.

„Nein.“

Eleanor holte tief Luft und stieß sie schnaubend durch die Nase aus. „Zu schade.“

„Vielleicht sollten wir die Schwierigkeiten besprechen, in die du geraten bist, Eleanor.“

„Ja, ich stecke wirklich in der Klemme.“ Sie hoffte, ihn reizen zu können. Ein sinnloser Plan. Vor dieser Nacht waren sie sich zweimal begegnet, und beide Male hatte sie ihr Bestes getan, um ihn aus der Haut fahren zu lassen. Ohne Erfolg. Jedes Mal hatte er sie freundlich und respektvoll behandelt. An so etwas war sie nicht gewöhnt.

„Du wurdest wegen des Verdachts auf Autodiebstahl im großen Stil verhaftet. Offenbar sind heute Nacht fünf Luxuslimousinen im Gesamtwert von einer Million Dollar aus Manhattan verschwunden. Aber du hast bestimmt keine Ahnung, wovon ich rede, oder?“

„Die fünfte Karre habe ich geklaut. Das sollte ich doch sagen, oder?

„Vor Gericht, ja. Aber mir wirst du immer die Wahrheit gestehen.“

„Ich glaube, die Wahrheit über mich wollen Sie gar nicht wissen, Søren“, erwiderte sie, beinahe im Flüsterton. Sie war nicht dumm und musste ihn nur anschauen, um zu merken, dass sie nichts gemeinsam hatten. So wie er aussah, mochte er Geld und redete gern darüber. Er besaß unnatürlich weiße Fingernägel und Hände, die von einer Statue hätten stammen können. An ihm wirkte alles wie ein Kunstwerk – die Hände, seine Gesichtszüge, die Lippen, seine Größe und Schönheit … Während sie vom Regen völlig durchnässt war und ihr schwarzer Nagellack abblätterte. In schlaffen Wellen fiel ihr das Haar ins Gesicht. Nass und schmutzig klebte die Schuluniform an ihr.

Kein Geld, keine Hoffnung.

Ihr ganzes Leben war eine einzige verdammte Katastrophe.

„Es gibt nichts, das ich nicht über dich wissen will.“ Søren schien es wirklich ernst zu meinen. „Und ich versichere dir: Nichts, was du mir erzählst, wird mich schockieren oder anekeln. Nichts wird meine Meinung über dich ändern.“

„Ihre Meinung ändern? Also haben Sie sich bereits eine Meinung über mich gebildet? Wie lautet das Urteil?“

„Ganz einfach! Ich bin bereit und dazu imstande, dir aus der Notlage herauszuhelfen, in die du dich gebracht hast.“

„Nennen wir’s lieber die Scheiße, in die ich mich reingeritten habe, das klingt nicht so beängstigend.“

„Es ist eine Katastrophe, junge Dame. Für das, was du heute Nacht getan hast, könntest du in der Jugendstrafanstalt landen. Eines der gestohlenen Autos gehört einem wichtigen, einflussreichen Typen. Anscheinend will er dafür sorgen, dass du das Tageslicht erst wiedersiehst, wenn du einundzwanzig bist. Um dir das zu ersparen, muss ich mich gewaltig anstrengen. Glücklicherweise habe ich einige Kontakte. Genauer gesagt, ich kenne jemanden, der Kontakte hat. Das alles erfordert einen enormen Zeit- und Kostenaufwand.“ Nach seinem Tonfall zu schließen, freute er sich darüber, was keinen Sinn ergab. Aber nichts an diesem Mann oder an seinen Interessen ergab einen Sinn.

„Und diese Mühe machen Sie sich meinetwegen? Warum?“ Sie hob den Kopf etwas höher und schaute ihm direkt in die Augen.

„Weil ich alles tun würde, um dich zu schützen, Eleanor. Ich würde nichts unversucht lassen, um dir zu helfen – um dich zu retten. Gar nichts.“

Ein eisiger Schauer rann durch ihren ganzen Körper. Jemand geht über dein Grab, würde ihre Großmutter sagen. Diese Redewendung, dieses Gefühl hatte Eleanor nie verstanden. Jetzt wusste sie Bescheid.

„Aber meine Hilfe hat einen Preis“, fügte er hinzu,

„Natürlich.“ Spöttisch verdrehte sie die Augen. „Nun kommen wir zu meiner ersten Frage zurück, zum Kinderficken in der Kirche. Okay, wenn Sie drauf bestehen …“

„Schätzt du deinen Wert als Kind Gottes so wenig, dass du glaubst, Sex wäre das einzige, was ich von dir verlange?“

Die Frage traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Beinahe zuckte sie zusammen. Aber sie würde sich nicht anmerken lassen, wie tief er sie damit traf.

Ihre Mom würde sie enterben. Wahrscheinlich war ihr Dad inzwischen einige Staaten weit weg, die Großeltern würden bald sterben. Und Eleanors Zukunft war im Eimer.

Aber ihren Stolz würde ihr niemand nehmen. Wenigstens den hatte sie immer noch. Im Moment zumindest. „Heißt das … nein?“

Søren zog die Augenbrauen hoch, und sie kicherte beinahe. Allmählich begann sie, ihn zu mögen. Sie hatte sich schon längst in ihn verliebt, ganz und gar, bis zum Ende der Welt und zurück. Niemals hätte sie jedoch erwartet, dass sie ihn eines Tages auch mögen würde.

„Nein, was das betrifft. Aber ich werde etwas von dir fordern, zum Dank für meinen Beistand.“

Reden Sie immer so?“

„Meinst du … so unmissverständlich?“

„Ja.“

„Ja, das tue ich in der Tat.“

„Seltsam. Und welchen Preis muss ich zahlen? Hoffentlich nicht mein erstgeborenes Kind. Ich will keine Kids.“

„Nun, meine Hilfe hat einen ganz einfachen Preis. Von jetzt an sollst du nur tun, was ich dir sage.“

„Nur tun, was Sie mir sagen?“

„Ja, du sollst mir gehorchen.“

„Von jetzt an? Für wie lange?“

Da vertiefte sich Sørens Lächeln, und sie wusste, sie sollte sich wahrscheinlich fürchten. Aber irgendetwas an seinem Lächeln … Zum ersten Mal in dieser Nacht fühlte sie sich sicher.

„Für immer.“

„Wach auf, Dornröschen.“

Sie hörte eine Stimme mit französischem Akzent und versuchte sie zu ignorieren, so wie sie das immer bei Stimmen mit französischem Akzent tat. In diesem Moment zu erwachen, war das Letzte, was Nora wollte … In ihrem Traum war sie mit Søren zusammen, er neunundzwanzig, sie fünfzehn, und die gemeinsame Geschichte hatte eben erst begonnen. Wenn sie die Augen öffnete, könnte ihr das Ende der Geschichte drohen. Sie wollte in ihrer Traumwelt bleiben, am liebsten für alle Zeit.

Aber zarte, kalte Finger tanzten wie Spinnenbeine über ihr Gesicht:

Nora öffnete die Augen.

2. KAPITEL

DER KÖNIG

Kingsley Edge stand vor dem großen Spiegel in seinem begehbaren Kleiderschrank, vertauschte sein zerrissenes Hemd mit einem frischen und musterte seine Wunden. Die Farbschichten der Blutergüsse, die Søren in jener einen gemeinsamen Nacht auf seiner Haut hinterlassen hatte, gingen bereits von Blau zu Schwarz über. Für die Erinnerungen an diese Nacht, die sich zu seinem Leidwesen niemals wiederholen würde, könnte er den Priester hassen.

Trotzdem schätzte er die Wundmale jetzt ebenso wie damals, während sie Jungs im Internat gewesen waren – viel mehr als die Narben auf seiner Brust, Geschenke von Feinden mit Schusswaffen, gewissermaßen Orden oder Ehrenabzeichen. Er berührte die schlimmste der alten Verletzungen. Sie lag ein paar Zentimeter über dem Herzen und schien eher von einem Stich zu stammen, nicht von einem Schuss. Nun, vielleicht war er niedergestochen worden.

Von der Mission, die diese Narbe und zwei seiner vier Schusswunden verursacht hatte, wusste er fast nichts mehr. Sein Gehirn hatte die Erinnerungen begraben, und er wollte sie nicht hervorholen. Das Erwachen in der Pariser Klinik… Niemals würde er jenen Moment vergessen. Noch auf seinem Totenlager würde er daran denken. Das Krankenhausbett – es hätte sein Sterbebett sein können …

Aber der Besucher …

Langsam war er zur Besinnung gekommen, mühselig durch das tiefe Dunkel zurück ins Licht gekrochen, durch eine Hölle voller Drogen und Schmerzen, Bitterkeit, Verzweiflung über das Scheitern seiner Mission. Im Krankenzimmer spürte er helles Licht, hielt jedoch die Augen geschlossen, noch unfähig, der Sonne zu begegnen.

Hinter seiner Schulter hörte er ein leises Gespräch – eine artikulierte weibliche Stimme und eine autoritäre, unnachgiebige männliche.

„Er wird am Leben bleiben“, betonte der Mann auf Französisch. Keine Frage, sondern ein Befehl.

„Natürlich tun wir für ihn, was wir können.“ Natürlich, sagte die Frau. Bien sûr. Aber Kingsley hörte die Lüge aus ihrer Antwort heraus.

„Alles werden Sie für ihn tun. Alles. Von jetzt an ist er Ihr einziger Patient, Ihre einzige Sorge gilt ihm.“

„Oui, mon père. Mais…“ Aber … Ihre Stimme verriet Angst. Mon père? Kingsleys wirres Gehirn versuchte die Worte zu enträtseln. Seit Jahren war sein Vater tot. Mit welchem Vater sprach die Frau?

„Nehmen Sie sein Leben so wichtig wie Ihr eigenes. Verstehen Sie das?“

Genau. Kingsley hätte im Halbschlaf gelächelt, wäre sein Hals nicht von Kanülen blockiert worden. Eine Todesdrohung erkannte er, sobald er eine hörte. Nehmen Sie sein Leben so wichtig wie Ihr eigenes… Ein Französisch, das jeder übersetzen konnte. Er lebt, und Sie leben. Er stirbt, und Sie…

Aber wem bedeutete er so viel, dass er auch nur eine leere Drohung ausstieß? Als er le légion beigetreten war, hatte er nur einen einzigen „nächsten Angehörigen“ angegeben. Die einzige „Familie“, die ihm geblieben war. Allerdings kein Verwandter. Warum kam ausgerechnet er jetzt zu ihm?

„Er wird es überleben“, versprach die Frau. Diesmal ohne „aber“.

„Gut. Scheuen Sie keine Kosten, wenn es um seine Gesundheit und seinen Komfort geht. Das wird bezahlt.“

Die Krankenschwester – oder vielleicht eine Ärztin – beteuerte erneut, sie würde ihr Bestes tun, damit der Patient die Klinik wohlbehalten verlassen konnte. Dann verstummten die Stimmen. Die Frau hatte gelobt, alles zu tun, was sie konnte, und noch viel mehr. Sehr klug. Kingsley lauschte ihren klickenden hohen Absätzen auf dem Fliesenboden hinterher, ihre Schuhe klangen so hart wie ihre Stimme.

Schließlich verhallte das Geräusch, und er wusste, dass er mit dem Besucher allein war. Er wollte die Augen öffnen. Doch dafür fehlte ihm die Kraft.

„Ruh dich aus, Kingsley“, ertönte die Männerstimme, und er spürte eine Hand auf seiner Stirn, sanft wie die Hand eines Liebhabers. „Mein Kingsley …“ Die Stimme seufzte, und er vernahm Frust vermischt mit Belustigung – oder irgendetwas Ähnliches. „Verzeih mir, was ich nun sage, aber ich finde, du solltest dir endlich ein neues Hobby suchen.“

Trotz der Röhrchen in seiner Kehle brachte Kingsley ein Lächeln zustande.

Die Hand verließ sein Gesicht, und er spürte etwas an seinen Fingern. Nun hüllte ihn das Dunkel wieder ein, diesmal nicht die tiefe Finsternis, nur ein angenehmer Schlaf. Als er erwachte, waren die Kanülen verschwunden, er konnte wieder sehen, sprechen und atmen.

Was seine Finger berührt hatten, war ein Kuvert mit Papieren für ein Schweizer Bankkonto auf seinen Namen – etwa dreiunddreißig Millionen amerikanische Dollars. Er nahm das Geld an, befolgte den Rat seines einzigen Besuchers am Krankenlager und kehrte nach Amerika zurück, in das Land, wo er früher glücklich gewesen war.

Und in Amerika tat er, was ihm befohlen worden war. Hier hatte er ein neues Hobby gefunden.

Kingsley stopfte sein Hemd in die Hose und knöpfte seine bestickte schwarz-silberne Weste zu. Wieder einmal sah er elegant und gefährlich zugleich aus. In seinem Haus wusste man, dass etwas geschehen war. Den Angestellten zuliebe würde er wie immer ihren furchtlosen Anführer spielen, um sie zu beruhigen. In Wirklichkeit war er noch nie im Leben so verängstigt gewesen, nicht einmal an jenem Tag im Krankenhaus. Er schlüpfte in sein Jackett und trat vom Spiegel zurück.

Nie zuvor hatte er in seiner Welt eine so gewaltige Krise meistern müssen. Sobald er sein Untergrundnetz aufgebaut hatte – das Imperium seiner SM-Clubs für die Reichen und Mächtigen, die Furchtsamen und die Beschämten –, war er klug genug gewesen, Erpressungsmaterial über Polizeipräsidenten und Politiker zu sammeln, über Medienleute und die Mafia. Er wusste alles über jene, die ihn bedrohen könnten. Und dennoch war jetzt das passiert, was er am meisten gefürchtet hatte – einem Bewohner seines Königreichs wurde geschadet. Und Kingsley selber trug die Schuld daran.

Nachdem er sein Schlafzimmer verlassen hatte, traf er Sophie im Flur, seine Assistentin für den Nachtdienst, die ein halbes Dutzend Nachrichten und Termine aufzählte.

„Blasen Sie alles ab“, befahl er, als sie die Treppe erreichten. „Und ignorieren Sie die Nachrichten.“

„Oui, Monsieur. Master Fiske ist in Ihrem Büro.“

Gut. An diesem Tag war Griffin pünktlich.

Er entließ Sophie und suchte sein Büro im ersten Stock auf. Als er es betrat, stand Griffin am Fenster und sprach leise mit einem jungen Mann.

Eine Zeit lang beobachtete Kingsley die beiden und erwartete, sie würden ihn bemerken. Doch sie waren vom Tunnelblick junger Liebe befallen. Griffin hob eine Hand und umfasste das Gesicht seines neuen Liebhabers. Einem Kuss folgte ein zweiter, dann Geflüster. Michael nickte, neigte sich vor, und als er sich umwandte, las Kingsley kaltes Entsetzen darin.

Das verstand er. „Du hättest dein Schoßhündchen wohl lieber daheim lassen sollen“, spottete er. Der Versuchung, Griffin zu reizen, konnte er nicht widerstehen.

Besitzergreifend legte Griffin einen Arm um Michaels Schultern, zog ihn an seine Brust und hob das Kinn. „Jemand hat Nora, King. Bevor wir sie zurückhaben, lasse ich Mick nicht aus den Augen.“

„Dein Spielkamerad ist nicht in Gefahr. Und la maîtresse auch nicht. Noch nicht.“ Kingsley hoffte, sein zuversichtlicher Ton würde die beiden veranlassen, die Halbwahrheit zu glauben.

„Wir schützen unser Eigentum. Das habt ihr mir beigebracht, du und Søren.“

„C’est la guerre“, seufzte Kingsley. Ein Gegenargument gab es nicht. War das nicht der Grund, warum er Juliette weggeschickt hatte? Um sein Eigentum zu schützen?

„Hey, wo ist Søren eigentlich?“, fragte Griffin.

„Im Moment beschäftigt.“ Auf welche Weise, erwähnte Kingsley nicht.

„Wissen wir irgendwas?“

„Eine lange Geschichte“, erwiderte Kingsley achselzuckend. „Zu lang, um sie zu erzählen. Reine Zeitverschwendung. Der Priester und ich haben eine alte Feindin, die wir lange für tot hielten. Das ist sie nicht. Keine Ahnung, welches Spiel sie plant. Aber sei versichert, es ist ein Spiel.“

„Nora wurde gekidnappt. Was für ein Scheißspiel ist das?“

„Ein sehr gefährliches. Glücklicherweise bin ich ein Experte für gefährliche Spiele.“

„Ich breche alle Beine, die du mir zeigst“, sagte Griffin, und Kingsley lachte kurz auf.

„Dieses Angebot weiß ich zu schätzen, mon ami. Aber ich glaube, bei dieser Gegnerin sind subtilere Methoden erforderlich. Was ich von dir brauche …“ Kingsley griff in seine Tasche und zog einen silbernen, mit einem fleur de lis verzierten Schlüsselring hervor. Daran hingen acht Schlüssel, einer für jeden seiner Clubs und das Stadthaus. „Mit diesem widerwärtigen Problem werde ich einige Zeit zu tun haben. Jemand muss das Imperium für mich im Auge behalten.“

Griffins dunkle Augen weiteten sich, als er den Ring entgegennahm. „Oh, die Schlüssel zum Königreich. Für diese Ehre müsste ich dir danken: Aber ich weiß, du gibst sie mir nur, weil du keine Wahl hast.“

„Da irrst du dich. Auf meiner Gehaltsliste stehen ein paar Dutzend Namen. Aber ich vertraue dir. Halt die Leute bei der Stange, bis ich zurückkomme.“

„Weißt du, wo Nora ist? Wissen wir irgendwas? Glaubst du, wir sollten …“

„Die Polizei rufen? Mit wem wir’s zu tun haben, weiß ich. Und ich bin mir ziemlich sicher, was sie will. Die Polizei würde ich nicht informieren. Es sei denn, du willst la maîtresse tot sehen.“

Michael schnappte nach Luft, und Kingsley musste sich zusammenreißen, um seine Augen nicht zu verdrehen. Armer Kerl, so unschuldig. Unter diesem Dach würde er es nicht lange bleiben.

„Wenn jemand Nora verletzt …“ Griffin ließ den unvollendeten Satz in der Luft hängen, die unausgesprochene Drohung wirkte gewichtiger als Worte.

„Wenn jemand Nora verletzt, wirst du ziemlich lange Schlange stehen müssen, um dich zu rächen. Da kenne ich einige Leute, die größere Ansprüche anmelden können.“

„Alles klar.“

„Geh zu Sophie, sie weiß alles, was für dich wichtig ist. Und vergiss nicht, in dieser Welt ist es besser, gefürchtet als geliebt zu werden. Nimm die Leute an die Kandare. Mit fester Hand. Wenn du willst, kannst du in diesem Haus bleiben. Zusammen mit deinem Schoßhündchen. Aber was immer du tust, geh nicht in mein Zimmer.“

„Darf ich wissen, warum nicht?“

„Non.“

Griffin nickte und steckte die Schlüssel in seine Tasche. „Gut, ich sorge für das Imperium. Und du findest Nora, okay?“

„Das habe ich vor.“

Von Michael gefolgt, ging Griffin zur Tür.

Dort drehte Michael sich um. „Mr Edge?“

„Ja, Michael?“

Sekundenlang schwieg der junge Mann, und Kingsley wartete. Normalerweise würde er protestieren, wenn er „Mr Edge“ genannt wurde. Entweder Monsieur, Kingsley oder Mr K. Sonst nichts. Aber an diesem Tag war es ihm egal.

„Es ist nur …“, begann Michael, und Griffin legte tröstend eine Hand auf seinen Rücken. „Nora ist meine Freundin.“

„Das weiß ich.“

„Allzu viele Freunde habe ich nicht.“

„Ich werde sie finden“, versprach Kingsley. „Und ich bringe sie nach Hause.“

„Danke, ich meine – merci.“

Kingsley schenkte ihnen noch ein Lächeln, dann verließen Michael und Griffin das Büro.

Max, einer der Hunde, trottete herein und schnupperte an der Hand seines Herrn. Kingsley streichelte ihn und dachte an Sadie, das einsame Weibchen in seinem Rottweiler-Rudel. Sie war an einem Stich ins Herz gestorben. Hatte seine Schwester das getan?

Jemand musste ihr geholfen haben – so wie bei Nora. Über Nora Sutherlin konnte man sagen, was man wollte, aber sie war eine Überlebenskünstlerin, stark und widerstandsfähig. Sie konnte sich hervorragend wehren. Indem sie sich einem Sadisten unterworfen hatte, war sie unbesiegbar geworden. Sogar ihn hatte sie ein- oder zweimal übertrumpft. Nun schwebte sie in ernsthafter Gefahr. Das war kein einvernehmliches Rollenspiel zweier Erwachsener, hier ging es um echte Gewalt.

Seufzend strich sich Kingsley durch sein Haar und rieb sein Kinn. Wenn das Telefon bloß läuten oder ein Brief mit Forderungen und Drohungen eintreffen würde … Das gefährliche Spiel hatte eben erst angefangen. Marie-Laure hatte die Figuren auf das Schachbrett gestellt. Welchen Eröffnungszug würde sie wählen?

„Marie-Laure“, flüsterte er. „Worauf wartest du?“

„Monsieur?“

Er drehte sich zu seiner Assistentin um. „Jetzt müssen Sie zu Griffin gehen, wenn Sie etwas brauchen, Sophie.“

„Aber da ist jemand, der Sie sehen möchte, Monsieur.“

„Schicken Sie ihn zu Griffin.

„Er will nur mit Ihnen reden.“

„Hoffentlich ist es wichtig.“ Kingsley ging zur Tür. Vielleicht hatte Marie-Laure ihren ersten Bauern nach vorn gerückt.

„Das nehme ich an.“ Angstvoll riss Sophie die Augen auf. „Er sagt, er ist Nora Sutherlins Verlobter.“

3. KAPITEL

DER SPRINGER

Das konnte nicht wirklich geschehen sein, oder? Wie konnte das nur passieren? Die Fragen rasten durch Wesleys Gehirn wie verschreckte Hengste, die alle anderen Fragen und Gedanken niedertrampelten. Seit dem Telefonat mit Søren fühlte er sich wie ein Roboter. Alles, was er noch denken konnte, war: Warum?

Am Vortag war er auf dem Boden seines Stalls erwacht. Blut an der Schläfe, Störgeräusche im Hirn, nirgendwo Nora. Er hatte Søren angerufen, ihn über Noras Verschwinden und die mit Blut geschriebenen Worte an der Stallwand informiert – Ich bringe die Schlampe um. Wesley hatte ein paar Sachen in sein Auto geworfen und eine vage Nachricht für seine Eltern hinterlassen, er würde mit Nora Freunde besuchen. Dann war er nach Norden gefahren. Zu fliegen wagte er nicht. Er durfte es nicht riskieren, vier Stunden lang unerreichbar zu sein. Wenn für Nora Lösegeld verlangt wurde? Jeden Penny, den er besaß, würde er bezahlen und den Rest der geforderten Summe stehlen, um sie freizukaufen.

Auf der Fahrt von Kentucky nach New York hielt er nur an, wenn er tanken oder Pillen gegen die höllischen Kopfschmerzen schlucken musste. Sicher litt er an einer Gehirnerschütterung, doch das war jetzt die geringste seiner Sorgen. Nur eins zählte. Nora musste befreit werden. Um jeden Preis.

Auch das gehörte dazu: dieses Haus aufzusuchen, das er nie betreten hatte, aber schon jetzt hasste. Mindestens ein Dutzend Mal hatte Nora erklärt, Kingsley – mochte sie ihn lieben oder hassen – sei der Mann, an den sie sich wenden würde, wenn sie ein Problem nicht selber lösen könne: Ich vertraue ihm aus gutem Grund, Wes. Sogar Søren geht bei einem Shitstorm zu Kingsley … Und wenn ich in Schwierigkeiten gerate, ist es meistens ein richtiger Shitstorm!

Damals hatte Wesley eigentlich entschieden, er würde Kingsley – der für ihn einfach nur Noras Zuhälter war – nie persönlich begegnen. Dauernd rief der Mann sie auf diesem verdammten roten Telefon an, schickte Nora in alle möglichen gefährlichen Situationen und trieb Wesley damit an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.

Aber die jetzige Situation war die Mutter aller Shitstorms. Nur Noras wegen würde er Kingsley um Hilfe anflehen.

Während er wartete, wanderte er hin und her. Wenn in fünf Sekunden nichts passierte, würde er Kingsley selber aufspüren. Kingsley Edge. Wer zum Geier war der Kerl eigentlich? Wesley sah sich in dem Zimmer nach irgendwelchen Anhaltspunkten um. Doch er entdeckte nur einen gut ausgestatteten Musiksalon mit einem großen Klavier und antiken Möbeln in verschiedenen Schwarz- und Weißtönen. Kein Hinweis auf die Person, die das Haus bewohnte, nur dass sie einen erlesenen Geschmack hatte und eine Menge Geld.

Nora redete kaum über Kingsley. Nur einmal hatte sie zu viel getrunken, ein paar Geheimnisse ausgeplaudert und das am nächsten Tag wahrscheinlich schon wieder vergessen. Ansonsten wusste Wesley nur, dass der Mann Franzose war, schätzungsweise wesentlich älter als Nora. Wäre er attraktiv, würde sie nettere Dinge über ihn sagen, statt ihr Gift zu versprühen. Oft genug nannte sie ihn „Frosch“ oder „verdammter Frosch“. So oft, dass Wesley sich tatsächlich einen Frosch mit einer Baskenmütze vorstellte, und er hoffte, dies wäre eine realistische Vision.

„Also besucht mich der künftige Mr Nora Sutherlin“, ertönte eine Stimme mit unverkennbar französischem Akzent hinter ihm.

Wesley drehte sich um. Wo ein Frosch stehen müsste, sah er einen Prinzen mit schulterlangem dunklen Haar und olivenfarbenem Teint, in Reitstiefeln und Gehrock, über alle Maßen gutaussehend. Gab es in Noras Leben keine hässlichen Männer?

„Nach meiner Ansicht klingt Nora Railey besser.“ Kerzengerade richtete er sich auf und hielt Kingsleys Blick stand.

„Ich werde meine Assistentin beauftragen, die Einladungen drucken zu lassen.“ Mit langsamen Schritten betrat Kingsley das Zimmer. „Hoffentlich finden wir die Braut, bevor der große Tag anbricht.“

„Was wissen Sie über Nora?“ Viel zu schnell pochte Wesleys Puls.

„Von wem sie entführt wurde. Leider nicht, wohin man sie brachte.“

„Weiß Søren irgendwas?“

„Mehr als wir beide zusammen. Bedauerlicherweise hat auch er keine Ahnung, wo sie steckt.“

„Aber Sie kennen den Entführer?“

„Oui.“

Als Kingsley sich abwandte und den Raum verlassen wollte, rannte Wesley ihm nach und packte ihn am Kragen. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde er gegen eine Wand gedrückt, und Kingsleys Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.

„An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so benehmen, junger Mann.“ Gnadenlos hielt Kingsley ihn fest. „Früher habe ich Leute getötet, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und ich bin niemals offiziell in den Ruhestand getreten.“

„Damit jagen Sie mir keine Angst ein.“ Wesley hoffte, sein wild klopfendes Herz würde ihn nicht verraten. Wenn Kingsley auch wie eine Gestalt auf dem Titel eines historischen Liebesromans gekleidet war – in den Augen des Franzosen glitzerte eine ernsthafte Gefahr. Für diesen Mann arbeitete Nora? Redete sie ihn mit Frosch an? Dann war sie tapferer, als Wesley es ihr zugetraut hatte.

„In natura sind sie attraktiver als auf den Fotos“, meinte Kingsley. Aufmerksam musterte er Wesleys Gesicht. „Was sie in Ihnen sieht, verstehe ich aber noch immer nicht. Es sei denn, sie hat mich belogen, als sie behauptete, sie wolle keine Kinder haben.“

„Ich bin kein Kind.“

„Auch kein ganzer Mann. Keine Bange, in diesem Haus werden Sie sehr schnell erwachsen. Peut-être …“ Kingsley rückte noch etwas näher und starrte eindringlich in Wesleys Augen. „Sie sieht etwas in Ihnen … und ich sehe es ebenfalls.“

„Und das wäre?“ Erfolglos versuchte Wesley sich zu befreien.

„Alles, was sie nicht sieht, wenn sie in den Spiegel schaut.“

Nun ließ Kingsley ihn los, und Wesley wurde schwindelig. Mühsam kämpfte er dagegen an, atmete tief ein und schaffte es, sein Gleichgewicht zu wahren. „Ich will Søren sehen. Sofort.“

Kingsley rückte seinen Gehrock zurecht und glättete seine Weste. „Beantworten Sie zuerst zwei Fragen. Dann dürfen Sie ihn sehen.“

„Wie auch immer. Gut. Was wollen Sie wissen?“

„Frage eins: Sind Sie wirklich mit ihr verlobt?“

Wesley kniff die Augen zusammen und starrte den Franzosen an, der abwartend mit der Spitze eines seiner albernen Stiefel auf den Boden klopfte. „Ja. Wir ritten aus, und ich machte ihr einen Heiratsantrag. Bei unserer Rückkehr in den Stall sagte sie Ja.“

Kingsley strich sich über seine Unterlippe, ehe er zwei Finger hob. „Zweite Frage. Haben Sie wirklich vor Ihrer schweren Kopfverletzung um Noras Hand angehalten?“

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, was für ein Arschloch Sie sind?“ Wesley trat wieder näher zu ihm, diesmal etwas vorsichtiger. Denn er wusste, wenn Kingsley ihn noch einmal an die Wand presste, würde er seinen Mageninhalt von sich geben.

„Oui“, bestätigte Kingsley. „Aber nur einmal. Ich sorgte damals dafür, dass es nie wieder passiert. Wollen Sie den Priester sehen? Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Priester.“

Er stieg die Treppe hinauf, und Wesley blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Während sie um eine Ecke bogen und den ersten Stock ansteuerten, sah er Kingsley zusammenzucken. Eine Verletzung? Wurde er ebenfalls angegriffen? „Sind Sie okay?“ Kurzfristig wurde der Abscheu von seinen edleren Instinkten verdrängt.

„Um ehrlich zu sein, es ging mir schon einmal besser.“

„Wurden Sie auch attackiert?“

„Eine Attacke würde ich es nicht nennen?“

„Was denn sonst?“

„Eine der erfreulicheren Nächte meines Lebens.“ Mehr sagte Kingsley nicht, als er einen Flur entlangging. „Ich fürchte, le prêtre wird Ihnen nicht viel nützen.“

„Das ist mir egal, ich muss mit ihm reden.“

„Wenn Sie darauf bestehen …“ Kingsley öffnete eine Tür am Ende des Flurs auf der rechten Seite, und Wesleys Augen weiteten sich. Am Fußende des größten roten Betts, das er je gesehen hatte, saß Søren auf dem Boden, den blonden Kopf und die Lider gesenkt. „Reden Sie mit ihm. Aber vielleicht wird er nicht antworten.“

„Was zum Teufel …“

„Er hat gedroht, die Polizei zu informieren“, erklärte Kingsley in sachlichem Ton. „Die Polizei, die Kirche, die Stadt, den Staat, die Bundesbehörden. Das konnte ich nicht zulassen. Zu seinem Wohl.“

„Und so haben Sie …“

„ … ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und seine Hände gefesselt. Nach dieser Injektion wird er frühesten in einer Stunde zu sich kommen.“

„Also haben Sie Søren mit einer Droge sediert?“

„Für solche Notfälle besitze ich einen gut bestückten Arzneischrank.“

„Sind Sie verrückt?“

Kingsleys nonchalantes Achselzucken wirkte typisch französisch. „Ist eine Revanche etwa unfair? Nun wurde er mal gefesselt.“

Fassungslos starrte Wesley die reglose Gestalt am Boden an. Sogar bewusstlos strahlte Søren in der schwarzen Robe mit dem weißen Kragen eine gewisse Macht aus. Bei dem einzigen Gespräch, das sie je geführt hatten, war der Geistliche weltlich gekleidet gewesen. „Er ist ein Priester.“ Das hatte er immer gewusst, aber erst jetzt, als er ihn im vollen Ornat sah, begriff er es wirklich.

„O ja. Wahrscheinlich der beste von Amerika oder auf der ganzen Welt. Und wenn er ein Priester bleiben und seinen Schatz zurückhaben will, sollten wir die Behörden da raushalten. Nur bis zu einem gewissen Grad kann ich seine Geheimisse hüten. Später wird er mir dafür danken.“ Kingsley schloss die Tür und wandte sich zum anderen Ende des Flurs.

„Hören Sie, wir müssen die Polizei verständigen! Was mit Søren oder mir passiert, ist mir egal. Aber wir vergeuden unsere Zeit – wir wissen nicht einmal, wo sie ist.“

„Wenn einem das Auto gestohlen wird, ruft man die Polizei. In wichtigen Angelegenheiten nicht. Wer Ihre Verlobte gefangen hält, weiß ich. Vertrauen Sie mir, wenn Sie auf das Leben Ihrer Liebsten Wert legen. Sollten Sie die Polizei hinzuziehen, unterschreiben Sie Noras Todesurteil.“

Obwohl er dem Mann nicht glauben wollte, erkannte er intuitiv, dass es sich hier nicht um eine simple Entführung mit einer Lösegeldforderung handelte.

„Die Frau, in deren Gewalt Ihre Verlobte sich befindet, würde vor einem Mord nicht zurückschrecken. So etwas hat sie schon mal getan. Und sie will sterben, eine gefährliche Kombination. Wenn wir Alarm schlagen, besiegeln wir Noras Tod.“

„Wieso wissen Sie, dass diese Person sterben will?“

„Weil, mon petit prince, sie mir ziemlich heftig auf die Eier geht – ein eindeutiger Hinweis auf ihre Todessehnsucht.“

Diese derbe Formulierung beunruhigte Wesley zusätzlich. „Also wird sie Nora umbringen?“, flüsterte er. „Dieser Satz an der Stallwand …“ Bei der Erinnerung an seine Furcht angesichts der französischen Worte, deren Sinn er noch gar nicht verstanden hatte, krampfte sich sein Herz zusammen. „Søren hat ihn mir übersetzt … Ich bringe die Schlampe um.“

„Um Sie zu beruhigen – die Schlampe ist nicht Ihre Nora. Ich überlasse es dem Priester, Ihnen die Geschichte zu erzählen.“

„O nein, Sie haben ihn außer Gefecht gesetzt – also werden Sie mir alles verraten“, verlangte Wesley. Kingsley mochte stark und gefährlich sein, aber wegen seiner Schmerzen auch verwundbar.

Bevor Kingsley wieder die Achseln zuckte, seufzte er tief auf. „Diese Worte – Ich bringe die Schlampe um – wurden vor dreißig Jahren von der Frau geäußert, die der Priester mit achtzehn geheiratet hatte. Von meiner Schwester Marie-Laure.“

„Vor dreißig Jahren … Søren war mit Ihrer Schwester verheiratet?“

„Ja, eine Vernunftehe. So sollte es aussehen, und er versicherte ihr, so würde es sein. Aber sie wollte mehr, als er ihr zu geben vermochte.“

„Liebte sie ihn?“

„Oui, oder was immer ihr Herz erfüllt, das man Liebe nennen konnte. Es war eher Besessenheit. Als sie von seiner Liebe zu jemand anderem erfuhr, sprach sie jene Drohung aus. Um sie zu verwirklichen, wartete sie dreißig Jahre – aus welchem Grund auch immer.“

„Damals war Nora vier Jahre alt. Mit fünfzehn hat sie Søren kennengelernt, was schon schlimm genug ist. Eine Vierjährige kann unmöglich die andere Frau gewesen sein.“

„Exactement. Deshalb sage ich ja, Sie können einen gewissen Trost aus der Drohung schöpfen. Und deshalb weiß ich auch, dass sie lebt und in Sicherheit ist. Vorerst. Le prêtre liebte damals jemand anderen.“

„Wen? Vielleicht sollten wir mit der Person reden.“

Kingsley drehte sich auf einem Stiefelabsatz herum und vollführte eine melodramatische Verbeugung. „Das tun Sie bereits, mon ami. Zu Ihren Diensten – die Schlampe.“

4. KAPITEL

DER TURM

Sobald Grace Easton das Hotel erreicht hatte, beschloss sie, nur eine Nacht hierzubleiben. Welchen Sinn hatte das schöne Zimmer mit Meerblick, wenn Zachary es nicht mit ihr teilte? Sie starrte durch das Fenster zum Strand hinab und sah zwei Vögel am Wasserrand tanzen. Ein Paarungsritual? Oder ein Kampf? Oder beides? Nora würde sagen, beides, nicht wahr? Lächelnd nahm sie das Handy aus ihrer Handtasche und wählte Noras Nummer. Als sich die Voicemail meldete, hinterließ sie eine Nachricht.

„Nora, hier ist Grace. Zachary muss jemanden bei einer Konferenz in Australien vertreten. Nun mache ich ganz allein Urlaub in Rhode Island. Überleg mal, ob du in die Stadt kommen willst. Ich würde mich gerne mal wieder mit dir anlegen.“

Zweifellos würde eine solche Info Noras Interesse erregen. Die Frau hatte ihr mit allen möglichen skandalösen Späßen gedroht, falls Grace sich jemals wieder auf das bewusste Terrain wagen würde. Und Nora hatte versprochen, sie würde ihr Søren vorstellen, falls Grace der Herausforderung gewachsen wäre. Hoffentlich würde Nora an diesem Abend zurückrufen, damit Grace neue Pläne schmieden konnte. Nichts war deprimierender, als allein eine Flitterwochensuite in einem New England Bed and Breakfast zu bewohnen. Warum war sie überhaupt hierhergekommen, wenn nicht aus Gewohnheit? Fast in jedem Ehejahr hatte sie mit Zachary hier Urlaub gemacht. Nur um diese Zeit konnte er seinen besten Studienfreund Jason wiedersehen, der vor zehn Jahren hierhergezogen war. Aber jetzt saß Zachary bei einer Konferenz fest, Jason und seine Frau hatten das Treffen wegen eines familiären Notfalls abgesagt, und Grace war allein in Amerika. Was mochte besser sein als ein paar kleine Reibereien mit der einzigartigen Nora Sutherlin? Vielleicht – nur vielleicht war sie sogar Noras wegen ohne Zachary hierhergeflogen. Grace liebte Herausforderungen.

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