Raue Hände auf weicher Haut - Tiffany Reisz - E-Book

Raue Hände auf weicher Haut E-Book

Tiffany Reisz

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Beschreibung

"Was du brauchst, ist guter Sex!" Da kann Joey ihrer Freundin nur zustimmen. Nach einer Enttäuschung hat sie den bitter nötig. Aber woher nehmen, jetzt, wo sie in einer einsamen Blockhütte urlauben will? Bloß ist die Hütte bereits besetzt. Von einem breitschultrigen Traummann …

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Seitenzahl: 180

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IMPRESSUM

Raue Hände auf weicher Haut erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2016 by Tiffany Reisz Originaltitel: „Her Halloween Treat“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY EXTRA HOT & SEXYBand 69 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Ulrike Pesold

Umschlagsmotive: Kiuikson / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733739485

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Sie gab ihren Eltern die Schuld daran. Die hatten sie schließlich Jolene genannt. Wer nannte seine Tochter nach der berüchtigtsten Frau der Countrymusic? Sobald sie erfahren hatte, nach wem sie benannt worden war, wurde aus Jolene Joey – für immer. Und trotzdem hatte Joey vor zwei Tagen die hässlichste Wahrheit ihres Lebens erfahren: Sie hatte mit einem verheirateten Mann geschlafen.

Zwei Jahre lang.

Joey seufzte.

„Jo?“

„Entschuldige“, sagte Joey.

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.“ Kira drückte ihr Knie. „Wir sind gleich am Flughafen. Willst du irgendwo anhalten?“

Joey schüttelte den Kopf. „Fahr weiter. Je schneller ich aus L. A. wegkomme, desto besser. Danke, dass du mich abgeholt hast.“

„Ich kann Ben auch umbringen. Ich bringe Ben gerne für dich um. Ich würde es sogar tun, wenn du nicht willst, dass ich es tue.“

Als Joey lachte, fühlte es sich seltsam an, und sie begriff, dass sie zum ersten Mal seit über sechsunddreißig Stunden gelacht hatte.

„Wäre Mord nicht etwas übertrieben?“, fragte Joey.

„Übertrieben? Der Dreckskerl hat in Honolulu mit dir geschlafen und in L. A. mit seiner Frau und zwei Jahre lang weder dir von ihr noch ihr von dir erzählt. Das ist passiert, richtig?“

„Ja.“

„Dann ist es kein Mord. Es ist Notwehr. Und widersprich mir nicht, wenn ich recht habe.“

Joey widersprach nicht. Kira hatte ja auch recht. Zwei Jahre lang war Ben Joeys Freund gewesen. Sie hatten zusammengearbeitet. Miteinander geschlafen. Sie hatte ihm geglaubt, als er ihr erzählt hatte, wie sehr er es hasste, in L. A. zu leben. Dass er seine Zeit mit ihr auf Hawaii schätzte. Er würde ganz dorthin ziehen, wenn er könnte, aber die Arbeit ließ es nicht zu. Alles Lügen. Lügen, die sie geglaubt hatte. Darum war sie nach L. A. geflogen, um ihn zu überraschen. Und das war ihr auch gelungen. Sie hatte an seine Tür geklopft, und seine Frau hatte aufgemacht. Eine Überraschung für sie alle.

„Also … Mord?“, fragte Kira.

„Nein. Jedenfalls noch nicht.“ Sie musste erst über Ben hinwegkommen. Ihn zu hassen war leicht. Ihn nicht zu lieben war schwieriger.

„Darf ich wenigstens seine Eier abschneiden?“ Kira grinste teuflisch.

Joey schluckte schwer und nickte. „Okay“, erwiderte sie. „Aber nur die Eier.“

Kira setzte sie am Terminal ab und half ihr mit ihren Taschen. Joey lehnte ihren Kopf an Kiras Schulter.

„Ich wollte ihn heiraten“, erklärte Joey.

„Ich weiß.“ Kira tätschelte ihr den Rücken.

„Ich hätte es wissen müssen. Ich meine, zwei Jahre, ohne dass er mich nach L. A. eingeladen hat?“

„Es ist nicht deine Schuld.“

„Was soll ich nur tun?“ Joey sah zu Kira auf. Mit ihr zusammen hatte sie im Büro von Oahu Air in Honolulu gearbeitet, bevor Kira nach Kalifornien versetzt worden war. Sie waren gute Freundinnen geworden und waren es noch immer, auch wenn ein halber Ozean zwischen ihnen lag.

„Du machst Folgendes: Du fährst heim nach Oregon, hast Spaß auf der Hochzeit deines Bruders und schläfst mit dem ersten scharfen Kerl, den du siehst, nachdem das Flugzeug gelandet ist. Keine Schuldgefühle. Keine Reue. Es geht nicht um Liebe. Es geht darum, dass du dich um dich kümmerst. Sexuell. Das würde Ben wütend machen, richtig? Wenn du gleich mit einem anderen ins Bett steigst?“

„Genauso wütend, wie wenn ich sein Haus niederbrennen würde.“

„Dann tu es, und hab Spaß.“

„Ich will nicht. Das Letzte, woran ich momentan denken will, ist, mit jemandem auszugehen.“

„Schön langsam, Jo. Niemand hat etwas von miteinander ausgehen gesagt. Es geht um Sex. Als zweifach geschiedene Frau sage ich dir, dass du sechs Monate lang niemanden daten darfst. Sex ist okay. Mit jemandem ausgehen bringt Ärger. Und kauf auch kein Auto, kein Haus und keine Luxus-Handtaschen. Aber Sex, ja.“ Kira deutete mit ihrem manikürten Finger auf Joeys Nase. „Hab verrückten, heißen, total bedeutungslosen Sex, bis dir wieder einfällt, was für eine Göttin du bist, und bis du Bens Namen vergessen hast, weil du zu beschäftigt damit bist, den eines anderen zu schreien.“

„Du bist eine gute Freundin. Danke, dass du mich auf Abwege führst.“

„Dafür sind Freunde da.“

Joey wollte nicht allein sein, aber sie konnte den Abschied nicht länger herauszögern.

„Nochmal danke. Ich schreibe dir eine Nachricht, wenn ich gelandet bin.“

„Tu das. Und auch, wenn du einen Typen findest.“

Joey grinste. „Mach ich. Ich finde einen neuen Kerl.“

„Ich weiß. Aber vergiss nicht – es ist Oregon. Holzfäller- und Hipstergebiet.“ Kira deutete zwischen ihre Schenkel. „Also Vorsicht: Bartstoppel reizen die Haut. Ich spreche aus Erfahrung.“

Joey stieg in den Flieger – zum Glück war es ein Nonstop-Flug, also würde sie in weniger als zwei Stunden in Portland landen. Unangenehmerweise war sie während des Fluges ganz ihren Gedanken ausgeliefert. Ohne das Internet oder eine andere Ablenkung musste Joey über all die Anzeichen dafür nachdenken, die hätten erahnen lassen, dass sie zwei Jahre lang in einen verheirateten Mann verliebt gewesen war, die sie aber nicht bemerkt hatte.

Ben war ihr wie der ideale Partner vorgekommen. Er war immer aufmerksam gewesen. Wenn er an ihrem Geburtstag nicht in Honolulu hatte sein können, hatte er ihr in der darauffolgenden Woche dafür den Himmel auf Erden bereitet: zwei Nächte in einem Fünf-Sterne-Hotel. Zimmerservice. Und Sex, die ganze Nacht lang. Aber auch wenn Joey sich gerne revanchiert hätte, er hatte es nicht zugelassen. Sie hatte ihn besuchen, sich sogar nach Kalifornien versetzen lassen wollen. Er wollte nichts davon hören. Sie war seine „Zuflucht“. Er konnte sich Hawaii nicht ohne sie vorstellen, hatte er gesagt. Eines Tages würde er CEO seiner Firma werden und mit ihr in Honolulu leben. Sie müsste nur noch ein paar Jahre warten, dann könnten sie sich niederlassen.

Noch ein paar Jahre warten? Ja, sie musste noch ein paar Jahre warten, bis er das Geld oder den Mut hatte, um seine Frau zu verlassen. Falls er das überhaupt je vorgehabt hatte.

Sie würde niemals die Szenen des schicksalhaften Samstagmorgen vergessen: Sie war am Flughafen in ein Taxi gestiegen. Natürlich kannte sie seine Adresse, die auf seinem kalifornischen Führerschein vermerkt war. Sie hatte gehofft, dass er zuhause war. War er auch. So wie seine Frau Shannon. Die hatte Joey die Tür geöffnet, verwirrt gelächelt und gesagt: „Ja? Kann ich helfen?“ Joey – ähnlich verwirrt – hatte geantwortet: „Ich suche meinen Freund. Ist Ben da?“

In diesem Moment war Ben in den Flur getreten. Er war ein gutaussehender Mann, etwa eins achtzig groß, mit dunklem Haar und dunklen Augen.

Jede Hoffnung, es handle sich doch um ein Missverständnis, verschwand, als Ben den Mund aufmachte. „Was, zum Teufel, machst du hier?“ Unverhohlene Wut sprach aus ihm. Nie zuvor hatte er sie so angesehen oder so mit ihr gesprochen. Er hatte sich immer gefreut, sie zu sehen. Und dass er sich in diesem Moment nicht freute, sie zu sehen, lag daran, dass die Frau neben ihm keine gut angezogene Putzfrau war, sondern seine Ehefrau. Und die hatte einen ebenso schlechten Tag wie Bens Freundin.

„Überraschung“, war das Einzige, das Joey einfiel. Shannon sagte ganz andere Dinge, die Joey noch hörte, als sie zum Taxi zurückging, das auf sie gewartete hatte für den Fall, dass Ben nicht zuhause war. Als das Taxi losgefahren war, hatte Joey sich umgedreht und gesehen, dass Ben ihr nachlief. Sie konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten – es war keine Wut, aber auch kein Bedauern. Es war ihr egal, warum er ihr hinterherlief. Sie war wie betäubt vor Schock und Schmerz. Sie fühlte nichts und würde niemals wieder etwas fühlen. Wenn sie nie wieder liebte, würde sie nie wieder verletzt werden – und wäre das nicht schön?

Am Flughafen in Portland holte sie ihr Gepäck und den Mietwagen ab. Es war schön, normale Dinge zu tun. Das Leben ging weiter. Autos mussten gemietet werden. Brüder heirateten. Die Welt ging nicht unter, nur weil ein Mann gelogen hatte.

Die Fahrt vom Flughafen zu der alten Hütte ihrer Familie in der Nähe von Lost Lake bei Mount Hood dauerte ungefähr zwei Stunden. Im Umkreis von zwei Meilen gab es nichts außer dem Berg, Millionen von Bäumen und tiefhängenden Wolken. Joey hatte die Wälder Oregons sehr vermisst. Dieser Duft – es gab nichts Vergleichbares.

Schließlich bog sie in den gewundenen Kiesweg ein, der zum alten Blockhaus ihrer Eltern führte. Ihr Handy vibrierte in ihrer Hosentasche, und sie zog es vorsichtig hervor.

„Hast du schon jemanden gefunden, mit dem du vögeln kannst?“, wollte Kira wissen.

„Nein, in den vier Stunden, seitdem ich mich von dir verabschiedet habe, habe ich nicht auf magische Weise jemanden getroffen und am Flughafen mit ihm gevögelt. Und wahrscheinlich werde ich in den nächsten vier Stunden auch niemanden treffen. Oder in den nächsten vier Tagen oder den nächsten zwei Wochen. Du weißt, dass sich hauptsächlich Rentner in Lost Lake zur Ruhe setzen? Rentner und Sommergäste. Die einzigen Leute die hier leben, sind die, die am See arbeiten, und das sind etwa … zwanzig Leute.“

„Zwanzig? Etwa die Hälfte von ihnen müssen Kerle sein. Deine Chancen stehen gut!“

„Von wegen.“

„Warum übernachtest du überhaupt da draußen?“

„Das Blockhaus ist unbewohnt. Mom und Dad schenken es Dillon zur Hochzeit.“

„Nettes Geschenk. Und was bekommst du, wenn du heiratest?“, fragte Kira.

„Sie zahlen für meine Hochzeit und meine Flitterwochen. Das ist ein besserer Deal als die Blockhütte.“

„Warum?“

„Sie war ziemlich heruntergekommen, als ich klein war“, erklärte Joey. „Und jetzt ist sie ein einziges Dreckloch. Soweit ich weiß, war seit zehn Jahren niemand dort. Dillon hat geschworen, er hätte jemanden gefunden, der es in Ordnung gebracht hat, aber er steckt bis über beide Ohren in den Hochzeitsvorbereitungen. Aber egal. Solange ich nicht mit einem Waschbären das Bett teilen muss, ist es okay.“

„Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst, dann komme ich und bleibe ein paar Tage bei dir. Ich meine – in einem Hotel, aber in deiner Nähe. Ich habe noch ein paar Urlaubstage für Notfälle. Beste Freundin schläft unabsichtlich zwei Jahre lang mit einem verheirateten Mann – das fällt unter Notfall.“

„Danke, ich weiß es zu schätzen. Aber alles gut. Ich muss Schluss machen. Ich bin am Haus.“

„Wie schlimm ist es? Gibt es Schlangen? Sag’s mir nicht.“

Joey konnte direkt hören, wie Kira zusammenzuckte. Ihre Vorstellung von „einfachem Leben“ war ein Vier-Sterne-Hotel. Joey parkte das Auto und freute sich, dass das Äußere des Hauses in besserem Zustand war als in ihrer Erinnerung. Viel besser.

„Sieht gut aus. Sie haben es gestrichen. Sehr hübsch“, meinte Joey, als sie aus dem Auto ausstieg. „Und jemand hat es mit Kürbislaternen geschmückt? Warte …“, sagte sie.

„Was?“

„Da ist noch mehr.“ Joey hob die Fußmatte, zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Sie hatte eine minimalistische Blockhütte erwartet. „Wow“, flüsterte sie. „Dillon muss beschlossen haben, nach der Hochzeit hier mit Oscar zu leben. Obwohl er gesagt hat, dass Oscar die Natur hasst.“

„Vielleicht hat er seine Meinung geändert?“

„Vielleicht … aber trotzdem: Es ist umwerfend. Ich will gar nicht wissen, was das gekostet hat.“ Sie drehte sich langsam im Wohnzimmer im Kreis. All die alten Möbel waren weg, und stattdessen gab es einen antiken Couchtisch, ein großes Ledersofa und einen Schaukelstuhl mit einer dunkelroten Strickdecke. Jemand hatte die Böden auf Hochglanz poliert. Der kleine Holzofen war durch einen großen Steinkamin ersetzt worden. Und die Küche hatte einen neu gefliesten Boden und Teppiche, und vor der frisch in Rot gestrichenen Wand standen neue Haushaltsgeräte – nur die Grundausstattung, aber alles in guter Qualität. Unter der Spüle fand Joey einen Mülleimer mit der Verpackung des Toasters darin. So neu war alles.

„Ich frage mich, ob sie das Blockhaus renoviert haben, um es zu verkaufen. Aber es ist nett von ihnen, es herzurichten, bevor ich hier ein paar Tage wohne.“

„Sehr nett.“

„Vermutlich ihre Art, es wiedergutzumachen, dass mein Bruder seine Hochzeit auf meinen Geburtstag gelegt hat.“

„Deine Schuld, dass du an Halloween geboren bist. Der Tag ist perfekt für eine Hochzeit in Portland.“

„Dillon und Oscar lieben es, sich zu verkleiden. Filme der Achtziger sind das Motto. Ich muss mir noch ein Kostüm überlegen. Vielleicht gehe ich als Carrie.“

„Du gehst als Massenmörderin zur Hochzeit deines Bruders?“

„Passt zu meiner Stimmung.“

Allerdings verbesserte die sich gerade ein wenig. Wie auch nicht, in dieser wunderbaren Blockhütte im Wald? Alles, was fehlte, war ein Mann, mit dem sie sie teilen konnte. Sie und Ben hätten tollen Sex hier gehabt. Sie wären jetzt bereits im Bett. Aber so war es nicht. Nie wieder. Ben hatte etwas Unverzeihliches getan. Er hatte seine Frau belogen. Er hatte Joey angelogen. Er hatte ihr Vertrauen auf schlimmste Weise missbraucht. Joey würde ihn nicht zurücknehmen, ganz gleich, wie einsam sie sich ohne ihn fühlte.

„Dieses Blockhaus ist wie gemacht für Sex, Kira.“

„Klingt so.“

„Und ich kann keinen Sex haben. Das ist deprimierend.“

„Das ist nicht wahr – such dir jemanden, mit dem du Sex haben kannst! Sofort.“

„Ich bin mitten im Wald. Die nächste Blockhütte ist eine halbe Meile westlich von hier.“

„Dann lauf los.“

Die Decke über Joey knarrte, weil jemand darüberging.

An ihr selbst konnte es nicht liegen; Joey hatte sich nicht bewegt.

„Mist“, flüsterte sie ins Telefon.

„Was?“

Joey sah zur Decke.

„Jemand ist hier. Bleib dran.“

„Ja, natürlich. Bist du sicher?“

„Ich habe oben Schritte gehört.“

„Dann verschwinde aus dem Haus.“

Joey ging rückwärts zur Tür. Ihr Herz raste. Oben hörte sie weiterhin die Schritte. Sie waren schnell und zielgerichtet, nicht zögerlich, aber auch nicht bedrohlich.

„Hey? Bist du noch dran?“, flüsterte Kira erneut.

„Ja klar. – Hallo!?“

„Ja, ich bin auch doch da.“

„Nicht du … Ich habe mit dem geredet, der da oben ist. Ich glaube, er arbeitet hier.“

„Hallo“, ertönte eine Stimme vom Treppenabsatz. Eine männliche Stimme. Eine tiefe, aber freundliche Stimme. „Joey Silvia?“

„Das bin ich. Und Sie?“

„Ich bin’s, Chris. Ich bin gleich mit dem Deckenventilator hier fertig“, rief der Mann zu ihr hinunter.

„Hat er dich schon umgebracht?“, wollte Kira wissen.

„Noch nicht. Er sagt, er heißt Chris und macht etwas mit dem Deckenventilator.“

„Ist er sexy?“

„Soll ich schreiend davonlaufen oder Sex mit ihm haben?“, flüsterte Joey.

„Hängt davon ab, ob er sexy ist oder nicht. Sieh nach.“

„Okay … Ich gehe hoch. Wenn mein Handy ausgeht und/oder du mich schreien hörst, leg auf, und ruf die Cops.“

„Was ist, wenn er dich nicht umbringt, sondern du schreist, weil der Sex so gut ist? Rufe ich dann auch die Cops?“

„Ich schreie nicht im Bett.“

„Beim richtigen Kerl wirst du es tun.“

„Ich gehe rauf und schaue, was er macht.“ Aus dem Küchenfenster heraus sah sie einen grünen Pick-up mit der Aufschrift Lost Lake Bauunternehmen. Okay, also kein Axtmörder. Nur der Kerl, bei dem sie sich bedanken sollte, weil er so gute Arbeit geleistet hatte.

„Ich bleibe dran“, versprach Kira. „Wenn du glaubst, dass er dich umbringen will, sagst du … ähm … ‚Ich telefoniere mit meiner Freundin Kira. Sie ist Polizistin.‘ Und wenn er sexy ist und du ihn vögeln willst, sag einfach ‚Schönes Wetter heute, nicht wahr?‘“

„Wir haben neun Grad, und es regnet.“

„Sag es einfach! Und jetzt sieh ihn dir an. Und versuch, nicht umgebracht zu werden.“

Joey schlich die Treppe hinauf, die nicht mehr so knarrte wie früher. So wie es aussah, hatte jemand die alten Stufen durch welche aus Pinienholz ersetzt.

„Bist du noch dran?“, fragte Joey, als sie oben ankam.

„Ja“, erwiderte Kira. „Du lebst noch?“

„Noch.“

Oben befanden sich zwei Schlafzimmer, dazwischen ein Bad. Auch hier war alles neu: neue Armaturen aus gebürstetem Kupfer, eine neue Badewanne statt der alten schmuddeligen. Irgendwie hatte es dieser Bauunternehmer geschafft, das Blockhaus gleichzeitig alt und echt und trotzdem brandneu aussehen zu lassen.

„Hallo?“, rief sie.

„Ich bin hier, im großen Schlafzimmer“, antwortete die männliche Stimme.

Joey ging den Gang entlang zu einer halb geöffneten Tür.

„Ich gehe rein“, wisperte Joey, das Handy noch immer am Ohr.

Sie öffnete vorsichtig die Tür … trat ein … sah auf …

Auf einer Trittleiter stand ein Mann, der viel jünger war, als sie erwartet hatte. In ihrer Vorstellung waren alle Bauunternehmer über vierzig, aber dieser sah nicht älter aus als Ende zwanzig. Er hatte aschblondes, gut geschnittenes Haar und einen gepflegten Bart. Er sah nach oben und konzentrierte sich auf die elektrischen Leitungen über seinem Kopf. Er trug Jeans und ein Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, darunter ein enganliegendes weißes T-Shirt.

„Hey, Joey“, sagte er grinsend. „Schön, dich wiederzusehen. Hat Hawaii dir gutgetan?“

Er drehte den Kopf in ihre Richtung und grinste. Sie kannte dieses Grinsen.

„Chris?“ Dieser Chris war Chris?

„Wer ist Chris? Du kennst den Kerl?“, flüsterte Kira in ihr Ohr.

Sie kannte ihn.

Chris Steffensen. Dillons bester Freund auf der Highschool. Der dünne, langhaarige Junge, der für Nirvana geschwärmt hatte, als es bereits ein Jahrzehnt lang out gewesen war, Nirvana-Fan zu sein … Das hier war Chris? Der Chris, dem sie nicht zugetraut hätte, eine Glühbirne einzuschrauben – und nun installierte er einen Deckenventilator?

„Hast du das ganze Haus renoviert!?“, fragte sie, seine Frage unhöflicherweise ignorierend.

„Ja. Ich arbeite in letzter Zeit öfter für Dillon und Oscar. Lange Geschichte. Gefällt es dir?“ Er grinste wieder, ein jungenhaftes Grinsen.

Verdammt, er sah gut aus. Seit wann sah er so gut aus? Und er war größer als in ihrer Erinnerung. Größer und breiter.

Joey hoffte, dass Kira das Handy noch am Ohr hatte.

„Schönes Wetter heute, nicht wahr?“

2. KAPITEL

Chris sah sie stirnrunzelnd an.

„War ein Witz“, sagte sie. „Ich weiß, es ist schlechtes Wetter.“

„Es ist Oregon-Wetter. Sollen wir uns jetzt verlegen umarmen?“

„Oh Gott, ja.“

Im Handy, das Joey in der Hand hatte, meinte Kira lachend: „Ich lege auf.“ Joey steckte das Handy in ihre Jackentasche.

Chris sprang von der Leiter, und Joey nahm ihn in die Arme. Er hatte „verlegen“ gesagt, und das passte, aber irgendwie auch nicht. Zunächst fühlte er sich gut an – warm und fest und stark. Und zweitens roch er gut, nach Schweiß und Zedern. Und schließlich war es nur Chris, auch wenn sie ihn seit beinahe zehn Jahren nicht gesehen hatte.

„Schön, dich zu sehen“, sagte er leise. Es klang ehrlich und war das absolute Gegenteil von Bens „Was, zum Teufel, machst hier?“.

„Ja, auch schön, dich zu sehen.“ Sie trat eine Schritt zurück und löste sich von ihm, bevor sie eine Dummheit beging und in Tränen ausbrach.

„Du bist einen Tag zu früh. Dillon hat dich für morgen angekündigt.“

„Ich habe meinen Flug umgebucht. Ist das ein Problem?“

„Überhaupt nicht. Ich wollte dann nur schon weg sein. Aber ich bin beinahe fertig. Das große Schlafzimmer war das letzte. Jetzt noch den Deckenventilator, dann streichen.“

„Keine Eile. Bleib, solange du willst. Auch die ganze Nacht.“ Sie zuckte zusammen. Warum hatte sie das gesagt? „Also, wie geht es dir?“, lenkte sie ab.

„Gut.“ Er klang ein wenig misstrauisch. Sie nahm es ihm nicht übel. Sie benahm sich wirklich seltsam. Aber das war eindeutig den Enthüllungen der letzten Tage zu verdanken – da hatte man allen Grund, verrückt zu werden.

„Und dir? Wie ist Hawaii? Du siehst übrigens fantastisch aus“, meinte Chris.

„Ich bin ganz nass.“

Chris hob eine Braue.

„Nass vom Regen“, fügte sie hastig hinzu.

„Richtig. Regen. Hawaii ist dir gut bekommen.“

Es war lieb von ihm, das zu sagen, aber Joey wusste, dass sie schrecklich aussah. Ihr Haar klebte ihr an der Stirn. Vorhin im Auto hatte sie noch geweint, und so ähnelten ihre Augen denen eines Waschbären. Ihr brauner Teint, den sie von ihrem mexikanisch-amerikanischen Vater geerbt hatte, kaschierte ganz gut, wie kaputt sie sich fühlte. Aber wenn sie gewusst hätte, dass Chris hier war und sie so umhaute, hätte sie sich mehr Mühe gegeben.

„Aber du siehst auch fantastisch aus. Ich habe dich kaum wiedererkannt mit dem kurzen Haar und dem Bart. Wann ist das passiert?“

„Das kurze Haar? Ähm, vor acht Jahren. Da musste ich mich der realen Welt stellen. Der Bart? Letzten November. Üble Trennung. Sie hat mich für einen Trail Blazer verlassen. Ich habe aufgehört, mich zu rasieren. Alle meinten, der Bart stünde mir, also habe ich ihn behalten.“

„Für einen Trail Blazer? Die Basketballer oder das Auto? Wenn sie dich für ein Auto verlassen hat, wäre das echt schräg.“

„Nein, für einen Basketballer. Offensichtlich hatte sie etwas für große Männer übrig.“

„Du bist groß. Du bist riesig.“

Er zog die Braue noch ein Stück höher.

„Ich mache ständig sexuelle Anspielungen, ohne es zu wollen“, meinte sie. „Sorry … Ich hatte sehr wenig Schlaf. Ich bin nicht dafür verantwortlich, was mein Mund macht.“

Noch höher konnte er die Augenbraue nicht ziehen.