Mit aller Gewalt - Tom Clancy - E-Book

Mit aller Gewalt E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Eine nordkoreanische Interkontinentalrakete stürzt ins Japanische Meer. In Ho-Chi-Minh-Stadt wird ein CIA-Offizier ermordet, und ein Paket mit gefälschten Dokumenten verschwindet. Die Puzzleteile liegen offen da, sie zusammenzusetzen beansprucht aber kostbare Zeit. Zeit, die Jack Ryan junior und seine Agentenkollegen vom Campus nicht haben. Alle Spuren führen nach Nordkorea, wo ein junger, unerfahrener Diktator ein großes Nuklearprogramm umsetzen will. Bisher fehlten dem Land die finanziellen Mittel. Jetzt ist man auf Bodenschätze gestoßen, die auf dem Weltmarkt viel einbrächten. Präsident Jack Ryan muss das verhindern – mit aller Gewalt.

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TOM

CLANCY

UND

MARK GREANEY

MIT ALLER GEWALT

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Michael Bayer,

Karlheinz Dürr, Henning Dedekind

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Full Force and Effectbei G.P. Putnam’s Sons, New York.
Redaktion: Werner WahlsCopyright © 2014 by The Estate of Thomas L. Clancy, jr.; Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.; Jack Ryan Limited PartnershipCopyright © 2016 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-20080-0V005
www.heyne.de

 

Das Buch

Eine nordkoreanische Interkontinentalrakete stürzt ins Japanische Meer. In Ho-Chi-Minh-Stadt wird ein CIA-Offizier ermordet, und ein Paket mit gefälschten Dokumenten verschwindet. Die Puzzleteile liegen offen da, sie zusammenzusetzen beansprucht aber kostbare Zeit. Zeit, die Jack Ryan junior und seine Agentenkollegen vom Campus nicht haben. Alle Spuren führen nach Nordkorea, wo ein junger, unerfahrener Diktator ein großes Nuklearprogramm umsetzen will. Bisher fehlten dem Land die finanziellen Mittel. Jetzt ist man auf Bodenschätze gestoßen, die auf dem Weltmarkt viel einbrächten. Präsident Jack Ryan muss das verhindern – mit aller Gewalt.

Nicht selten wurden Tom Clancys gedankliche Planspiele zu Prophezeiungen, die zeitnah von der Realität eingeholt wurden.

Die Autoren

Tom Clancy, der Meister des Technothrillers, stand seit seinem Erstling Jagd auf Roter Oktober mit allen seinen Romanen an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Er starb im Oktober 2013.

Mark Greaney hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften studiert. Als Koautor von Tom Clancy hat er zu Recherchezwecken mehr als 15 Länder bereist und an Militär- und Polizeiübungen teilgenommen.

Mit aller Gewalt ist der achtzehnte Band aus dem »Jack-Ryan/John-Clark-Universum«. Tom Clancys Werke erscheinen bei Heyne, zuletzt Der Campus.

 

 

Hauptpersonen

Regierung der Vereinigten Staaten

JOHN PATRICK »JACK« RYAN: Präsident der Vereinigten Staaten

SCOTT ADLER: Außenminister

MARY PATRICIA FOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste

JAY CANFIELD: Direktor der Central Intelligence Agency (CIA)

BRIAN CALHOUN: Direktor des National Clandestine Service der Central Intelligence Agency

ROBERT BURGESS: Verteidigungsminister

ARNOLD VAN DAMM: Stabschef des Präsidenten

HORATIO STYLES: US-Botschafter in Mexiko

ANDREA PRICE O’DAY: Spezialagentin, US Secret Service

DALE HERBERS: Spezialagent, US Secret Service

COLONEL MIKE PETERS: Regionaldirektor, National Geospatial-Intelligence Agency (Nationale Agentur für geografische Aufklärung)

ANNETTE BRAWLEY: Bildaufklärungsspezialistin, National Geospatial-Intelligence Agency

DARYL RICKS: Chief Petty Officer (E-7), Naval Special Warfare (Marinekommando für Spezielle Kriegführung), SEAL Team 5, Echo Platoon, NSW Group One

Der Campus/Hendley Associates

GERRY HENDLEY: Direktor von Hendley Associates und Campus

JOHN CLARK: Operationsleiter

DOMINGO »DING« CHAVEZ: Leitender Außenagent

DOMINIC »DOM« CARUSO: Außenagent

SAM DRISCOLL: Außenagent

JACK RYAN JR.: Außenagent

GAVIN BIERY: Leiter der Abteilung für Informationstechnologie

ADARA SHERMAN: Logistik- und Transportleiterin

Die Nordkoreaner

CHOI JI-HOON: Dae Wonsu (Großmarschall) und Oberster Führer der Demokratischen Volksrepublik Korea

RI TAE-JIN: Generalleutnant der Koreanischen Volksarmee und Befehlshaber des Reconnaissance General Bureau RGB (Generalbüro für Aufklärung), des nordkoreanischen Auslandsgeheimdienstes

HWANG MIN-HO: Direktor der Korea Natural Resources Trading Corporation, der nordkoreanischen staatlichen Bergwerksgesellschaft

Weitere Personen

WAYNE »DUKE« SHARPS: ehemaliger FBI-Agent, Präsident der Firma Sharps Global Intelligence Partners

EDWARD RILEY: ehemaliger MI6-Stationschef, Mitarbeiter von Sharps Global Intelligence Partners

VERONIKA MARTEL (alias ÉLISE LEGRANDE): ehemalige französische Geheimagentin, Mitarbeiterin von Sharps Global Intelligence Partners

COLIN HAZELTON: ehemaliger CIA-Führungsoffizier, Mitarbeiter von Sharps Global Intelligence Partners

DR. HELEN POWERS: Australische Geologin

ÓSCAR ROBLAS DE MOTA: Mexikanischer Milliardär und Präsident von New World Metals LLC

MARLENI ALLENDE: Chilenische Rechtsberaterin des Sanktionsausschusses des UN-Sicherheitsrats

SANTIAGO MALDONADO: Chef des Maldonado-Kartells

EMILIO: Mitglied des Maldonado-Kartells

ADEL ZARIF: Iranischer Bombenbauer

CATHY RYAN: First Lady der Vereinigten Staaten

 

 

 

 

 

 

Prolog

John Clark war vollkommen egal, was die anderen sagten – für ihn war das immer noch Saigon.

Natürlich kannte er dessen Geschichte. Vor vierzig Jahren kamen die Kommunisten aus dem Norden und übernahmen die Stadt. Zu Ehren ihres verstorbenen Führers änderten sie ihren Namen in Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Sieger bestimmten eben über die Beute. Sie richteten Kollaborateure hin und warfen »unzuverlässige Kräfte« ins Gefängnis. Vor allem veränderten sie die Politik, die Kultur und den Lebensstil all jener, die hier lebten.

Die Stadt selbst sah zwar jetzt etwas anders aus, aber für John fühlte sie sich immer noch gleich an. Die drückende Abendhitze und die Mischung aus Abgasgestank und der Luft, die aus dem nahen Dschungel herüberwehte, die Geruchswolken aus Räucherstäbchen, Zigarettenrauch und scharfem gebratenem Fleisch, das Stimmengewirr und die Straßenlampen, die in der zunehmenden Dämmerung angingen. Vor allem das Gefühl einer drohenden Gefahr, die noch nicht zu sehen war, jedoch wie eine heranrückende Armee allmählich Gestalt annahm.

Sie konnten diese Stadt ruhig nach seinem geschworenen Feind von damals nennen, sie konnten sie nennen, wie immer sie wollten, aber für den sechsundsechzigjährigen Mann, der in dem Straßencafé im 8. Bezirk saß, änderte das überhaupt nichts.

Dies war immer noch das verdammte Saigon.

Clark hatte die Beine übereinandergeschlagen, sein Kragen stand offen, und seine hellbraune Tropenjacke lag auf dem Stuhl neben ihm. Der zeitlupenlangsame Palmen-Ventilator über ihm rührte nämlich einfach nur die schwüle Luft um. Links und rechts huschten jüngere Männer und Frauen vorbei. Entweder waren sie zu den Tischen im hinteren Teil des Lokals unterwegs, oder sie traten auf den belebten Gehweg vor dem Café hinaus. Clark saß jedoch einfach nur regungslos da.

Das galt jedoch nicht für seine Augen, die ständig hin und her huschten, damit ihnen nichts auf der Straße entging.

Das Einzige, was seinen Erinnerungen an das alte Saigon zuwiderlief, war das Fehlen von uniformierten Amerikanern. Vor etwa vierzig Jahren war er in olivgrüner Uniform oder im Tarnanzug durch diese Straßen geschlendert. Selbst als er sich als Mitglied der CIA-Spezialeinsatztruppe für unkonventionelle Kriegführung MACV-SOG (Military Assistance Command, Vietnam – Studies and Observations Group) in diesem Land aufhielt, hatte er kaum einmal Zivilkleidung getragen. Er war ein Navy SEAL, es herrschte Krieg, und deshalb war der Kampfanzug für einen Amerikaner die angemessene Kleidung, selbst wenn er für die CIA Sondereinsätze durchführte.

Was außerdem fehlte, waren die Fahrräder. Damals wurden neunzig Prozent des Straßenverkehrs mit ihnen abgewickelt. Zwar gab es heute immer noch einige Räder, aber meistens rollten Motorräder, Roller und kleine Autos durch die Straßen, während sich auf den Gehsteigen ganze Fußgängermassen drängten.

Auf jeden Fall war weit und breit keine einzige Uniform zu sehen.

Im Lichtschein der Votivkerze auf seinem Bistrotisch nippte er an seinem grünen Tee. Eigentlich mochte er gar keinen Tee, aber in diesem Lokal gab es weder Bier noch Wein. Allerdings hatte er von hier eine großartige Sicht auf das Lion d’Or, ein großes französisches Kolonialrestaurant auf der anderen Seite der Huynh-Thi-Phung-Straße. Er löste die Augen von den Passanten, bemüht, nicht an die Tage zu denken, als jeder vierte von ihnen ein US-Soldat gewesen wäre, und blickte wieder zum Lion d’Or hinüber. Es fiel ihm nicht leicht, sich von der Vergangenheit zu lösen, doch schließlich schaffte er es, den Krieg aus seinen Gedanken zu verdrängen. An diesem Abend war es seine Aufgabe, den Mann zu beobachten, der in diesem Restaurant an einem Ecktisch nur etwas mehr als zwanzig Meter von Clarks Position entfernt allein vor seinem Drink saß.

Clarks Zielperson war ein kahlköpfiger, stämmiger Amerikaner, der ein paar Jahre jünger war als er. Clark hatte längst gemerkt, dass der Mann an diesem Abend anscheinend ein Problem hatte. Seine Kiefer hatte er zornig zusammengepresst, und seine Körperbewegungen waren unruhig und übertrieben wie bei einem Mann, der beinahe vor Wut platzte.

Clark konnte das durchaus nachempfinden, denn auch er war ziemlich schlecht gelaunt.

Er beobachtete sein Gegenüber noch einen Moment, schaute auf die Uhr und drückte auf den Knopf eines kleinen Funk-Controllers, den er in der linken Hand hielt. Er sprach in gedämpftem Ton, obwohl niemand in seiner Nähe saß. »Er sitzt jetzt mehr als eine Stunde dort drüben. Wer immer mit ihm verabredet ist, lässt ihn ganz schön warten.«

Drei Stockwerke höher und direkt hinter Clark lagen drei Männer auf dem Dach des kolonialzeitlichen Geschäftshauses auf dem Bauch und beobachteten die Straße direkt unter ihnen. Alle drei trugen gedeckte Farben und hatten einen schwarzen Rucksack umgeschnallt. Sie waren über ihre Ohrhörer mit Clark verbunden und fingen jetzt seinen Funkspruch auf.

Domingo »Ding« Chavez, der in der Mitte lag, richtete sein Nikon-Fernglas auf den Mann im Restaurant und stellte das Objektiv scharf. Dann drückte er auf seine eigene Sendetaste und gab ganz leise Antwort: »Unsere Zielperson schaut gar nicht glücklich aus. Sieht aus, als würde er gleich mit der Faust die Wand durchschlagen.«

Clark meldete sich von unten. »Wenn ich noch länger in dieser Hitze sitzen und diesen entsetzlichen Tee trinken muss, werde ich das auch tun.«

Chavez räusperte sich leicht unbehaglich und sagte: »Mm, hier oben ist es nicht ganz so schlimm. Soll vielleicht einer von uns übernehmen, dann kannst du hochkommen.«

Die Antwort erfolgte in Sekundenschnelle. »Negativ. Haltet die Stellung.«

»Verstanden.«

Sam Driscoll kicherte. Er lag nur etwa einen Meter links von Chavez, hatte ein Spektiv ans Auge gedrückt und hielt auf der Straße nördlich des Restaurants nach irgendwelchen verdächtigen Bewegungen Ausschau. »Jemand scheint ganz schön grantig zu sein«, sagte er zu seinen beiden Kameraden auf dem Dach, ohne auf die Sendetaste zu drücken.

Einige Meter rechts von Chavez lugte Jack Ryan jr. durch den Sucher seiner Kamera und beobachtete die Fußgänger auf dem Bürgersteig südlich ihres Beobachtungspunktes. Plötzlich erregte eine langbeinige Blondine seine Aufmerksamkeit, die aus einem Taxi stieg. Gleichzeitig fragte er: »Was ist mit Clark los? Normalerweise ist er doch der Letzte von uns, der sich beschwert, aber jetzt ist er schon den ganzen Tag so stinkig.«

Auf dem Dach lagen zwar nur die drei Amerikaner, aber Chavez hatte solche Missionen schon während des Großteils seines Erwachsenenlebens durchgeführt. Er wusste deswegen, dass seine Stimme ganz leicht durch den metallenen Einlass der Klimaanlage hinter ihm dringen könnte, deshalb antwortete er, als ob er sich im Lesesaal einer Bibliothek befände. »Mr. C hat hier ganz schön viel erlebt, das ist alles. Wahrscheinlich kommt das jetzt wieder hoch.«

»Stimmt«, sagte Ryan. »Er steckt wohl in Gedanken wieder direkt im Krieg.«

Ding lächelte in der Dunkelheit. »Teilweise. Sicher wird Clark im Café dort unten an den ganzen Scheiß denken, den er hier gesehen hat. Und an die Sachen, die er hier erledigen musste. Aber er denkt bestimmt auch daran, wie er hier als attraktiver fünfundzwanzigjähriger SEAL-Aufreißer die Gegend unsicher gemacht hat. Wahrscheinlich ist er erschrocken, als er gemerkt hat, wie sehr er sich diese heißen Zeiten zurückwünscht. Krieg hin oder her.«

»Für einen solch alten Kerl ist er allerdings immer noch ganz schön auf Draht«, erwiderte Ryan. »Da können wir uns wirklich glücklich schätzen.«

Driscoll rutschte etwas auf dem Bauch hin und her, um auf dem geteerten Mansarddach eine bequemere Stellung zu finden. Dabei drückte er jedoch das Auge weiterhin an die Optik seines Spektivs, das er jetzt auf den Mann am Tisch richtete. »Clark hat recht. Es sieht nicht so aus, als ob dieses Treffen noch stattfinden würde. Außerdem wird es langsam langweilig, diesem Typen in zehnfacher Vergrößerung dabei zuzusehen, wie er sich ins Koma säuft.«

Während sich Sam auf ihre Zielperson konzentrierte, folgte Ryan mit den Augen weiterhin der Blondine, die sich in nördliche Richtung durch die Menschenmassen auf der Huynh-Thi-Phung-Straße kämpfte. Schließlich stand sie an der Eingangstür des Lion d’Or. »Gute Neuigkeiten. Ich glaube, der Abend wird doch noch interessant.«

Chavez folgte Ryans Blick. »Wirklich? Wieso?«

Jack sah, wie die Frau vom Gehsteig abrupt ins Restaurant abbog und direkt auf den Tisch ihrer Zielperson zusteuerte. »Seine Rendezvous-Partnerin ist eingetroffen, und sie ist echt eine heiße Nummer.«

Chavez sah sie jetzt ebenfalls durch seinen Feldstecher. »Auf jeden Fall ist es besser, als einem weiteren Fettsack beim Gin-Trinken zusehen zu müssen.« Er drückte auf die Sendetaste. »John, wir haben ...«

Clarks Stimme übertönte jetzt die von Chavez. Da er über das Befehlsgerät ihres Funknetzes verfügte, konnte er sich über die anderen Funksprüche hinwegsetzen. »Ich sehe sie. Zu blöd, dass wir über keine Scheiß-Abhörvorrichtung verfügen.«

Die Männer auf dem Dach brachen in ein nervöses Lachen aus. Verdammt, Clark war heute Abend aber wirklich grantig.

 

 

1

Colin Hazelton schaute ostentativ auf seinem Handy nach der Zeit, als sich die Frau setzte. Sie war eine Stunde zu spät dran, und er wollte ihr auf diese Weise sein Missfallen kundtun.

Sie strich den Saum ihres Rocks glatt und schlug die Beine übereinander. Erst danach schaute sie zu ihm hoch. Sie blickte kurz ohne größere Reaktion auf sein Handy und nahm einen Schluck aus dem vor ihr stehenden angelaufenen Wasserglas.

Hazelton steckte sein Handy wieder in die Tasche und stürzte die Hälfte seines Gin Tonics hinunter. Er musste zugeben, dass sie genauso attraktiv war, wie man es ihm angekündigt hatte. Dabei war das aber auch praktisch alles gewesen, was ihm sein Einsatzleiter über seine heutige Kontaktperson erzählt hatte. Eine klassisch schöne Blondine mit einem Auftreten, das von Raffinesse und Selbstsicherheit zeugte.

Trotzdem war Hazelton viel zu angefressen, um sie wirklich würdigen zu können. Dabei war er nicht einmal nur auf sie, sondern ganz allgemein sauer und ganz gewiss nicht in der Stimmung, seiner heutigen Kontaktperson schöne Augen zu machen.

Dass sie ihn eine volle Stunde hatte warten lassen, machte sie ihm auch keinesfalls sympathischer.

Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, erschien der Kellner. Dies war eben ein feines Lokal und nicht so eine Spelunke oder Teekneipe, wie sie in diesem Teil der Huynh-Thi-Phung-Straße üblich war.

Die Frau bestellte in perfektem Französisch ein Glas Weißwein. Hazelton erkannte, dass es ihre Muttersprache war. Dies hatte ihm jedoch bereits sein Führungsoffizier neben seinen begeisterten Kommentaren über ihre schönen Mandelaugen und ihren schlanken, geschmeidigen Körper erzählt.

Er hielt sie für eine ehemalige französische Geheimagentin entweder vom Auslandsnachrichtendienst DGSE oder der Inlandsaufklärung DCRI. Sie könnte jedoch auch für die DST gearbeitet haben, die erst im Jahr 2008 zur DCRI wurde. Praktisch jeder, dem Hazelton im Rahmen seiner Arbeit begegnete, war ein früherer Geheimdienstler, deshalb war das auch nicht weiter bemerkenswert.

Sie stellte sich nicht vor, was ihn nicht überraschte. Er hatte jedoch einige bedauernde Bemerkungen über ihre Verspätung erwartet, auf die sie jedoch überhaupt nicht einging. Stattdessen eröffnete sie das Gespräch mit der Frage: »Haben Sie die Dokumente dabei?«

Hazelton gab ihr darauf keine direkte Antwort. »Was wissen Sie über die näheren Umstände dieser Operation?«

»Die näheren Umstände?«

»Zum Beispiel den Auftraggeber. Hat man Sie über den Auftraggeber aufgeklärt?«

Sie zeigte sich nun doch etwas verwirrt. »Warum sollten sie das tun? Der Kunde ist für meinen Auftrag hier völlig irrelevant.«

»Dann kläre ich Sie jetzt einmal auf. Der Auftraggeber ist ...«

Die Frau hielt ihre schmale Hand in die Höhe. Ihre Nägel waren perfekt manikürt, und die aufgetragene Lotion ließ die Haut glänzen. »Wenn man mich nicht darüber informiert, gehe ich davon aus, dass ich das nicht wissen sollte.« Sie sah Hazelton direkt ins Gesicht. »Sie scheinen mir kein Neuling in diesem Geschäft zu sein, dann verstehen Sie das sicher.« Trotz ihres ausgeprägten französischen Akzents war ihr Englisch makellos.

Er nahm einen weiteren großen Schluck aus seinem Gin-Glas. »Manchmal ist es besser, wenn man Bescheid weiß.«

»Das gilt vielleicht für Sie. Ich bin da anderer Meinung«, sagte sie in einem entschiedenen Ton und kehrte zu ihrer ersten Frage zurück. »Also ... haben Sie sie jetzt dabei oder nicht?«

Hazelton sprach langsam und leise und betonte dabei jedes Wort. Trotzdem war unverkennbar, dass der Alkohol, den er den ganzen Tag zuerst in der Lobbybar in seinem Hotel und jetzt hier zu sich genommen hatte, seine Zunge etwas schwer gemacht hatte. »Scheiß ... Nord ... Korea.«

Die Französin schwieg.

»Sie haben es gewusst, nicht wahr?«, sagte er.

Sie überging diese Frage. Stattdessen erwiderte sie: »Sie sind wirklich sehr emotional. Das überrascht mich. Ich weiß, dass man Ihnen diesen Auftrag in aller Eile übertragen hat. Jemand war krank geworden und deshalb nicht mehr einsatzfähig. Aus diesem Grund hat man Sie gerufen. New York hätte jedoch auf keinen Fall einen solch emotionalen Kurier herüberschicken dürfen.« Unter dem Tisch spürte Hazelton, wie die Spitze ihres hochhackigen Schuhs direkt neben seinem Knöchel an seinem Bein entlangstrich. Es hatte Zeiten in seinem Leben gegeben, wo ihn das erregt hätte, aber diese waren schon lange vorbei. Das hier war Arbeit. Er wusste, dass sie nur herausfinden wollte, ob er eine Aktentasche dabeihatte. Kurz darauf hörte er, wie ihr Zeh auf die Mappe neben seinem Bein klopfte.

»Bitte schieben Sie sie zu mir herüber«, sagte sie.

Der schwergewichtige Amerikaner saß einfach nur da, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte nach.

Er erwartete, auf ihrem Gesicht Anzeichen von Frustration zu entdecken, aber sie nahm diese Verzögerung seltsam unbeteiligt auf. Nach einigen Sekunden wiederholte sie in völlig gleichem Ton: »Bitte schieben Sie sie zu mir herüber.«

Er wusste immer noch nicht, wie er vorgehen würde. Würde er ihr die Papiere übergeben oder sie zerreißen und sie wie Fischfutter in einen Fluss werfen? Die Auswirkungen der beiden Handlungsmöglichkeiten lasteten bereits den ganzen Tag schwer auf ihm. Aber jetzt überkam ihn plötzlich ein Gefühl innerer Gelassenheit, und er hörte sich sagen: »Wissen Sie was? Ich habe diesen Job nicht übernommen, um den Laufburschen für einen Haufen mordgieriger Psychopathen zu spielen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es gibt auch noch andere Arbeitsstellen, wo man sich nicht derart erniedrigen muss.«

»Ich verstehe nicht«, sagte die Frau. Dabei schaute sie wie zufällig auf die Straße hinaus. Sie sah gelangweilt aus, aber Hazelton wusste, dass sie einfach nach Beschattern Ausschau hielt.

Hazelton wedelte mit dem Arm wütend durch die Luft. »Zum Teufel mit der ganzen Sache. Ich bin draußen.«

Die Frau zeigte dagegen keinerlei Emotionen. »Wie meinen Sie das – draußen?«

»Ich werde Ihnen diese Dokumente einfach nicht aushändigen.«

Sie seufzte ganz leise. »Geht es um Geld? Dann müssten Sie nämlich mit New York reden. Ich habe keinerlei Vollmacht ...«

»Es geht nicht um Geld. Es geht um Gut und Böse. Das ergibt für Sie überhaupt keinen Sinn, oder?«

»Mein Job hat weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun.«

Hazelton schaute die Frau voller Verachtung an. Seine Entscheidung stand fest. »Reden Sie sich das ruhig ein, wenn Sie das brauchen, aber diese Dokumente hier bekommen Sie nicht.« Er trat so laut gegen seine Aktentasche, dass sie das hörte.

Die Frau nickte. Ihre Miene war ganz ruhig. Ihr Gleichmut kam Hazelton äußerst seltsam vor. Er hatte eigentlich eine wütende Auseinandersetzung erwartet. Schließlich sagte sie: »Das verkompliziert die ganze Sache. New York wird nicht begeistert sein.«

»Ich scheiß auf New York.«

»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich mich Ihrem Moralkreuzzug anschließe.«

»Püppchen, mir ist völlig egal, was Sie tun.«

»Dann ist es Ihnen auch egal, wenn ich jetzt hier rausgehe und jemand anrufe?«

Hazelton dachte kurz nach, während die Mühen seiner Arbeit und Reise auf seinem Gesicht zu sehen waren. »Rufen Sie ihn ruhig an.«

»Er wird jemand schicken, der Ihnen diese Aktentasche abnimmt.«

Hazelton lächelte jetzt. »Das kann er ruhig versuchen. Aber wie Sie gesagt haben, bin ich nicht ganz neu in diesem Geschäft. Ich habe noch ein paar Tricks in petto.«

»Ihretwillen hoffe ich, dass das stimmt.« Die Französin stand auf und verließ das Lokal. Dabei ging sie an dem lächelnden Kellner vorbei, der gerade auf einem Silbertablett den Wein an ihren Tisch bringen wollte.

Jack Ryan jr. beobachtete das Ganze vom Dach auf der anderen Seite der Straße aus durch seine Kamera. Natürlich konnte er die Unterredung nicht hören, aber er legte die Körpersprache der beiden ganz richtig aus.

»Wenn das ein Blind Date war, hat sie wohl kaum großen Eindruck gemacht.«

Ding und Sam kicherten, hielten jedoch weiterhin die Stellung. Sie sahen zu, wie die große Frau ein Handy aus der Tasche holte, ein kurzes Telefongespräch führte und sich danach in nördlicher Richtung auf den Weg machte.

Driscoll drückte auf die Sendetaste seines Funkgeräts. »Clark? Bleiben wir bei Hazelton, oder soll einer von uns der Frau folgen?«

Clark antwortete sofort. »Sie wollte den Inhalt dieser Aktentasche haben, deshalb ist diese Mappe jetzt Teil unserer Mission. Trotzdem ... Ich möchte mehr über sie wissen. Einer von euch geht mit dieser Blondine mit. Die anderen bleiben, wo sie sind, und beobachten weiter.«

Jack und Sam nahmen die Augen von ihrer Optik und schauten Chavez an, der zwischen ihnen auf dem Dach lag. Dieser sagte: »Ich bleibe hier. Ihr Jungs macht das unter euch aus.«

Jetzt blickte Jack auf Sam, der sein Auge langsam wieder an sein Spektiv hielt, um ihre Zielperson zu beobachten. »Geh nur.«

Jack lächelte bis über beide Ohren. Er war jetzt das hellste Licht auf dem ganzen Dach. »Ich schulde dir was, Sam.«

Er stand auf und huschte durch die Dunkelheit blitzschnell zur Feuerleiter hinüber und steckte dabei seine Kamera in den Rucksack.

Derweil sahen Sam und Ding zu, wie Colin Hazelton den Rest seines Gin Tonics runterkippte und dann dem Kellner das Zeichen gab, ihm noch einen zu bringen.

»Warum hängt er immer noch dort rum? Hat er noch ein weiteres beschissenes Date?«, fragte Sam rhetorisch. Im Erdgeschoss dachte Clark gerade das Gleiche. Seine raue Stimme war voller Frust und Ärger. »Sieht so aus, als ob wir auch noch eine vierte Runde Gin Tonics aussitzen müssten.«

Als der Drink kam, ließ Hazelton ihn direkt vor sich auf den Tisch stellen. Danach wechselte er mit dem Kellner einige Worte. Die drei amerikanischen Beobachter auf der anderen Seite der Straße nahmen an, dass er nach dem Weg zur Toilette fragte, da der Kellner auf den rückwärtigen Teil des Lokals deutete. Hazelton stand auf, ließ seinen Drink, sein Sakko und seine Aktenmappe zurück und machte sich in den hinteren Teil des Restaurants auf.

Einen Augenblick lang blieben alle drei Ohrhörer ruhig. Dann fragte Ding: »John? Ist da nicht was faul?«

Clark verstand, was sein Stellvertreter meinte. Anstatt jedoch zu offenbaren, was er selbst davon hielt, reichte er die Frage an Driscoll weiter. »Sam? Was siehst du?«

Driscoll musterte durch sein Spektiv den leeren Tisch, das Sakko, das über Hazeltons Stuhllehne hing, und die Aktenmappe auf dem zweiten Stuhl. Er ließ den Blick über die anderen Tische des Restaurants und die betuchten Gäste wandern, die an ihnen saßen oder sich durch das Lokal bewegten. Einen Moment später nahm er wieder die Aktentasche in den Blick und sagte: »Wenn etwas in dieser Mappe so wichtig war, dass er sich weigerte, es seiner Kontaktperson auszuhändigen, warum sollte er sie jetzt unbeaufsichtigt neben seinem Tisch stehen lassen, während er mal kurz pinkeln geht?«

»Das würde er auf keinen Fall tun«, erwiderte Clark.

»Dann ist diese Aktentasche eine Attrappe.«

»Genau.«

»Was bedeutet ...« Nach kurzem Nachdenken zog Driscoll den Schluss: »Hazelton kommt nicht zurück. Er vermutet irgendwelche Beschatter vor dem Restaurant, deshalb schlüpft er jetzt aus einem Hinterausgang.«

Ding bestätigte dies mit der Aussage: »Der alte Zechprellertrick.«

»Bingo«, stimmte Clark zu. »Ich gehe durch das Restaurant und dann durch diese Hintertür. Dort ist zwar eine Nord-Süd-Gasse, aber sein Hotel liegt hinter uns. Ihr beiden bleibt auf eurem Beobachtungsposten und haltet die Kreuzungen im Norden und Süden im Auge. Wenn er sich nicht durch die Luft beamen kann, spüren wir ihn bestimmt wieder auf.«

In der Teestube ließ Clark ein paar zerknüllte Dong-Scheine auf dem Tisch liegen, um das Getränk zu bezahlen, das ihm beinahe den Magen umgedreht hätte. Er packte seine Jacke, um sich zum Lion d’Or jenseits der Straße aufzumachen.

Als er gerade die Straße überqueren wollte, sah er etwas, das ihn sofort haltmachen ließ. Er trat auf den Gehsteig zurück und schaute sich in alle Richtungen um.

Danach sprach er leise in sein Funkgerät: »Ryan. Halte deine gegenwärtige Position.«

Jack Ryan jr. ging gerade die Dao Cam Moc hinauf, aber auf Clarks Befehl blieb er sofort stehen. »Bin auf Position«, erwiderte er. Er trat auf ein geschlossenes Elektronikgeschäft zu und tat so, als würde er dessen Auslagen im Schaufenster betrachten.

»Wo genau bist du?«, fragte Clark.

Jack schaute auf einen Plan dieses Stadtbezirks auf seinem Handy hinunter. Winzige farbige Punkte zeigten die Position der vier Männer ihres Teams oder vielmehr die Position der GPS-Tracker an, die jeder von ihnen unter einer Gürtelschlaufe im Kreuz trug. Clarks grüner Punkt war zwei Blocks südöstlich zu sehen. Offensichtlich hielt er sich immer noch vor dieser Teestube auf.

»Ich bin zwei Blocks nordwestlich von deiner Position«, sagte Ryan.

In seinem Ohrhörer war jetzt Clarks Stimme zu hören. »Ich sehe gerade vier Unbekannte, die sich auf Motorrädern von den entgegengesetzten Enden der Straße nähern. Sie sehen wie ein Team aus.«

Einen Augenblick später meldete sich Chavez, der mit seiner Kamera und seinem Feldstecher immer noch auf dem Dach lag. »Schwarze Ducatis?«

»Genau«, bestätigte Clark. »Sie kommen aus verschiedenen Richtungen und tragen unterschiedliche Kleidung, aber anscheinend fahren sie die gleichen Motorräder und haben identische Helme auf. Das ist bestimmt kein Zufall.«

Ding pickte sich alle vier Motorräder aus dem lebhaften Verkehr unter ihm heraus. Er brauchte einige Sekunden, da sie noch weit voneinander entfernt waren. »Gutes Auge, John.«

 

»Das ist nicht mein erster Aufenthalt in dieser Stadt. Ich weiß, wenn etwas hier nicht ganz koscher aussieht. Jack, ich möchte, dass du von deiner gegenwärtigen Position in Richtung Norden weitergehst. Wenn er dieser Gasse durch den ganzen Bezirk folgt, kannst du vor ihm auf der Pham The Hien ankommen, allerdings nur, wenn du in den Laufschritt wechselst. Halte nach diesen Motorradfahrern Ausschau. Lass dich von ihnen nicht dabei erwischen, wie du unsere Zielperson beobachtest.«

Ryan tat immer noch so, als ob er die teuren Kameras in diesem Schaufenster betrachten würde. Zum ersten Mal bei diesem Einsatz fing sein Herz heftig zu schlagen an. Der bisher so langweilige Abend wurde plötzlich richtig aufregend.

Er begann zu rennen. »Ich laufe jetzt los. Ich bewege mich parallel zu diesen Motorradfahrern und werde den Ausgang dieser Gasse erreichen, bevor Hazelton dort ankommt.«

»Sam und Ding, schließt möglichst schnell zu Ryan auf«, sagte Clark.

»Wir sind schon unterwegs«, sagte Chavez. »Wir brauchen eine Minute, um vom Dach herunterzukommen, dadurch sind wir in etwa drei Minuten bei dir, Jack. Lass es etwas langsamer angehen, bis wir dich erreichen.«

Colin Hazelton trat auf die Seitengasse hinter dem Restaurant hinaus und schlenderte sie, Hände in den Hosentaschen, nach Norden hinunter.

Er war sich wohl bewusst, dass er gerade eine äußerst kostspielige Entscheidung getroffen hatte. Kostspielig, weil er für seine Arbeit der letzten vier Tage nicht bezahlt werden würde, aber auch, weil er deswegen seinen Job verlieren würde. Dazu kam noch, dass er ein Dreihundert-Dollar-Sakko und eine Vierhundert-Dollar-Aktenmappe im Restaurant zurückgelassen hatte.

Dies waren schlechte Nachrichten für einen Mann am Ende seines Berufslebens, der sechzigtausend Dollar Schulden hatte und außer dem Spionagehandwerk kaum irgendwelche beruflichen Fähigkeiten besaß.

Trotzdem verspürte Hazelton zum ersten Mal an diesem Tag ein Gefühl des Friedens. Ihm fiel sogar ein, dass er wenigstens seine Zeche über fünfzig Dollar in diesem Lokal nicht bezahlt hatte, die er also von seiner Verlustrechnung abziehen konnte.

Ihm gelang sogar ein leichtes Lächeln.

Aber das hielt nicht lange an. Er dachte an die Ereignisse, die ihn hier in diese schwach erleuchtete Gasse und zu seiner Entscheidung geführt hatten, und seine Stimmung wurde beinahe so düster wie seine Umgebung.

Vor einem Jahr hatte er im Büro des Direktors der Firma Sharps Global Intelligence Partners in der Upper West Side von Manhattan ein Vorstellungsgespräch über einen Job in der »privaten Aufklärungsbranche« geführt. Wayne »Duke« Sharps hatte dem ehemaligen CIA-Agenten klargemacht, dass seine Arbeit bei Sharps Partners ungefährlich, unauffällig und unpolitisch sein würde, dass Hazelton allerdings mit der Tatsache klarkommen müsse, dass er nicht mehr für die Vereinigten Staaten, sondern für seinen neuen Brötchengeber arbeiten würde.

Hazelton bestand jedoch darauf, dass er nie etwas gegen Amerika unternehmen würde. Sharps beruhigte ihn: »Wir tun nie etwas, das gegen die US-Interessen verstößt.« Er lachte bei diesem Gedanken. »Wir hier bei SGIP sind keine Teufel, wir sind nur keine Engel.«

Das klang für Colin Hazelton akzeptabel. Nach seiner Karriere als Air-Force-Pilot hatte er für die CIA gearbeitet. Er war ein durch und durch patriotischer Amerikaner, aber die Zeiten verlangten eben einige Kompromisse. Er hatte in Entwicklungsländern, meist in Nordafrika, eine Reihe von spekulativen Investitionen getätigt, die alle während der unerwarteten Vorkommnisse des Arabischen Frühlings gescheitert waren.

Hazelton brauchte diesen Job, deshalb nahm er ihn an.

Sharps’ Versprechen, dass es sich um eine unpolitische Firmenaufklärungstätigkeit handeln würde, stellte sich als richtig heraus. Im ganzen vergangenen Jahr hatte er keinerlei Bedenken gegen seine Einsätze und seine Kunden.

Bis zu dieser Woche.

Am Montag hatte ihn sein Arbeitgeber überraschend nach Prag geschickt. Dort sollte er sich mit einem Regierungsbeamten treffen und Reisedokumente für fünf Personen erhalten. Daran war wirklich nichts Aufregendes. Als Operationsbeauftragter bei der CIA hatte er Alias-Pässe für Hunderte von Agenten in der ganzen Welt besorgt. Auch bei seiner Arbeit für Sharps war das nichts Ungewöhnliches. So hatte er etwa geholfen, hoch qualifizierte Fachleute, die keine US-Arbeitsvisa bekommen hatten, in die Staaten einzuschleusen. Er hielt dies für eine gute Sache. Dabei unterlief er die amerikanische Bürokratie, ohne Amerika selbst zu schaden.

Normalerweise gehörte es zu seinem Job, diese Dokumente zu überprüfen. Allerdings nicht dieses Mal. Als man sie ihm in Prag übergab, steckten sie in einem versiegelten Laminierbeutel. Er hatte den Auftrag, ihn einer Kontaktperson in Ho-Chi-Minh-Stadt zu übergeben und danach nach New York zurückzukehren.

Er nahm an, dass die fünf Dokumentensätze für tschechisches Fachpersonal bestimmt waren, die über Vietnam in ein anderes Land einreisen wollten. Dies konnten jedoch nicht die Vereinigten Staaten sein, denn dann hätten sie von Prag aus sicher einen anderen Weg genommen. Hazelton vermutete, dass die Reisenden in Japan, Singapur oder vielleicht sogar Australien arbeiten wollten.

So seltsam es war, dass er die Dokumente nicht sehen durfte, ließ er es doch dabei bewenden.

Das galt jedoch nur bis zu dem Flug aus Prag am Abend zuvor. Eineinhalb Stunden vor der Landung gönnte sich der korpulente Amerikaner noch einen weiteren Gin Tonic und begann, den Inhalt seines Rollkoffers und seiner Aktenmappe zu sichten und zu ordnen. Der Laminierbeutel mit den Dokumenten steckte unter der Stoffauskleidung seines Koffers. Als er jedoch ein Paar Schuhe bewegte, um Platz für sein Jackett zu schaffen, bemerkte er zu seinem Schrecken in dieser Auskleidung einen kleinen Riss. Er benutzte diesen Koffer bereits seit den späten Achtzigerjahren, kein Wunder, dass das Geheimfach erste Verschleißerscheinungen zeigte. Er versuchte es irgendwie zu kitten, aber das machte das Ganze nur noch schlimmer. Das war ein Anfängerfehler für einen Spion, und Hazelton war kein Anfänger, aber er hatte getrunken, und das hatte sich zusammen mit Murphys Gesetz gegen ihn verschworen.

Als er auf seinem Erster-Klasse-Sitz an die Zollkontrolle in Vietnam dachte, brach ihm der Schweiß aus. Wenn sie seinen Rollkoffer inspizierten, würden sie das Versteck finden. Er konnte sich jedoch an keine einzige Einreise nach Vietnam erinnern, wo man ihn selbst durchsucht hatte. Wenn er also die Dokumente aus dem Geheimfach herausholen und einfach in den Geldgürtel stecken würde, den er um den Bauch trug, wäre alles in Ordnung.

Dafür musste er sie jedoch erst einmal aus dem großen rechteckigen Laminatbeutel holen.

Hazelton trug die Dokumentenpackung in die Toilette, setzte sich auf die Klobrille und riss den Beutel mit den Zähnen auf. In seinem Inneren fand er fünf Plastikbeutel, die jeweils einen Reisepass, einen Führerschein, einige Kreditkarten und einen zusammengefalteten Brief enthielten. Obwohl ihm bewusst war, dass er das auf keinen Fall tun sollte, begann er die Dokumente durchzuschauen.

Eine Stewardess klopfte an die Toilettentür und forderte ihn auf, zu seinem Sitz zurückzukehren, da der Pilot einige Turbulenzen erwartete.

Aber Hazelton ignorierte sie. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt jetzt diesen Dokumenten. Er war nicht überrascht, schwarze Diplomatenpässe zu finden. Sie waren keine Fälschungen, sondern echt, obwohl er vermutete, dass sie irgendwie verändert worden waren. Er schaute sich die Fotos an. Es handelte sich um vier männliche und eine weibliche Weiße.

Ob sie tatsächlich Tschechen waren, konnte er anhand der Fotos nicht genau sagen, aber woher sie kamen, war nicht das Problem. Das Problem war, wohin sie gingen. Die jeweils beiliegenden Briefe waren Reisegenehmigungen der tschechischen Regierung, die es dem Diplomaten mit dem entsprechenden Pass gestatteten, nach Nordkorea zu reisen, um in der dortigen tschechischen Botschaft zu arbeiten.

Nordkorea? Hazelton hatte im vergangenen Jahr Firmenaufklärung für Siemens, Microsoft, Land Rover und Maersk erledigt.

Und jetzt arbeite ich für eines der brutalsten Unterdrückungsregime der Welt?

Als er auf der Toilette saß und seine Schultern aufgrund der Turbulenzen abwechselnd auf die linke und die rechte Wand knallten, war er sich ziemlich sicher, dass diese Personen Nuklearwissenschaftler waren, die nach Nordkorea eingeschleust werden sollten. Was sollten sie auch sonst sein? Die DVRK hatte bereits früher versucht, Nuklearexperten anzuwerben. Außerdem gab es dort keine größere Industrie außer dem Bergbau, der jedoch fast gänzlich von den chinesischen Partnern kontrolliert und betrieben wurde. Er konnte sich zwar nicht sicher sein, ob sie wirklich Nuklearfachleute waren, aber er konnte ganz sicher ausschließen, dass es sich um chinesische Bergbauexperten handelte.

Außerdem wusste er, dass dies keine Operation Sharps’ gegen die Nordkoreaner war. Duke Sharps dachte gar nicht daran, sich aus irgendwelchen noblen Beweggründen mit einem despotischen Regime anzulegen. Ihm ging es nur ums Geld, und das war ganz bestimmt mit der Beschaffung von Fachleuten für Nordkorea zu verdienen. Es musste also einfach darum gehen.

Er schloss die Augen und lehnte sich gegen die Flugzeugwand, wobei er immer noch auf der Toilette saß. »Verdammte Scheiße«, flüsterte er vor sich hin.

Die Tatsache, dass Duke Sharps zwielichtige Gestalten in das verschlossene Reich Nordkorea einschmuggelte, machte Hazelton wütend, dass er dabei jedoch mithalf, ließ ihn erschaudern.

Hazelton gelangte mit den umgeschnallten Dokumenten unbehelligt durch die vietnamesische Einreisekontrolle. Als er eine Stunde später in seinem Hotel ankam, war sein ganzer Körper von den salzigen Überbleibseln des getrockneten Schweißes bedeckt. Er verbrachte den ganzen Nachmittag in der Lobbybar. Dabei dachte er über das Geld und seinen Job und die Notwendigkeit, seine finanziellen Probleme zu lösen, nach. Er hegte immer noch die Hoffnung, dass er zu der Zeit, wenn er die Dokumente der Kontaktperson hier in Ho-Chi-Minh-Stadt übergeben sollte, so betrunken sein würde, dass er nicht mehr das Gefühl hätte, etwas Falsches zu tun.

Jetzt wusste es Hazelton jedoch besser ... Ein halbes Dutzend Tanquerays in der Lobbybar und drei weitere im Restaurant – insgesamt mehr als ein halber Liter Gin – waren bei Weitem nicht genug gewesen, den Gestank abzuwaschen, den eine Arbeit für die Nordkoreaner hervorrief.

Im Restaurant an diesem Abend hatte er sich dann entschieden und sich geweigert, die Dokumente seiner Kontaktperson, dieser hinreißenden französischen Spionin, zu übergeben, die sie zu den fünf Reisenden gebracht hätte, die wahrscheinlich irgendwo in der Stadt untergebracht waren. Dann hatte ihn diese französische Tussi ganz sicher bei Duke Sharps verpetzt, und jetzt wankte der einundsechzigjährige Colin Hazelton sturzbetrunken durch ein Seitengässchen in der Dritten Welt, um den Leuten auszuweichen, die Sharps aussenden würde, um die schmutzigen Dokumente zu finden, die Hazelton in seinem großen Geldgürtel um die Taille trug.

Während er vorwärtsstolperte, hielt er ständig Ausschau nach irgendwelchen Verfolgern. Er erwartete sie eigentlich erst in ein bis zwei Tagen. Er plante, noch einige Blocks durch diese Seitenstraßen bis zum Kenh Doi zu gehen, einem der Brackwasserkanäle, die die ganze Stadt durchflossen. Dort würde er seinen Geldgürtel um einen losen Ziegelstein wickeln und die fünf schmutzigen Dokumentensätze ins Wasser werfen. Danach würde er zum Flughafen fahren und die erste Morgenmaschine in die Vereinigten Staaten nehmen. Dort würde er warten, bis man ihn telefonisch feuerte. Wahrscheinlich würde ihm sogar Duke selbst diese Kündigung mitteilen.

Danach würde er eben wieder als Pilot arbeiten. Bei seinem Alter und seiner mangelnden Flugerfahrung in den vergangenen Jahren konnte er eigentlich nur darauf hoffen, irgendwelche heruntergekommenen Propeller-Frachtflugzeuge in der Dritten Welt zu fliegen. Er würde sterben, bevor er seine Schulden abbezahlt hatte, aber wenigstens wäre er kein Handlanger des asiatischen Doctor Evil und seiner mörderischen Kumpane.

Hazelton ging weiter. Zuerst waren die Straßen belebt gewesen – immerhin war dies der 8. Bezirk mit seinen französischen Kolonialgebäuden und seinem quirligen Nachtleben –, aber jetzt war das Gewerbegebiet in der Nähe des Kanals ziemlich dunkel und verlassen. Nur eine Restaurant-Hilfskraft stellte den Müll vor die Tür, und eine Frau auf einem Moped tuckerte durch die Gasse.

Als Hazelton nach links in Richtung Wasser abbog, rollten zwei Männer auf flüsterleisen schwarzen Ducati-Diavel-Motorrädern durch die Gasse, aus der er gerade gekommen war, ohne dass er sie sah oder hörte. Auch hatte er keine Ahnung, dass zwei ähnliche Motorräder sich ihm bereits in den Weg gestellt hatten und warteten, bis er ihnen in die Falle ging.

 

 

2

Jack Ryan jr. bewegte sich auf der Pham The Hien in Richtung Osten. Vor ihm tauchte plötzlich Colin Hazelton aus einer Gasse auf der anderen Straßenseite auf. Jack hatte eigentlich erwartet, dass er sich nach links wenden würde, um zu seinem Hotel zurückzukehren, aber zu seiner Überraschung trat der Amerikaner in seinem Button-down-Hemd und seiner losen Krawatte auf die Straße hinaus und begann, auf Ryans Seite hinüberzugehen.

Scheiße, dachte Jack. Er ging weiter, schaute in die andere Richtung und gab acht, auf keinen Fall seine Gangart zu wechseln. Er fragte sich einen Moment, ob er aufgeflogen war, aber Hazelton schien ihn überhaupt nicht zu beachten.

Noch überraschter war Jack, als Hazelton fünfunddreißig Meter vor ihm in eine weitere dunkle Gasse abbog. Diese würde ihn direkt zum Kenh Doi führen, einem von Ost nach West verlaufenden Kanal, die Nordgrenze des 8. Bezirks. Laut Jacks Handy-Karte gab es dort nichts außer Docks, Hausbooten und heruntergekommenen Mietshäusern. Warum kehrte der Mann nicht in sein Hotel zurück? Er entschied sich, ein paar Blocks weiterzugehen und zu versuchen, eine Parallelgasse zu finden.

Er beschleunigte seine Schritte, orientierte sich einen Moment auf der Karte seines Handys und meldete sich dann über ihr Funknetz bei seinen Kameraden. »Hier Ryan. Ich habe die Zielperson zwei Blocks südlich des Wassers gefunden. Sie bewegt sich in Richtung Norden und erreicht in einer Minute den Kanal. Wenn er nicht irgendwo ein Dingi angebunden hat, weiß ich nicht, wie er von dort weiterkommen will. Ich versuche, vor ihm dort anzukommen, um zu sehen, was er vorhat. Ich bewege mich parallel zu ...«

Jack stoppte seinen Funkspruch, als direkt vor ihm zwei schwarze Ducatis aus einer Gasse auftauchten und die Straße überquerten. Sie waren nur etwa hundert Meter hinter Hazelton. In diesem ruhigen Viertel in der Nähe des Flusses konnten sie nicht damit rechnen, dass sie ein altgedienter CIA-Veteran nicht bemerken würde.

Dies war also keinesfalls eine Beschattungsaktion.

»Ryan?«, meldete sich Ding. »Hast du den Funkkontakt verloren?«

»Nein, ich bin noch da. Aber hier gibt es auch zwei Ducatis, die eindeutig Hazelton folgen. Ich weiß nicht, wo die anderen sind. Für eine bloße Beschattung sieht das viel zu aggressiv aus. Ich glaube, sie werden ihn angreifen.«

Jetzt sprach auch Driscoll über das Funknetz: »Wenn an dieser Verfolgungsjagd keine Autos beteiligt sind, die wir bisher nicht bemerkt haben, planen sie keine Entführung. Dies könnte etwas noch Schlimmeres sein.«

Jack war der gleichen Meinung. Er war erstaunt, dass sich das Ausmaß dieser Operation ständig auszuweiten schien. »Heilige Scheiße, das könnte ein Mordanschlag sein.«

Ding mischte sich jetzt wieder in das Gespräch ein. »Langsam, langsam. Hazelton ist angeblich hier, um einen Firmengeheimdienstjob zu erledigen. Seine letzte Operation war für Microsoft. Nichts, was wir gesehen haben, deutet darauf hin, dass er mit einem tödlichen Widersacher rechnet. Ein Mordanschlag wäre da eine ungeheure Eskalation.«

Jack sah jetzt auch die beiden anderen Motorräder, die die Pham The Hien von Osten heraufkamen, an Ryan vorbeirasten und sich dann trennten. Eines bog in die Gasse ein, die östlich von Hazeltons Weg zum Kanal führte, und das andere in die westliche Parallelgasse, die auch Ryan ursprünglich nehmen wollte.

Jack gelangte jetzt zu der Gasse, der Hazelton gefolgt war. Er konnte gerade noch einen Blick auf die ersten beiden Motorradfahrer erhaschen, als sie in eine Passage zwischen zwei lang gezogenen zweistöckigen Lagerhäusern abbogen, die sich bis zum Wasser erstreckte. Er beeilte sich jetzt, da jede Konfrontation schon bald erfolgen musste. Hazelton würde nämlich gleich den Kanal erreichen, von wo aus er nur noch den Rückweg antreten konnte.

Während er zum Passageneingang joggte, sagte er: »Du magst recht haben, Ding, aber jetzt haben ihn bereits vier Typen eingekreist. Ich glaube, dass hier gleich etwas passieren wird.«

Jetzt meldete sich John Clark über Funk. »Ich hole das Auto, falls wir mit Hazelton in aller Eile das Weite suchen müssen. Der Verkehr ist allerdings ziemlich dicht. Es wird also eine ganze Zeit dauern. Ding und Sam, ihr versucht, bitte möglichst schnell zu Ryan aufzuschließen. Jack, du greifst auf keinen Fall ein, egal was passiert. Du bist unbewaffnet.«

Jack hatte den Eingang der Passage erreicht und wollte gerade um die Ecke lugen, um zu schauen, was dort vor sich ging. »Verstanden«, antwortete er leise.

Hazelton näherte sich dem Kenh Doi, dessen dunkles Wasser nur noch etwa fünfzig Meter vor ihm lag. Auf dem anderen Ufer waren einige blinkende Lichter des 5. Bezirks zu sehen, aber dort drüben lagen ebenfalls hauptsächlich Lagerhäuser, wo sich zu dieser abendlichen Stunde nichts mehr abspielte. Außerdem herrschte auf diesem Kanalabschnitt, auch wenn er fast im Zentrum lag, nachts kaum Schiffsverkehr. Er wollte die Dokumente so gut es ging zerreißen und in den Kenh Doi werfen. Dort würden sie auf dem Weg flussab auseinandergetrieben werden und selbst dann für die Nordkoreaner nutzlos sein, wenn sie sie wider Erwarten rausfischen sollten.

Als er jedoch hinter sich das Geräusch gut eingestellter Motorradmotoren hörte, wusste er, dass dieser Plan gestorben war. Er begriff sofort, dass diese Motorradfahrer hinter ihm her waren. Sie machten aus ihrer Gegenwart kein Geheimnis. Und sie waren nicht allein. Er hatte keine anderen Verfolger gesehen, aber dass sich die Männer hinter ihm so langsam näherten, vermittelte ihm den Eindruck, dass sie noch auf jemand andres warteten.

Colin Hazelton war zwar betrunken, aber immer noch aufmerksam. Schließlich machte er so etwas nicht zum ersten Mal.

Gleich darauf bestätigte sich sein Verdacht, als auf dem Kanaluferweg entlang der Docks zwei Scheinwerfer vor ihm auftauchten, der eine aus dem Osten und der andere aus dem Westen. Sie drehten in seine Richtung ab und näherten sich ihm in langsamem Tempo.

Sie hatten ihn eingekreist, und er glaubte zu wissen, wer sie waren. Sie gehörten zu Duke Sharps’ Männern. Diese französische Schlampe hatte also Helfershelfer in dieser Stadt, weswegen man ihn jetzt bereits nach einigen Minuten und nicht erst nach einigen Tagen aufgespürt hatte, wie er eigentlich erwartet hatte.

Die zwei Motorräder, die ihm entgegenkamen, hielten ein paar Meter vor ihm an. Die Männer stellten den Motor ab, behielten jedoch die Helme auf und ihre verspiegelten Visiere geschlossen. Die beiden anderen hatten bereits zwanzig Meter hinter ihm gestoppt. Jetzt tuckerten ihre Motoren leise vor sich hin und signalisierten Hazelton, dass ihm auch der Rückweg abgeschnitten war.

Er wusste, dass er sich aus dieser üblen Lage herausreden musste.

Hazelton schaute den direkt vor ihm stehenden Fahrer an, weil er ihn für den Anführer hielt. Er rang sich sogar ein leichtes Lachen ab. »Ich hatte eigentlich angenommen, dass ihr erst morgen früh vor Ort sein würdet. Habe euch wohl gewaltig unterschätzt.«

Keiner der Biker sagte ein einziges Wort.

Hazelton ließ sich davon nicht beirren. »Gut gemacht. New York hatte euch vorausgeschickt, stimmt’s? Sie hatten wohl erwartet, dass ich Schwierigkeiten mache? Ich bin beeindruckt. So etwas nannten wir früher ›unerwartete Überraschungen einkalkulieren‹.« Er kicherte erneut und wiederholte: »Gut gemacht.«

Der vermutliche Anführer stieg vom Motorrad und näherte sich ihm auf Armeslänge. Das verspiegelte Visier verlieh ihm das Aussehen eines Roboters.

Hazelton zuckte die Achseln. »Ich musste in diesem Fall klar Stellung beziehen. Ihr versteht das doch, oder? Unser Kunde ist diesmal die DVRK. Ich weiß nicht, ob Sie das wussten, aber Duke hat sich mit den schlimmsten Typen auf diesem Planeten eingelassen.«

Der Biker griff an seinen Helm und öffnete das Visier. Hazelton war ein klein wenig überrascht. Ursprünglich sah es so aus, als ob der Mann anonym bleiben wollte. Hazelton hielt es allerdings für möglich, dass er ihm jetzt sein Gesicht zeigen wollte, weil sie sich kannten. Immerhin hatte Sharps eine Menge Ex-CIA-Agenten angeworben.

Colin Hazelton beugte sich leicht nach vorne, um diese Annahme zu bestätigen. Als er jedoch das Gesicht sah, schreckte er zurück.

Diesen Mann kannte er nicht. Es war ein asiatisches Gesicht. Hart. Kalt.

Nordkoreanisch.

»Oh«, stieß er hervor. »Ich verstehe.« Er täuschte ein weiteres Lachen vor. »Haben Sie auch schon mal solche Tage erlebt?«

»Geben Sie mir die Dokumente«, sagte der Nordkoreaner nur.

Hazelton tastete seinen Körper ab. Er zuckte die Achseln. »Können Sie sich das vorstellen? Ich habe sie in meiner Aktenmappe drüben in diesem ...«

»Die Tasche war leer!« Plötzlich hielt der Nordkoreaner eine Automatikpistole in der rechten Hand. Hazelton kannte sich zwar mit Waffen nicht allzu gut aus, aber er bezweifelte nicht, dass diese da echt war. Die beiden Biker hinter ihm begannen, ihre Motoren hochzujagen, und der zweite Mann vor ihm richtete sich auf seinem Motorrad auf.

Jack Ryan jr. zog sich wieder hinter die Ecke des Lagerhauses zurück, ließ sich auf ein Knie fallen und drückte auf die Sprechtaste seines Funkgeräts. »Hier ist Ryan auf Beobachtungsposition. Alle vier Verfolger haben die Zielperson mit vorgehaltener Waffe umstellt.«

Ding antwortete sofort. An seinem schweren Atem war zu erkennen, dass er rannte. »So viel zu diesem angeblichen einfachen Firmenjob. Bleib in Deckung. Wir sind auf der Tran Xuan Soan und in etwa neunzig Sekunden bei dir.«

»Wenn dies ein Mordanschlag ist, hat Hazelton keine neunzig Sekunden mehr«, erwiderte Jack.

Jetzt bellte Clark in ihre Ohrhörer: »Sollte dies ein Mordanschlag sein, wirst du ihn nicht unbewaffnet aufhalten können. Ich brauche mit dem Auto noch etwa drei bis fünf Minuten bis zu euch.« Über Funk konnte Jack hören, wie Clark ständig auf die Hupe drückte.

Ryan wäre tatsächlich gerne in diese Passage hineingestürmt, aber er wusste, dass Clark recht hatte. Wenn es zu einem Kampf kam, hatte er keinerlei Chancen.

Plötzlich hatte Jack eine Idee. »Ich muss gar nicht direkt eingreifen, John, ich könnte ein Ablenkungsmanöver versuchen.«

Clark antwortete sofort. »Du bist ganz auf dich allein gestellt, Junge. Geh mit äußerster Vorsicht vor.«

Ryan bestätigte diese Botschaft nicht mehr. Er schaute bereits auf die Karte auf seinem Handy und entwickelte in aller Eile einen Aktionsplan. Er zog die Kamera aus dem Rucksack und atmete ein paar Mal tief durch, um sich vorzubereiten.

Der nordkoreanische Biker richtete die Pistole auf die Brust des Amerikaners, ohne ein Wort zu sagen.

Hazelton hob ganz langsam die Arme, während ihn Panik ergriff. »Das ist völlig unnötig. Ich bin für Sie keine Bedrohung. Lassen Sie uns das wie zivilisierte Menschen regeln.« Der Amerikaner schaute sich um. Während immer größere Angst in ihm aufstieg, erkannte er, dass er sich in eine schreckliche Lage gebracht hatte. Wenn er keinen solchen in der Krone gehabt hätte, wäre er niemals ganz allein durch eine solche dunkle Gasse gegangen, vor allem, wenn er mit Verfolgern rechnen musste.

Wenn er allerdings gewusst hätte, dass ihm DVRK-Agenten auf den Fersen waren, hätte ihn auch noch so viel Alkohol nicht zu einem solch fatalen Anfängerfehler verleitet.

Der Nordkoreaner spannte den Schlaghebel seiner Pistole. Hazelton starrte in das schwarze Mündungsloch und konnte einfach nicht glauben, was da gerade vor sich ging. Man hatte ihn noch nie mit einer Waffe bedroht, und die größte Gefahr, der er in seiner gesamten Karriere ausgesetzt war, waren einige Straßenschläger in Dänemark gewesen, die ihn dort eines Nachts vermöbelt hatten. Das war jedoch mit dem hier überhaupt nicht zu vergleichen. So sehr ihn Angst und Schrecken übermannten, verfügte er jedoch über so viel Geistesgegenwart, um zu erkennen, dass er geschlagen war. Mit krächzender Stimme sagte er: »Geldgürtel. Um meine Taille.«

Genau in diesem Moment öffnete sich acht Meter von Colin Hazeltons linker Schulter entfernt die Eingangstür eines Mietshauses. Zwei Frauen mit großen Mülltüten in der Hand traten heraus und schauten fassungslos die Männer und die Motorräder an, die vor ihnen mitten auf der Straße standen. Der Nordkoreaner schwenkte seine Pistole in ihre Richtung, und sie eilten schreiend ins Gebäude zurück.

Eine Sekunde später hörte der Nordkoreaner einen Alarmruf seiner Kameraden. Als er sich umdrehte, sah er, wie der korpulente Amerikaner an ihnen vorbei die Gasse hinunter in Richtung Kanal rannte.

Er ließ sein Motorrad wieder an, um ihm nachzujagen, während die drei anderen Biker ebenfalls ihre Motoren hochdrehten.

Einen halben Block hinter ihnen schrie jemand an der Ecke eines Wellblechlagerhauses auf Englisch: »Hey! Hey!« Die vier Motorradfahrer drehten sich auf einen Schlag um und sahen einen jungen Weißen mit dunklen Haaren und Bart. Er hielt eine Kamera in ihre Richtung. »Alle schön lächeln!« Die Kamera blitzte ein Dutzend Mal auf und blendete die Männer in der dunklen Gasse.

Die zwei Biker, die dem Kameramann am nächsten waren, drosselten ihre Motoren und drehten sich so schnell um, dass der Gummi ihrer Reifen auf dem Asphalt eine heiße Spur hinterließ. Dann rasten sie auf den Weißen mit der Kamera zu. Derweil verfolgten ihr Anführer und dessen Begleiter immer noch Hazelton und dessen Geldgürtel.

Der Nordkoreaner steckte während des Fahrens die Pistole in seine Jacke zurück und zog aus einer Scheide an seinem Hosenbund ein langes Stilett heraus.

 

3

Colin Hazelton hatte beinahe dreißig Jahre lang niemals mehr als einen leichten Trab hingelegt, aber das Adrenalin in seinem Körper sorgte dafür, dass er in zwanzig Sekunden das Wasser erreichte. Dort bog er nach rechts auf den Uferweg ab, wobei ihm die beiden Motorradfahrer dicht auf den Fersen waren. Er dachte kurz daran, auf ein Dock hinauszulaufen und in den Kanal zu springen, aber er kannte dessen Strömung nicht und war sich außerdem sicher, dass ihn seine weit jüngeren Verfolger patschnass aus dem Wasser fischen würden oder ihn sogar ertränken würden, nachdem sie ihm seinen Geldgürtel abgenommen hatten. Deshalb rannte er noch einen Block am Kanal entlang und bog nach rechts in eine weitere dunkle, schmale Straße ein.

Die Motorräder kamen ihm immer näher. Er konnte hören, dass sie gar nicht allzu viel Gas gaben, weil sie sicher waren, ihn zu erwischen.

»Hilfe!«, rief er zu den Mietshäusern hinüber, die ihn umgaben. Mit den Augen suchte er die Balkone und Fenster ab, ob er nicht jemand fand, der ihm helfen könnte. Er dachte an die Pistole des Mannes und fragte sich ständig, wann ihn eine Kugel in den Nacken treffen würde. Er wusste, dass er unbedingt an einen belebteren Ort gelangen musste, aber er kannte diese Gegend. Bis zum Vergnügungsviertel waren es noch mehrere Blocks.

Domingo Chavez und Sam Driscoll sprinteten durch die dunklen Straßen des 8. Bezirks und näherten sich immer mehr dem grauen GPS-Lichtpunkt auf ihrer Karte, der Jack Ryan jr. repräsentierte. Ding schaute gerade zum ersten Mal seit dreißig Sekunden auf die elektronische Karte, um sicherzugehen, dass sie an der richtigen Stelle von der Hauptstraße abgebogen waren, als er Ryans Stimme in seinem Ohrhörer hörte.

»Ding, habt ihr Jungs mich auf dem GPS?«

Chavez antwortete, während er immer noch auf den Punkt auf seinem Handy schaute: »Positiv. Sieht aus, wie wenn du rennst.«

»Da hast du verdammt recht! Zwei bewaffnete Biker sind direkt hinter mir.« Chavez konnte die röhrenden Maschinen bereits durch das Gewirr von Mietshäusern links von ihm hören.

»Wir sind gleich bei dir.«

»Einer von euch muss sich um Hazelton kümmern. Er ist in Richtung Wasser geflüchtet. Hier im Westen ist er nicht, also solltet ihr ihn weiter östlich suchen.«

Ding funkte, während er weiterrannte, Sam an: »Du hilfst Ryan, und ich schnappe mir Hazelton!«

Colin Hazelton hatte nicht den Hauch einer Chance. Der nordkoreanische Anführer raste auf seinem Motorrad dem dicken, alternden Amerikaner hinterher. Er umklammerte sein Stilett, streckte den Arm aus und rammte die Stichwaffe Hazelton direkt unter dem Schulterblatt in die rechte und unmittelbar darauf in die entsprechende Stelle auf der linken Schulter.

Die schwer arbeitenden Lungenflügel des Amerikaners kollabierten fast sofort, und Blut drang in die beschädigten Organe ein. Zuerst hielt er das Ganze allerdings nur für zwei Faustschläge in den Rücken und lief noch ein paar Meter mit voller Geschwindigkeit weiter. Kurz darauf brach er jedoch mitten auf der dunklen Straße zusammen und rang verzweifelt nach Luft. Die Biker blieben stehen, klappten die Ständer ihrer Ducatis aus und stiegen schnell, aber lässig ab. Sie gingen zu dem Verletzten hinüber, der jetzt wegzukriechen versuchte, und knieten sich über ihn.

Der Anführer durchsuchte Hazeltons Taschen und danach sein Hemd. Schließlich stieß er mit der Hand auf den Geldgürtel, der sich dahinter verbarg. Mit einem Ruck zog er den Hemdsaum über die korpulente Bauchgegend des Mannes, schnitt mit dem Stilett den schweißgetränkten und blutigen Klettverschluss des weißen Geldgürtels durch und schaute kurz nach, ob alle Dokumente in ihm steckten. Ein Pass war zwar leicht blutverschmiert, aber sonst war alles vorhanden und in Ordnung.

Hazelton lag jetzt auf der Seite und versuchte, mit seinen schwachen Kräften nach den Dokumenten zu greifen. Er streckte den rechten Arm aus, und die Pfeifgeräusche aus seinem Mund und den Löchern in seinem Rücken verstärkten sich, als er schreien wollte.

Der nordkoreanische Biker schüttelte die schwache Hand des Amerikaners einfach ab, stand auf und kehrte zu seinem Motorrad zurück. Sein Partner schloss sich ihm an. Sie stiegen wieder auf, wobei jeder seine Pistole lose an der Seite hielt. Der Anführer schaute in alle Richtungen, um sicherzustellen, dass auf dieser Straße keine Bedrohungen zu erwarten waren. Dann legten beide den Gang ein und fuhren wieder zurück, um sich an der Jagd nach dem weißen Fotografen zu beteiligen.

Ryan hielt sich fünf Blocks entfernt immer noch in dem dunklen Gewirr von Straßen und Parkplätzen in der Umgebung der Mietskasernen am Kenh Doi auf. Er fragte sich, was mit Hazelton geschehen war. Er hatte für diesen Mann alles getan, was er tun konnte, aber er fürchtete, dass dies nicht genug gewesen war. Er hatte beobachtet, wie die beiden Frauen aus dem Mietshaus gekommen und die Biker abgelenkt hatten. Zu seiner großen Bestürzung war Hazelton jedoch in Richtung Wasser gelaufen. Jack hielt dies für eine ganz schlechte Idee. Vielleicht hatte Hazelton jedoch etwas gesehen, das ihm jede Hoffnung raubte, die Begegnung mit diesen Bewaffneten zu überleben.

Vielleicht war er aber auch nur betrunken und in Panik geraten und hatte vielleicht gedacht, er sei klüger, stärker und schneller, als er tatsächlich war.

Ryan hielt Letzteres für das Wahrscheinlichste.

Um dem amerikanischen Ex-CIA-Mann doch noch eine Fluchtmöglichkeit zu geben, war Ryan auf dieses Gässchen gestürmt und hatte mehrmals den Blitz seiner Kamera ausgelöst, um die Aufmerksamkeit der Biker abzulenken. Danach hatte er kehrtgemacht und war um sein Leben gelaufen. Er hoffte, wenigstens einige dieser Männer von dem älteren, langsameren Hazelton abzuziehen.

Dieser Teil von Jacks Plan hatte funktioniert. Als er über zwei Aluminium-Abfalleimer auf dem Gehweg sprang, konnte er an den Lichtern und dem Geräusch der beiden Ducatis, die ihn verfolgten, erkennen, dass sie keine fünfzehn Meter hinter ihm waren. Nur drei Sekunden später preschten sie durch die beiden Mülleimer, sodass diese und ihr Inhalt in weitem Bogen durch die Luft flogen. Jack hob eine Holzpalette auf, die am Straßenrand lag, und warf sie den Bikern in den Weg. Die Palette prallte jedoch von den Motorrädern ab, ohne sie auch nur zu verlangsamen. Er duckte sich kurz hinter einen Baum in einem Pflanzgefäß und änderte danach erneut die Richtung.

Die Ducatis folgten ihm jedoch unbeirrt und erhöhten sogar noch die Geschwindigkeit.

Ryan hatte Angst, die beiden Männer könnten der Verfolgungsjagd müde werden und das Feuer auf ihn eröffnen, deshalb wechselte er ständig unvermittelt die Richtung, bewegte sich von rechts nach links und zurück, sprang über Mülleimer, geparkte Motorroller oder abgestellte Kisten und umkurvte Strommasten.

Aber die Motorräder ließen sich einfach nicht abschütteln, solange er auf dieser Straße blieb.

Sam Driscoll brüllte Jack jetzt über Funk ins Ohr, er solle kurz stehen bleiben, damit er sein GPS-Signal lange genug auf seiner Handy-Karte sah, um ihn in diesen engen Gässchen zu finden. Aber Jack war schlichtweg nicht in der Lage, dieser Aufforderung nachzukommen. Er rannte einfach nur weiter und duckte sich unter niedrig hängenden Stromkabeln hindurch, die über einer schmalen Passage neben einem Bürogebäude hingen. Er machte eine scharfe Wendung nach links und eilte eine Betontreppe hinunter, die zu einem Parkplatz neben einem Wohnkomplex führte. Die Motorräder rumpelten ebenfalls die Stufen hinunter und näherten sich dabei ihrer Beute bis auf einige Meter.

Das Krachen eines Pistolenschusses und der Funkenblitz auf dem Boden am Ende der Treppe zeigten Ryan, dass die Männer hinter ihm von ihren Auftraggebern die Erlaubnis erhalten hatten, tödliche Gewalt anzuwenden. Natürlich hatte Ryan keine Ahnung, warum ihn diese Männer töten wollten. Er und seine Kameraden waren offensichtlich bei ihrer Beschattung Colin Hazeltons auf eine große Sache gestoßen, aber Jack hatte jetzt überhaupt nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er musste unbedingt aus der Schusslinie gelangen.

Am Fuß der Betontreppe ragte aus einem Balkon im ersten Stock des Nachbargebäudes eine Satellitenschüssel hervor. Sie befand sich jetzt direkt vor seinen Augen, aber wenn Jack sie ergreifen und sich an ihr festhalten wollte, musste er einen Luftsprung von etwa viereinhalb Metern vollführen. Jack sprang von den Stufen ab. Dabei strampelte er mit den Beinen in der Luft. Dies half ihm neben dem Schwung seines Dauerlaufs und seiner Position hoch oben auf dieser Treppe, eine möglichst große Distanz zu überwinden.

Trotzdem gelang es ihm gerade so, den Metallarm der 1,20 Meter breiten Satellitenschüssel zu ergreifen. Seine Beine schwangen hin und her wie bei einem Olympiaturner am Reck.

Die beiden Motorradfahrer rasten unter ihm auf der Treppe vorbei. Als sie unten den Parkplatz erreichten, drehten sie sich blitzschnell auf ihren Vorderrädern um, um sich ihm entgegenzustellen. Dabei kreischten ihre Reifen im Gleichklang.

Jack hing derweil immer noch am Arm der Satellitenschüssel. Es war ihm unmöglich, seine Beine auf den Rand des eisernen Balkongeländers emporzuschwingen.

Plötzlich gab die Befestigung des Satellitenarms unter Ryans Gewicht nach. Der Arm riss von der Balkonbrüstung ab, sackte nach unten und hing jetzt nur noch an einem dicken Kabelbündel.

Jack fiel drei Meter tief auf die Treppenstufen hinunter. Die Satellitenschüssel sackte ebenfalls ein Stück ab, wurde dann jedoch von dem Kabelbündel aufgehalten. Jack landete zuerst einmal ganz gut auf der Treppe, überschlug sich jedoch und rollte die Stufen hinunter. Schließlich landete er leicht benommen auf dem Parkplatz. Er lag jetzt nur sechs Meter von den Bikern entfernt auf dem Rücken.

Jack schaute zu den bewaffneten Männern hoch. Die Motorradfahrer wechselten schnell einen Blick, als ob sie sich über ihr Glück wunderten. Dann hob einer von ihnen seine Pistole.

Bevor er sie jedoch abfeuern konnte, näherte sich ein schwarz gekleideter bärtiger Mann im Laufschritt von rechts, rammte ihn, als ob er der Linebacker in einem Football-Spiel wäre, und riss ihn von seinem Motorrad. Dabei fiel dem Biker die Pistole aus der Hand.

Der zweite Helmträger auf der anderen Ducati schwang seinen Arm in Richtung der Bewegung herum, aber der Bärtige, der ganz klar ein Westler war, riss sich seinen Rucksack herunter und schleuderte ihn mit aller Kraft auf des Bikers Schussarm, der dadurch nach unten gerissen wurde. Ein Pistolenschuss peitschte durch die Nacht, der gesamte Parkplatz war kurzzeitig taghell erleuchtet, und der Motorradfahrer fiel nach hinten auf den Asphalt. Er rollte sich zwar schnell zurück auf die Knie, aber bevor er aufstehen konnte, stürzte sich der Bärtige auf ihn und trat ihm mit voller Wucht in sein Helmvisier. Dessen stoßfester ballistischer Kunststoff absorbierte zwar den Aufprall, aber der Tritt ließ sein Genick nach hinten schnellen, und er fiel hart auf den Rücken. Dabei schlug sein Kopf auf der unnachgiebigen Oberfläche des Parkplatzes auf, und er verlor das Bewusstsein.

Sam Driscoll war froh, dass er an diesem Abend seine massiven Salomon-Stiefel trug. Sonst hätte er sich am Helm des vor ihm liegenden Mannes ganz bestimmt den Fuß gebrochen. Trotzdem tat die Oberseite seines Fußes durch den Aufprall immer noch höllisch weh.