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Tom Clancy führt uns zurück zu Jack Ryans Anfängen als Wissenschaftler und Berater des CIA. Mitten in der heißesten Phase des Kalten Krieges soll er einen russischen Überläufer ausforschen, der hochbrisantes Material zu bieten hat: Ein Attentat auf den neuen, polnischen Papst ist geplant, und Jack Ryan muss es mit allen Mitteln verhindern.
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Seitenzahl: 1128
HEYNE‹
Noch lange bevor Jack Ryan zum Präsidenten der USA wurde, arbeitete er in England als Historiker. Als solcher wird er vom amerikanischen und englischen Geheimdienst gebeten, einen hochrangigen russischen Überläufer zu befragen. Dabei stößt er auf eine ungeheuerliche Geschichte: Russische Politfunktionäre sollen die Ermordung des polnischen Papstes Johannes Paul des Zweiten planen. Jack Ryan wird immer mehr in den Konflikt hineingezogen. Zuerst muss er herausfinden, ob es stimmt, was er von dem Mann erfahren hat, und, wenn ja, dann muss das Attentat mit allen Mitteln verhindert werden. Am Ende steht nicht nur das Leben des Papstes auf dem Spiel sondern die Stabilität der gesamten westlichen Welt.
Tom Clancy, Jahrgang 1948, wurde bereits mit seinem ersten Techno-Thriller, Jagd auf Roter Oktober, zum international gefeierten Erfolgsautor. Seither hat er zehn Bestsellerromane und einige Sachbücher geschrieben, darunter die Welterfolge: Gnadenlos, Ehrenschuld und Befehl von oben. Bei Heyne erschienen zuletzt Im Zeichen des Drachen und Im Auge des Tigers.
Außerdem schrieb Tom Clancy – zusammen mit Steve Pieczenik und Martin Greenberg – die erfolgreichen Taschenbuchserien OP-Center, Power Plays und Net Force.
Tom Clancy lebt in Maryland.
Mulmig wurde ihm vor allem bei dem Gedanken ans Autofahren. Jack Ryan hatte sich schon einen Jaguar gekauft – hier, wohl gemerkt, Dschäg-juh-ah ausgesprochen – und war auf dem Hof des Händlers zum Einsteigen wiederholt nach links statt auf die rechte Seite gegangen. Der Händler hatte ihn zwar nicht direkt ausgelacht, doch Ryan war sich darüber im Klaren, dass nicht viel gefehlt hätte. Daran musste er unbedingt denken: Die »rechte« Spur war hier die linke. Rechtsabbieger kreuzten Gegenverkehr. Auf den Autobahnen – die hier nicht interstates, sondern motorways hießen – war links die langsame Spur. Die Steckdosen in den Wänden hatten drei Löcher. Trotz der stolzen Preise fürs Wohnen gab es hier keine Zentralheizung. Auch keine Klimaanlage, die sich aber wahrscheinlich sowieso erübrigte. Klimatisch zählte die Insel nicht gerade zu den heißesten Ecken der Erde. Hier kippten die Ersten schon tot auf der Straße um, wenn das Quecksilber die Fünfundzwanzig-Grad-Marke überstieg. Jack fragte sich, wie sie mit dem Wetter in Washington zurechtkommen würden. Der Song von den »Mad dogs and Englishmen« gehörte offenbar der Vergangenheit an.
Doch es hätte noch schlimmer kommen können. Immerhin hatte er einen Passierschein für den Exchange Service – besser bekannt unter dem Kürzel PX – der Air Base bei Greenham Commons, wo er wenigstens anständige Hotdogs würde kaufen können und überhaupt Lebensmittel, wie er sie von zu Hause in Maryland gewohnt war.
Andersartiges gab es mehr als genug. Das britische Fernsehen zum Beispiel. Nicht, dass er damit rechnete, viel Zeit vor der Röhre abhängen zu können, aber die kleine Sally brauchte ihre Ration an Cartoons. Und außerdem: Wenn es etwas Wichtiges zu lesen galt, waren die Hintergrundgeräusche irgendeiner albernen Show auf ihre Weise durchaus wohltuend. Die TV-Nachrichten waren im Übrigen gar nicht so schlecht, die Tageszeitungen sogar ausgesprochen gut – besser als die gängigen Blätter zu Hause. Allerdings würde ihm die allmorgendliche Comic-Serie Far Side fehlen. Vielleicht aber, so hoffte Ryan, gab es sie ja auch in der International Tribune. Und die würde er am Bahnhofskiosk kaufen können. Schließlich wollte er ja über die Baseball-Ergebnisse auf dem Laufenden bleiben.
Die Möbelpacker – nicht movers, wie sie in Amerika hießen, sondern removers – plackten sich unter Cathys Anleitung ab. Das Haus war nicht schlecht, allerdings kleiner als ihr Wohnsitz bei Peregrine Cliff, der jetzt an einen Colonel der Marines und Dozenten der Naval Academy untervermietet war. Vom Elternschlafzimmer aus konnte man auf einen kleinen Garten blicken, der zwar nur rund 100 Quadratmeter maß, dem Makler aber besonders erwähnenswert war. Die Vorbesitzer hatten offenbar viel Zeit darin verbracht. Er war voller Rosen, hauptsächlich in den Farben Rot und Weiß – den Adelshäusern Lancaster und York zu Ehren, wie es schien. Dazwischen gab es auch ein paar pinkfarbene, vielleicht zum Zeichen dafür, dass sich diese beiden zum Königshaus der Tudor zusammengeschlossen hatten. Das wiederum machte nach dem Tode Elisabeths I. jenem neuen Adelsgeschlecht Platz, dem Ryan aus gutem Grund herzlich zugetan war.
Auch das Wetter war hier gar nicht so schlecht. Sie waren jetzt seit drei Tagen auf der Insel, und es hatte noch kein einziges Mal geregnet. Die Sonne ging sehr früh auf und spät unter, und wie Jack gehört hatte, tauchte sie im Winter nur eben kurz auf, um gleich wieder zu verschwinden. Einige der neu gewonnenen Freunde aus dem Außenministerium hatten gemeint, dass die Kinder mit den langen Nächten womöglich Probleme haben könnten. Das mochte auf Sally mit ihren viereinhalb Jahren zutreffen. Der kleine Jack, erst seit fünf Monaten auf der Welt, würde den Unterschied aber wahrscheinlich gar nicht registrieren. Er schlief durchweg gut, so auch jetzt, beaufsichtigt von dem Kindermädchen Margaret van der Beek, einer jungen Frau mit roten Haaren, deren Vater als Methodistenpfarrer in Südafrika amtierte. Sie hatte vorzügliche Referenzen und ein einwandfreies Führungszeugnis, ausgestellt von der Metropolitan Police. Dass sich ein Kindermädchen um ihren Jungen kümmern sollte, passte Cathy eigentlich überhaupt nicht. Schon der Gedanke war ihr zuwider. Doch hier war eine solche Art der Betreuung sehr angesehen, und sie hatte sich unter anderem bei einem gewissen Winston Spencer Churchill als durchaus zweckmäßig erwiesen. Miss Margaret war von Sir Basils Dienststelle auf Herz und Nieren überprüft worden, und im Übrigen war die Agentur, die sie vermittelt hatte, von der Regierung Ihrer Majestät offiziell beglaubigt – was aber im Grunde nicht viel zu besagen hatte, wie sich Jack erinnerte. Er war in den Wochen vor seiner Überfahrt aufs Gründlichste vorbereitet worden. Die »Opposition« – ein hiesiger Ausdruck, der mittlerweile auch in Langley Verwendung fand – hatte den britischen Geheimdienst mehr als einmal infiltriert. Nach Ansicht der CIA war ihr das in Langley noch nicht gelungen, was Jack allerdings kaum glauben mochte. Der KGB war verdammt gut, und gierige Leute gab es überall auf der Welt. Zwar zahlten die Russen nicht viel, aber manche verkauften Seele und Freiheit für Peanuts. Und sie trugen schließlich auf ihren Sachen kein Abzeichen mit der Aufschrift ICH BIN EIN VERRÄTER.
Von all den Briefings, die er sich hatte anhören müssen, waren diejenigen zum Thema Sicherheit die mit Abstand ermüdendsten gewesen. Obwohl sein eigener Vater Polizist gewesen war, hatte sich Jack nie mit der speziellen Art polizeilichen Denkens anfreunden können. Aus einer Flut von Blödsinn verwertbare Daten zu schöpfen war eine Sache. Etwas ganz anderes war es, alle Kollegen mit Argwohn zu betrachten und dabei vorzugeben, ganz freundschaftlich mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er fragte sich, ob man ihm gegenüber ähnliche Vorbehalte hegte, was er aber dann doch nicht glauben mochte. Nicht nach dem, was er durchgemacht hatte, wovon die Narben auf der Schulter zeugten, ganz zu schweigen von den Alpträumen nach jener Nacht am Chesapeake Bay, den Träumen, in denen seine Waffe einfach nicht losgehen wollte, so oft er auch abdrückte, in denen Cathys Entsetzensschreie schrill in seinen Ohren nachhallten. Dabei hatte er den Kampf doch gewonnen, oder etwa nicht? Warum unterstellten seine Träume etwas anderes? Darüber würde er vielleicht einmal mit einem Psychiater sprechen müssen. Aber wie gesagt: Wer zu einem Seelenklempner geht, muss verrückt sein …
Sally wieselte durchs Haus, erkundete ihr neues Zimmer und bestaunte, wie die Möbelpacker ihr Bett zusammenschraubten. Jack sah zu, dass er niemandem im Wege stand. Cathy hatte ihn darauf hingewiesen, dass er nicht einmal Aufsicht führen könne, trotz seines Werkzeugkastens, ohne den sich ein echter Amerikaner nicht so recht wie ein Mann fühlen kann und der deshalb als eines der ersten Dinge ausgepackt werden musste. Die Möbelpacker hatten natürlich ihr eigenes Werkzeug – und auch sie waren vom SIS unter die Lupe genommen worden, um auszuschließen, dass sich ein vom KGB gesteuerter Agent anschickte, das Haus zu verdrahten. Nein, daraus wird nichts, mein Guter.
»Wo ist denn der Tourist?«, fragte eine amerikanische Stimme. Ryan trat in die Diele.
»Dan! Du hier? Wie geht’s?«
»Ich hatte einen langweiligen Tag im Büro, also sind wir, Liz und ich, hergekommen, um zu sehen, wie’s bei euch so läuft.« Und tatsächlich, jetzt tauchte hinter dem Rechtsattaché auch dessen Frau auf, St. Liz, die leidgeprüfte Schönheitskönigin unter den FBI-Frauen. Mrs Murray und Cathy begrüßten sich mit einer schwesterlichen Umarmung und gingen gleich darauf nach draußen in den Garten. Cathy war von den Rosen überaus angetan, was Jack recht sein konnte. Sein Vater hatte alle Gärtner-Gene der Familie Ryan auf sich vereint, sodass für seinen Sohn keine übrig geblieben waren. Murray musterte seinen Freund. »Du siehst zum Fürchten aus.«
»Der lange Flug und eine langweilige Lektüre …«, erklärte Jack.
»Hast du denn nicht geschlafen?«, fragte Murray überrascht.
»Im Flieger?«, entgegnete Ryan.
»Ist es so schlimm?«
»Auf einem Schiff sieht man wenigstens, was einen hält. Aber im Flugzeug …«
Murray schmunzelte. »Daran solltest du dich gewöhnen. Du wirst jede Menge Vielflieger-Punkte sammeln.«
»Vermutlich.« Seltsam, das war Jack gar nicht bewusst gewesen, als er die Versetzung angenommen hatte. Zu dumm, erkannte er jetzt, zu spät. Er würde wenigstens einmal im Monat nach Langley fliegen müssen – keine besonders schöne Aussicht für jemanden, der sich nur widerwillig in ein Flugzeug setzte.
»Und der Umzug läuft klar? Auf die Männer ist jedenfalls Verlass. Basil arbeitet schon seit über zwanzig Jahren mit ihnen zusammen, und auch meine Freunde vom Yard sind voll des Lobes. Jeder zweite war früher selbst Bulle.« Und Bullen, das musste nicht ausdrücklich erwähnt werden, waren sehr viel verlässlicher als Spione.
»Keine Wanzen im Badezimmer? Prima«, sagte Ryan. Er war noch nicht lange dabei, wusste aber inzwischen, dass seine Arbeit beim Geheimdienst mit der als Geschichtsdozent an der Naval Academy nur wenig gemein hatte. Wanzen gab es mit Sicherheit – in Basils Büro…
»Wie auch immer, ich habe eine gute Nachricht für dich: Du wirst mich häufig zu sehen bekommen – wenn’s recht ist.«
Ryan nickte müde und rang sich ein Lächeln ab. »Na, dann hab ich wenigstens jemanden, mit dem ich anstoßen kann.«
»Dazu wird es reichlich Gelegenheit geben. Hierzulande werden mehr Geschäfte im Pub abgeschlossen als im Büro. Pubs sind die hiesige Version unserer Country Clubs.«
»Hauptsache, das Bier schmeckt.«
»Jedenfalls besser als das Gesöff bei uns zu Hause. In der Hinsicht hab ich mich schon komplett umgestellt.«
»In Langley war zu hören, dass du für Emil Jacobs jede Menge Aufklärungsarbeit leistest.«
»Hin und wieder, ja.« Murray nickte. »Tatsache ist, dass unsereins in der Hinsicht mehr leistet als die meisten bei euch. Eure Agenten haben sich von der Pleite 1977 immer noch nicht erholt und werden, wie mir scheint, auch noch lange daran zu knacken haben.«
Ryan musste ihm Recht geben. »Admiral Greer ist derselben Meinung. Bob Ritter hat zwar einiges auf dem Kasten – vielleicht sogar ein bisschen zu viel, wenn du weißt, was ich meine –, aber es mangelt ihm an Freunden im Kongress, die helfen könnten, seinen Apparat so auszubauen, wie er sich das vorstellt.«
Greer war Chefanalyst der CIA, Ritter der Operationschef. Die beiden kamen sich häufig in die Quere.
»Im Unterschied zum DDI genießt Ritter nur wenig Vertrauen. Dass dem so ist, hat immer noch mit dem Church-Committee-Fiasko vor zehn Jahren zu tun. Der Senat scheint sich einfach nicht daran erinnern zu können, wer die Operationen damals geleitet hat. Der Boss wird heilig gesprochen und die Truppen kreuzigt man, wo sie doch nur seine Befehle ausgeführt haben – wenn auch zugegebenermaßen schlampig. Mann, war das ein…« Murray suchte nach dem treffenden Ausdruck. »Die Deutschen nennen so was eine Schweinerei. Genau lässt sich das nicht übersetzen, aber der Klang spricht für sich.«
Jack grunzte belustigt. »Ja, und passt besser als fuckup.«
Der zu jener Zeit von Camelot vom Büro des Generalstaatsanwalts aus lancierte und von der CIA durchgeführte Versuch, Fidel Castro zu töten, wirkte im Nachhinein, als hätten die Autoren von Woody Woodpecker und The Three Stooges das Drehbuch dazu geschrieben: Politiker versuchten, James Bond zu imitieren, die von einem gescheiterten britischen Spion erfundene Figur. Aber das Kino war einfach nicht mit der wirklichen Welt zu vergleichen, das hatte Ryan auf die harte Tour erfahren müssen, zuerst in London, dann in seinem eigenen Wohnzimmer.
»Wie gut sind sie nun wirklich, Dan?«
»Die Briten?« Murray führte Ryan auf das Rasenstück vor dem Haus. Die Möbelpacker waren vom SIS überprüft worden, Murray aber gehörte zum FBI. »Basil ist absolute Spitze. Deshalb hat er sich so lange halten können. Er war ein hervorragender Agent und der erste, der gerochen hatte, dass an Philby was faul war. Man bedenke, damals war Basil noch ein Frischling. Er ist ein tüchtiger Verwaltungsbeamter und einer der schnellsten Denker, die mir je begegnet sind. Politiker beider Lager schätzen ihn und vertrauen ihm. Das hat man nicht oft. Auf Anhieb fällt mir da nur Hoover ein, abgesehen davon, dass um ihn damals ein regelrechter Kult betrieben wurde. Ich mag Basil. Man kann gut mit ihm arbeiten. Und er ist sehr von dir angetan, Jack.«
»Warum?«, fragte Ryan. »Ich hab doch nicht viel getan, was für mich spräche.«
»Basil hat ein Auge für Talente. Er hält dich für den Richtigen und ist im Übrigen ganz begeistert von dem, was du dir da im vergangenen Jahr ausgedacht hast, um undichte Stellen aufzuspüren – du weißt schon, die Singvogelfalle. Und ihren zukünftigen König zu retten hat schließlich auch nicht geschadet, oder? Du bist im Century House ein gefragter Mann, und wenn du die Erwartungen, die man an dich stellt, erfüllst, wirst du als Spion noch ganz groß rauskommen.«
»Prächtig.« Ryan war sich nicht sicher, ob das überhaupt das war, was er sich wünschte. »Dan, ich bin ein zum Geschichtslehrer mutierter Börsenmakler. Du erinnerst dich?«
»Das ist Vergangenheit, Jack. Schau nach vorn. Du hast nicht schlecht verdient bei Merrill Lynch, nicht wahr?«
»Es sind ein paar Dollars für mich abgefallen«, gab Ryan zu. Tatsächlich waren es eine Menge, und sein Portfolio nahm immer noch an Umfang zu. An der Wall Street verdienten sich manche dumm und dämlich.
»Dann setz dein Hirn jetzt für wirklich Wichtiges ein«, schlug Dan vor. »Ich sag’s nicht gern, Jack, aber die Geheimdienstgemeinde hat nicht allzu viele kluge Köpfe. Ich weiß, wovon ich spreche. Da sind Massen von Drohnen, eine Menge durchschnittlich Begabter, aber nur verdammt wenige Stars. Du hättest das Zeug zu einem Star. Der Meinung ist Jim Greer. Und auch Basil. Du denkst um die Ecke herum. Das tue ich übrigens auch. Deshalb ist es vorbei damit, dass ich Bankräubern in Riverside, Philadelphia, hinterherjage. Leider habe ich keine Millionen zusammenspekuliert.«
»Einfach nur Glück gehabt zu haben macht noch keinen tollen Hecht aus einem Menschen, Dan. Cathys Vater Joe hat viel mehr Geld gescheffelt als ich, und er ist ein rechthaberischer, anmaßender Schnösel, wenn du mich fragst.«
»Immerhin hast du seine Tochter zur Frau eines Geadelten gemacht. Oder etwa nicht?«
Jack grinste. »Tja, so ist es wohl.«
»Das wird dir hier einige Türen öffnen, Jack. Die Briten lieben ihre Titel.« Er stockte. »Nun, wie wär’s, wenn ich euch zu einem Pint einlade? Es gibt da oben auf dem Hügel ein nettes Pub, The Gypsy Moth. Dieses Umzugstheater macht einen ja ganz verrückt. Ist fast so schlimm wie ein Hausneubau.«
Aus Sicherheitsgründen, die ihm nicht näher erklärt wurden, lag sein Büro im ersten Tiefgeschoss der so genannten Zentrale. Wie sich herausstellte, gab es im Hauptquartier des Erzfeindes exakt den gleichen Raum. MERCURY hieß die entsprechende Einrichtung auf der anderen Seite, Götterbote – ein passender Name, wenn man denn dort die Vorstellung eines Gottes gelten ließ. Die von den Spezialisten für Codes und Chiffren entschlüsselten Meldungen landeten auf seinem Schreibtisch, und er durchforschte sie nach Informationen und Schlüsselwörtern, bevor er sie an die zuständigen Stellen weiterleitete. Deren Reaktion schickte er dann auf umgekehrtem Weg zurück. Die Arbeit wurde schnell zur Routine. Morgens war für gewöhnlich der ankommende, nachmittags der hinausgehende Verkehr zu regeln. Am mühseligsten gestaltete sich natürlich die Kodierung, denn die meisten Agenten draußen im Einsatz verwendeten ihre eigenen Schlüssel – deren einzige Kopien in den rechterhand angrenzenden Räumen aufbewahrt wurden. Die Angestellten dort verwalteten Geheimnisse, die von den sexuellen Vorlieben italienischer Parlamentarier bis hin zu präzisen Details amerikanischer Atomkriegspläne rangierten.
Seltsam, aber niemand verlor ein Wort über das, was da, rein-oder rausgehend, ver- beziehungsweise entschlüsselt wurde. Die Angestellten waren allesamt ziemlich einfältig, ja, vielleicht gerade deshalb für diesen Job ausgewählt worden. Es hätte ihn nicht gewundert. Dieses von Genies konzipierte Amt wurde von Robotern betrieben. Wenn es solche Roboter tatsächlich gäbe, wären sie ganz bestimmt hier im Einsatz, denn Maschinen spulten immer nur ihr Programm ab. Darauf war Verlass.
Aber Maschinen konnten eben auch nicht denken, und zumindest für seine Aufgabe waren Denk- und Erinnerungsvermögen unerlässlich. Ohne sie würde der ganze Apparat nicht funktionieren, und funktionieren musste er. Er war sozusagen Schild und Schwert des Staates. Und er selbst diente diesem Apparat als eine Art Postverwalter, der jederzeit nachvollziehen musste, was wohin gelangt war. Er wusste beileibe nicht alles, was in diesem Haus vor sich ging, aber doch sehr viel mehr als die meisten anderen. Bekannt wurden ihm nicht nur Operationsbezeichnungen und Einsatzorte, sondern manchmal auch Inhalte und Zielsetzungen bestimmter Missionen. Die echten Namen und Gesichter der Offiziere im Einsatz kannte er für gewöhnlich nicht, wohl aber ihre Aufgaben, die Decknamen der von ihnen rekrutierten Agenten und zum Teil auch das, was diese Agenten an Informationen lieferten.
Er war nun schon ziemlich genau seit neuneinhalb Jahren für diese Abteilungen tätig. 1973 hatte er angefangen, gleich nach dem erfolgreichen Abschluss seines Mathematikstudiums an der Universität Moskau, wo er schon früh einem KGB-Scout für junge Talente aufgefallen war. Er hatte sehr gut Schach zu spielen gelernt, worauf er nicht zuletzt auch sein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen zurückführte, hatte er doch alle wichtigen Partien der Großmeister auswendig gelernt, um sein eigenes Spiel danach auszurichten. Er hatte sogar daran gedacht, Profi zu werden, und entsprechend hart trainiertaber nicht hart genug, wie es schien. Boris Spassky, damals selbst noch ein junger Spieler, hatte ihn in sechs Spielen geschlagen, nur zwei Remis zugelassen und somit all seine Hoffnungen auf Ruhm, Reichtum und ausgedehnte Reisen zunichte gemacht. Er seufzte. Reisen… Seine Erdkundebücher hatte er verschlungen, und wenn er jetzt die Augen schloss, konnte er sich immer noch die Abbildungen in Erinnerung rufen: Schwarzweißbilder des Canal Grande von Venedig, der Regent Street in London, der Copacabana von Rio de Janeiro oder der Südostflanke des Mount Everest, über die Hillary aufgestiegen war, als er selbst gerade zu laufen gelernt hatte. All diese Orte würde er nie zu Gesicht bekommen. Er nicht. Nicht ein Geheimnisträger seines Ranges. Nein, mit solchen Leuten ging der KGB sehr behutsam um. Niemandem war zu trauen. Warum nur gab es so viele, die aus dem Land zu fliehen versuchten? Und doch hatten viele Millionen Menschen im Kampf für die rodina, die Heimat, ihr Leben gelassen. Der Militärdienst war ihm erspart geblieben, vielleicht wegen seiner Fähigkeiten als Mathematiker und Schachspieler, vor allem aber, so vermutete er, weil ihm Aufgaben in der Zentrale am Lubjanka-Platz Nummer 2 zugedacht waren. Dazu bekam er eine hübsche Wohnung, volle 75 Quadratmeter in einem neu gebauten Apartmenthaus. Und befördert wurde er. Nur wenige Wochen nach seiner Volljährigkeit durfte er sich schon Major nennen. Nicht schlecht. Und was noch besser war: Sein Sold wurde in frei konvertierbaren Rubeln ausbezahlt, sodass er auch in den Transitläden, die für andere gesperrt waren, Konsumgüter aus dem Westen kaufen konnte – und das, ohne Schlange stehen zu müssen, was vor allem seiner Frau gefiel. Schon bald fand er Zugang zur Nomenklatura, sah die Karriereleiter vor sich aufragen und fragte sich, bis zu welcher Sprosse er wohl kommen würde. Dass darüber nicht wie früher bei den Zaren die Herkunft entschied, sondern allein die eigenen Verdienste, motivierte ihn, Major Zaitzew, umso mehr.
Ja, er hatte sich seine Sporen verdient, und allein darauf kam es an. Deshalb war er auch Geheimnisträger. Zum Beispiel wusste er von einem Agenten mit dem Decknamen CASSIUS, einem in Washington lebenden Amerikaner. Der hatte offenbar Zugriff auf wichtige politische Informationen, die von den Leuten auf der fünften Etage unter Verschluss gehalten und gelegentlich an Experten vom U.S.-Kanada-Institut weitergeleitet wurden, deren Spezialität es war, den Kaffeesatz in Amerika zu studieren. Kanada war für den KGB nicht besonders wichtig, abgesehen davon, dass es an der amerikanischen Luftabwehr partizipierte, sowie von der Tatsache, dass manche seiner hochrangigen Politiker den mächtigen Nachbarn im Süden nicht besonders gut leiden mochten. Jedenfalls behauptete das der Mann aus Ottawa. Zaitzew hatte seine Bedenken. Auch die Polen waren auf den Nachbarn im Osten nicht gut zu sprechen, folgten aber in der Regel seinen Wünschen – so berichtete der Mann in Warschau bei seinem Rapport im vergangenen Monat mit unverhohlener Genugtuung –, und zwar zum großen Missfallen dieses notorischen Hitzkopfes. »Konterrevolutionärer Abschaum«, schimpfte Oberst Igor Aleksejewitsch Tomaschewsky, der aufgrund seiner Versetzung in den Westen als ein aufgehender Stern gehandelt wurde. Denn dahin gingen nur die wirklich fähigen Leute.
Rund vier Kilometer entfernt trat Ed Foley gerade als Erster durch die Tür, gefolgt von seiner Frau Mary Patricia, die den kleinen Eddie an der Hand hielt. Der Junge hatte seine blauen Augen in kindlicher Neugier weit aufgesperrt und war mit seinen viereinhalb Jahren im Begriff zu lernen, dass Moskau nicht zum Disneyland gehörte. Der Kulturschock würde heftig sein, aber immerhin auch seinen Horizont erweitern, dachten seine Eltern. Und nicht zuletzt den eigenen.
»Huch«, entfuhr es Ed Foley auf den ersten Blick. Vorher hatte hier ein Botschaftsangestellter gewohnt. Immerhin hatte er Ordnung zu schaffen versucht, zweifellos mit Hilfe einer Haushälterin – die wurden von der sowjetischen Regierung gestellt und legten sich wirklich ins Zeug … für ihre Chefs. Ed und Mary Pat waren wochen-, nein, monatelang aufs Gründlichste vorbereitet worden, ehe sie in einem Pan-Am-Flieger vom JFK-Airport nach Moskau abgeflogen waren.
»Das wäre dann also unser Zuhause?«, sagte Ed in bemüht neutralem Tonfall.
»Willkommen in Moskau«, begrüßte Mike Barnes die Neuankömmlinge. Auch er war Botschaftsangestellter, ein Diplomat auf dem Weg nach oben, der in dieser Woche gewissermaßen als Empfangschef seiner Botschaft fungierte. »Vor Ihnen hat hier Charlie Wooster gewohnt. Der ist jetzt wieder in Foggy Bottom und muss der Sommerhitze trotzen.«
»Wie ist der Sommer hier?«, fragte Mary Pat.
»So etwa wie in Minneapolis«, antwortete Barnes. »Nicht allzu heiß. Auch die Luftfeuchtigkeit hält sich in Grenzen. Der Winter ist allerdings nicht ganz so streng wie bei uns. Ich bin in Minneapolis aufgewachsen«, fügte er erklärend hinzu. »Napoleon oder die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sind, was den Winter betrifft, wahrscheinlich zu einer anderen Einschätzung gelangt, aber … nun, niemand wird behaupten wollen, dass Moskau ein zweites Paris ist, oder?«
»Vom hiesigen Nachtleben hab ich schon das ein und andere gehört«, sagte Ed schmunzelnd. Ihm war’s egal. In Paris hätte es keinen entsprechenden Posten für ihn gegeben, und der Job, den er hier nun antreten sollte, war eine riesige Herausforderung, mit der er gar nicht gerechnet hatte. Er hatte zwar mal an Bulgarien gedacht, aber selbst da nicht an die Höhle des Löwen. Bob Ritter hatte seine Zeit in Teheran bestimmt noch lebhaft in Erinnerung. Zum Glück war Mary Pat damals genau im richtigen Zeitpunkt mit Eddie niedergekommen. Sie hatten die Machtübernahme im Iran um ungefähr drei Wochen verpasst. Weil die Schwangerschaft nicht ganz unproblematisch verlaufen war, hatte Pats Arzt darauf bestanden, dass sie zur Geburt nach New York fliegen durften. Kinder waren immerhin ein Geschenk des Himmels … Ganz nebenbei war Eddie jetzt auch noch ein waschechter New Yorker und somit, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, gewissermaßen von Geburt an ein eingefleischter Fan der Yankees und der Rangers. Das Beste an dieser neuen Stelle war, abgesehen von dem beruflichen Drumherum, die Aussicht darauf, das weltweit beste Eishockey eben hier in Moskau bestaunen zu können. Ballett und Sinfoniker konnten ihm gestohlen bleiben. Aber diese Kufenflitzer waren unvergleichlich. Schade nur, dass die Russkis keine Ahnung von Baseball hatten. War vermutlich zu überkandidelt für diese Knüppel schwingenden Rabauken …
»Nicht gerade besonders schön«, bemerkte Mary Pat mit Blick auf ein Fenster mit gesprungener Scheibe. Sie befanden sich im sechsten Stock. Immerhin war der Straßenverkehr nicht übermäßig laut. Die Wohnanlage – das Ghetto – der Ausländer war ummauert und bewacht, zu deren eigenem Schutz, wie es von offizieller Seite hieß. Dabei kam es in Moskau nur äußerst selten vor, dass Ausländer Opfer krimineller Übergriffe wurden. Im Besitz ausländischer Währung zu sein war strafbar, weshalb man hier auch kaum etwas damit anfangen konnte. Somit lohnte es sich einfach nicht, einen Amerikaner oder Franzosen zu überfallen und auszunehmen – die ihrer Kleidung wegen hier so deutlich auffielen wie Pfauen unter Krähen.
»Hallo.« Der Akzent war eindeutig englisch. Gleich darauf zeigte sich ein rosiges Gesicht. »Wir sind Ihre Nachbarn. Nigel und Penny Haydock.« Der Mann, der sich so freundlich vorstellte, war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, groß gewachsen und hatte schüttere, vorzeitig ergraute Haare. Seine Frau, so jung und hübsch, wie er es womöglich gar nicht verdiente, tauchte wenig später auf – mit einem Tablett voller Sandwiches und einem Weißwein als Willkommenstrunk.
»Sie sind bestimmt Eddie«, sagte die flachsblonde Mrs Haydock, und erst jetzt registrierte Ed Foley, dass sie Umstandskleidung trug. Dem Anschein nach war sie im sechsten Monat. Die Briefings stimmten also auch in diesem Punkt. Foley vertraute der CIA, hatte aber aus bitterer Erfahrung gelernt, wie wichtig es war, alle Informationen nachträglich zu verifizieren, angefangen von den Namen derer, die mit einem auf derselben Etage wohnten, bis hin zur Feststellung, ob denn auch die Klospülung zuverlässig funktionierte. Was insbesondere in Moskau durchaus nicht selbstverständlich war, dachte er und begab sich zur Toilette. Nigel folgte ihm.
»Die Installationen sind in Ordnung, wenn auch ein bisschen laut. Ansonsten gibt’s nichts zu beanstanden«, sagte er.
Ed Foley zog an der Spülung. Sie war in der Tat laut.
»Hab ich selbst repariert. Ich bin hier so was wie das Mädchen für alles«, ergänzte er. Und dann, leiser: »Geben Sie Acht, was Sie sagen, Ed. Das ganze Haus ist voller Wanzen. Vor allem die Schlafzimmer. Die verrückten Russen scheinen festhalten zu wollen, wie oft unsereins im Bett kommt. Um sie nicht zu enttäuschen, geben Penny und ich unser Möglichstes.« Er grinste. Tja, in manche Städte musste man sein Nachtleben halt selbst mitbringen.
»Und Sie sind seit zwei Jahren hier?« Die Spülung rauschte immer noch. Foley war drauf und dran, den Deckel des Spülkastens abzunehmen, um nachzusehen, ob Haydock auch an der Mechanik im Innern herumgebastelt hatte. Aber das ließ er dann doch bleiben.
»Seit neunundzwanzig Monaten. Sieben stehen uns noch bevor. Es gibt hier viel zu tun. Bestimmt hat man Ihnen auch gesagt, dass überall auf der Welt ein Freund auf Sie abgestellt ist. Und die Freunde hier sind nicht zu unterschätzen. Die Jungs vom Zweiten Hauptdirektorat haben ein gründliches Training hinter sich …« Die Spülung hatte ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Haydock wechselte in eine andere Tonlage über. »Die Dusche … Mit dem heißen Wasser gibt’s keine Probleme. Aber das Rohr rappelt, geradeso wie bei uns in der Wohnung…« Zur Demonstration drehte er den Hahn auf. Das Rohr rappelte tatsächlich. Hatte da wohl jemand Hand angelegt, um es zu lockern? fragte sich Ed. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich dieses Mädchen für alles an seiner Seite.
»Perfekt.«
»Ja, Sie werden hier eine Menge zu tun haben. Spar Wasser und dusch mit einem Freund. Das wird einem doch in Kalifornien geraten, stimmt’s?«
Foley rang sich ein Lachen ab, sein erstes in Moskau. »Ja, so heißt es, in der Tat.« Er betrachtete seinen Besucher, der sich ihm so überraschend früh vorgestellt hatte. Aber mit der Tür ins Haus zu fallen entsprach vielleicht irgendeiner typisch britischen Spielart des Spionagegeschäfts, und das kannte unzählig viele Regeln und Vorschriften. Die Russen ihrerseits waren bekannt für strenges Regelverhalten. Deshalb hatte Bob Ritter ihm geraten, einen Gutteil der Regeln über Bord zu werfen. Halt dich an deine Legende und spiel die Rolle des einfältigen, unberechenbaren Amis. Und er hatte den Foleys auch noch gesagt, dass auf Nigel Haydock absolut Verlass sei. Dessen Vater sei ebenfalls Geheimdienstler gewesen – eines der armen Schweine, die, von Kim Philby verraten, mit dem Fallschirm über Albanien abgesprungen waren, direkt in die Arme von KGB-Leuten, die wie ein Begrüßungskomitee auf sie gewartet hatten. Nigel war damals fünf Jahre alt gewesen, alt genug, um sich ein Leben lang daran zu erinnern, wie es war, seinen Vater an den Feind zu verlieren. Seine Beweggründe für den Job waren wohl ebenso fundiert wie die von Mary Pat. Nein, ihre Gründe waren noch zwingender, wie sich Ed Foley nach mehreren Drinks eingestehen konnte. Mary Pat verabscheute die Mistkerle aus dem anderen Lager wie der Teufel das Weihwasser. Haydock war hier zwar nicht der Stationsleiter, fungierte aber als erster Spürhund für die vom SIS koordinierte Operation in Moskau, und das bedeutete einiges. Judge Moore, der CIA-Direktor, vertraute den Briten, die nach dem Fall Philby die SIS-eigenen Reihen – um ausnahmslos jedes Leck offen zu legen – mit einem Flammenwerfer durchforstet hatten, der noch heißer war als James Jesus Angletons fly rod. Foley seinerseits vertraute Judge Moore – wie übrigens der Präsident auch. Das war das Verrückte am Geheimdienstgewerbe: Man durfte nur ja nicht allen, musste aber zumindest einigen wenigen trauen können.
Sei’s drum, dachte Foley und hielt prüfend die Hand unter den Strahl heißen Wassers, es hat schließlich auch nie jemand behauptet, dass dieses Geschäft logisch sei.
»Wann kommen die Möbel?«
»Der Container müsste inzwischen in Leningrad auf einen Schlepper umgeladen worden sein. Ob man in den Sachen rumschnüffeln wird, was meinen Sie?«
Haydock zuckte mit den Achseln. »Es wird eine Kontrolle geben. Aber wie gründlich die sein wird, lässt sich schwer einschätzen. Der KGB ist eine Behörde durch und durch. Was das heißt, erschließt sich nur dem, der seine Erfahrungen mit ihr macht. Nehmen wir die Wanzen in Ihrer Wohnung. Wie viele davon werden wohl tatsächlich funktionieren? Die sind nicht etwa von der British Telecom oder von AT&T. So hapert es hier an allen Ecken und Enden, was unsereinem durchaus gelegen kommen kann. Leider ist aber auch auf diesen Vorteil nur wenig Verlass. Wenn Sie beschattet werden, bleibt fraglich, ob sich Ihnen ein Experte an die Fersen geheftet hat oder irgendein Trottel, der nicht mal den Weg zum Klo finden kann. Sie sehen alle gleich aus, sind alle ähnlich angezogen. Geradeso wie bei uns, wenn man’s genau nimmt. Nur ist die Bürokratie hier so riesig und schwerfällig, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Inkompetenz befördert. Nun ja, bei uns im Century House gibt’s schließlich auch mehr Armleuchter als genug.«
Foley nickte. »In Langley nennen wir es deshalb auch das Geheimdienst-Direktorat.«
»Treffend. Wir nennen es Westminster-Palast«, witzelte Haydock. »Ich finde, wir haben die Installationen jetzt ausgiebig genug überprüft.«
Foley drehte den Wasserhahn zu und kehrte mit dem Nachbarn ins Wohnzimmer zurück, wo sich Mary Pat und Penny miteinander bekannt machten.
»Also, heißes Wasser haben wir, Schatz.«
»Gut zu hören«, antwortete Mary Pat. Und an ihren Gast gewandt fragte sie: »Wo kann man hier in der Nähe einkaufen?«
Penny Haydock lächelte. »Das zeige ich Ihnen. Was man sonst noch braucht, lässt sich über einen Versandhandel in Helsinki bestellen. Der bietet ausgezeichnete Qualität, Waren aus England, Frankreich, Deutschland – sogar aus den Staaten. Zum Beispiel Fruchtsäfte und Lebensmittelkonserven. Die frischen Sachen sind meist finnischer Herkunft und im Allgemeinen sehr gut, vor allem Lammfleisch. Findest du nicht auch, Nigel?«
»Oh ja, finnisches Lammfleisch ist so gut wie neuseeländisches.«
»Aber die Steaks lassen einiges zu wünschen übrig«, warf Mike Barnes ein. »Zum Glück werden einmal pro Woche Steaks aus Omaha eingeflogen. Tonnenweise. Wir verteilen sie an unsere Freunde.«
»Wirklich wahr«, bestätigte Nigel. »Ihr Rindfleisch ist nicht zu übertreffen. Ich fürchte, wir sind schon ganz süchtig danach.«
»Der US Air Force sei Dank«, führte Barnes weiter aus. »Sie transportiert das Fleisch an all ihre NATO-Stützpunkte, und auf der Verteilerliste stehen auch wir. Es kommt tiefgefroren, ist deshalb nicht ganz so frisch wie bei Delmonico’s, aber gut genug, um die Erinnerung an zu Hause wach zu halten. Ich hoffe, Sie haben auch einen Grill im Gepäck. Wir ziehen manchmal aufs Dach und feiern da ein zünftiges Barbecue. Die Holzkohle wird ebenfalls importiert. Der Iwan scheint von solchen Dingen absolut keine Ahnung zu haben.« Die Wohnung war ohne Balkon. Der erübrigte sich wohl wegen der unerträglichen Dieselschwaden, die von der Straße aufstiegen.
»Wie komme ich zur Arbeit? Zu Fuß?«, fragte Foley.
»Da nehmen Sie besser die Metro. Die ist wirklich zu empfehlen«, antwortete Barnes.
»Und ich hab das Auto für mich?«, fragte Mary Pat mit hoffnungsvollem Lächeln. Das hatte sie im Stillen nicht anders erwartet. Allerdings war sie an der Seite ihres Mannes immer auch auf weniger erfreuliche Überraschungen eingestellt. Etwa, was die Geschenke unterm Weihnachtsbaum anbelangte. Nie konnte sie sich darauf verlassen, dass der Weihnachtsmann den Wunschzettel tatsächlich zur Kenntnis nahm…
»Hier in der Stadt kann man gut Auto fahren lernen«, sagte Barnes. »Und Sie haben ja einen flotten Untersatz.« Der Vormieter hatte ihnen einen weißen Mercedes 280 zurückgelassen, ein wirklich schickes Auto. Erst vier Jahr alt und vielleicht ein bisschen zu schick. In Moskau sah man ohnehin nicht allzu viele Autos auf den Straßen, und schon die Nummernschilder wiesen den Mercedes als das Fahrzeug eines amerikanischen Diplomaten aus. Es fiel also sofort auf, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil ihm ständig ein KGB-Wagen folgen würde. Mary Pat würde sich umstellen müssen wie jemand aus Pennsylvania, der zum ersten Mal durch New York kurvte. »Die Straßen sind schön breit«, sagte Barnes. »Und die nächste Tankstelle ist nur drei Straßen weiter.« Er zeigte in die Richtung. »Riesig groß. Wie alle Tankstellen hier.«
»Wow!«, staunte sie, dem Nachbarn zum Gefallen und um sich an ihre Legende als hübsche, einfältige Blondine zu gewöhnen. Das Vorurteil, wonach als hirnlos galt, wer hübsch und dazu auch noch blond war, schien überall auf der Welt vorzuherrschen. Das Dummchen zu spielen war doch sehr viel einfacher, als auf intelligent zu mimen.
»Und wie sieht’s mit der Wartung aus?«, wollte Ed wissen.
»An einem Mercedes geht so schnell nichts kaputt«, versicherte Barnes. »Außerdem hat die deutsche Botschaft einen Mann angestellt, der alles reparieren kann. Wir pflegen gute Beziehungen zu unseren NATO-Verbündeten. Mögen Sie Fußball?«
»Ein Spiel für Mädchen«, entgegnete Ed Foley spontan.
»Das will ich aber überhört haben«, sagte Nigel Haydock.
»American Football ist mir jedenfalls tausendmal lieber.«
»Dieses unzivilisierte, gewalttätige Gerangel, das ständig durch Beratungspausen unterbrochen wird?«, schnaubte der Brite.
Ed grinste. »Nehmen wir einen Happen zu uns.«
Sie setzten sich. Das zur Verfügung gestellte Mobiliar war angemessen, etwa von der Art, wie man es auch in kleinen, namenlosen Motels in Alabama vorfinden würde. Auf den Betten ließ sich schlafen, und das Ungeziefer hatte man wahrscheinlich mit der Sprühdose bekämpft. Vielleicht.
Die Sandwiches schmeckten lecker. Mary Pat holte Gläser und drehte den Wasserhahn auf.
»Davon würde ich abraten, Mrs Foley«, warnte Nigel. »Leitungswasser ist hier nicht sehr bekömmlich.«
»Ach ja?« Sie stockte. »Ich heiße übrigens Mary Pat.«
Jetzt hatten sich alle einander richtig vorstellt. »Zum Trinken ziehen wir Wasser aus der Flasche vor. Das aus der Leitung ist zum Waschen gut oder, abgekocht, für Kaffee oder Tee.«
»In Leningrad ist das Wasser noch schlechter«, behauptete Penny. »Die Anwohner scheinen zwar immunisiert zu sein, aber wir, die Ausländer, können ernstlich davon krank werden.«
»Wie steht’s um die Schulen?« Diese Frage lag Mary Pat schon lange auf dem Herzen.
»Die amerikanisch-britische Schule ist sehr gut«, antwortete Penny Haydock. »Da wird erstklassige pädagogische Arbeit geleistet. Für ein paar Stunden arbeite ich selbst dort.«
»Unser Eddie fängt gerade an zu lesen«, erklärte der stolze Vater.
»So etwas wie Peter Rabbit und dergleichen, aber nicht schlecht für einen Vierjährigen«, ergänzte die Mutter nicht weniger stolz. Der, von dem die Rede war, hatte den Sandwichteller für sich entdeckt und mampfte. Sein Lieblingsbelag war zwar nicht zu haben, aber ein hungriges Kind ist nicht immer wählerisch. Und für alle Fälle gab es ja noch, versteckt an sicherem Ort, vier große Gläser Erdnussbutter der Marke Skippy’s Super Chunk, denn die Eltern nahmen an, dass man irgendwelche Marmelade überall kaufen konnte, nicht aber Skippy’s. Das hiesige Brot war allem Bekunden nach recht gut, wenn auch ganz anders als das Wonder Bread, mit dem amerikanische Kinder aufwuchsen. Unter den Gepäckstücken, die mit dem Container auf einem Lastwagen oder Zug zwischen Leningrad und Moskau unterwegs waren, befand sich außerdem ein Brotbackautomat. Mary Pat, ohnehin eine gute Köchin, konnte ganz vorzüglich Brot backen und war optimistisch, dass sie mit diesem Talent in den Botschaftskreisen würde auftrumpfen können.
Nicht weit entfernt von dieser kleinen Tischgesellschaft wechselte ein Brief von einer Hand in eine andere. Der Zulieferer kam aus Warschau und war von seiner Regierung auf den Weg geschickt worden, genauer: von einer gewissen Behörde seiner Regierung. Dem Boten passte dieser Auftrag überhaupt nicht. Er war zwar Kommunist – sonst wäre er mit einem solchen Auftrag nie betraut worden –, aber nicht zuletzt auch Pole, und als solcher konnte er mit dem Inhalt der Sendung ganz und gar nicht einverstanden sein.
Es handelte sich dabei um die Fotokopie eines Briefes, der drei Tage zuvor in einem Büro – einem sehr wichtigen – in Warschau persönlich abgegeben worden war.
Der Bote, ein Oberst des polnischen Geheimdienstes, war dem Empfänger der Briefkopie bekannt. Die Russen spannten ihren Nachbarn im Westen häufig und gern für die verschiedensten Aufgaben ein, zumal die Polen ein echtes Talent für geheimdienstliche Tätigkeiten entwickelt hatten, und zwar aus einem ähnlichen Grund wie die Israelis: Ihr Land war von Feinden umgeklammert – im Westen von Deutschland, im Osten von der Sowjetunion. Diese ungünstige Lage hatte dazu geführt, dass viele der tüchtigsten und hellsten Köpfe des Landes dem Geheimdienst zugeführt wurden.
Der Empfänger wusste von alldem, ja, er kannte bereits den Inhalt des Briefes Wort für Wort. Der war ihm tags zuvor mitgeteilt worden. Aber es war nicht so, dass ihn die Verzögerung gewundert hätte. Die polnische Regierung hatte diesen Tag gebraucht, um den Inhalt des Briefes zu prüfen und dessen Bedeutung einzuschätzen, bevor sie ihn weiterreichte. Daran nahm der Empfänger keinen Anstoß. Jede Regierung der Welt brauchte für solche Dinge mindestens einen Tag. Es lag in der Natur der Menschen – gerade auch der an mächtiger Stelle –, dass sie ihre Nase in alles Mögliche hineinsteckten und sich den Kopf zerbrachen, obwohl sie doch eigentlich wissen mussten, dass so etwas reine Zeit- und Energieverschwendung war. Doch selbst der Marxismus-Leninismus hatte keinen Einfluss auf die Menschennatur. Traurig, aber wahr. Der neue Sowjetmensch war, wie der moderne Pole, letztlich immer noch Mensch.
Tonlos flimmerten im Hintergrund Szenen aus einer Ballettaufführung über den Fernsehbildschirm. Die Darbietung war so stilisiert wie jedes andere Werk der Leningrader Truppe um Kirow. Der Empfänger glaubte beinahe, die Musik hören zu können. Eigentlich gefiel ihm Jazz viel besser als Klassisches, aber bei einem Ballett war Musik ja ohnehin nur Garnierung oder allenfalls Taktgeber, damit die Tänzer wussten, wann sie hüpfen mussten. Für den Geschmack eines Durchschnittsrussen waren die Ballerinen natürlich viel zu schlank. Allerdings würden diese tanzenden Hänflinge von Männern richtige Frauen nie derartig mühelos durch die Luft werfen können.
Wieso driftete er mit seinen Gedanken ab? Langsam lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück und faltete den Bogen auseinander. Der Brief war auf Polnisch verfasst, eine ihm fremde Sprache, enthielt aber im Anhang eine wortwörtliche russische Übersetzung. Natürlich würde er sie noch einmal prüfen lassen, nicht nur von seinem eigenen Übersetzer, sondern darüber hinaus von zwei, drei psychologischen Sachverständigen, die den geistigen Zustand des Absenders zu beurteilen hätten und eine mehrseitige Analyse erstellen würden – was letztlich auch nur Zeitverschwendung wäre. Dann hätte er einen Bericht zu verfassen und seine Vorgesetzten, nein: seine Standesgenossen mit allen verfügbaren Informationen zu versorgen, damit diese ihrerseits Zeit verschwendeten, indem sie den Brief studierten und überlegten, welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
Der Vorsitzende fragte sich, ob diesem polnischen Oberst eigentlich klar war, wie leicht es seine politischen Chefs im Grunde hatten. Die brauchten die ganze Sache nur weiterzuleiten, die Verantwortung an die vorgesetzte Stelle abzutreten, was in allen Politapparaten unabhängig ihrer Philosophie gewissermaßen Routine war. Vasallen waren Vasallen, und das überall auf der Welt.
Der Vorsitzende blickte auf. »Genosse Oberst, danke, dass Sie mir das hier zur Kenntnis gebracht haben. Bestellen Sie Ihrem Kommandanten schöne Grüße von mir. Sie sind entlassen.«
Der Pole stand stramm, salutierte auf polnische Art, was den Vorsitzenden reichlich komisch anmutete, und verließ, ohne eine Miene zu verziehen, den Raum.
Juri Andropow wartete, bis die Tür geschlossen war, und wandte sich dann wieder dem Brief und der Übersetzung zu.
»Aha, du willst uns also drohen, Karol. Ts, ts …« Er schüttelte den Kopf. »Mutig von dir, aber mir scheint, du tickst nicht sauber, Genosse Papa.«
Wieder blickte er auf, nachdenklich diesmal. An den Wänden hingen die üblichen Kunstwerke, zu genau dem Zweck, der für alle Büroräume zutraf, nämlich um die Leere zu überdecken. Bei zweien handelte es sich um Ölgemälde von Renaissancekünstlern, ausgeliehen aus der Sammlung eines längst verstorbenen Zaren oder Adeligen. Des Weiteren hing da ein Porträt von Lenin, recht gut gemalt. Es zeigte ihn mit fahler Haut und gewölbter Stirn, so, wie man ihn von millionenfachen Abbildungen her kannte. Gleich daneben hing ein gerahmtes Farbfoto von Leonid Breschnew, dem gegenwärtigen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das Foto war eine Lüge, zeigte es doch einen energischen jungen Mann anstelle jenes senilen alten Ziegenbocks, der jetzt am Kopfende des Politbüro-Tisches saß. Zugegeben, alt wurden alle, aber die meisten Würdenträger legten, wenn es an der Zeit war, ihr Amt nieder und verabschiedeten sich in den wohlverdienten Ruhestand. Nicht so in diesem Land, erinnerte sich Andropow und richtete seinen Blick zurück auf den Brief. Und schon gar nicht dieser Mann. Der hatte sein Amt auf Lebenszeit gepachtet.
Drohte dieser Pontifex doch glatt damit, den einen Teil der Gleichung zu verändern, dachte der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit. Und darin lag Gefahr.
Gefahr?
Gefährlich war, dass die Konsequenzen im Unklaren blieben. Die Genossen aus dem Politbüro – alt, vorsichtig und ängstlich, wie sie waren – würden es ähnlich sehen.
Und deshalb war es für ihn nicht damit getan, die Gefahr zu melden. Er musste auch geeignete Vorschläge unterbreiten, wie darauf zu reagieren sei.
Eigentlich hätten auch noch die Porträts zweier anderer, inzwischen aber fast vergessener Männer an die Wand gehört. Zum einen das des Eisernen Felix, Felix Dsershinski, dem Gründer der Tscheka, der Vorgängerorganisation des KGB.
Zum anderen fehlte ein Foto von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dieser hatte einst – im Jahre 1944 – eine Frage aufgeworfen, die sich für Andropow auch gerade jetzt wieder stellte. Vielleicht dringlicher denn je zuvor.
Nun, das würde sich noch herausstellen. Und wer, wenn nicht er, sollte in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen?, dachte Andropow bei sich. Verschwinden lassen konnte man jeden. Dieser Gedanke hätte ihn im selben Moment erschrecken müssen, doch dem war nicht so. Hier, zwischen diesen Mauern, vor achtzig Jahren errichtet, um die Russische Versicherungsgesellschaft zu beherbergen, waren schon so manche Gemeinheiten ausgeheckt und Befehle ausgegeben worden, die den Tod vieler, vieler Menschen zur Folge hatten. In den Kellerräumen war gefoltert und exekutiert worden, womit es erst seit ein paar Jahren ein Ende gehabt hatte – aus Platzgründen. Das Gebäude, so riesig es auch war, war für den KGB, diesen ständig wachsenden Apparat, allmählich zu klein geworden. Er hatte sich in jedem Winkel breit gemacht und noch ein anderes Gebäude an der inneren Ringstraße mit Beschlag belegt. Doch Angestellte der Putzkolonnen erzählten hinter vorgehaltener Hand, dass ihnen in stillen Nächten manchmal die Geister von Gefolterten erschienen und Angst machten. Von offizieller Seite wurden solche Geschichten natürlich bestritten. An Geister und Gespenster glaubte man ebenso wenig wie an eine unsterbliche Seele. Doch einfachen Leuten ihren Aberglauben auszutreiben war sehr viel schwieriger als der Versuch, die Intelligenz dazu zu bewegen, die gesammelten Werke von Wladimir Iljitsch Lenin, Karl Marx oder Friedrich Engels zu kaufen und durchzukauen. Ganz zu schweigen von der schwülstigen Prosa, die Stalin zugeschrieben wurde (tatsächlich aber von eingeschüchterten indoktrinierten Schreiberlingen verfasst worden war). Doch mit den Auflagen ging es glücklicherweise zurück. Nachgefragt wurden solche Schmöker nur noch von ausnehmend masochistischen Studenten.
Nein, sagte sich Juri Wladimirowitsch, die Leute zum Marximus zu bekehren war nicht besonders schwierig. Der wurde schon den Kleinen in der Grundschule eingetrichtert, dann den jungen Pionieren, den Schülern weiterführender Schulen und den Komsomolzen der bolschewistischen Jugendorganisation. Die wirklich Gescheiten wurden schließlich Vollmitglieder der Partei und trugen ihren Mitgliedsausweis in der Hemdtasche »nahe dem Herzen« ständig bei sich.
Wer es so weit geschafft hatte, war dann meist auch kuriert. Die politisch bewussten Mitglieder bekannten ihren Glauben an die Partei, weil ihnen, um weiterzukommen, nichts anderes übrig blieb. Auch die schlauen Höflinge im Ägypten der Pharaonen hatten sich schon ehrerbietig und zum Zeichen ihrer Demut auf die Knie fallen lassen und angesichts der strahlenden Erscheinung ihrer Gottkönige, den Garanten von Macht und Wohlstand, die Augen abgeschirmt, um nicht zu erblinden. Waren seitdem tatsächlich schon fünftausend Jahre vergangen? Das ließ sich in einem Geschichtsbuch nachlesen. Die Sowjetunion hatte Altertumsforscher hervorgebracht, die weltweit hoch angesehen waren, denn ihr Fachgebiet war eines der wenigen, die mit der aktuellen Politik kaum Berührungspunkte hatten. Das antike Ägypten lag von den gegenwärtigen Lebensumständen viel zu weit entfernt, als dass es den philosophischen Spekulationen von Marx oder dem endlosen Gefasel Lenins in die Quere kommen konnte. Und deshalb hatten viele tüchtige Gelehrte eben dieses Feld für sich erkoren. Viele andere wandten sich der reinen Wissenschaft zu, denn reine Wissenschaft war reine Wissenschaft, und ein Wasserstoffatom hatte ebenfalls nichts mit Politik am Hut.
Wohl aber die Landwirtschaft. Oder die Betriebswirtschaft. Und deshalb hielten sich die Fähigsten von solchen Bereichen fern und wählten stattdessen gleich ein Studium der politischen Wissenschaften. Denn damit war Karriere zu machen. Von dem philosophischen Brimborium musste man ebenso wenig überzeugt sein wie von der Vorstellung, dass Ramses II. der lebendige Sohn des Sonnengottes oder sonst wer gewesen sei. Vielmehr, dachte Juri Wladimirowitsch, war es doch wohl so, dass die Höflinge ihren König Ramses seiner vielen Frauen wegen bewundert hatten sowie wegen der überaus zahlreichen Nachkommenschaft und des schönen, privilegierten Lebens. Ein modernes Äquivalent dazu waren eine Datscha in den Lenin-Hügeln und Sommerferien am Strand von Sotschi. Hatte sich von damals bis heute so viel verändert?
Wohl kaum, befand der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit. Und es gehörte zu seinen Pflichten, dafür zu sorgen, dass sich auch weiterhin nicht allzu viel veränderte.
Doch dieser Brief ließ Veränderungen befürchten. Er war eine Bedrohung, der er irgendwie begegnen musste. Das heißt, er musste gegen den Urheber vorgehen.
Das war schon einmal versucht worden. Beim zweiten Mal mochte es endlich klappen.
Andropow aber sollte nicht mehr lange genug leben, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er mit diesem Entschluss eine Bewegung in Gang setzte, die den Untergang des von ihm mitgetragenen Regimes zur Folge hatte.
»Wann fängst du an, Jack?«, fragte Cathy und legte sich zu ihm ins Bett.
Er war froh, dass es sein eigenes Bett war. So luxuriös das New Yorker Hotel auch gewesen sein mochte, es war und blieb ihm fremd, und überhaupt hatte er genug von seinem Schwiegervater, seiner Penthouse-Wohnung an der Park Avenue und seiner schrecklich aufgeblasenen Art. Okay, Joe Miller hatte gut neunzig Millionen auf der Bank und in diversen Depots, ein Vermögen, das unter der neuen Präsidentschaft noch kräftig zunahm, aber es reichte jetzt langsam.
»Übermorgen«, antwortete er. »Ich will nach der Mittagspause mal kurz vorbeischauen, nur um mir einen ersten Überblick zu verschaffen.«
»Du solltest ein bisschen Schlaf nachholen«, sagte sie.
Genau da saß der Haken, wenn man mit einer Ärztin verheiratet war, dachte Jack so manches Mal. Einer solchen Frau ließ sich nicht viel verheimlichen. Sie hatte mit einer sanften Handberührung Körpertemperatur, Pulsfrequenz und wer weiß was noch erfasst, ließ aber von ihrer Diagnose genauso wenig durchblicken wie ein Pokerprofi von seinem Blatt.
»Ja, es war ein langer Tag.« In New York war es gerade erst kurz vor fünf am Nachmittag, doch sein »Tag« hatte um einiges länger gedauert als normale vierundzwanzig Stunden. Es wäre wirklich besser, wenn er lernen würde, im Flugzeug zu schlafen. Nicht, dass er unbequem gesessen hätte. Er hatte das vom Staat bezahlte Ticket zu einem Ticket für die erste Klasse umgetauscht und die Differenz aus eigener Tasche dazugezahlt, aber das würde er durch die Vielflieger-Bonuspunkte schon bald wieder zurückgewonnen haben. Großartig, dachte Jack. Auf den Flughäfen von Heathrow und Dulles war er demnächst bestimmt bekannt wie ein bunter Hund. Nun, immerhin hatte er einen neuen schwarzen Diplomatenpass, blieb also vor den üblichen Sicherheitskontrollen und dergleichen verschont. Offiziell war er der US-Botschaft Grosvenor Square in London zugeteilt, gleich gegenüber jenem Gebäude, in dem Eisenhower während des Zweiten Weltkriegs ein eigenes Büro unterhielt. Seinem diplomatischen Status verdankte Ryan eine Reihe von Vollmachten, die ihn über die Gesetze stellten und gewissermaßen zum Supermann machten. Er würde jetzt ein Kilo Heroin nach England schmuggeln können, und die Zollbeamten dürften seine Koffer ohne sein Einverständnis nicht einmal berühren. Mit dem Hinweis auf seine Sonderrechte als Diplomat und dem Vorwand, in Eile zu sein, würde er ihnen dieses Einverständnis einfach vorenthalten können. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich Diplomaten über kleinliche Zollpflichten stets hinwegsetzen – was selbst nach Ryans katholischen Moralbegriffen eine allenfalls lässliche Sünde war und somit verzeihlich.
Das typische Durcheinander in einem übermüdeten Kopf, dachte er. Cathy würde es sich nie erlauben, in einem solchen Zustand ihre Arbeit auszuüben. Allerdings hatte sie als Ärztin im Praktikum endlose Stunden ununterbrochen Dienst tun müssen – weil sie unter anderem auch lernen sollte, wichtige Entscheidungen unter Stress zu treffen –, und Jack fragte sich, wie viele Patienten wohl im Zuge solcher Ausbildungspraktiken schon zu Schaden gekommen waren. Wenn ein pfiffiger Anwalt dahinterkäme, wie sich da Geld herausschlagen ließe …
Cathy – auf dem Plastikschild an ihrem weißen Kittel stand: Dr. Caroline Ryan, M. D., FACS – hatte sich in dieser Phase der Ausbildung geradezu aufreiben müssen, und Jack war damals ständig in Sorge gewesen, ihr könnte auf dem Nachhauseweg in ihrem kleinen Porsche etwas zustoßen – nach sechsunddreißig Arbeitsstunden in der Geburtshilfe, der Pädiatrie oder der allgemeinen Chirurgie, Fachgebieten, die sie nur mäßig interessant fand, aber dennoch kennen lernen musste, um approbiert zu werden. Nun, immerhin hatte sie dort auch genug gelernt, um ihn und seine lädierte Schulter an jenem Nachmittag vor dem Buckingham Palace auf die Schnelle zu verarzten und so zu verhindern, dass er vor ihren und den Augen seiner Tochter verblutete. Das wäre für alle Beteiligten ziemlich schmachvoll gewesen, besonders aber für die Briten. Ob ich auch posthum noch in den Ritterstand erhoben worden wäre? fragte er sich und schmunzelte. Dann, nach neununddreißig Stunden ohne Schlaf, schloss er endlich die Augen.
»Ich hoffe, es gefällt ihm da drüben«, sagte Judge Moore zum Abschluss der allabendlichen Teambesprechung.
»Unsere Cousins sind ausgesprochen gastfreundlich«, erwiderte James Greer. »Und Basil wird ein guter Lehrer sein.«
Ritter sagte nichts. Für einen Mann vom CIA, zumal einen Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, war Ryan, dieser Amateur, enorm populär. Ihm, Ritter, kam es so vor, als wackele die nachrichtendienstliche Abteilung als Schwanz mit dem Hund, nämlich der Einsatzabteilung. Zugegeben, Jim Greer war ein guter Mann und zuverlässiger Kollege, aber er war kein Spion im Einsatz, also das, was die Agency – im Unterschied zum Kongress – wirklich brauchte. So viel war Arthur Moore immerhin klar. Aber wenn auf dem Kapitolhügel das Wort »Agent im Einsatz« fiel, schreckten die Abgeordneten, die ihren Segen zu geben hatten, zurück wie Dracula angesichts eines Kruzifixes, und alle verzogen das Gesicht. Dann war es an der Zeit, dass Klartext geredet wurde.
»Wie viel darf er wissen? Was glauben Sie?«, fragte der DDO, der stellvertretende Einsatz-Direktor.
»Basil betrachtet ihn als meinen persönlichen Vertreter«, antwortete Judge Moore, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte. »Das heißt, was man uns an Informationen mitteilt, wird auch er erfahren dürfen.«
»Die werden sich Ryan zur Brust nehmen«, warnte Ritter, »und nach Belieben ausquetschen. Und er weiß nicht, wie er sich dagegen wehren kann.«
»Dazu hab ich ihm schon einiges gesagt«, entgegnete Greer, der als DDO natürlich auf dem Laufenden war. Ritter aber konnte ziemlich grantig werden, wenn ihm etwas nicht passte. Greer fragte sich, wie wohl seine Mutter mit ihm zurechtgekommen war. »Unterschätzen Sie ihn nicht, Bob. Er ist sehr gescheit. Ich wette mit Ihnen um ein Abendessen, dass er über die Briten mehr herausfindet als die über ihn.«
»Kunststück«, schnaubte der stellvertretende Einsatz-Direktor.
»Um ein Essen in Snyder’s Restaurant«, schlug der stellvertretende Leiter des Nachrichtendienstes vor. Für beide gab es kein besseres Steak House als eben Snyder’s, gleich hinter der Key Bridge in Georgetown gelegen.
Judge Arthur Moore, der CIA-Chef, kurz DCI, folgte dem Schlagabtausch mit sichtlichem Vergnügen. Greer wusste, wie er sich Ritter gefügig machen konnte, und Ritter ging ihm tatsächlich immer wieder auf den Leim. Vielleicht lag’s an Greers ausgeprägtem Ostküstenakzent. Texaner wie Bob Ritter (und auch Arthur Moore) wähnten sich allen, die durch die Nase sprachen, haushoch überlegen, vor allem beim Kartenspiel oder dann, wenn eine Flasche Bourbon-Whiskey herumgereicht wurde. Judge Moore war darüber zwar erhaben oder glaubte es zumindest zu sein, hatte aber seinen Spaß daran, die beiden zu beobachten.
»Einverstanden, um ein Abendessen bei Snyder’s.« Ritter streckte die Hand aus. Und für den DCI war es an der Zeit, die Gesprächsleitung wieder an sich zu nehmen.
»Das wäre also geklärt. Kommen wir zum nächsten Punkt, meine Herren. Der Präsident wünscht von mir darüber aufgeklärt zu werden, was in Polen vor sich geht.«
Ritter ließ sich mit der Antwort Zeit. Er hatte zwar einen tüchtigen Mann als Leiter der Außenstelle in Warschau, doch dem standen nur drei Einsatzagenten zur Verfügung, wovon einer ein Neuling war. Allerdings hatten sie eine sehr zuverlässige Quelle an hoher Position in der polnischen Regierung und darüber hinaus mehrere gute Kontakte zum Militär.
»Das ist denen vor Ort selbst noch nicht klar, Arthur. Diese Solidarnosc-Geschichte macht ihnen jedenfalls schwer zu schaffen«, berichtete der DDO.
»Am Ende wird ihnen Moskau diktieren, was zu tun ist«, pflichtete Greer bei. »Aber auch Moskau weiß nicht weiter.«
Moore setzte seine Lesebrille ab und rieb sich die Augen. »Tja, wenn man ihnen offen die Stirn bietet, sind sie ratlos. Stalin hätte alles kurzerhand niedergemacht, aber der jetzigen Riege fehlt dazu die Chuzpe – dem Himmel sei Dank.«
»Im Kollektiv zu regieren kehrt bei den Einzelnen die Feigheit hervor, und Breschnew hat einfach nicht mehr das Zeug zum Führen. Nach dem, was man so hört, muss er sich sogar auf dem Weg zur Toilette an die Hand nehmen lassen.« Das war natürlich leicht übertrieben, aber es gefiel Ritter, über eine schwächelnde sowjetische Regierung Witze zu reißen.
»Was hat uns KARDINAL zu vermelden?« Moore bezog sich auf den CIA-Spitzenagenten im Kreml, die rechte Hand des Verteidigungsministers Dimitri Fedorowitsch Ustinow. Sein Name lautete Michail Semjonowitsch Filitow, doch für die wenigen eingeweihten Männer vom CIA war er schlicht und einfach der KARDINAL.
»Seinen Worten nach hat Ustinow die Hoffnung aufgegeben, dass das Politbüro irgendetwas Sinnvolles hervorbringen könnte, ehe nicht ein anderer an der Spitze steht. Leonid ist seinem Amt nicht mehr gewachsen. Das weiß jeder, auch der Mann auf der Straße. Fernsehbilder lassen sich schlecht beschönigen.«
»Wie lange wird er’s noch machen?«
Allgemeines Schulterzucken. Dann antwortete Greer: »Ich hab mit Ärzten gesprochen. Die sagen, es könnte sein, dass er schon morgen tot umfällt oder noch ein paar Jahre vor sich hin siecht. Er leidet allem Anschein nach an einer fortschreitenden kardiovaskulären Myopathie, wahrscheinlich verschärft durch Alkoholismus.«
»Das Problem haben sie alle«, bemerkte Ritter. »Übrigens kann KARDINAL beides bestätigen: Herzklappern und Suff.«
»Dann wird wohl auch die Leber nicht mehr ganz auf der Höhe sein«, sagte Greer.
Judge Moore bemerkte abschließend zu diesem Thema: »Einem Bären zu verbieten, in den Wald zu scheißen, wäre ebenso sinnlos wie der Versuch, Russen ihren Wodka madig zu machen. Was sie am Ende scheitern lässt, ist weniger der Suff als ihre Unfähigkeit, einen geordneten Machtwechsel zu vollziehen.«
»Haben die denn keine Anwälte?« Bob Ritter grinste hämisch. »Vielleicht sollten wir ihnen ein paar hunderttausend von unseren zukommen lassen.«
»So dumm sind sie auch wiederum nicht«, entgegnete der DDI. »Feuern wir lieber ein paar Raketen auf sie ab. Die richten nicht ganz so viel gesellschaftlichen Schaden an.«
»Womit hat meine Zunft so viel Spott und Schelte verdient?«, stöhnte Moore mit zur Decke gerichtetem Blick. »Wenn deren System überhaupt noch zu retten ist, so nur durch einen Anwalt, meine Herren.«
»Glauben Sie das wirklich, Arthur?«, fragte Greer.
»Für eine vernünftige Gesellschaft ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit unabdingbar, und die kommt ohne Anwälte nicht aus.« Moore war Richter am Obersten Gerichtshof des Staates Texas gewesen. »Von diesem Prinzip sind die Russen noch weit entfernt. Über Recht und Unrecht entscheidet nach wie vor das Politbüro, und wer ihm nicht passt, wird ruck, zuck kriminalisiert. Schrecklich, unter solchen Verhältnissen leben zu müssen, der Willkür preisgegeben. Wie im alten Rom unter Caligula, der jeden noch so schrägen Einfall zur Maxime erhob. Ach was, selbst in Rom gab es Gesetze, an die sich auch ein Kaiser zu halten hatte. Aber das ist bei unseren russischen Freunden nicht der Fall.« Die anderen konnten kaum ermessen, wie schrecklich diese Vorstellung für ihren Direktor war. Er hatte sich in einem Bundesstaat, der hinsichtlich seiner Rechtsprechung als vorbildlich galt, schon als Strafverteidiger einen Namen gemacht, ehe er in den Richterstand wechselte. Für die meisten Amerikaner war Rechtsstaatlichkeit so selbstverständlich und unverzichtbar wie das Regelwerk für Baseball-Spiele. Was Ritter und Greer aber am meisten an Moore schätzten, war, dass er noch vor seiner Karriere als Jurist ein außerordentlich erfolgreicher Agent für besondere Einsätze gewesen war. »Also, was zum Kuckuck soll ich jetzt dem Präsidenten sagen?«
»Die Wahrheit«, schlug Greer vor. »Wir wissen nichts, weil sie nichts wissen.«
Das war die einzig vernünftige Antwort, natürlich, und doch… »Verflucht, Jim, wir werden dafür bezahlt, dass wir Bescheid wissen!«
»Es läuft alles auf die Frage hinaus, ob und in welchem Maße sich die Russen bedroht fühlen. Polen ist kein Problem für sie, ein kleiner Nachbar nur, der auf ihr Kommando hört«, sagte Greer. »Und was das eigene Volk im Fernsehen oder in der Prawda zu sehen und zu lesen bekommt, lässt sich kontrollieren…«
Ritter fiel ihm ins Wort. »Nicht aber die Gerüchte, die über die grüne Grenze hereinsickern. Genauso wenig wie die Geschichten, die ihre Soldaten zu erzählen haben, wenn sie von Einsätzen im Ausland zurückkommen, aus Deutschland zum Beispiel, der Tschechoslowakei, Ungarn. Manche können auch Voice of America oder Radio Free Europe empfangen.« Der eine Rundfunksender unterstand unmittelbar der Kontrolle durch die CIA, und dass der andere, wie es offiziell hieß, unabhängig sein sollte, glaubte nur, wer naiv genug war. Ritter hatte persönlich direkten Einfluss auf beide Propagandainstrumente der amerikanischen Regierung. Für gut gemachte Agitprop hatten die Russen durchaus Verständnis.
»Und? Wie bedroht fühlen sie sich Ihrer Meinung nach?«, fragte Moore.
»Noch vor zwei oder drei Jahren wähnten sie sich ganz obenauf«, antwortete Greer. »Unsere Wirtschaft war auf Talfahrt, und es gab Knatsch mit dem Iran, während ihnen gerade Nicaragua in den Schoß gefallen war. Um unser nationales Selbstbewusstsein stand es ziemlich schlecht und …«
»Nun, damit geht es zum Glück wieder bergauf«, unterbrach Moore ihn. »Komplette Trendwende, hüben wie drüben?« Arthur Moore war ein unverbesserlicher Optimist – wie hätte er sonst auch DCI werden können?
»Zumindest geht’s in die Richtung«, bestätigte Ritter. »Die Russen kommen so schnell nicht nach. Sie sind einfach nicht flexibel genug, und das ist ihre größte Schwäche. Die besten Köpfe sind durch ihre ideologischen Scheuklappen behindert. Wir können sie fertig machen, ihnen verdammt wehtun, wenn wir ihre Schwächen gründlich analysieren und diese für unsere Zwecke ausnutzen.«
»Glauben Sie das wirklich, Bob?«, fragte der DDI.
»Davon bin ich überzeugt!«, blaffte der DDO. »Sie sind verwundbar, und was noch besser ist: Sie wissen nicht einmal, dass sie verwundbar sind. Es wird Zeit, dass wir in Aktion treten. Wir haben einen Präsidenten, der auf unserer Seite steht. Wenn es sich nur irgendwie für ihn lohnt, wird er uns auch den nötigen Rückhalt bieten. Und der Kongress hat viel zu viel Angst vor ihm, als dass er sich uns in den Weg stellen würde.«
»Robert«, sagte der DCI, »es hört sich an, als hätten Sie schon was Konkretes auf Lager.«
Ritter antwortete erst nach ein paar Sekunden. »Ja, so ist es auch. Ich denke schon darüber nach, seit ich vor elf Jahren aus dem