»Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können« - Hermann Hesse - E-Book

»Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können« E-Book

Hermann Hesse

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Beschreibung

Es ist nicht leicht, Sohn eines berühmten Vaters zu sein. Zumal wenn der Vater häufig abwesend ist und dann auch noch die Familie zerbricht. Wie es Hermann Hesse und seinen Söhnen Bruno und Heiner »trotz allem Schwierigen« gelungen ist, eine liebevolle, lebenslange Beziehung aufzubauen – davon erzählt dieser Briefwechsel, der fast 300, bislang unveröffentlichte Briefe enthält.

Die hier wiedergegebene Korrespondenz setzt Anfang 1920 ein. Zwei Jahre zuvor hatte Hesses erste Frau und die Mutter seiner Kinder, Mia Hesse-Bernoulli, einen psychischen Zusammenbruch und wurde in eine Klinik eingewiesen. In der Folge sah er sich gezwungen, seine Söhne in Obhut zu geben: Der 14-jährige Bruno kam als Pflegesohn zu einem befreundeten Ehepaar, der vier Jahre jüngere Heiner erlebte eine Odyssee durch Kinderheime und Schulinternate.

Hesse ist bemüht, trotz der räumlichen Trennung die Entwicklung seiner Söhne mit Rat und Tat zu begleiten. Er geht voller Verständnis auf die Probleme und Lebensentwürfe der beiden Heranwachsenden ein, immer individuell und auf Brunos und Heiners Temperament und Charakter zugeschnitten. In seinen Briefen bestärkt er sie, ihren eigenen Weg zu gehen, und ermuntert sie, die eigenen Anlagen, die sie in sich tragen, weiterzuentwickeln. Dass nicht nur er ihnen hilft, ihren Platz im Leben zu finden, sondern auch sie ihm über die Jahre helfen, sich in seiner Rolle als Vater zurechtzufinden, dokumentiert der Briefwechsel auf ebenso unterhaltsame wie erhellende Weise.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Hermann Hesse

»Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können«

Briefwechsel mit seinen Söhnen Bruno und Heiner

Herausgegeben von Michael Limberg in Zusammenarbeit mit Silver und Simon Hesse

Suhrkamp

Vorwort

Seit Jahren wächst das Interesse, den im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Ausgaben der gesammelten Briefe Hermann Hesses einen Briefwechsel zur Seite zu stellen, der das Verhältnis zu seinen Söhnen in den Mittelpunkt stellt. Diesem Wunsch sind die Enkel gefolgt und haben in den letzten Jahren die Briefe ihrer Väter mit dem Großvater gesichtet und transkribiert. In dieser Edition kommen also neben Hermann Hesse auch die Söhne Bruno und Heiner zu Wort. Der vorliegende Briefwechsel zeichnet die Entwicklung nach, die sich aufgrund der Lebensumstände und der Trennung des Vaters von der Familie über die Jahre ergab, und legt zugleich Zeugnis ihrer lebenslangen Bindung ab.

Nach dem Tod Hermann Hesses im August 1962 nahmen die Söhne ihre eigenen Briefe an den Vater wieder an sich. Dabei zeigte sich folgendes Bild: Von Bruno an seinen Vater existieren 680 Briefe, von seinem Vater an ihn 500. Bei Heiner sind es 567 Briefe an den Vater, von seinem Vater an ihn 363. Nicht eingerechnet sind weitere 80 Briefe von Hesse und Ninon an Heiner und dessen zweite Frau Isa. Leider stand uns für diese Ausgabe der Briefwechsel mit Hesses jüngstem Sohn Martin nicht zur Verfügung.

Angesichts der großen Zahl der Briefe kann nur ein kleiner Teil wiedergegeben werden. Wenn möglich, werden den Briefen die Gegenbriefe gegenübergestellt. Dabei sollen auch angespannte oder konfliktgeladene Situationen nicht verschwiegen werden. Zu berücksichtigen ist, dass eine Reihe von Briefen und Gegenbriefen nicht mehr aufgefunden werden konnte, was einige größere zeitliche Abstände ihres Austausches erklärt.

Die Briefe Hermann Hesses aus den frühen Jahren sind meist in Sütterlinschrift, ab 1920 auch als Typoskript an die Söhne gegangen. Häufig finden sich bis in die späten Jahre im Briefkopf kleine Aquarelle. Auch die Söhne haben sich immer wieder mit Illustrationen und Skizzen revanchiert, waren doch beide künstlerisch tätig.

Die Eigenheiten in der Orthographie und Kommasetzung der Briefe werden in der vorliegenden Ausgabe unverändert abgedruckt. Hesse hat häufig und bewusst ein Komma vor einem ›und‹ verwendet. Anredepronomen (sowohl Personalpronomen als auch die Possessivpronomen) hat er im Gegensatz zu seinen Söhnen in Briefen an die Familie immer kleingeschrieben. Da die Söhne ihre schulische Ausbildung in der Schweiz erhielten, wurden in ihren Briefen die Besonderheiten des Schweizerhochdeutsch, ›ss‹ statt ›ß‹, beibehalten.

Dass Bruno und sein knapp dreieinhalb Jahre jüngerer Bruder Heiner ihrem Vater schon in ihren Jugendjahren zahlreiche Briefe schrieben, lag an der damaligen schwierigen Familiensituation. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 lebten Hermann Hesse, seine Frau Mia und die drei Kinder Bruno (*1905), Heiner (*1909) und Martin (*1911) schon zwei Jahre in Ostermundigen bei Bern. Hesse, der sich gleich nach Ausbruch des Krieges freiwillig gemeldet hatte, wurde zwar wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit nicht zum Wehrdienst eingezogen, stellte sich aber ab 1915 der Deutschen Kriegsgefangenenfürsorge zur Verfügung. Seine Aufgabe war es, die Soldaten in den Internierungslagern mit Lektüre zu versorgen. Diese Tätigkeit kostete ihn viel Zeit, Kraft und Nerven, so dass für die Familie und eigene literarische Arbeiten wenig Raum blieb. Erschwerend kam hinzu, dass er als Reaktion auf seinen Appell »O Freunde nicht diese Töne!«, der im November 1914 in der »Neuen Zürcher Zeitung« erschien und in dem er seine Schriftstellerkollegen zur Mäßigung aufrief, von allen Seiten angefeindet und als Vaterlandsverräter bezichtigt wurde. Als Anfang März 1916 sein Vater starb, zu dem Hesse immer ein schwieriges Verhältnis hatte, durchlebte er eine so schwere Krisis, dass er psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen musste. Auch in seiner Ehe kriselte es: Das Leben an der Seite von Mia empfand er nur noch als freudloses Nebeneinander. Seine Frau litt nicht weniger darunter. Als sie Anfang Oktober 1918 mit ihrem jüngsten Sohn Martin drei Wochen Urlaub im Tessin machte, erlitt sie bei der Rückreise einen Nervenzusammenbruch, so dass sie in großer Verwirrtheit in ein Sanatorium gebracht werden musste. Das veranlasste Hesse, seinen Sohn Bruno bei einem Pfarrer in Langnau im Emmental unterzubringen, etwas später auch Heiner. Diese Zeit gehörte für Hesse »zu den schwersten und hoffnungslosesten in [s]einem Leben« (Brief 130). Ende April 1919 holte Mia, die inzwischen entlassen worden war, die beiden Söhne aus Langnau nach Hause zurück, nach Ostermundigen.

Als im Frühjahr 1919 Hesses Tätigkeit bei der Deutschen Kriegsgefangenenfürsorge beendet war, trennte er sich endgültig von seiner Familie, brach seine Zelte in Bern ab, zog ins Tessin und mietete in der Casa Camuzzi in Montagnola vier möblierte Zimmer. Der Plan Mias, das große Haus in Bern zu halten und Zimmer zu vermieten, zerschlug sich. Es drängte sie ebenfalls ins Tessin. Während des Umzugs von Bern nach Ascona erlitt sie erneut einen Zusammenbruch und wurde wieder in eine Heilanstalt eingeliefert.

Hesses größte Sorge betraf die Unterbringung der beiden älteren Söhne. Martin, der Jüngste, lebte ohnehin überwiegend in der Familie des befreundeten Arztes Ringier in Kirchdorf bei Bern. Bruno und Heiner wurden vorerst in einem Ferienlager für deutsche Kinder in Hergiswil bei Luzern untergebracht. Am 23. Dezember 1919 mussten sie allein zu dem Erzieher Friedrich Ambühl in Rütte (Hochschwarzwald) reisen, der Hermann Hesse empfohlen worden war. Dass es den Kindern dort schlecht erging, zeigt der Auszug aus Brunos Tagebuch (Nr. 2). Mia, die mit Zustimmung Hesses die gemeinsamen Söhne nach Ascona holen wollte, musste den Belastungen erneut Tribut zollen und die Nervenheilanstalt von Mendrisio aufsuchen. Den elfjährigen Heiner nahm sie (zu Hesses Entsetzen) dorthin mit.

Da sie sich infolgedessen nicht um Bruno kümmern konnte, beschloss Hesse, seinen ältesten Sohn dem befreundeten Maler Cuno Amiet und dessen Frau anzuvertrauen. Die beiden lebten auf der Oschwand (bei Herzogenbuchsee) und hatten bereits zwei Adoptivtöchter und eine Pflegetochter. Bruno fiel es anfangs nicht leicht, sich an die geänderte Situation anzupassen, was er aber seinem Vater verschwieg. Nach einiger Zeit fühlte er sich jedoch auf der Oschwand sehr wohl. Amiet war Mitglied der international bekannten expressionistischen Künstlergruppe »Die Brücke«. Bei ihm lernte Bruno nicht nur, Bilderrahmen herzustellen und zu vergolden, Leim zu kochen oder Meißel zu schmieden und zu härten. Zu seinem 15. Geburtstag schenkte ihm Amiet vielmehr einen Papierblock und Farben, und Bruno begann zu aquarellieren. Wenn Bruno alljährlich seinen Vater im Tessin besuchte, gehörten gemeinsame Malausflüge von nun an zum festen Programm, was beide sehr genossen.

Abgesehen von seinen Studienaufenthalten an der École des Beaux Arts in Genf und an der Académie Julian in Paris, an der schon Amiet studiert hatte, blieb Bruno der Gegend um die Oschwand sein Leben lang verbunden. 1936, nach der Heirat mit Kläri Friedli, zog er nach Juchten, drei Jahre später bezogen die Eheleute ein eigenes Haus in Spych unterhalb Oschwand.

In vielen Briefen an seinen Vater, vor allem aus der Pariser Zeit, wirkt Bruno niedergeschlagen und bedrückt. Er zweifelt an sich, seiner Arbeit und seinem Können. Hesse reagiert auf solche Selbstzweifel immer sofort voller Empathie. Er zeigt einerseits Verständnis für Brunos Mutlosigkeit und versucht andererseits aber auch, ihn mit dem Gedanken zu ermutigen, dass das Leben für Künstler oft schwierig sei, es aber keinen Sinn habe, Vorbildern und Idealen zu folgen, die man nicht erreichen könne. Sinnvoller sei es, die eigenen Anlagen weiterzuentwickeln, die man in sich trage (Brief 226). Bruno fühlte sich durch den Zuspruch seines Vaters gestärkt und getröstet. Hesse half jedoch nicht nur mit guten Ratschlägen, sondern unterstützte ihn auch finanziell, wie in späteren Jahren beim Bau seines Hauses in Spych bei Oschwand.

War das Verhältnis zwischen Bruno und seinem Vater unproblematisch und getragen von liebevoller Nähe und Zuneigung, so war die Beziehung zu Heiner in seinen Jugendjahren mitunter konfliktreicher. Er war rebellischer und kritischer, mit Lust am Widerspruch. Während Bruno behütet in einer Pflegefamilie auf dem Land aufwuchs, hatte Heiner keinen festen Ankerpunkt, sondern kam zunächst von einem Heim ins nächste. Nach Internatsjahren in Kefikon und dem Abitur in Frauenfeld absolvierte er ein Semester an der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich und durchlief dann auf Vermittlung seines Vaters in einem Zürcher Kaufhaus eine Lehre als Schaufenstergestalter. Nach Beendigung der Lehre im September 1930 machte er sich nach kurzer Angestelltenzeit selbständig. Ein Jahr zuvor wurde seine Tochter Hellen, genannt Bimba, geboren, und Heiner lebte nun mit seiner Freundin Hellen Guggenbühl zusammen.

Als selbständiger Schaufensterdekorateur hatte Heiner kein regelmäßiges Einkommen und war von Aufträgen abhängig. Hesse hatte seinen Sohn schon während der Lehrzeit finanziell unterstützt, und auch in späteren Jahren steckte er ihm immer wieder Geld zu. Da Hesse sich finanziell selbst einschränken musste, führte Heiners etwas sorgloser Umgang mit Geld zu Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn (Brief 119). Nachdem Heiner 1941 ein zweites Mal geheiratet hatte und bald für eine mehrköpfige Familie sorgen musste, war die Unterstützung des Vaters besonders gern gesehen. Heiners Frau, Isa Rabinovitch, war Graphikerin und arbeitete als Illustratorin für Zeitschriften und Tageszeitungen. Wenn Hesse finanziell nicht helfen konnte – während der Nazizeit lebte er fast nur von Erspartem und gelegentlichen Hilfen seiner Mäzene –, verschaffte er Heiner und seiner Frau Aufträge für Illustrationen bei der Büchergilde Gutenberg in Zürich.

In Konflikt gerieten die beiden auch wegen unterschiedlicher politischer Einstellungen. In Zürich hatte Heiner Anschluss an politisch engagierte Kreise gefunden. Wenn er auch nie Mitglied der kommunistischen Partei war, sympathisierte er mit linkem Gedankengut. Bei kommunistischen Versammlungen dekorierte er die Säle, und während des Dritten Reichs engagierte er sich für die Rote Hilfe, die sich für politisch Verfolgte und Emigranten einsetzte. Er nahm selber Emigranten auf, die ihn gelegentlich bei Arbeitsaufträgen unterstützten. Hesse hat nicht versucht, Heiner von seinen Überzeugungen abzubringen – sympathisierte er doch selbst mit den Idealen des Sozialismus –, gab aber zu bedenken, ob Heiner es verantworten wolle, »daß Menschen totgeschlagen werden, damit andre Menschen es dann vielleicht etwas besser haben« (Brief 106).

Heiner wiederum versuchte ab Mitte der 1930er Jahre, seinen Vater dazu zu bewegen, öffentliche Proteste gegen das NS-Regime zu lancieren. Das war diesem aber von der neutralen Schweiz aus ebenso unmöglich wie Thomas Mann, nachdem dieser in die Schweiz emigriert war. Und selbst wenn sich Hesse über die behördlichen Vorgaben hinweggesetzt hätte, glaubte er, damit das Leben seiner in Deutschland verbliebenen Schwestern in Gefahr zu bringen. Außerdem lehnte er es ab, sich einer Partei oder einem Programm anzuschließen, hatte er doch während des Ersten Weltkriegs erfahren müssen, dass sein Engagement und seine Aufrufe ohne Wirkung geblieben waren. Ein Künstler, der sich einer Partei verschreibe, werde als Künstler nicht besser (Brief 141). Er, Hesse, wolle nicht wie Karl Marx die Welt ändern, sondern den Widerstand der vielen Einzelnen stärken, denen er gerade im Dritten Reich mit seinen Schriften Halt und Kraft geben könne.

1931 hatte er Ninon Dolbin geheiratet, und im gleichen Jahr ließ sein Mäzen, H. ‌C. Bodmer, ihm ein Haus errichten, das, verglichen mit den vier Stuben, die der Dichter bis dahin in der Casa Camuzzi bewohnt hatte, eine beachtliche Veränderung seiner Lebensumstände darstellte. Der neue großbürgerliche Lebensstil brachte Heiner in Rage, er passe »so maßlos schlecht« zu seinem Vater (Brief 107). Der gab ihm recht, räumte aber ein, dass dies eine Konzession an Ninon sei, die aus großbürgerlichen Verhältnissen stamme (Brief 111).

Die Briefe zwischen Heiner und seinem Vater zeigen, dass es ab Ende der 1930er Jahre (Heiner ist 30) kaum mehr zu Auseinandersetzungen kam, und wenn, reagierte Hesse darauf zumeist nachsichtig und verständnisvoll, nicht ohne seinen Sohn auf Widersprüche in seiner Argumentation hinzuweisen.

Ab Mitte der 1930er Jahre verbrachte Ninon meist jährlich einige Wochen im Jahr in Süditalien, Griechenland, Paris und London, um sich vor Ort und in Museen mit griechischer Mythologie zu befassen. Während ihrer Abwesenheit kümmerten sich die Söhne abwechselnd um den Vater. Sie halfen im Garten und lasen ihm vor, denn Hesse hatte schon seit vielen Jahren unter oft unerträglichen Augenschmerzen zu leiden, die ihm das Lesen erschwerten. Bei solchen Besuchen entstanden auch die reizvollen Fotos von Hesse, die sein jüngster Sohn Martin aufnahm.

Auch während seiner Kuraufenthalte in Baden freute sich Hesse, wenn seine Söhne ihn besuchten, legte aber Wert darauf, dass sie nicht gemeinsam kamen, sondern einzeln, so dass er auf jeden von ihnen persönlich eingehen konnte.

Wenn sie in der Jugend auch unter der Trennung der Eltern zu leiden hatten, so haben doch Hermann und Mia ihren Söhnen die Konflikte erspart, die ihrem Vater Kindheit und Jugend erschwert hatten. Weder wurden sie religiös indoktriniert, noch wurden sie in Berufe gedrängt, zu denen sie keine Neigung verspürten. Auch blieben die Eltern schon im Interesse ihrer Söhne immer in Kontakt zueinander. Bereits 1920 ließ sich Mia in Ascona nieder und nahm sie in den Ferien zu sich. Das Verhältnis der Eltern zueinander normalisierte sich in den Folgejahren, und ihre Briefe sind frei von Vorwürfen und zeugen von Empathie und gegenseitigem Respekt.

Zusätzlich zum eigentlichen Briefwechsel wurden daher auch einige inhaltlich oder familiär aussagekräftige Briefe von Hesses erster Ehefrau Mia sowie seiner Schwiegertochter Isa aufgenommen.

Der Briefwechsel zeigt deutlich, wie sehr sich Hesse seiner Verantwortung als Vater bewusst ist. Voller Verständnis geht er auf die Probleme und Lebensentwürfe seiner heranwachsenden Söhne ein, immer individuell und auf deren Temperament und Charakter zugeschnitten.

Die Söhne wiederum verband lebenslänglich ein gutes Einvernehmen sowohl mit dem Vater als auch zueinander. Im Übrigen zeigen die Briefe beider Söhne das Gegenteil von Auseinandersetzung und Konflikten, nämlich gegenseitiges Verständnis für die Sorgen des anderen bis ans Lebensende des Vaters. Nach Ninon Hesses Tod 1966 übernahm Heiner nach Absprache mit seinen Brüdern die Nachlassverwaltung, und bis zu seinem Tod im Jahr 2003 hat er zusammen mit Volker Michels, dem Herausgeber der Werke Hesses im Suhrkamp Verlag, unter anderem die Zehntausende der in aller Welt verstreuten Briefe seines Vaters gesammelt und dafür gesorgt, dass eine Gesamtausgabe der Werke Hesses erscheinen konnte.

Michael Limberg

Briefe

1 Heiner

Rütte, den 16. ‌2. ‌19201

Lieber Vater!*

Vielen Dank für den lieben Brief, den Du mir geschrieben hast. Wie geht es Dir? Wir haben schon ein Pferdlein in unserem Stall. Vor ein paar Tagen fuhren wir mit dem Schlitten aus, was uns sehr Freude machte. […] Herr Ambühl sagt, wenn Du uns schreibst, so dürfen wir mit unserem Rössli ausfahren. Herr Ambühl hat Bericht bekommen von Basel über die Ausstellung2 und hat sich sehr gefreut. In der Schule geht alles gut. Wenn Bruno aus der Schule kommt, so schenkt ihm Herr Ambühl eine kleine Werkstatt, wo er allerlei Sachen aus Holz machen kann. […]

In unserem Haus haben wir sehr viele Tiere, nämlich eine Kuh, ein Pferd, eine Ziege, ein Schwein, zwei Enten, fünf Hühner und einen Hahn, 10 Hasen und eine zugelaufene Katze. […] Der Hahn kräht immer am Abend um 8 Uhr und nicht am Morgen. Ich und Wolfi3 haben beide im März Geburtstag, und auch im März werden wir unser Schwein schlachten. Ich freue mich schon jetzt auf den Speck. Viele Grüsse von Deinem Heiner.

Wünsche Dir einen guten Abend!

*Die vorangegangenen Briefe des Vaters sind nicht erhalten.

1Der zehnjährige Heiner und sein dreieinhalb Jahre älterer Bruder Bruno wurden im Januar 1920 beim Erzieher Friedrich Ambühl in Rütte bei Herrischried im Südschwarzwald untergebracht.

2Hermann Hesse stellte Anfang 1920 erstmals seine Aquarelle in Basel aus.

3Ein weiterer Zögling.

2

Aus Bruno Hesses Tagebuch1

Dort [in Rütte] hatten wir nun immer viel Arbeit. Wolfi und Heiner besorgten den Stall, und ich musste kochen. Heiner und ich gingen auf der Rütte in die Schule. Wenn wir von der Schule heimkamen, musste ich in die Küche und kochen, immer Kartoffeln und hie und da Äpfel dazu, etwas anderes gab es selten, höchstens hie und da zum Nachtessen Gersten- oder Haferbrei. Neben diesen Arbeiten mussten wir noch viel anderes tun. […] Es wäre in der Rütte gewiss sehr schön gewesen, wenn wir bei jemand anderem als bei Ambühlgewesen wären. Aber Ambühl schimpfte immer nur mit uns, und wir konnten ihm nichts recht machen. Mich schickte er oft beim ärgsten Schneesturm nach Herrischried, wenn es gar nicht nötig gewesen wäre. Manchmal war es spät am Abend und schon dunkel. Wenn viel Schnee war, ging ich mit den Skiern und kam halb erfroren nach Herrischried. […] Im März kamen Heiner und ich wieder von der Rütte fort. Die Zeit bei Ambühl kam uns wie eine Ewigkeit vor, trotzdem es nur ein Vierteljahr war. […] Die Mutterkam im März auf die Rütte, um zu sehen, wie es uns gehe, denn schreiben konnten wir nichts, da Ambühl alle Briefe las und auf der Post in Herrischried sagte, sie sollen keine Briefe von uns annehmen, auf denen nicht der Stempel Ambühls war. […] Die letzte Zeit hatte ich es überhaupt bös bei Ambühl, denn er behauptete, ich hätte der Mutter einen Brief geschrieben, von dem er nichts gewusst hätte. Das war aber gar nicht wahr. Ambühl fragte mich immer, und wenn ich nein sagte, prügelte er mich durch und quälte mich den ganzen Tag, bis ich endlich sagte, ich hätte den Brief geschrieben. Als Heiner und ich einmal allein waren, fragte mich Heiner auch, und ich sagte ihm, ich hätte keinen Brief geschrieben. Heiner sagte das Ambühl, als er von ihm gefragt wurde, da wurde ich noch einmal von Ambühl durchgeprügelt, und dann musste ich jeden Tag von dem Brief hören und wurde von Ambühl so schlecht behandelt wie noch nie.2

1Auszug aus dem ersten Tagebuch von Bruno, geschrieben im Juli 1920 auf der Oschwand in Oberaargau. Bruno nannte das Heft »Meine Lebensgeschichte«.

2Nach Klagen der Buben über die misslichen Verhältnisse in Rütte brach ihre Mutter Mia im April den Aufenthalt bei Ambühl abrupt ab. In einer Nacht-und-Nebelaktion nahm sie beide Söhne mit zu sich nach Ascona. Kurz darauf erlitt sie einen erneuten Nervenzusammenbruch und wurde zusammen mit Heiner in die psychiatrische Klinik in Mendrisio eingeliefert.

3 Bruno

[Poststempel: Oschwand, 30. ‌4. ‌1920]

Lieber Vater!

Es geht mir hier gut. Ich kann auf der Hobelbank schreinern, wenn der Schreiner nicht da ist. Ich habe das Modellierhölzchen jetzt fertig gemacht, Herr Amiet1 gab mir dafür einen Franken. Frau Amiet hat mir auch schon zehn Rappen gegeben, weil ich eine Maus gefangen habe, sie gibt mir für jede Maus so viel. Ich habe jetzt schon selbst eine Mausefalle gemacht. Vor einigen Tagen fand Frau Amiet ein Drehörgelchen, das nicht mehr ging, und schenkte es mir. Ich nahm es auseinander und reparierte es wieder und machte ein Kistchen darum; jetzt läuft es wieder gut, ich lasse es immer am Abend im Bett spielen. Hoffentlich geht es Dir gut.

Viele Grüsse an Dich und Natalina2 von Bruno.

Herr und Frau Amiet und die Mädchen3 grüssen dich vielmals.

1Der Kunstmaler Cuno Amiet (1868-1961) und seine Frau Anna (1874-1953), bei denen Bruno seit dem 22. April 1920 lebt.

2Natalina Bazzari (1868-1942), Hesses Haushälterin.

3Amiets Adoptivtöchter Greti Adam (1900-1979) und Lydia Friedli (1896-1976) und die Pflegetochter Mineli (Hermine) von Ballmoos (1905-1990).

4 Bruno

[Oschwand, 30. ‌7. ‌1920]

Lieber Vater!

Es geht mir gut. Heute morgen bekam ich von der Mutter einen Korb voll Pfirsiche und Pflaumen. Sie schrieb mir, es wäre schön, wenn ich im September ein paar Wochen zu ihr kommen könnte. Wir haben September und Oktober Ferien. Sie schrieb, ich könnte zum Herbsten kommen, aber das geht auch nicht gut. Wir haben hier auch viel Äpfel abzulesen, und Kartoffelgraben müssen wir auch. Die Tante1 sagt, es sei ihr auch so langweilig, wenn ich so lang fort gehe. Sie hätte es lieber, wenn ich so wenig als möglich fortgehe, und in den Ferien kann ich ja hier bleiben, hier ist es so schön wie an einem andern Ort. Wir haben jetzt Ernteferien. Otto Bürgi2 schrieb mir einmal, ob ich nicht zu ihnen nach Gersau in die Ferien kommen dürfe, aber ich ging nicht und schrieb ihm, dass es wegen der Seuche3 nicht gut gehe. Bis Luzern käme ich schon, ich würde über die Linde nach Huttwil und über Zell nach Luzern fahren, von dort mit dem Schiff nach Weggis, aber ob ich von dort weiterkäme, weiss ich nicht, und bis Gersau mit dem Schiff fahren, wäre mir zu teuer. Und weil es hier so schön ist, ist es gar nicht nötig, dass ich in die Ferien gehe. Nach Ascona gehe ich im September lieber nicht, da vielleicht der Brüdi4 zur Mutter in die Ferien geht, und wenn wir beide dort sind, würde es die Mutter zu sehr aufregen, dass sie vielleicht wieder krank werden könnte, und das möchte ich nicht machen. Es ist jetzt sehr lustig bei uns. Der Rolf Langnese5 ist hier, und jetzt baden wir fast jeden Tag zusammen im Bassin im Garten. Ich habe für die Mutter und für Greti zum Geburtstag schon Zeichnungen und Rähmchen gemacht. […]

Wir spielen jetzt jeden Abend, wenn es dunkel ist, Verstecken, das geht sehr lustig. Hoffentlich geht es Dir gut.

Herzliche Grüsse von Deinem Bruno.

1Bruno nannte seine Pflegeeltern Onkel und Tante.

2Ein Freund von Bruno aus Gersau am Vierwaldstättersee, wo Bruno und Heiner in den Ferien waren.

3In Oschwand herrschte zu dieser Zeit die Maul- und Klauenseuche.

4Der jüngste Bruder Martin (1911-1968), genannt Brüdi.

5Rolf Langnese (1904-1968) wurde 1914 von Cuno Amiet porträtiert (»Knabenportrait«); Anfang der 1920er Jahre hat Langnese einige Gedichte von Hesse vertont (»Harte Menschen«, »Abendgespräch«, »Die Kindheit«, »Nach dem Fest«, »Zuweilen«).

5 Hermann

[Postkarte, Montagnola, 31. ‌7. ‌1920]

Lieber Buzi1!

Danke für deinen lieben Brief; das ist recht, daß du an Muttis Geburtstag2 denkst! Aber ich glaube, wenn du in den Herbstferien gar nicht zum Mutti3 kämst, so wäre sie traurig und es wäre nicht gut für sie. Überlege dir das noch einmal und sprich mit Onkel und Tante darüber. Ich glaube, daß Mutti sich sehr auf dich freut, und daß dein Besuch ihr gar nicht schaden würde, auch wenn Brüdi da wäre. Unterwegs könntest du dann vielleicht Otto Bürgi kurz besuchen?

Morgen ist Bundesfeiertag4, den habe ich einmal mit dir bei Feuer und Raketen in Oberhusen gefeiert. Viele Grüße an alle. Einen Kuß von deinem Vater

1»Buzi« oder »Buzelius« war Brunos Kosename.

2Am 7. ‌8. ‌1920 feierte Mia Hesse ihren 52. Geburtstag.

3In einigen schweizerdeutschen Dialekten gibt es abweichend von der Standardsprache bei weiblichen Personen- und Verwandtschaftsnamen eine etwas ungewöhnliche Genuszuweisung: »das Mutti«, »das Frieda« etc.

4Der Schweizer Nationalfeiertag, 1. August.

6 Heiner

[Kefikon]1 2. ‌9. ‌1920

Lieber Papi!

Ich danke Dir für den Brief und die Marken2. Es geht mir hier sehr gut. Ich verdiene auch Geld mit den Marken. Jede Woche bekomme ich 50 Rp., die ich notiere. Jeder Knabe von uns hat ein Kassabüechli, wo er die Einnahmen und Ausgaben einschreibt. […] Bruno hat mir auch schon geschrieben. Er hat mir auch Marken geschickt.

In Ermatingen war es sehr langweilig für mich. Nach dem Essen mussten wir immer in's Zimmer oder sogar in's Bett. Hier hat es rechte Knaben, die gesund sind. Wir haben am Morgen 4 Std. à 40 min. Schule. In Ermatingen hatten wir nur 2 Std. Schule und 1 Std. Gartenarbeit. Hier haben wir am Nachmittag »Nufa«, das mache ich sehr gerne. Die fünf Franken habe ich bekommen und danke dir vielmals dafür. Viele Grüsse an Dich und Deine Magd, den Namen habe ich vergessen. Und jetzt kommt die berühmte Ausrede: »Nun muss ich schliessen!«

Heiner

1Nach einem Aufenthalt im Ärztlichen Landerziehungsheim bei Dr. Fritz Rutishauser (1875-1953) in Ermatingen (Juni-Juli 1920) tritt Heiner im August ins Landerziehungsheim Schloss Kefikon (Kanton Thurgau) ein. Ermöglicht wurde dieser Aufenthalt durch die finanzielle Unterstützung des Mäzens Georg Reinhart (1877-1955).

2Briefmarken.

7 Hermann

Montagnola, 12. ‌9. ‌1920

Lieber Heiner!

Dein liebes Brieflein hat mir große Freude gemacht. Ich bin so froh darüber, daß du dich jetzt wohl fühlst und gern mit gesunden Kameraden in Arbeit und Spiel zusammen bist. Was »Nufa«1 ist, mußt du mir dann noch gelegentlich schreiben. Das Schreiben an mich soll aber keine unangenehme Pflicht für dich sein, lieber Bub, ich möchte nur zuweilen einen Gruß und kurzen Bericht haben, und nur, wenn es dir selber Freude macht, sollst du mir ausführlicher schreiben.

Ich war zwei Tage in Ascona drüben und sah bei Mutti unsern lieben Brüdi, und am zweiten Tag kam auch Buzi an. Er wird mich auch hier noch besuchen. Ich freue mich schon auf ein späteres Mal, wo auch du in den Ferien ein wenig bei mir sein wirst.2 Deine Grüße an meine Magd habe ich ausgerichtet, sie hat sehr nach dir gefragt und sich gefreut, daß es dir gut geht. Sie heißt Natalina, und neulich war sie schwer krank, in Lebensgefahr, und ich bin froh, daß sie wieder gesund geworden ist.

Frag einmal, ob in der Schülerbibliothek oder sonstwo bei Euch die Zeitschrift »Schweiz« zu haben ist, da findest du im neusten Heft, vom September, einige kleine Bilder von mir drin.3

In der Nähe von Kefikon ist Gerlikon, dort wohnt der Bauerndichter A. Huggenberger4, ich glaube, der kommt manchmal auch nach Kefikon zu Herrn Bach5. Wenn du den siehst oder ihn an einem freien Nachmittag vielleicht einmal in Gerlikon besuchst, so sage ihm viele Grüße von mir, wir sind von früher her befreundet, und er wird sich freuen, wenn er dich sieht. Er kam früher öfter zu uns nach Gaienhofen.

Ich wünsche dir, daß es recht gut weiter geht, mit der Schule, mit deinen Freunden und mit allem. Ich glaube, du hast jetzt einen guten und schönen Weg vor dir, nachdem es leider durch Muttis Kranksein und den Herrn Ambühl eine Zeitlang so schwer für dich gewesen war. Ich denke herzlich an dich.

Mit vielen Grüßen dein Vater.

1Nufa ist ein zur Schule gehörender parkähnlicher Pflanzgarten, den die Schüler bewirtschafteten.

2Bereits im Mai besuchte Heiner erstmals seinen Vater in Montagnola.

3Walter Ueber Wasser: Der Maler Hermann Hesse. In: »Die Schweiz«, Bd. 24, 1920, S. 511-515.

4Der Schweizer Mundartdichter Alfred Huggenberger (1867-1960).

5August Bach (1869-1950), Schweizer Pädagoge und Schulleiter.

8 Heiner

Kefikon, den 5. Nov[ember] 1920

Lieber Vater!

Bei uns ist es jetzt schon ziemlich kühl. Gestern bedeckten wir das Bassin noch mit Laub, damit es im Winter vor der Kälte geschützt ist. Die Grossen brachen die Waldschule ab. […]

In der Schule geht es jetzt anders als früher. Wir haben einige Stunden mit der 1. Sekundar. Bis heute hatten wir keine Holzarbeit, deshalb ging ich zu Fr[äulein] Lenz in die Cartonnage. Dort schnitt ich 2 mm dicke Cartonstreifen. Als ich dann eine Seite eines Rechtecks schneiden wollte, schnitt ich mich glücklich noch in den Finger. Wir haben mit den Grossen: Physik, Geometrie, Geographie, Geschichte, Schreiben und Freihandzeichnen.

Letzten Sonntag und Mittwoch machten wir Räuberlis. Das erste Mal am Sonntag war ich bei den Räubern. Wir wurden von den Polizisten ordentlich gehetzt, aber fangen konnten sie uns nicht. Hingegen am Mittwoch wurden wir das erste Mal als Räuber gefangen. Ich werde Dir auch ein Plänchen von den Spielen zeichnen. Nun muss ich schliessen.

Viele herzliche Grüsse von Deinem Heiner

9 Heiner

Kefikon, den 8. Dez[ember] 1920

Lieber Vater!

Wie geht es Dir? Das Eis ist bei uns zerschmolzen. Schnee ist auch noch keiner da. Ich habe nun Schlittschuhe erhalten, aber das Eis ging halt weg. Ich glaube, Mutti schickt mir die Ski von Ambühl bald. Ich hoffe, dass ich mir nicht zuviel zur Weihnacht gewünscht habe. […]

Neben der Holzwerkstatt können wir auch »schnitzeln«. Ich habe schon einen Holländer1 gemacht.

Morgen darf ich ein Gedicht von Goethe2 aufsagen, denn morgen ist ein Goetheabend. Soll ich Dir das Gedicht schreiben?

Das gerettete Blümchen!

Ich ging im Walde so für mich hin,

und nichts zu suchen war mein Sinn.

Im Schatten sah ich ein Blümlein stehn

Wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen, da sagt es fein:

»Soll ich zum Welken gebrochen sein«?

Ich grubs mit all den Wurzeln aus,

zum Garten trug ich's an unserem Haus,

Und pflegt es wieder an stillem Ort.

Nun zweigt es wieder und grünet fort.

Jeder Knabe muss ein solches Gedichtlein können, das von Goethe ist.

In der Schule stehe ich jetzt sehr gut. Im Rechnen bin ich den andern bald nach. In der Geometrie bin ich noch besser und auch in der Grammatik und Geschichte bin ich gut. In der Cartonnage und in der Holzwerkstatt gefällt es mir auch.

1Eine Art Schlitten.

2Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), deutscher Dichter, Dramatiker, Erzähler und Naturforscher.

10 Bruno

Oschwand, den 20. ‌2. ‌1921

Lieber Vater!

Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief mit dem schönen Bildchen. Ich hatte grosse Freude daran. Wann gehst Du nach Zürich und zum Heiner? […]

Gestern vor acht Tagen war ich im Theater. Der gemischte Chor Oschwand hatte Hauptprobe zu einer Aufführung. Die Kinder durften da gehen und zuschauen. Wir hatten am Samstagnachmittag keine Schule, und ich ging deshalb ins Theater. Sie führten zwei lustige Stücke auf. Das erste hiess »Dür d'Chnüttlete«; es ist von Simon Gfeller.1 Das andere ist von Reinhard, es heisst »Die Erbschaft aus Amerika«. Sie waren beide sehr schön. […]

Am Montag war ich in Riedtwil, da kam der Fastnachtszug von Grasswil. Er war sehr lustig. Ich sah da eine Flugmaschine, die sie auf einem Wägelchen führten, einen kleinen Zeppelin, ein Fuhrwerk, auf dem Franzosen in blauen Uniformen waren und Musik machten. Auf einem Wagen war eine Schmiede mit einem Feuer, in dem wahrscheinlich Pech verbrannte, denn es machte einen dicken schwarzen Rauch und einen grossen Gestank. […]

In der Schule ist es sehr schön. In der Geschichte haben wir den Einmarsch der Franzosen in die Schweiz 1798, und in der Geographie lernen wir Frankreich. Jetzt gerade sind wir an Paris. Im Rechnen haben wir jetzt wieder Prozentrechnungen, und in der Religion lernen wir von Samuel und Saul.

Geht es Dir gut?

Viele herzliche Grüsse von uns allen und von Deinem Bruno.

Die Mutter hat geschrieben, ich müsse noch nach Schiers gehen. Ich möchte aber lieber hier bleiben und nicht mehr in eine Schule gehen. Wenn ich im Frühling aus der Schule komme, kann ich dem Onkel allerlei helfen. Ich kann auch schreinern lernen, und daran habe ich Freude. Ich will also hier bleiben und nicht nach Schiers gehen.2

1Simon Gfeller (1868-1943), Emmentaler Mundartschriftsteller.

2Im Frühjahr 1921 endete Brunos reguläre Schulzeit. Seine Mutter wünschte, dass er im Anschluss das Gymnasium mit Internat in Schiers im Kanton Graubünden besucht.

11 Hermann

Montagnola, März 1921

Lieber Buzi

Deinen lieben letzten Brief bekam ich in Zürich. Ich war über acht Tage dort bei Frau Kisling1, und über den Sonntag hatte ich Heiner aus Kefikon geholt und hatte ihn für einen Tag in Zürich, das war sehr nett. Und jetzt hat Heiner mir geschrieben, er hat sich sehr drüber gefreut, daß du so lieb an seinen Geburtstag gedacht hast. Das hat auch mich gefreut.

Der Brüdi wird wahrscheinlich in diesem Frühjahr zum Mutti nach Ascona kommen.

Hier fangen die Pfirsichbäume zu blühen an, und auch schon einzelne frühe Kirschbäume. Auf den Wiesen ist es voll von Blumen, Veilchen, Schlüsselblumen, Krokus, kleine blaue Hyazinthen und manche andre. Dein Bericht von der Fastnacht hat mir Spaß gemacht. Ich sah diesmal gar nichts davon, es wird zwar auch hier im Tessin Fastnacht gefeiert, aber nur wenig, und man sieht kaum etwas davon, bloß ein paar maskierte Kinder traf ich einmal an.

Mit Mutti habe ich in Zürich gesprochen, sie hat mich dort besucht. Ich sagte ihr, daß du in Oschwand bleiben sollst, das mit Schiers war nur ein Plan von Mutti, noch kein fester Beschluß, und nun bleibst du also ruhig bei Onkel und Tante. Das wird dir lieb sein, gelt?

Grüße alle im Haus schön von mir, und paß in nächster Zeit auf, wenn du in den Wald gehst, ob dir nicht der Osterhas einmal begegnet.

Herzlich grüßt dich dein Vater

1Hedwig Kisling, geb. von Hoffmann, Witwe des Zürcher Kaufmanns und Kunstsammlers Richard Kisling (1862-1917).

12 Bruno

Oschwand, den 22. ‌5. ‌1921

Lieber Vater!

Herzlichen Dank für Deine Karte. Ich habe jetzt immer viel zu tun. Ich muss jetzt für Onkel einen Marmorstein aushauen, er will einen Hodlerkopf1 machen. Am Vormittag klopfe ich zwei Stunden Marmor und am Nachmittag auch zwei Stunden. Ich modelliere auch jeden Tag eine Stunde und zeichne eine oder zwei Stunden und mache auch oft ein Aquarell. Letzten Mittwoch vor vierzehn Tagen kam Onkels neuer Schüler.2 Am Donnerstag ging ich mit ihm nach Riedtwil, wir holten dort seinen Koffer. […]

Ich war diesen Nachmittag in Herzogenbuchsee. Um zwei Uhr sollte ich wieder daheim sein und dann nach Riedtwil gehen und sie [Besucher Amiets] abholen. Um zwei Uhr war ich aber noch in Herzogenbuchsee, und es war zu spät, noch heim zu fahren. Ich fuhr gerade nach Riedtwil und musste dann das Velo mit dem schweren Rucksack die Hohle3 hinauf stossen. Am Pfingstsonntag hatte Tante Geburtstag. […]

Geht es Dir immer gut? Habt Ihr in Montagnola schönes Wetter? Du wirst jetzt gewiss viel malen.

Herzliche Grüsse von Deinem Bruno.

1Ferdinand Hodler (1853-1918), Schweizer Maler des Jugendstils und des Symbolismus. Amiet und Hodler standen ab 1898 in einem intensiven künstlerischen Austausch. Nach Hodlers Tod im Jahr 1918 widmete Amiet ihm mehrere Hommagen, u. ‌a. eine Bildnisbüste sowie einige Ölbilder.

2Werner Neuhaus (1897-1934), Schweizer Maler, war bis Frühsommer 1922 bei Amiet.

3Steiler Hohlweg von Riedtwil auf die Oschwand. Heute ist die Hohle ein kleiner Teil des Amiet-Hesse-Weges auf der Oschwand und Umgebung.

13 Hermann

Zürich, 6. ‌6. ‌1921

Mein lieber Buzi

Endlich fand ich Zeit und Ruhe, um dir ein Brieflein zu schreiben. Für den letzten Sonntag hatte ich Heiner eingeladen, hierher zu kommen, er war aber etwas unwohl und konnte nicht, ich erwarte ihn nun am nächsten Sonntag. Hier oben bei Frau Kisling ist es wunderschön.

Es hat mich gefreut, von deinen verschiedenen Arbeiten zu hören, und ich hoffe, du bist immer vergnügt und hast Freude an der Arbeit. Du bist jetzt in einem sehr schönen und sehr wichtigen Alter, wo man in der Schule das allgemein Notwendige gelernt hat und nun seinen eigenen Beruf ergreifen soll. Ihn zu finden ist nicht ganz leicht, weil manche junge Leute zu vielerlei Lust haben und nicht wissen, was sie eigentlich wählen sollen. Auch dir geht es vielleicht manchmal so.

Darum möchte ich dir sagen: Die Wahl des Berufs ist nur dann sehr wichtig und gefährlich, wenn einer eine ganz besondere Begabung hat und ihr nicht folgen kann oder will. Wer eine solche ganz bestimmte Lust und Begabung für einen Beruf hat, der muß ihn auch ergreifen, sogar wenn es viele Schwierigkeiten macht. Wer aber nicht gerade für eine ganz bestimmte Sache sehr begabt ist, für den kommt es bloß darauf an, daß er nicht einen Beruf nimmt, zu dem er sich zwingen muß und der ihm zuwider ist. Kaufleuten geht es oft so: Sie werden Kaufmann, weil man ihnen sagt, damit könnten sie mehr Geld verdienen, und doch ist ihnen nicht wohl dabei. Ein Beruf, bei dem man etwas mit den Händen macht und arbeitet, ist immer besser und schöner. Zu den meisten Handwerken und Berufen braucht man gar nicht eine besondere Begabung, sondern man muß bloß mit Freude und Aufmerksamkeit das Nötige lernen, es ernst nehmen und sich vornehmen, seine Sache möglichst gut zu machen.

Ich denke oft an dich, weil du jetzt in diesem Alter bist, und freue mich, daß du jetzt in Ruhe dich darüber besinnen kannst und noch bei Onkel bleibst. Ich wünsche dir von Herzen eine schöne frohe Zeit und ein frohes Herz, und grüße Euch alle in der Oschwand nochmal.

Es küßt dich dein Vater

14 Bruno

Oschwand, August 1921

Lieber Vater!

Heute Mittag bekam Tante einen Brief von der Mutter. Sie schreibt, sie wolle das Häuschen entweder ganz vermieten oder verkaufen und dann mit uns drei Buben nach Deutschland gehen. Wir sollten dann dort noch in eine höhere Schule gehen. Die Tante meint, vielleicht sei die Mutter wieder krank und es komme dann vielleicht noch anders. Wenn es wirklich so wäre, so hättest Du doch sicher sofort geschrieben. Ich ginge nicht gerne nach Deutschland, und in die Schule will ich auch nicht mehr, ich hätte keine Freude am Studieren. Viel lieber würde ich hier bleiben, da ich auch nicht gut mit Heiner zusammen sein kann. Tante sagt auch, wenn wir alle drei bei der Mutter wären, so müssten wir nicht arbeiten, und sie glaube nicht, dass etwas Rechtes aus uns würde. Hier könnte ich aber etwas lernen, darum würde ich lieber noch einige Jahre bleiben. Die Tante will Dir auch noch davon schreiben. Der Mutter schreibe ich dann erst, wenn Du uns geschrieben hast, was Du denkst. Tante schreibt ihr auch erst dann. Soll ich der Mutter gerade schreiben, ich gehe nicht gern nach Deutschland und würde lieber da bleiben? Ich muss ihr auch schreiben, dass Heiner und ich nicht gut zusammen auskommen. Es geht aber auch nicht gut, wenn ich nicht gehe, denn die Mutter freut sich gewiss sehr, uns alle beieinander zu haben. Es wäre ihr sicher arg, wenn ich nicht mit ihr ginge. Es würde mir ja nicht so viel machen, nach Deutschland zu gehen, aber ich will lieber da bleiben, um etwas Rechtes zu lernen. Ich sollte auch diesen Sommer nach Ascona in die Ferien, solange Heiner noch dort ist. Aber ich ginge lieber nachher. Wenn ich allein dort bin, kann ich machen was ich will, aber wenn Heiner dort ist, will er immer, dass wir zusammen etwas machen, und da habe ich keine Freude daran. Gelt, schreibe uns bald!

Herzlich grüsst Dich Dein Bruno.

15 Hermann

[Postkarte, Montagnola, 11. ‌8. ‌21]

Liebster Buz! Sei ohne Sorge, Mutti ist nicht krank! Und auch wegen ihrer Pläne mit Deutschland etc. brauchst du keine Angst zu haben. Ich habe diese Pläne mit ihr besprochen, aber es ist sehr ungewiß, ob es wirklich so kommt, und auch dann verspreche ich dir, daß man dich ganz gewiß nicht zu etwas zwingen würde, was dir zuwider wäre und schaden könnte. Ich schreibe dieser Tage mehr darüber an Euch, bitte sage Onkel einstweilen meinen Dank für seinen Brief. Du kannst ganz ruhig sein, lieber Bub!

Mit den Ferien würde ich raten, es so zu halten, daß du für eine bestimmte kürzere Ferienzeit (deren Länge Onkel bestimmen soll) zu Mutti nach Ascona gehst, und zwar so, daß du dort mit Heiner noch seine letzten Ferientage zusammen, dann aber ohne ihn dort bist.

Viele herzliche Grüße! Dein Papi

16 Heiner

Kefikon, den 19. April 1922

Lieber Vater!

Ich bin gestern hier angekommen und bin jetzt eine Klasse weiter. […]

Ich hatte es sehr schön in den Ferien. Als ich am Donnerstag in Locarno ankam, gingen wir in den Zirkus »Cnie« [Knie] und schauten uns die Elefanten, Pferde, Ponys, Affen und Hündchen an. Schon am zweiten Tag […] ging ich zu Roland Winkler, meinem besten Freund in Ascona. Mit ihm zusammen arbeitete ich fast die ganzen Ferien an einem Zelt. Gegen Ostern wurde es fertig, und wir weihten es ein, indem wir zum 1. Mal darin schliefen. Mutti meinte immer, aus dem Zelt werde nicht viel, aber als wir es fertig hatten, da staunte sie doch. […] Bruno hat wahrscheinlich auch Freude, wenn er das schöne Zelt sieht. […]

An Ostern regnete es, und wir konnten die schönen Eier nicht einmal draussen verstecken. In der Küche und in der Veranda ging es aber auch sehr gut. 16 Eier versteckte uns das Mutti1, und wir versteckten ihm 4 Eier; sie haben uns sehr gut geschmeckt. Es ist schade, dass Du uns nie besuchst. Es wäre doch so schön, wenn wir alle einmal in Ascona zusammen wären.

Viele Grüsse von Heiner.

1Vgl. Brief 5, Fußnote 3.

17 Bruno

Ascona, d. 23. ‌5. ‌1922

Lieber Vater!

Vielen Dank für Deine schöne Karte, sie freut mich sehr. Ich komme etwa am 20. Juni mit Brüdi zu Dir, ich freue mich darauf. Hoffentlich ist das Wetter dann noch so schön wie jetzt. Ich male jetzt immer viel, ich habe schon drei fertige Bilder. Eines davon habe ich dem Museum in Ascona gegeben. Ich war einmal dort, es sind schon sehr viele Bilder dort, etwa 60. Ich freute mich, als ich neben der Türe gleich das Aquarell von Dir sah und nahe dabei ein Bild von Onkel, das Baronin Werefkin1 gegeben hatte. Es sind aber auch viel schlechte Bilder dort, die mir nicht gefielen.

Hast Du meine Karte aus dem Bavonatal bekommen? Die Tour war sehr schön, wir hatten prächtiges Wetter. Am Morgen fuhren wir mit der Bahn nach Bignasco mit Sonntagsbilletten, die viel billiger sind. Unterwegs schauten wir das Maggiatal an. In Bignasco schauten wir die schönen Brücken, die beiden Kirchen und die schönen alten Häuser an und gingen an den Wasserfall. Nachher gingen wir das Bavonatal hinauf, wir wollten nach S. Carlo, kamen aber mit Brüdi nur halb so weit, er wollte nicht mehr gehen, blieb immer zurück und schimpfte schrecklich. Ich malte ein wenig und zeichnete Karten. Brüdi und ich stiegen noch ein Stück weit den Berg hinauf, dort war bei einem Wasserfall noch Schnee, die Mutter und ich zeigten es Brüdi, aber er wollte es nicht glauben und meinte, es sei ein weisser Felsen. Er wollte absolut hingehen und schauen, also stieg ich mit ihm hinauf und zeigte ihm seinen Felsen. Nun glaubte er endlich, dass es Schnee sei. Er ging bald wieder hinunter, weil er Durst hatte und das Wasser tief unter dem Schnee war, und ich malte dort oben noch ein Aquarell. Wir gingen nachher noch bis ins nächste Dorf, und dann zurück nach Bignasco und mit der Bahn heim. Es war ein sehr schöner Tag, wenn wir auch nicht bis San Carlo kamen. Das Bavonatal ist wirklich wunderschön, auch Onkel sagt oft, das Bavonatal habe ihm am besten gefallen vom ganzen Tessin, viel besser als etwa Locarno.

Herzlich grüsst Dich Dein Bruno.

1Marianne von Werefkin (1860-1938), expressionistische Malerin, lebte seit 1918 in Ascona.

18 Heiner

Kefikon, den 30. Juni 1922

Lieber Vater!

[…] Alle Abende üben wir »Faust«. Ich kann meine Rolle jetzt gut. Der Hanswurst ist noch ein wenig hintendrein, weil er eine grosse Rolle hat. […] Herr Bach will zuerst sehen, ob aus dem Theater auch etwas Rechtes wird, darum wartet man noch mit der Bühne etc. Die Costüme sind schon teils fertig. Ich erhalte ein feines, als Dr. Faust. Es wäre schön, wenn Du oder Mutter kommen könnten! Das Theater wird schon in 1 Woche aufgeführt. […]

Bei Herr Dr. Stucker haben wir Physik und Freihandzeichnen. Wir behandeln jetzt das Licht: Spiegel, Hohlspiegel, Schatten, Scheinwerfer, Brennspiegel, Brennlupe, Photographenlupe. Herr Dr. Stucker zeigt uns alles mit Hilfe von Bogenlampen oder Projektionsapparat. Die Physik ist sehr interessant.

Viele Grüsse von Deinem Heiner

19 Hermann

Montagnola, 4. ‌7. ‌1922

Mein lieber Bruno!

Zu meinem 45. Geburtstag hätte ich mir gar keine schönere Freude und Überraschung wünschen können, als du sie mir mit deinem Selbstporträt gemacht hast. Ich habe an diesem Bild eine herzliche Freude, und sage dir recht herzlichen Dank für dies Geschenk und diesen Beweis deiner Arbeit und Malerfreude! Ich bin froh, daß ich die Freude am Malen mit dir gemeinsam habe, und deinen Studien und Fortschritten so noch besser und herzlicher folgen kann.

Ich hatte einige Tage Besuch vom Schriftsteller Morgenthaler1, dem Vetter des Malers, habe auch zweimal mit ihm am See gebadet. Von Herrn Miller2 bekam ich herrliches Papier (das ungeleimte) und benütze es nun viel zum Malen.

Jetzt hast du wieder viel zu tun. Das ist gut, es gibt doch nichts Schöneres, als seine Arbeit froh und möglichst gut zu machen. […]

Mit dem ermordeten Rathenau3 habe ich früher zweimal Briefe gewechselt. Ich glaube nicht, daß es eine neue Revolution in Deutschland gibt. Trotzdem wird Herr Neuhaus4 dort sehr viel Neues und zum Teil Aufregendes sehen und erleben.

Lebe wohl, mein lieber Buzi, ich danke dir sehr für die große Freude, die du mir gemacht hast.

Herzlich dein Vater

1Hans Morgenthaler (1890-1928), Pseudonym Hamo, Schweizer Schriftsteller, Vetter des Malers Ernst Morgenthaler (vgl. Fußnote 4, Brief 75).

2Oscar Miller (1862-1934), Schweizer Kunstsammler und Mäzen, leitete zusammen mit seinem Schwager Gustav Eisenmann (1853-1928) die Papierfabrik Biberist.

3Walther Rathenau (1867-1922), deutscher Industrieller und liberaler Politiker, 1922 von Angehörigen der rechtsextremen Organisation Consul ermordet. In seiner ersten und einzigen Besprechung rezensierte Rathenau 1904 Hesses Roman »Peter Camenzind«.

4Vgl. Brief 12, Fußnote 2.

20 Heiner

Kefikon, den 15. ‌9. ‌1922

Lieber Vater!

[…] Am Abend kam Mutti und konnte die Aufführungen auch mitansehen. Sie hatte grosse Freude daran. Nachher begleitete ich die Mutter nach Islikon, ins »Schlössli«, wo sie übernachtete. Am Sonntag machten wir einen Spaziergang. Ich zeigte Mutti das ganze Schulhaus, den Nufa und Weiher. Am Montag kam sie in die Schule, um zu sehen, was ich könne. […] Auch am Dienstag besuchte mich Mutti in der Schule. Am Nachmittag nahm ich bei ihr ein gutes »Z'Vieri«1. Es war sehr schön. […] Am Mittwochmorgen durfte ich mit Mutti nach Zürich, wo Albert uns besuchte. Wir spazierten in der Stadt herum und sahen uns die Bilder in der Kunsthalle an. Am Abend ging ich wieder zurück nach Kefikon. Mutti reiste am andern Tag dann weiter, nach Baden.

Die Herbstferien dauern, glaub ich, nur etwa 11 Tage. Da könnte ich nicht ins Tessin kommen. Mutti fragt […] bei Herrn Amiet an, ob ich einige Tage bei Buzi sein kann. Ich würde mich sehr darauf freuen.

Viele Grüsse von Heiner

1Kleine Zwischenmahlzeit am Nachmittag.

21 Heiner

Oschwand, d. 16. ‌10. ‌1922

Lieber Vater!

Ich bin am Samstag angekommen. Bruno hat mich in Riedtwil abgeholt. Ich bin gut gereist. Es gefällt mir hier sehr gut. […] Die Gegend hier ist wunderbar. Buzi malt oft. Er hat mir viele Ölbilder und auch Aquarelle gezeigt. Ich kaufe ihm unbedingt einige derselben ab. Er hat jetzt schon ungefähr 7 gute Selbstportraits und auch schon 4 schöne Bilder von Kindern, welche ihm Modell gestanden sind. Mich hat er gestern auch mit Pastell gemalt.

Onkel1 arbeitet an einer Studie für ein Freskobild. Die Bilder stellen singende und musizierende Engel dar.

Buzi und ich sind nicht die einzigen Knaben hier. Es ist noch ein 11jähriger Walter da.2 Buzi hat jetzt sein eigenes Atelier. Das ist fein! Rings an die Wand stellt er seine Bilder. Es ist schade, dass man ihm nicht mehr Bilder abkauft, sie sind so fein.

Gestern spielten wir Boccia. Franz und Herr Amiet spielten auch mit. Nach dem Nachtessen machten wir drei noch Quartett und Karten-Kunststücklein.

Viele Grüsse von Heiner

1Gemeint ist Cuno Amiet.

2Walter Sautter (1911-1991), Schweizer Maler, der dann von 1924 bis 1930 Schüler von Amiet war.

22 Heiner

Kefikon, den 3. ‌11. ‌19221

Lieber Vater!

[…] Ich habe Bruno für das Geld von Dir […] ein kleines Ölbild abgekauft. Es ist ein Stilleben. Ich habe ihm auch noch eine Landschaft (Oschwand) und ein Selbstportrait gegen 2 Stilleben von mir getauscht. Ich habe alle Bilder mit hierher gebracht. Ich möchte schrecklich gerne Ölfarben u. Pinsel haben, dann könnte ich in den Ferien im Tessin malen. Eine Palette und Staffelei möchte ich selbst machen. Im Tessin ist's schön zum Zeichnen und zum Malen noch schöner! […]

Viele Grüsse von Heiner

1Zahlreiche Gegenbriefe von Hermann Hesse an Heiner aus den Jahren 1920 bis 1922 konnten nicht aufgefunden werden.

23 Heiner

Kefikon, Januar 1923

Lieber Vater!

Vielen Dank für deinen Brief. Ich habe ihn noch in meinen Ferien erhalten und bin jetzt [wieder] in Kefikon. Denk, man sagt, nächste Woche spiele man den »Faust« in Frauenfeld. Der Saal sei schon bestellt. Die Musikanten müssen alle mitspielen beim Orchester. Ich muss Faust und Orchester üben. Ich freue mich auf die Aufführung. Hoffentlich geht es gut. […]

Ich habe meine Ölbilder Frau Werefkin1 gezeigt. Sie gefielen ihr nicht. Sie meint, ich solle mehr nach Phantasie und nicht nach Natur malen. Aber solche Phantasiemalereien, wie man sie in Ascona immer sieht, sind halt oft unter der Grenze. Ein Bild, das zum Malen eine Schwierigkeit bietet, finde ich halt besser als ein paar Striche, die rot und blau und grün angemalt sind und weiss was darstellen sollen.

Es ist schade, dass man in Kefikon so wenig Freizeit hat, um zu malen etc. […] Es ist halt zu wenig Abwechslung in einem Landerziehungsheim.

Viele herzliche Grüsse auch an Natalina von

Heiner

1Die in Ascona lebende und mit Mia Hesse befreundete Malerin Marianne von Werefkin (1860-1938).

24 Heiner

Kefikon, Januar 1923

Lieber Vater!

Wie geht es Dir? Hast Du meine Karte erhalten? Gestern und vorgestern arbeitete ich immer an einem Faustplakat. Ich bin endlich fertig geworden. Wir erhalten Preise. […] Mein Plakat wird in die Kantonsschule gehängt.

Am Samstag haben wir Hauptprobe in Frauenfeld. Am Dienstag und Mittwoch ist die Aufführung. Wir haben schon Programme zum Druck geschickt. Jetzt ist alles im Gang. Hoffentlich läuft alles gut ab. Ich kann meine Rolle jetzt wieder ganz perfekt. […]

Viele herzliche Grüsse von Heiner

25 Hermann

Montagnola, 27. ‌2. ‌1923

Lieber Heiner!

Jetzt kommt dein Geburtstag wieder, und ich freue mich mit dir, daß du geboren bist und dich auf der schönen Welt wohl fühlen darfst. Eine kleine Gabe lege ich bei. […] Mein lieber Bub, lieber Heiner, ich wünsche dir von Herzen Frohes und Schönes für dein neues Lebensjahr, wachse an Leib und Seele, und geh mit neuer Freude deinen Zielen entgegen.

Herzlich küßt dich dein Vater.

26

Leitung des Landerziehungsheims Schloss Kefikon, Thurgau1

Schloss Kefikon, 11. ‌4. ‌1923

Sehr geehrter Herr Hesse!

Es ist jammerschade, dass Sie Ihren Heiner nicht als »Faust« in unserer Aufführung »Die Höllenfahrt des Doktor Faust« haben geniessen können. Heiner hat sich so sehr in seine Rolle eingelebt, dass er darin mit seinem ganzen reichen Gemütsleben aufging und so eigentlich seine eigenen Gefühle in erfrischender Weise zum Ausdruck brachte. Auch hat er eine ganz eigene Idee für ein Plakat so originell ausgeführt, dass er den ersten Preis erhielt und viel Freude damit machte.

Mit Heiners ausgesprochen künstlerischer Veranlagung geht ein leichtes Erfassen fast auf allen Unterrichtsgebieten Hand in Hand. Dagegen müssen wir immer sehr streng darauf achten, dass seine Leistungen nicht durch Selbstüberhebung an innerem Wert verlieren, dass er nicht Lehrer und Kameraden durch gelegentlich unbescheidenes, herausforderndes Wesen verletzt. Dass ein so veranlagter Junge in seinen Arbeiten bereits stark von Stimmungen abhängig ist, bedarf wohl der Berücksichtigung, dagegen mussten wir im letzten Quartal fast gegen die ausgesprochene Neigung zur Flüchtigkeit ankämpfen.

Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie ihn gelegentlich, vielleicht unter Hinweis auf einen flüchtigen Brief, zu grösserer Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit ermuntern wollten. Vermutlich handelt es sich um einen Übergang, den wir in der Pubertätsperiode häufig beobachten können, der mit oben erwähnten Neigungen, zusammen mit Widerspruchsgeist und Reizbarkeit, oft in Erscheinung tritt. Schlimm ist die Sache ja nicht und verschwindet erfahrungsgemäss bei wohlwollender konsequenter Beeinflussung fast unvermerkt, wie sie gekommen ist. […]

Wir hören leider so wenig von Ihnen. Hoffentlich sind Sie gesund und guter Dinge und haben für die Leserwelt wieder eine schöne Überraschung in Vorbereitung. […]

In der angenehmen Erwartung, Sie bald wieder einmal in unserer Mitte haben zu dürfen,

Ihre Kefikoner

1Geschrieben von August Bach, dem Gründer und Leiter der Schule.

27 Bruno

Oschwand, d. 9. ‌5. ‌1923

Lieber Vater!

Gestern Abend bin ich gut wieder heimgekommen. Ich fuhr um zwölf Uhr in Locarno ab, und die Mutter kam mit mir zum Bahnhof. Es war ein sehr heisser Tag. Um sechs Uhr war ich in Olten, besuchte noch schnell die Grossmutter und fuhr um halb sieben Uhr weiter. Ich musste von Herzogenbuchsee heimgehen, konnte noch ein Stück weit in einem Auto mitfahren und war viertel vor neun Uhr daheim. Auf der Bahn zwischen Locarno und Bellinzona kam plötzlich der deutsche Herr, der damals mit uns in Lugano zu Nacht gegessen hatte, als wir in die Oper gingen, zu mir, und wir reisten dann zusammen bis Luzern. Er lässt dich grüssen. Er erzählte mir, er sei in Ronco gewesen und fahre nun wieder nach Deutschland. In Ascona hatte ich auch noch schöne Tage. Am Montag machten die Mutter und ich eine Tour auf den Pizzo Leone. Um halb sechs Uhr gingen wir daheim fort. Es wurde schon früh sehr heiss, und wir mussten dazu noch steil hinaufsteigen bis zur Roncoalp. In Purera sassen wir eine Weile im Schatten ab und gingen um halb neun Uhr weiter. Unterwegs malte ich noch ein kleines Aquarell. Wir wunderten uns, wie die Alp unter dem Leone noch dürr war, und man sah auf manchen Wiesen deutlich, dass der Schnee erst vor kurzem geschmolzen ist. Als wir auf den Sattel vor dem Pizzo Leone kamen, hatten wir einen wunderbaren Blick auf die Lenzuoli und den Gridone, der noch ganz weiss ist. Von dort ging es noch eine Strecke weit nach hinten, bis wir zum Gipfel kamen, der ziemlich steil und spitz ist. Dort sahen wir nun hinten ins Centovalli hinunter, rechts waren die Berge vom Maggia- und Verzascatal, gerade hinter dem Centovalli die Berge vom Onsernonetal, der Monte Cramalina und die Bergkette zwischen dem Isornotal und dem Valle di Campo. Links sah man durchs Centovalli weit nach Italien hinein. Ganz dort hinten waren Wolken, aber einmal sah man zwischen den Wolken den Gipfel des Monte Rosa. Gerade gegenüber vom Pizzo Leone sahen wir ganz nah die Lenzuoli mit ihren unheimlichen schwarzen Felsenzacken, die überall zwischen den steilen Schneefeldern standen. Vorn hinunter sahen wir auf den See bis über Luino hinunter, dahinter die italienischen Berge, den Monte Tamaro und links den Camoghè. Wir blieben sehr lange dort oben, ich malte einige Aquarelle. Auf dem Heimweg sammelten wir Enzianen und fanden auch Berglilien und Narzissen. Abends um sieben Uhr kamen wir heim. Wir waren zum Nachtessen bei Brockmanns1 eingeladen, es kamen auch noch viele andere Leute, die von Brockmanns eingeladen waren. Dabei war natürlich die Baronin Werefkin, die fast jeden Abend bei Brockmanns war, auch Herr Hille, der Maler Kohler2 mit seiner Frau, Frau Kempter und Herr Aye, der Sänger3, waren dabei. Wir sassen abends noch lange beisammen und kamen erst um halb ein Uhr ins Bett. Am andern Vormittag musste ich noch meine Sachen packen, was mir sehr zuwider war, da ich ziemlich müde war. Letzten Samstag verkaufte ich noch ein Bild. Es war eine Landschaft in den Felsen oben gerade über dem Haus, die mir Herr Brockmann abkaufte, um es der Tochter zum Geburtstag zu schenken. […]

Nun viel herzliche Grüsse von Deinem Bruno.

Grüsse auch Onkel Hans und Tante Frieda4!

1Das Ehepaar Christian und Anita Brockmann, das eng mit Marianne von Werefkin befreundet war; sie wurde 1925 Taufpatin von deren Tochter Marianne.

2Albert Stefan Kohler (1883-1946), Schweizer Maler.

3Ernst Alfred Aye (1878-1947), deutscher Konzertsänger, langjähriger Begleiter und Teilerbe der Malerin Marianne von Werefkin.

4Hermann Hesses jüngerer Bruder Hans (1882-1937) und seine Frau Frieda, geb. Gerber (1889-1966).

28 Hermann

Montagnola, 7. ‌8. ‌1923

Lieber Bruno

Deine Kirschen neulich sind angekommen, und waren sehr weich und teigig, da hat Natalina sie sofort gekocht, und es gab eine sehr gute Konfitüre, die ich seither täglich esse. Danke vielmal dafür!

Hier gibt es schon reife Feigen, und es herrscht eine fabelhafte Wärme, eine wahre Glut, unter der viele Leute leiden, während ich mit meiner Ischias froh darüber bin, denn je wärmer es ist, desto weniger habe ich Schmerzen. Auch liege ich jeden Mittag eine Stunde im glühenden Sonnenbad auf dem Terrässchen zwischen Haus und Holzschopf.

Ich male fleißig, und habe von diesem Sommer schon eine dicke Mappe voll Aquarellstudien.

Noch etwas muß ich dir mitteilen: Ich habe im Sinn, Schweizer zu werden, und habe an den Bund ein Gesuch um Wiedereinbürgerung gestellt, weil ich ja in meiner Kindheit Basler1 war. Also wahrscheinlich werde ich bald Schweizer sein, und Ihr natürlich mit. Du wirst nichts dagegen haben.

Am 23. abends erwarte ich Tante Adele2 aus Höfen zu kurzem Besuch und freue mich sehr darauf, ich habe sie nun lang nicht mehr gesehen.

Hast du an Muttis Geburtstag gedacht?

Ich grüße dich vielmal, lieber Sohn, und wünsche dir gute Zeit und gute Fortschritte, und sage auch Onkel und Tante und allen meine Grüße! Dein Vater

1Von 1881 bis 1886 lebte die Familie Hesse in Basel, wo Johannes Hesse als Herausgeber des Missionsmagazins arbeitete. Während ihres Aufenthalts erhielt die Familie das Basler Bürgerrecht.

2Hesses ältere Schwester Adele Gundert (1875-1949).

29 Bruno

Oschwand, d. 13. ‌8. ‌1923

Lieber Vater!

Vielen Dank für Deinen lieben Brief. Es freut mich sehr, dass Du jetzt Schweizer werden willst und wir es dann auch werden. Wie geht es Dir immer? Es ist gut, dass es immer so heiss ist und Du die Ischias weniger spürst. Malst Du immer viel? Ich male viel, da ich jetzt nicht mehr viel Kirschen abzulesen habe. In der letzten Zeit machte ich auch wieder ziemlich viel Aquarelle. Bei diesem heissen Wetter baden Werner, Walter, Igor und ich immer nachmittags im Bassin im Garten und sonnenbaden auf der kleinen Wiese hinter dem Garten. […]

Werner arbeitet immer viel, er hat immer einige Bilder in der Arbeit. Ich mache auch zwei Porträts von Werner, ein grösseres beim schlechten Wetter und ein kleines beim schönen Wetter. Das kleine ist nun bald fertig, aber das grosse ist noch nicht gut. Ich habe schon lange nicht mehr daran gemalt, da schon seit langer Zeit immer schönes Wetter ist. Es ist immer sehr, sehr heiss, wir freuen uns jeden Tag auf das Bad am Nachmittag. Zum Malen muss man sich immer einen schattigen Platz aussuchen, da man sonst schrecklich schwitzen muss und fast verbrennt. Im Tessin ist es wohl fast noch heisser als hier. Letzthin, als Onkel einmal ins Atelier herauf kam und unsere Bilder anschaute, sagte er mir, ich hätte wieder Fortschritte gemacht. Das freut mich sehr. Walter Sautter1 malt auch viel, er hat sehr nette, zarte Bilder gemacht. Ich finde sie sehr schön, auch Onkel gefallen sie gut.

Lieber Vater! Letzthin sagte mir Tante, dass Du nun von der Mutter geschieden seist, und ich solle Dir darüber schreiben.2 Mir macht das eigentlich nicht so viel, da es für mich ja nichts