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"Eine Autorin mit einer außergewöhnlichen Tiefe, viel Gefühl und Witz." Meg Wolitzer Greta Cahill und ihre Schwester Johanna kennen nichts anderes als das einfache Landleben im Irland der 1960er Jahre. Doch während Greta sich dort zuhause fühlt, träumt Johanna von einem Leben unterwegs, ungebunden und frei. Als in der Familie ein Unglück geschieht, finden sich die beiden auf einem Schiff Richtung New York wieder – eine Reise, die ihr Leben für immer verändern wird.
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Seitenzahl: 648
Das Buch
Greta Cahill und ihre Schwester Johanna kennen nichts anderes als das einfache Landleben im Irland der 1960er Jahre. Als in der Familie ein Unglück geschieht, finden sich die beiden auf einem Schiff Richtung New York wieder – eine Reise, die ihr Leben für immer verändern wird.
Die Autorin
MARY BETH KEANE machte ihren Master of Fine Arts an der University of Virginia und schrieb mit dem Roman Wenn du mich heute wieder fragen würdest einen internationalen Bestseller, der auch in Deutschland ein großer Erfolg war und derzeit als TV-Serie verfilmt wird. Mit ihrer Familiensaga Mit dir bis ans andere Ende der Welt
MARY BETH KEANE
Mit dir bis ans andere Ende der Welt
ROMAN
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www.eisele-verlag.de
Die Originalausgabe »The Walking People«
erschien 2009 bei Houghton Mifflin Harcourt, Boston.
ISBN 978-3-96161-152-2
© 2009 Mary Beth Keane
© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagmotiv: © Daniel Preece / Bridgeman Images
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Wie riskant ist die Entscheidung, das uns gezeigte Leben nicht zu lieben?
PROLOG
2007
UM GENAU6.16 Uhr an einem Freitagmorgen blickte der Pförtner der Champion-Tiefgarage vom Neun-Zoll-Monitor seines Fernsehers auf und sah Michael Ward auf den Baustellenparkplatz an der Ecke 30th Street und Tenth Avenue fahren. Der ist immer der Erste, dachte der Pförtner, während er zur Garageneinfahrt schlenderte und sich unter die Leuchtstoffröhre stellte. Als Michael zu ihm hinübersah, nickte der Pförtner ihm zu. Michael hob den Arm und erwiderte das Nicken. Gleich war Schichtwechsel bei den Sandhogs oder Sandschweinen, wie die Tunnelarbeiter von New York City genannt wurden, und wie jeden Morgen beobachtete der Pförtner die ankommenden Autos in der Hoffnung, dass es zu viele sein würden und einige daher gezwungen wären, in seiner Tiefgarage zu parken.
Wenn nichts Gutes im Fernsehen lief, schaute der Pförtner von seinem Stuhl in die Morgendämmerung hinaus und zählte erst die parkenden Autos der Sandhogs und dann die aussteigenden Männer, die sich kurz reckten, bevor sie hinter dem Aluminiumzaun verschwanden, der die Baustellengrenze markierte. Von seinem Stuhl aus konnte er allerdings beim besten Willen kein Bauwerk erkennen. Als er Michael dabei zusah, wie er die Anti-Diebstahl-Kralle am Lenkrad seines kleinen roten Corolla befestigte und dann um das Auto herumlief, um sich zu vergewissern, dass alle Türen verriegelt waren, fiel dem Pförtner wieder ein, dass Mr. Zan von der Verwaltung gesagt hatte, dass die Sandhogs nicht bauten, sondern gruben. Sie gruben tief unter der Stadt, unter den U-Bahn-Tunneln, dem Hudson River, der East Side, Roosevelt Island und Queens. »Stell dir den höchsten Wolkenkratzer vor, den du hier bisher gesehen hast«, hatte Mr. Zan gesagt. »Und jetzt stell dir vor, er würde nicht nach oben, sondern nach unten ragen. So tief graben sie.« Als der Pförtner fragte, warum, zuckte Mr. Zan mit den Schultern. Wer wusste das schon? In Amerika gruben sie, nur um etwas zu tun zu haben.
Die Sonne war vor zwanzig Minuten aufgegangen, doch ihre Strahlen hatten den westlichsten Abschnitt der 30th Street noch nicht erreicht. Als Michael Ward im schwachen Lichtschein auf seine Armbanduhr schaute, konnte er kaum die Zeiger erkennen. Außerdem hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben, aber was war es nur? Dieses nagende Gefühl überkam ihn neuerdings öfter, wie ein Härchen, das immer wieder seine Haut streifte, ohne dass er es entdecken konnte. Er blieb mitten auf dem Parkplatz stehen. Bestimmt fiel es ihm gleich ein. Er ging den Morgen noch einmal durch: Er war aufgestanden, hatte Greta in der Küche getroffen, war die einsamen Kurven des Palisades Parkway entlanggefahren … Plötzlich fragte er sich, warum er stehengeblieben war. Er blickte an sich hinunter und sah sein Lunch-Paket in einer Plastiktüte in seiner Faust baumeln. Greta hatte alles ordentlich eingepackt, so wie immer; sogar die Limonadendose hatte sie mit zwei Lagen Alufolie umwickelt. »Damit sie schön kalt bleibt«, sagte sie fast jeden Morgen, wenn sie ihm sein Lunch-Paket gab. Den Trick hatte sie 1969 gelernt, als ihre älteste Tochter Julia in den Kindergarten kam. Seit Julia ihr erzählte, was sie in den anderen Brotdosen gesehen hatte, wickelte Greta Limonadendosen stets in Alufolie ein. Michael arbeitete nun seit siebenunddreißig Jahren im Tunnel, aber er hatte es nie übers Herz gebracht, Greta zu sagen, dass in dieser Tiefe eh alles kalt wurde, Folie hin oder her.
Die übrigen Sachen, die er für seine Schicht brauchte, befanden sich in seinem Spind. Der Zahlencode für sein Schloss stand auf einem Zettel in seiner Brieftasche – Gretas Idee, eine gute sogar. In den letzten Monaten hatte er doch tatsächlich ein paar Mal auf dem Zettel nachschauen müssen. Neulich hatte er sogar vergessen, dass der Code in seiner Brieftasche war, und das Schloss mit einem Vorschlaghammer aufbrechen müssen. Seine Schichtkollegen hatten gewitzelt, er bräuchte wohl eine Eselsleiter für die Eselsbrücke; vielleicht auf dem Handrücken oder auf einem Zettel am Lenkrad. Schnell sagte er die Zahlen auf: 26 rechts, 3 links, 9 rechts. Doch das nagende Gefühl ging nicht weg – als hätte man ihm einen Teil seines Morgens gestohlen, ohne dass er genau sagen konnte, was fehlte.
Er ging weiter über den halb leeren Parkplatz. Von der Explosion am Vortag hatte er noch immer ein schwaches Brummen im Ohr und er drückte, wie schon so oft an diesem Morgen, mit der flachen Hand fest dagegen, um das Geräusch wegzusaugen.
»Vielleicht wirst du traurig werden«, hatte Greta gestern nach dem Abendessen gesagt. »Das kann einen schon traurig machen, wenn etwas zu Ende geht.« Er hatte gelacht, sich fast an seinem Tee verschluckt. Heute Morgen hatte sie dann allen Ernstes gefragt, ob es eine Abschiedsparty geben würde. Auf welche Ideen sie manchmal kam! Doch als er die Straßen von Recess hinter sich gelassen und den Palisades Parkway erreicht hatte, ging ihm diese Möglichkeit nicht mehr aus dem Kopf. Keine Torte oder Luftballons, aber auf irgendeine Überraschung musste er sich vermutlich gefasst machen. Kaum einer hatte so lange durchgehalten wie er. Auf der Fahrt zur Arbeit hatte er wie jeden Morgen – und das machte er wirklich das ganze Jahr hindurch – die Autofenster heruntergekurbelt, um den Hudson einzuatmen, der auf seinem Weg zum Atlantik nach Süden strömte. Michael hatte in seinem Leben schon viele Flüsse gesehen, aber dieser war ehrfurchtgebietend. Breit, gewaltig, geschunden – der Hudson war etwas Besonderes. In seinen Nachtschichtjahren hatte der Hudson ihn jeden Morgen nach Hause getragen. Wenn er dann am Steuer saß und ihm die Augenlider zufielen und er den brennenden Staub aus dem Tunnel wegblinzeln musste, ließ er den Tacho auf neunzig sinken und folgte dem Geräusch und Geruch des Flusses.
Als Michael zu der niedrigen, fensterlosen Baracke der Sandschweine hinüberschaute, die zwischen all den Hochhäusern aus Backstein und Sandstein wie ein Schandfleck wirkte und Schweinestall genannt wurde, konnte er natürlich nicht erkennen, ob irgendetwas anders war als sonst – jedenfalls nicht aus dieser Entfernung und mit diesem Brummen im Ohr. Die Baracke sah still aus. Michael musste unwillkürlich lachen, der Klang unterbrach das gleichmäßige Knirschen seiner neuen Schuhe auf dem Kies. Das hätte glatt aus Gretas Mund kommen können, dass etwas still aussah.
New York war als die Stadt berühmt, die niemals schlief, doch Michael hatte festgestellt, dass jeden Morgen eine gewisse Zeit lang, fünfzehn Minuten vielleicht, eine einzigartige Stille herrschte, in der sich diese fünfzehn Minuten ausdehnten, bis sie sich wie eine Stunde anfühlten – eine Zeitspanne, in der es keine Autos auf der Straße gab, kein Gehupe, keine Gassigänger, niemanden, der den Bürgersteig abspritzte oder fegte, keine klackernden Absätze, keine quietschenden Bremsen, keine Horden von Büroangestellten, die zur Arbeit hasteten, denn dafür war es noch zu früh. Die ersten Pendlerzüge trudelten gerade erst ein. Zwischen der George-Washington-Brücke und der 30th Street war er vorhin höchstens zehn Autos begegnet, und als er nun von seinem eigenen Wagen zum Herzen der Baustelle spazierte, hätte er trotz des verdammten Brummens in seinem Ohr schwören können, dass er zwei Straßen weiter den Hudson gegen die Uferbefestigung plätschern hörte.
Als er sich der Baracke näherte – sie beherbergte die Spinde und Duschen sowie einen kleinen Tisch in der Ecke, den sie scherzhaft den Pausenraum nannten – wappnete er sich dafür, zu lächeln und ein paar Hände zu schütteln. Wenn er ihnen bloß zunickte und obendrein rot wurde, würden sie ihn die ganze Schicht lang wegen seiner Verlegenheit aufziehen. Und wenn sie sich danach bei Gewerkschaftspicknicks, Gedenkfeiern oder anderen Anlässen über den Weg liefen, natürlich auch. Vielleicht hatten sie ja sogar einen Scherzpokal für ihn anfertigen lassen. Sein Sohn James hatte so ein Ding mit einem Baseball-Spieler auf einer Klopapierrolle. Auf der Goldplakette stand: FÜR EINE RICHTIGE SCHEISS-SAISON.
Als er nach dem Türknauf der Baracke griff, dachte er: Greta hat recht. Eine Torte wäre eigentlich angebracht. Wer sonst außer ihm war bei dem Wassertunnelprojekt von Anfang an mit dabei? Sogar als der Bauauftrag von einer Firma zur nächsten zog und die Baustelle von Bezirk zu Bezirk wanderte, war Michael geblieben. Wer sonst außer ihm hatte siebenunddreißig Jahre durchgehalten? Ihm fiel jedenfalls niemand ein. Einige schafften zwanzig, manche dreißig Jahre. Aber mehr als dreißig hatte sonst keiner auf dem Buckel. Ja, mit einer Torte musste er wahrscheinlich rechnen, aber er war fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen und beim Reinkommen direkt zu seinem Spind zu gehen, wie sonst auch. Bestimmt taten sie so, als wäre nichts, bis er seinen Spind öffnete.
Drinnen schien alles wie immer zu sein. Die Duschen liefen, Dampfschwaden und Seifengeruch durchzogen den langgestreckten Raum. Sechs schmutzverkrustete Regenjacken hingen an den Haken, die sich über eine ganze Wand erstreckten. Darunter reihten sich schmutzverkrustete Gummistiefel mit Stahlkappen. Unzählige Male hatte er ihnen gesagt: Macht euer Zeug sauber, bevor ihr duschen geht. Es war einfacher. Logischer. Aber nein, Tag für Tag ließen sie die verdreckten Sachen liegen und rannten sofort unter die Dusche, und wenn der Dreck dann auf ihre sauberen Hemden spritzte, fluchten sie wie der Teufel. Und wenn sie nach Hause kamen, fluchten ihre Ehefrauen. Beim Hereinkommen sah er zwei Männer von der Nachtschicht am Tisch sitzen, der Fernseher lief leise. Sie hatten sich schon umgezogen, ihr feuchtes Haar sah frisch gekämmt aus. In einer Stunde würden sie endlich zu Hause sein, bis auf die sauberen Unterhemden und Unterhosen alles wieder ausziehen und versuchen, ein paar Stunden zu schlafen, während ihre Frauen und Kinder auf Zehenspitzen durchs Haus schlichen und sich gegenseitig zum Flüstern ermahnten.
»Alles klar bei dir, Ward?«, fragte einer der beiden Männer. Michael nickte, blieb stehen und schaute ihnen eine Weile beim Fernsehen zu, dann ging er zu seinem Spind. Gleich springt mir bestimmt eine von diesen Schlangen entgegen, dachte er. Oder es gibt einen lauten Knall. Sie zogen ihn immer wegen seines Gehörs auf.
Nun brauchte er den Zettel doch. Verdammt, er hatte den Code doch eben noch im Kopf gehabt! Er holte den Zettel aus seiner Brieftasche, las die Nummer und drehte das Zahlenschloss auf. Er fummelte kurz an dem Riegel herum, dann hob er den kleinen Metallgriff an und zog die Tür seines Spinds mit einem Ruck auf, damit sie nicht in der unteren Ecke festklemmte. Da waren seine Stiefel, seine Thermosocken, seine Arbeitsjeans, sein Flanell-Arbeitshemd, sein gelber Regenmantel, sein Schutzhelm, seine Taschenlampe, sein Klapplineal, sein Nagelknipser – alles so angeordnet wie immer in den letzten siebenunddreißig Jahren, in sämtlichen Spinden, die er in New York je benutzt hatte. Er starrte seine Sachen einen Moment lang an, dann streifte er sich die Kleidung ab. Bis auf die Schuhe hängte er alle Sachen auf zwei Kleiderbügel, wo sie die nächsten acht Stunden verbringen würden. Dann zog er sich Schicht für Schicht seine Arbeitskleidung an, die sich wegen der Spezialreiniger und des grauen Gesteinsstaubs, der sich im Lauf der Zeit in den Baumwollfasern absetzte, rau und steif anfühlte. Er zog sich weiße Kniestrümpfe an, dann die dicken grauen Thermosocken. Ob Mai oder Dezember, im Tunnel herrschte jeden Tag das gleiche Wetter.
Zehn Minuten vor Arbeitsbeginn stand er vor der Kontrolltafel für seine Schicht und drehte die Plakette unter seinem Namen um, sodass die rote Seite nach oben zeigte. Er schaute zur Kontrolltafel für die Nachtschicht; keine roten Plaketten bedeutete, dass sie alle oben waren. Alle oben bedeutete, dass es keine Probleme gegeben hatte. Drei von Michaels Schichtkollegen standen schon in dem stählernen Förderkorb, auch Ned Powers, seit neunundzwanzig Jahren Sandhog und Michaels engster Freund. Sie warteten auf ihn. »Lässt du’s heute langsam angeh’n, Ward?«, fragte Asante, einer von den Elektrikern. »An deinem letzten Tag denkst du dir bestimmt, was soll’s, jetzt kann mich eh keiner mehr feuern, oder?«
»Greta war schon auf und wollte, dass ich meine Vitamine nehme. Bin ich zu spät dran?«
»Moment mal, Ward«, sagte Powers. Er kam aus dem Förderkorb und hielt Michael vom Einsteigen ab. »Gib uns ne Minute«, sagte er zu dem Fördermaschinisten, legte Michael seine Pranke auf den Rücken und schob ihn Richtung Baracke.
»Was ist denn?«, fragte Michael. Ging die Party etwa jetzt los, wenn er am allerwenigsten damit rechnete?
Ned deutete auf Michaels Füße und sagte dann so laut, dass die anderen es hören konnten: »Schon klar, dass du heute keinen Finger mehr rühren willst, aber musst doch nicht extra deinen feinen Treter opfern, nur um uns eins auszuwischen.«
Michael schaute zu Boden und stellte verblüfft fest, dass seine doppelt besockten Füße in den neuen Schuhen steckten. Wenn er damit den Tunnel betrat, würde er knöcheltief im Dreck landen. Als die beiden anderen Kollegen im Förderkorb lachten, sagte Ned so leise, dass nur Michael es hören konnte: »Los, Michael. Zieh deine Stiefel an und lass deine Schuhe im Spind. Soll ich mitkommen? Nein, du kriegst das schon hin. Ist doch verständlich, an deinem letzten Tag. Da verliert man schon mal den Kopf.«
Michael eilte zu seinem Spind zurück. Da er nicht schon wieder an dem Schloss herumfummeln wollte, holte er sich ein Paar Ersatzstiefel aus dem Lager und stellte seine neuen Schuhe auf eine Bank. Als er endlich den Förderkorb betrat und der Maschinist die Tür verriegelte, schwankte die Stahlplattform einen Moment lang über dem Schacht und senkte sich dann mit einem lauten Knarzen hinab.
Die Männer blickten durch die Dunkelheit auf das trübe Licht, das knapp zweihundert Meter unter ihnen schimmerte. Ist dann wohl doch eher Frauensache, dachte Michael. Abschiedspartys und Scherzpokale gingen sowieso nur bei Leuten, die von neun bis fünf im Büro arbeiteten, da gab es genug Platz zum Feiern und Schreibtische, die man mit Girlanden dekorieren konnte. Im Tunnel war das gar nicht möglich. Er hatte in letzter Zeit wohl zu viel ferngesehen. Doch dann dachte er an den Jamaikaner, der im Februar nach fünfundzwanzig Jahren Tunnelbau in Rente gegangen war. Für den hatten sie mit viel Tamtam eine Karte herumgereicht, die jeder unterschreiben sollte, und Geld für einen Geschenkgutschein für ein teures Restaurant gesammelt.
Der Förderkorb nahm an Fahrt auf. »Dreißig!«, rief Powers. Michael konnte hören, dass Powers etwas sagte und sehen, dass er den Mund bewegte, aber welche Worte er von sich gab, wusste Michael nur, weil er diese Seilfahrt seit fast vierzig Jahren fünf bis sechs Mal täglich machte. Trotz seines Hörschadens bekam er es in der Regel mit, wenn ihm jemand über den Maschinenlärm hinweg etwas zubrüllte. Menschliche Stimmen waren vergleichsweise schwache Geräusche, doch wenn jemand über die Maschinen hinwegschrie, mischte sich ein Ton zu dem Lärm, der nicht so recht passte und Michael aufblicken ließ. Anderen Männern war das auch schon aufgefallen, aber keiner konnte es erklären. Wenn die Maschinen unten abgeschaltet waren, schossen die Rufe der Männer wie Querschläger herum und prallten am Ende des Tunnels von den Wänden zurück wie ein Gummiball, der mit voller Wucht gegen die Wand geworfen wurde. Doch wenn die Maschinen angeschaltet waren – Rüttler, Maulwurf, Schutterzug, Förderbänder, Pumpen, Ventilatoren –, brachten sie den Boden zum Beben und erfüllten den Tunnel mit einem Krach, der einem durch Mark und Bein ging.
»Sechzig«, rief Powers eine halbe Minute später. Das wenige Tageslicht, das auf Straßenhöhe noch in den Schacht gefallen war, war nun gänzlich verschwunden. Bei hundertzwanzig Metern unter Tage wurde das schwache Licht am Schachtgrund besser erkennbar, blieb jedoch trüb wie der Schmierfilm, der sich bei regnerischen Pendelfahrten auf Michaels Windschutzscheibe legte wegen all der Lastwagen, die Splitt und ölige Pfützen von der Straße aufwirbelten. Bei hundertneunzig Metern hielt der Förderkorb schließlich an. Wie immer hatte die Seilfahrt gut drei Minuten gedauert. Das freigelegte Gestein weinte unaufhörlich; große, nasse Tränen fielen in schweren Tropfen hinab oder strömten die Felswand hinunter. Die Luft war schwer vor Feuchtigkeit und Staub. Das Thermometer zeigte knapp dreizehn Grad. Die Männer traten aus dem Käfig, um die letzten sechs Meter im Gänsemarsch die nasse Aluminiumtreppe hinunterzusteigen und sich dabei sorgsam am Geländer festzuhalten.
In der Woche zuvor hatte Michael gehört, wie der Boss einen der Neuen anschrie, dass nur verdammte Idioten über den Schachtgrund liefen, egal ob mit oder ohne Schutzhelm. Es dauerte Jahre, bis die Neuen vorsichtig genug waren, und meistens wurden sie durch eine Tragödie dazu gebracht. Einmal, 1988, überquerte ein Mann aus Michaels Schicht den Boden des Schachts, den Schutzhelm unter den Arm geklemmt, als ein Steckschlüssel aus knapp zweihundert Metern Höhe hinabfiel und ihm den Schädel so sauber spaltete, als hätte ihn jemand hinterrücks mit dem Hackbeil erwischt. Jahr für Jahr brachte die Arbeit neue Tragödien mit sich. Und dann, vor ein paar Monaten erst, passierte das Grubenunglück von West Virginia, die Zeitungen im Pausenraum waren voll davon gewesen und die Männer hatten die Artikel an die Pinnwand geheftet und vor jedem Schichtbeginn Gebete gemurmelt; Männer, die seit ihrer Kindheit keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt hatten und nie weiter südlich als New Jersey gekommen waren, neigten plötzlich die Köpfe, falteten die Hände und flehten Gott an, die Kumpel zu retten und sie und ihre Familien zu schützen, denn sie waren davon überzeugt, dass die Kollegen aus West Virginia genauso beten würden, falls das Blatt sich wendete und die New Yorker Sandhogs plötzlich in Gefahr schwebten.
Die Männer stellten ihre Plastiktüten und Kühltaschen auf dem feuchten, schimmelbedeckten Picknicktisch ab, der vor sechs Jahren hinuntergebracht worden war. Sie stiegen in die Grubenbahn – ein Wagen ohne Türen und Dach, an ein Kinderkarussell erinnernd –, der sie zum zwei Meilen entfernten Tunnelende bringen sollte. Als Michael Platz nahm, wurde ihm noch einmal bewusst, dass er gerade seine letzte Fahrt dorthin antrat. Doch eigentlich fühlte es sich wie immer an, nicht besser und nicht schlechter. Als die Bahn sich in Bewegung setzte, sah Michael, dass jemand mit der Kreide, die zur Markierung der Bohrpunkte gedacht war, eine große gelbe Sonne auf den trockenen Teil der Felswand gemalt hatte. Solche Felsmalereien kamen häufig vor und wenn man eine gute Stelle wählte, hielten sie tagelang, bis sie vom ständigen Tropfen und von der feuchten Luft ausradiert wurden. Am Maschendraht an den Tunnelwänden hingen in regelmäßigen Abstanden Glühlampen. Als eine von ihnen flackerte und schließlich ausging, dachte Michael an seinen ersten Tag zurück. Damals war er sicher gewesen, dass er nur ein paar Wochen durchhalten würde. Er arbeitete zu der Zeit in der Bronx, in Woodlawn. Es war gutes Geld, sagten er und Greta sich immer wieder, aber das Geld war ihm gar nicht mehr so wichtig, als er zum ersten Mal in den Schacht hinabfuhr und begriff, was es bedeutete: im Dunkeln ankommen, im Dunkeln arbeiten, im Dunkeln essen, im Dunkeln Feierabend machen, im Dunkeln nach Hause fahren. Und als er nach Hause kam, war er monatelang zu müde zum Abendessen und zum Reden gewesen, zu müde, um Greta anzufassen oder auch nur ihren Körper zu spüren, der sich die ganze Nacht an ihn schmiegte, bis der Wecker wieder klingelte und er merkte, dass sie ihn von hinten umschlungen hielt, obwohl doch eigentlich er der große und sie der kleine Löffel war.
Während seiner letzten Schicht rechnete Michael die ganze Zeit damit, dass der Tag sich irgendwie anders als sonst anfühlte und er von Gefühlen übermannt wurde; einigen Kollegen vor ihm war es schon so ergangen, als sie merkten, wie schwer ihnen der Abschied fiel. Doch der Schlamm am Boden sog wie üblich an seinen Füßen und der Schlamm an der Decke tropfte ihm unablässig auf den Schutzhelm und das Gesicht hinunter bis in den Hemdkragen. Was gab es daran zu vermissen? Nicht den Dreck, hatten die Kollegen gesagt, nicht die Arbeit, sondern das sonderbare Leben, das Hunderte von Metern unter Tage stattfand, wo es selbst den Ratten der Stadt zu tief und zu dunkel war. Vielen Sandhogs wurde erst ganz am Ende klar, dass die Arbeit, die sie so lange verrichtet hatten, tatsächlich wichtig war. Denn sie waren die Männer, die den neuen Wassertunnel bauten: Tunnel 3. Die Tunnel 1 und 2 waren vor mehr als einem Jahrhundert gebaut worden und inzwischen marode; sie drohten jeden Moment auszufallen. Sie waren bereits undicht, zerbröckelten allmählich, wurden notdürftig gestützt und geflickt. Michael konnte kaum glauben, dass es nicht längst zur Katastrophe gekommen war. Falls die Tunnel 1 und 2 ausfielen, bevor Tunnel 3 fertiggestellt war, würde es für die acht Millionen Einwohner von New York kein Wasser mehr geben. Kein Wasser zum Trinken, zum Baden, zum Teekochen, zum Feuerlöschen – nichts. Seit Jahrzehnten hieß es, diese Katastrophe könne »jeden Moment« eintreten. Die meisten Kollegen waren allerdings so damit beschäftigt, sich sauber zu schrubben, um frei von Schmutz und Scham in die Welt über Tage zurückzukehren, dass sie sich nie die Zeit nahmen, innezuhalten und zu denken: Dieses Projekt sichert das Überleben dieser Stadt – und ich bin Teil davon. Michael war anders als diese Kollegen. Er hatte von Anfang an gewusst, wie dringend der neue Wassertunnel benötigt wurde und dass diese Dringlichkeit sozusagen New Yorks größtes Geheimnis war.
Als sie mit der Grubenbahn zum Picknicktisch zurückfuhren, um Mittagspause zu machen und Michael sich die üblichen Gespräche anhörte, dachte er, dass er eher nicht zu den Leuten gehörte, die wegen ihrer Pensionierung sentimental wurden. Nach der Mittagspause schweißten er und Powers fünf große rostfreie Bleche zusammen. Diese Aufgabe war schwierig wegen der Schweißposition – vorwiegend überkopf – und weil die Nähte absolut perfekt sein mussten, sonst wurden sie undicht. Als sie die Kanten der Metallvierecke mit den Lötlampen bearbeiteten, regneten die Funken auf sie herab wie Leuchtkäfer, die aufglühten und dann verschwanden, Lichtersprenkel, die in einem Bogen über den Köpfen der beiden explodierten und irgendwo hinter ihnen landeten. Das Zusammenspiel des Lichtersturms und der blauen Schweißflammen verbreitete fast schon Festtagsstimmung in dem ansonsten düsteren Tunnel.
Dass er nicht mehr zurückkehren würde, wurde Michael erst am Ende seiner Schicht so richtig bewusst, als er am Brecher an die Reihe kam. Der Großteil des gelösten Gesteins wurde vom Schutterzug abtransportiert, doch größere Felsbrocken mussten von den Männern mit dem Brecher zerkleinert werden, bevor sie über das Förderband nach oben gebracht werden konnten. Michael seufzte, als er sich dem Brecher näherte, der im Vergleich zu den Presslufthämmern im Straßenbau geradezu gigantisch war. Er wappnete sich für den Krach, der trotz Ohrstöpseln und Tinnitus wie Dynamitexplosionen klang, und wunderte sich einmal mehr über die enorme Lautstärke. Dann folgte das Rütteln, die Lichter auf der Tunnelwand erzitterten und Michaels gesamter Körper vibrierte, die Gelenke, der Hals, jede einzelne Bandscheibe, selbst das Hirn vibrierte im Schädel. Abschiedsparty, so ein Blödsinn, dachte Michael. Wenn hier jemand eine Torte verdient, dann wohl eher die Jungs, die noch zwanzig Jahre vor sich haben.
Als Michael sich um fünfzehn Uhr mit den Kollegen auf den Weg nach oben machen wollte, um Feierabend zu machen, hielt der Schichtleiter ihn zurück. »Du wirst unersetzlich sein«, sagte er und hörte gar nicht mehr auf, ihm die Hand zu schütteln, als wollte er unterstreichen, dass die Zeit des Durchgerütteltwerdens für Michael endlich vorbei war. Der Förderkorb fuhr ohne ihn los, und er würde eine Viertelstunde warten müssen, bis er wieder unten war. Als Michael endlich in der Baracke ankam, seinen Regenmantel und seine Stiefel abspülte, sich aus den verdreckten Klamotten schälte, sie in eine schwarze Plastiktüte stopfte, seine Schuhe aus dem Spind holte und duschen ging, war nur noch Powers da. Michael versuchte, nicht enttäuscht zu sein, aber die anderen hatten es offenbar sehr eilig gehabt, wegzukommen.
»Gehen wir noch ein Bier trinken?«, fragte Powers. Powers war zwei Jahre jünger als er und neben Greta der einzige Mensch, den Michael schon kannte, seit er damals nach New York gekommen war. Sie gingen nach der Arbeit nie noch ein Bier trinken. Weil sie müde waren. Und hungrig. Greta wartete schon auf Michael. Außerdem trafen Michael und Powers sich oft genug in ihrer Freizeit. Powers, der aus Mayo stammte, hatte ihn damals angesprochen, weil er gehört hatte, dass Michael aus Galway kam. Als sie sich kennenlernten, hatte Powers ihn gefragt, aus welchem Ort er kam. Powers hatte behauptet, jedes Dorf in Connaught zu kennen oder jedenfalls diejenigen, die eine Erwähnung wert waren.
»Wir sind oft umgezogen«, erwiderte Michael. »Aber ich mochte den Ort, wo Greta herkommt. Wenn ich mir einen aussuchen könnte, würde ich den nehmen.«
»Oft umgezogen«, wiederholte Powers und runzelte die Stirn. Damals, 1963, arbeiteten sie beide noch als Möbelpacker und Michael hatte sich noch keine Antwort auf diese Frage der anderen Iren zurechtgelegt. Ned musterte seinen neuen Bekannten so lange, dass Michael innerlich schon fluchte, weil er nicht auf Greta gehört und einfach einen Ort erfunden hatte, den er dann immer nennen konnte. Doch dann nickte Powers. »An Lucht Siúil?«, fragte er.
Die Traveller. Wandervolk. Tinker. Diebe. An Lucht Siúil wurden sie von den Sesshaften genannt. Am liebsten hätte Michael gesagt, dass sie doch jetzt alle Traveller wären. Stattdessen verschränkte er die Arme und wartete darauf, was Ned als nächstes sagte.
»Verstehe«, sagte Ned nach einer Weile und fügte hinzu: »Jetzt sind wir eh alle Amerikaner, oder?«
Nun, Jahrzehnte später, war Ned derjenige, der Michael eine Frage stellte und auf eine Antwort wartete, genauer gesagt auf seine Entscheidung, ob sie noch ein Bier trinken gingen. »An Lucht Siúil«, sagte Michael schließlich langsam; er hatte lange nicht mehr die Sprache seiner Heimat gesprochen. In letzter Zeit dachte er jedoch oft an daheim, und als er sich nun an die irische Bezeichnung für das erinnerte, was er früher einmal gewesen war, schweiften seine Gedanken abermals ab. Greta hatte neulich gesagt, er hätte im Schlaf über Ponys geredet und erst gemerkt, welchen Unsinn er redete, als Greta sagte: »Wach auf, Michael. Du hast keine Ponys in Amerika. Wach auf.« Er hatte sich daraufhin wie schon so oft auf den rechten Ellbogen gestützt und sie angesehen, und sie hatte sich auf den linken Ellbogen gestützt und seinen Blick erwidert. Sie hatten jeden Lebensabschnitt gemeinsam durchgemacht und in jener Nacht fühlte es sich zum ersten Mal wieder so an, als stünde eine Veränderung bevor. Greta spürte es auch; er merkte es daran, wie sie ihn ansah und darauf wartete, dass er etwas sagte. In jener Nacht wirkte sie anders als sonst, auf eine Weise von ihm entfernt, wie er es noch nie zuvor gespürt hatte, und ihm war ein Schauer über den Rücken gelaufen. Er kannte Greta doch schon, seit sie beide noch Kinder waren. Greta, die sich damals so wenig zutraute, dass sie von dem Leben, das sie heute führte, noch nicht einmal träumen konnte.
»Wir kennen uns jetzt einundfünfzig Jahre«, sagte er schließlich; er hatte zuvor nachgerechnet.
»Ach du lieber Himmel«, hatte Greta da gesagt und sich zurück aufs Kissen fallen lassen. »Werd jetzt bloß nicht sentimental.«
»Komm, ein Bierchen auf die Schnelle«, holte ihn die Stimme seines Freundes Ned Powers ins Hier und Jetzt zurück, zu der New Yorker Baustelle, wo gerade die Kollegen von der Nachmittagsschicht eintrudelten. »Mir zuliebe. Sonst fühl ich mich monatelang schuldig, weil wir kein Tamtam um dich gemacht haben.«
Michael lächelte. »Seh ich aus wie einer, der Tamtam braucht?«
»Tja, man kann nie wissen, Ward. Man kann einfach nie wissen. Komm schon, in einer Woche langweilst du dich zu Tode.«
Also gingen sie die Straße hoch zum Pub – drei Blocks Richtung Süden die Tenth Avenue entlang und dann links in die 27th Street – und tranken genau ein Bier. Als sie fertig waren – der Schaum in ihren leeren Pint-Gläsern war noch nicht zu Boden geglitten – standen sie auf, nickten dem Wirt zu und gingen zur Baustelle zurück. Dort, auf dem Parkplatz, schüttelten sie sich nachmittags um halb fünf die Hand und wünschten sich einen guten Abend.
ERSTER TEIL
1956–1957
1
IN DEM KLEINEN irischen Dorf Ballyroan, in einem kleinen Cottage an der Küste, wurde die achtjährige Greta Cahill in dem Bett, das sie sich mit ihrer älteren Schwester teilte, plötzlich durch ein Geräusch geweckt. Es war noch dunkel draußen. Das Geräusch kam nicht vom Meer, auch nicht von den Tieren, die gegen den Wind anbrüllten, oder von einem klappernden Gatter, einer scheppernden Kuhglocke oder dem Regen, der auf das Giebeldach prasselte. Es klang anders, es war neu, und um es besser hören zu können, schob Greta sich die Deckenschichten von den Schultern und setzte sich auf.
»Du lässt die Kälte rein«, maulte Johanna im Dunkeln und zerrte an den Decken, die Greta weggeschoben hatte. Die Schwestern rangen miteinander, doch als Greta ein schwacher Lachsgeruch in die Nase stieg, hielt sie inne. Sie hatte ganz vergessen, dass ein Teil des Fangs der letzten Nacht auf einem Tablett in der leer geräumten oberen Schublade der Kommode lag, die sie sich mit Johanna teilte. Sechs flache, ordentlich aufgereihte Leichen – hinten die Schwanzflossen, vorne die Köpfe, alle entlang der Wirbelsäule aufgeschlitzt und in Salz begraben. Der Geruch der trocknenden Fische war bislang kaum wahrnehmbar, aber Greta wusste, dass er in ein paar Stunden wie ein Jucken in der Nase sein würde, dass sich nicht wegkratzen ließ. Die Lachse kamen aus dem Fluss und das Salz sollte ihnen das Wasser entziehen. Johanna sollte sie später aus der Lake nehmen und Greta sollte ihr dabei zuschauen, während ihre Mutter von hinten sagte: »Siehst du, Greta? Siehst du, wie deine Schwester das macht?«
»Herrgott«, sagte Johanna und bohrte ihr Gesicht ins Kissen. Greta wusste, was ihre Schwester dachte. Am Abend zuvor, es war schon spät gewesen, hatten sie beide im Bett gelegen und dem üblichen Treiben an der Hintertür und in der Küche gelauscht, und dann ihrer Mutter Lily, die in ihren Latschen hektisch von Versteck zu Versteck geschlurft war. Doch dann hatte sie plötzlich die Tür zum Zimmer der Mädchen aufgerissen und verkündet, dass ihr kein Fisch ins Schlafzimmer kam, schönen Dank auch.
Dann hatte Lily die Laterne auf den Boden gestellt, das Tablett vorsichtig in die Schublade gelegt, um kein Salz zu verschütten, und dann hatte sie Johanna eine verpasst. Ihre Hand war durch die Dunkelheit gesaust und hatte Johanna mitten auf die Wange getroffen. Überall im Cottage lagen Lachse in Schubladen, sogar im obersten Schrankfach im Flur.
Johanna drehte sich auf den Rücken, während Greta versuchte, das Geräusch, von dem sie geweckt worden war, zu erkennen.
»Hörst du das?«, fragte Greta. Da hörte Johanna es auch. Greta erkannte es daran, wie ihre Schwester den Kopf vom Kissen hob.
»Was ist das?«, fragte Johanna, um kurz darauf selbst die Antwort zu liefern: »Ein Pferdekarren!« Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. »Ui, ist der schnell!« Er polterte laut über die Steine, der hölzerne Karrenboden krachte splitternd auf die eiserne Achse. Dann wurde die Welt kurz still und Greta wartete schaudernd darauf, dass das durch die Luft fliegende Gefährt wieder rumpelnd auf dem Boden landete. Das Getöse wurde lauter, je näher der Karren kam, er rollte wie Donner auf das Cottage zu, wie eine trampelnde Herde auf der Flucht. Das Zimmerfenster ging zwar nicht zur Straße hinaus, aber Johanna blieb trotzdem davor stehen und tänzelte gespannt auf den Dielen, während sie in die aufziehende graugrüne Dämmerung spähte. Greta wollte gerade nach ihrer Mutter rufen, da hörten sie den Knall, eine Explosion von Holz, das mit voller Wucht auf Gestein und harten Grund krachte, gefolgt vom vertrauten Geräusch eines davongaloppierenden Pferdes.
»Tom«, erklang Lilys Stimme von nebenan. »Steh auf.«
Johanna öffnete die Zimmertür und die Kälte aus dem Flur fegte so gnadenlos herein, als hätte sie die Haustür aufgerissen.
»Du rührst dich nicht von der Stelle«, sagte Big Tom, als er aus seinem Zimmer trat und Johanna sah. »Ich sag’s dir nicht zweimal.« Er warf Greta, die noch auf dem Bett saß, einen Blick zu, dann schaute er in alle Ecken. »Und haltet die Schublade geschlossen.«
»Das hat mit dem Lachs zu tun«, sagte Johanna, als Big Tom fort war. Greta schwieg, weil sie darüber nichts wusste. Johanna hatte bestimmt auch keine Ahnung, aber sie tat immer so, als wüsste sie Bescheid.
Kurze Zeit später erschien Lily, sie zündete die Petroleumlampe im Flur an und drehte an dem Knopf, um den Docht höher zu stellen und die gelbe Flamme größer zu machen. Die Jungs – Jack, Little Tom und Padraic – waren schon draußen bei Big Tom; Greta hörte den Schall ihrer gedämpften Stimmen durch die schwere Morgenluft wandern. Ihre Brüder, die viel größer und älter waren als sie – zwanzig, neunzehn und achtzehn – sahen alle gleich aus: groß, schwarzhaarig, mit dunklen Stoppeln im Gesicht, wenn es Abend wurde. Das Einzige, was sie davon abhielt, sich wie ein Ei dem anderen zu gleichen, war Little Toms Oberlippe, die ihm seit seiner Geburt an der Nase hing, und in seinem Mund war auch irgendwas verkehrt.
Greta schaute blinzelnd zu Johanna herüber. »Was ist denn da los? Ist Mummy auch draußen?« Sie tastete nach den Wollstrümpfen, die sie am Abend zuvor zusammengeknotet und neben ihr Bett gelegt hatte, und dann nach der dunkelblauen Strickjacke, die neben Johanna an der Rückseite der Tür hing. »Johanna?«, sagte sie, drehte sich um und spähte in die finsteren Zimmerecken. »Bist du da?« Sie spürte den Durchzug, als die Haustür auf- und zuging, und hörte das Klappern der anderen Türen.
»Herrgott noch mal!«, schrie Big Tom einen Moment später. Seine dröhnende Stimme war voller Tabak, Rauch und zerbrochener Muschelschalen, die der Wind umherpeitschte. »Geh rein, Mädchen! Lily, bring das Kind rein!« Lily war in der Küche und hatte gerade die Hände in den Wassereimer getaucht, als sie Big Tom hörte. Sie rannte sofort aus dem Haus, um Johanna einzufangen, die über den Hof auf das Feld gerannt war, wo eine tote Frau im Gras lag.
»Es ist die Tinkerfrau von gestern!«, rief Johanna, als Lily sie packte und zum Haus zurückzog. »Deine Tinkerfrau von gestern, Greta, hörst du?« Johanna wehrte sich, als sie weggezogen wurde. Sie stemmte beide Fersen in den Dreck und zog Spuren hinter sich her.
Greta stand in der offenen Haustür und zog sich ihre Jackenärmel über die Hände. Es war einer dieser Tage, an denen es nicht richtig hell werden würde. Die feuchte Luft legte sich schwer auf ihre Haut und ließ sie frösteln. Sie steckte sich den Fingerknöchel in den Mund und begann daran zu nuckeln.
»Greta?«, sagte Lily. »Komm jetzt rein, ja? Sei ein braves Mädchen. Ihr seid jetzt beide brav und wartet am Kamin.« Sie bekreuzigte sich. »Gott sei der armen Frau gnädig.«
»Was für ein schlimmer Tag, um tot auf einem Feld zu liegen, oder, Mummy?«, sagte Johanna ganz außer Atem, die Wärme ihres Körpers drang durch ihren Pulli und in die feuchtkalte Luft; Greta konnte sie spüren, als ihre Schwester an ihr vorbeikam und mit ihren Haaren spielte, während ihr Blick zwischen Lily und dem Feld hin und her wanderte, wo Big Tom sich niederkniete, um die Frau hochzuheben.
»Da hast du recht, Schätzchen«, seufzte Lily. »Greta, nimm die Finger aus dem Mund.«
Ballyroan lag im äußersten Westen Irlands. Einmal, als der Büchermann zu den Cahills kam, nahm er Greta auf den Schoß und forderte sie auf, ihr Dorf auf der Landkarte zu suchen, die er immer weiter auseinanderfaltete, bis sie den ganzen Küchentisch bedeckte. Doch sie konnte ihr Dorf nicht finden, also forderte er sie auf, Connemara zu suchen. Als ihr auch das nicht gelang, suchte er Galway für sie und fuhr dabei mit seinem Finger über ganz Westirland. Greta war ganz verblüfft gewesen, als sie erfuhr, dass am Ende von all dem Meer, das am Ende ihrer Straße begann, ein Stück Land lag, das hundertmal größer als Irland war, und dass es irgendwo auf der anderen Seite vielleicht ein Mädchen gab, das in diesem Augenblick am Ende einer Straße stand und zu ihr hinüberschaute.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bestand das Dorf Ballyroan aus sieben Familien mit rund fünfzig Personen, die über eine Quadratmeile verstreut lebten. Conch, die nächstgelegene Stadt, lag vier Meilen landeinwärts und da das Moorland und die Felder, die sich zwischen Conch und Ballyroan erstreckten, unbewohnt waren, blieben diese sieben Familien für sich. Big Tom sagte oft, in Ballyroan zu leben wäre, als würde man auf einer Insel leben, nur besser. In allen Richtungen war Wasser, doch anders als die Inseln, die wie Walrücken im Meer lagen, wurde Ballyroan von einem Süßwasserfluss durchzogen. Kein Bach, wohlgemerkt, sondern ein tiefer, schneller Fluss, der bis zum Rand mit Fischen gefüllt war; man musste nur die richtigen Stellen kennen. Dieser Fluss war der Grund, weshalb die Cahills diesen Ort nie hatten verlassen müssen. Weder als die Normannen kamen, noch als Gráinne O’Malley die Clans und die Meere beherrschte, selbst dann nicht, als die Kartoffelfäule eine Hungersnot auslöste und die Leute zur Flucht zwang.
»Deshalb«, sagte Big Tom immer, wenn er mit seinem üblichen Vortrag fertig war, und hielt sein Fischernetz hoch.
»Leg das weg, Dummkopf«, sagte Lily, wenn sie dabei war. Manchmal riss sie ihm das Netz sogar aus der Hand, knüllte es zusammen, bis es ganz klein war und brachte es in ein Versteck, das nur sie und Big Tom kannten.
Die sieben Familien hatten seit Jahrhunderten Seetang von den Klippen gesammelt, ihn getrocknet und den Kindern zum Kauen gegeben oder für die Blumenbeete aufbewahrt; sie hatten seit vielen Generationen Vieh getrieben, Torf getrocknet, Butter gestampft, das Herbstschwein am Deckenbalken einer dunklen Hinterstube ausbluten lassen, um es danach mit hagelkorngroßem Salz zu bedecken und in seinem Fass zu verschließen; die schmalen Grabsteine ihrer Verstorbenen ragten wie Milchzähne aus den Feldern. Doch Anfang 1956 hatten schon fünf der sieben Familien ihre Häuser zugenagelt und Ballyroan verlassen, um nach England, Australien, Kanada oder Amerika zu gehen. All diese Familien hatten vor, zurückzukehren, sobald sie etwas Geld für den Neuanfang beiseitegelegt hatten, und wenn es so weit war, wollten sie den Cahills schreiben und sie bitten, in der Küche Feuer zu machen und die Bretter von den Fenstern zu reißen, um Luft und Sonne hineinzulassen.
Hätten diese Familien ein Netz gehabt wie Gretas Vater, hätten sie bestimmt nicht fortgemusst. Der Mann im Radio hatte gesagt, dass alle Iren nach England und Amerika gingen, nur Kinder und alte Leute blieben zurück. Dabei war so ein Netz doch gar nichts Besonderes. Ein gewöhnliches Alltagsding, wie ein Eimer oder eine Schaufel. Greta konnte nicht verstehen, warum die Familien sich nicht einfach eins besorgt hatten.
In dem anderen Haus, das in Ballyroan noch übrig war, lebte Mr. Grady. Mr. Gradys Haus stand genau eine Meile nördlich vom Haus der Cahills, und beide Häuser markierten wie Schilder die Stellen, wo man nach Ballyroan herein- und herauskam. Big Tom sagte, dass Mr. Grady nie Post bekäme, und als Greta fragte, warum, sagte Big Tom, es läge daran, dass Mr. Grady ein verdammter Hurensohn wäre. Lily mochte es nicht, wenn im Haus der Cahills schlecht über Mr. Grady geredet wurde. Sie sagte, das brächte Unglück. Manchmal, wenn sie die Mädchen ins Bett brachte, schloss sie Mr. Grady in ihre Nachtgebete mit ein, und wenn Big Tom sagte, dass sie ruhig auch mal für das Netz und den Lachs beten könnte, meinte sie, das brächte ebenfalls Unglück.
Wenn 1956 noch immer sieben Familien in Ballyroan gewesen wären, hätten die Traveller ihr Camp vielleicht etwas weiter entfernt aufgestellt. Ursprünglich kamen sie jedes Jahr im Oktober nach Conch, direkt nach dem Pferdemarkt von Ballinasloe, und blieben bis Mitte Dezember. Greta und Johanna hatten sie dort schon gesehen, wenn sie zur Messe oder zum Einkaufen in der Stadt waren. Sobald die Tinker ihr Camp errichtet hatten, durften die Schwestern nicht mehr allein hinaus, und jedes Mal, wenn sie an den bunten Planwagen vorbeikamen, nahm Lily sie fest an den Händen. 1956 waren die Traveller in Conch jedoch nicht mehr willkommen. Man hatte sie vertrieben, zunächst an den Stadtrand und später die westliche Straße hoch Richtung Küste, wo den Stadtmenschen der Anblick ihrer auf den Büschen trocknenden Wäsche und ihres im Gras verstreuten Kesselflickzeugs erspart blieb, ganz zu schweigen von den Zigeunereintöpfen, die weithin sichtbar auf den Feuerstellen brodelten und der erfundenen Sprache, die niemand verstand. Ballyroan war ein Kompromiss, den man gefunden hatte, nachdem es zu Beschimpfungen, Schlägereien und Eintrittsverboten in Pubs und Geschäften gekommen war, sogar auf Gräber war gespuckt worden. Man hatte die Traveller bis ans Meer vertrieben, wo sie schließlich im Oktober 1956 zum ersten Mal auf der hohen Klippe ihre Wohnwagen und Zelte aufstellten, ihre Festungen aus Sperrholz, Pappe, Schrott und Wachstuch errichteten und ihre Lagerfeuer anzündeten. Von dort aus konnten sie bequem zu Fuß nach Conch, um zu hausieren, zu betteln, ihre Dienste anzubieten oder zu stehlen – je nachdem, wen man fragte.
An dem Morgen, bevor die Travellerfrau auf dem Feld der Cahills landete, hatte sie bei ihnen an die Haustür geklopft. »Gottes Segen für euch alle«, hatte sie gesagt, als Greta ihr öffnete. Big Tom sagte immer, die Tinker wären nicht gläubig. Sie täten nur so, wenn sie bei Katholiken anklopften. Lily sagte dann, die Tinker würden genauso wie alle anderen in ihr Leben hineingeboren und wenn Big Tom in einem Zelt am Straßenrand zur Welt gekommen wäre, hätte er es auch nicht besser gewusst.
»Ganz egal, wo ich zur Welt gekommen wäre, ich wüsste jedenfalls genau, dass ich was Besseres zu tun hätte als zu betteln. Die klauen unser Heu, um daraus ihre Betten zu machen, und nachts bringen sie ihr Vieh auf unsere Weiden.«
»Das tut uns doch nicht weh.«
»Dann wart mal ab, bis die alle hier anklopfen und uns die Kleider vom Leib betteln! Dabei haben die viel mehr Geld als wir, mit all den Ziegen, Eseln und Ponys.«
»Es gibt gute und schlechte, wie bei uns. Hältst du dich etwa für perfekt, Tom Cahill? Vergiss bloß nicht, womit wir hier unser Geld verdienen. Manche Leute würden sagen, wir sind keinen Deut besser als die Tinker.«
Greta hatte der Frau die Tür geöffnet. Lily hatte zwar gesagt, dass die Tinker immer bei den Häusern in Ballyroan anfingen, bevor sie in die Stadt gingen, aber Greta war trotzdem so überrascht, dass sie nicht mehr wusste, was sie tun sollte. Lily war gerade in der Küche damit beschäftigt, die Lachsbäuche im Fischeimer auszupressen und das herausquellende Zeugs wegzustreichen, ihre Hände waren schon ganz glitschig, als sie die Frau von der Küstenstraße aus auf das Cottage zukommen sah. Sie räumte sofort alles weg und befahl Greta, alle Fenster im Haus weit aufzureißen.
»Gottes Segen«, erwiderte Greta den Gruß der Frau und machte die Tür ein Stückchen weiter auf.
»Ist deine Mutter da?«, fragte die Frau und schlüpfte in den Flur, damit Greta die Tür wieder schließen konnte. Sie schien ungefähr so alt wie Lily zu sein, sah jedoch rauer aus, das Gesicht so verwittert wie Leder, das zu lange an der frischen Luft geblieben war. Sie trug einen orangefarbenen Schal ums Haar und ein schweres schwarzes Schultertuch über ihrem Kleid, Wollsocken an den Füßen und Sandalen, die früher einmal weiß gewesen waren. Lily kam aus der Küche und trocknete sich dabei die Hände ab. »Missus«, sagte die Tinkerfrau.
»Greta«, sagte Lily, »geh und mach Tee.«
Die Frau hieß Julia Ward und sie blieb fast eine Stunde lang. Big Tom und die Jungs waren draußen beim Torfstechen und Johanna war mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren, um Eier zu verkaufen, Lachs zu liefern und Mehl, Tee und Zucker zu besorgen. Julia legte ihr Schultertuch ab und zum Vorschein kamen eine graumelierte, an den Ärmeln ausgefranste Strickjacke und ein dunkelblauer Rock. Darüber trug sie eine auf links gedrehte Schürze, deren Taschen nach innen zeigten. Julia griff unter ihre Schürze und zog ein Täschchen hervor, das im Lampenschein glitzerte. Es war mit Knöpfen, Broschen und Perlen von kaputtgegangenen Ketten bestickt. Dann holte Julia Nähzeug heraus und fragte, ob Lily Sachen hätte, die geflickt werden müssten. Lily schnitt ein paar Scheiben von einem Laib Brot, wie sie es auch für einen Priester oder Besucher aus der Stadt getan hätte, doch sie antwortete nicht. Julia schaute zu, wie Greta die Hand über das glitzernde Täschchen gleiten ließ, bevor sie Lily abermals ansprach.
»Wenn Sie nichts zum Flicken haben, mein Mann kann gut mit dem Lötkolben umgehen. Gibt es vielleicht Kessel oder Töpfe zum Ausbessern?« Sie schaute sich in der Küche um.
»Trinken Sie das«, sagte Lily und stellte Julia eine Tasse Tee hin. Dann holte sie das Bündel, das sie gepackt hatte. Eine halbe Scheibe Brot. Etwas Butter. Ein Marmeladenglas, gefüllt mit Mehl. Sie legte es neben Julias Tasse.
»Der junge Torfstecher am Moor unten an der Straße, der mit dem Mund, ist das Ihr Sohn?«, fragte Julia. »Ich habe so etwas schon mal gesehen. Aber es gibt eine Methode, so in den Mund und in die Nase zu schneiden, dass die Lippe nach unten fällt, wo sie hingehört, wussten Sie das?«
»Er ist eben eigen«, sagte Lily. »Er kommt genauso gut zurecht wie Sie und ich. Seine beiden Brüder verstehen alles, was er sagt, und wenn wir ihn mal nicht verstehen, schreibt er’s uns auf. Er kann wunderbar schreiben.«
»Und was ist mit der Kleinen?«, fragte Julia und deutete mit dem Kopf zu Greta. Greta hörte der Unterhaltung nur mit halbem Ohr zu, denn sie war damit beschäftigt, dem Klackern des Täschchens auf dem Küchentisch zu lauschen, während Julia darin herumwühlte. »Braucht sie vielleicht ein Stärkungsmittel?« Julia lehnte sich vor und schaute Greta ins Gesicht. »Sie sieht aus, als könnte sie eins vertragen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen um sie«, sagte Lily und einen Moment lang schauten die beiden Frauen Greta schweigend an. »Das ist unsere Greta.«
»Ist sie …?«, fragte Julia und tippte sich an den Kopf.
»Sie ist eigen, wie Little Tom. Sie kam neun Wochen zu früh zur Welt.«
»Wie viele Kinder haben Sie denn?«
»Zehn. Aber nur fünf haben überlebt. Sie ist die Jüngste von zehn. Oder fünf. Komm drauf an, wie Sie’s sehen wollen.«
Greta musterte Lily mit zusammengekniffenen Augen, runzelte die Stirn und reckte den Hals vor; das war eine Angewohnheit von ihr. Greta die Gans, wurde sie oft gehänselt, und wenn Lily es mitbekam, versetzte sie dem Übeltäter einen Stoß.
»Wir haben sie gern«, sagte Lily und sofort entspannte sich die Miene ihrer Jüngsten. Große grüne Augen, Sommersprossen auf der Nase, Pausbacken und ein perfektes Kinn. Nicht so hübsch wie ihre Schwester, aber trotzdem nett anzuschauen, wenn sie sich nicht gerade zur Gans machte. »Greta ist mein Liebling«, sagte Lily. »Stimmt’s, Schätzchen?« Sie griff über den Tisch nach Gretas Hand und küsste sie. Das war die Belohnung dafür, dass Greta zuhause blieb, wenn die anderen unterwegs waren. Greta hatte jedenfalls noch nie mitbekommen, dass Lily Johanna ihren Liebling nannte. Oder dass sie Johanna an sich drückte, wenn gerade keiner hinsah, und ihr zuflüsterte, dass sie die Beste war.
Julia wühlte wieder in dem Täschchen herum, zog ein Stück Papier hervor und faltete es geschickt zu einer Blume. Dann legte sie die Blume vor Greta auf den Tisch.
Als Greta die Blume betrachtete, hörte sie ein Fahrrad den Weg hochkommen, der Kies knirschte unter den Reifen. Julia warf Lily einen raschen Blick zu, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl, nahm das Bündel, das Lily eingepackt hatte, und versteckte es unter ihrem Schultertuch.
»Bei Finnegans hab ich keinen braunen Zucker gekriegt!«, rief Johanna, als sie die Küchentür öffnete. »Aber ich …«
Julia neigte den Kopf zur Begrüßung und bewegte sich Richtung Tür.
»Missus«, keuchte Johanna, noch ganz außer Atem. Greta und Lily versuchten beide zu erraten, welche Frage sie als nächstes stellen würde. Big Tom hatte die Jungs zur Klippe hochgeschickt, um nachzuschauen, wie groß das Camp der Tinker war und aus wie viel Leuten ihre Gruppe bestand. Die Jungs hatten berichtet, dass sie insgesamt siebzehn Traveller gezählt hätten, plus drei gescheckte Ponys, vier Hunde, fünf Ziegen und zwei Esel. Padraic meinte, die Kinder, die sie gesehen hätten, wären ungefähr so alt wie Johanna. Babys hätten sie auch gesehen, sich aber nicht die Mühe gemacht, die auch noch zu zählen.
»Die beiden Kinder in der Gruppe, sind das Ihre?«, fragte Johanna japsend. »Die ungefähr so alt sind wie ich? Ein Junge und ein Mädchen?«
»Johanna …«, sagte Lily warnend.
»Du meinst die Zwillinge«, sagte Julia. Sie ließ die Hand auf der Türklinke, als sie sich zu Johanna umdrehte. »Ich habe mir nicht notiert, an welchem Tag sie zur Welt kamen. Sie müssten jetzt elf sein.«
»Zwillinge«, sagte Johanna und nickte eifrig.
»Eine Tinkerfrau zum Tee!«, rief sie, als Julia gegangen war. Verblüfft starrte sie auf die leeren Tassen und die Krümel auf den Tellern. Lily verschwand in der Küche, um mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Johanna wandte sich Greta zu. »Warst du die ganze Zeit hier und hast mit ihr gesprochen?«
Greta erzählte ihr von dem bunt glitzernden Täschchen und all den Sachen, die Julia angeboten hatte: Näharbeiten, Kesselflicken, Melken, dass sie im Camp eine ganze Sammlung von Stärkungsmitteln hätte, dass sie graues Haar wieder braun machen konnte, dass sie Rückenschmerzen und Beinschmerzen behandeln und sogar Little Toms Mund heil machen konnte. Sie zeigte Johanna die Papierblume.
Johanna hörte Greta gespannt zu. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, als hätte sie zu viel gegessen. »Was glaubst du, was die wohl die ganze Zeit dort machen? Die Kinder, meine ich.« Greta ahnte schon, was ihre aufgeregte Schwester als Nächstes sagen würde.
»Wir müssen unbedingt dahin«, sagte Johanna.
Als sie an jenem Abend sicher waren, dass ihr Vater und die Jungs mit dem Netz zu Hause blieben, warteten sie, bis sie die Sprungfedern des elterlichen Bettes quietschen hörten und zählten bis hundert. Dann setzte Johanna sich auf und griff nach ihrem Pulli. Sie zog sich ein Paar Kniestrümpfe an und schlüpfte in die Schnürstiefel, die früher Padraic gehört hatten und von Lily sorgsam aufbewahrt worden waren, bis Johannas Füße endlich hineinpassten. Greta hatte noch keine eigenen Schuhe oder Stiefel, sie war als Nächste dran, zum Schuhladen nach Conch mitgenommen zu werden. »Bevor es Winter wird«, sagte Lily immer, und abends durfte Greta sich auf den Boden und ihre Füße in Lilys Schoß legen, damit Lily sie warm reiben konnte.
»Bleibst du hier oder kommst du mit?«, sagte Johanna zu Greta, als sie sich die Stiefel zuschnürte.
»Kann Daddy die Tinker nicht leiden?«, fragte Greta.
»Er kauft Eimer von ihnen«, sagte Johanna. »Manche Tinker können nämlich Eimer herstellen, die ewig halten. Und einmal hat er einem ein Pferd abgekauft. Aber eine Woche später war es tot. Das weißt du ja sicher noch. Er meinte, da hätten sie den richtigen Zeitpunkt abgepasst.«
»Aber kann er sie nun leiden oder nicht?«
»Was ist jetzt, kommst du mit?«
»Scheint draußen der Mond?«
»Ja. Wir haben Dreiviertelmond und die Nacht ist klar.«
»Was willst du denn dort machen? Die liegen bestimmt alle schon in ihren Betten und schlafen.«
»In ihren Zelten, meinst du.«
»Die Betten sind in den Zelten.«
»Quatsch, die haben bestimmt keine Betten.«
»Doch! Da sind bestimmt Strohbetten drin. Und im Wohnwagen auch.«
»Kann sein, dass im Wohnwagen Betten sind, aber nur für die Alten. Die Kinder schlafen garantiert in Zelten.«
Greta nuckelte an ihrem Fingerknöchel, als Johanna das Fenster entriegelte. Mit einem kräftigen Ruck schob sie es ganz nach oben. Sie wartete einen Moment ab, ob jemand von dem Geräusch wachgeworden war, dann schwang sie die Beine über die Fensterbank und ließ sich draußen ins Gras fallen. Greta griff nach ihrem Pulli und kletterte Johanna hinterher.
Draußen wurden Gretas Strümpfe sofort nass vom Tau. Die beiden Schwestern schlichen in einem großen Bogen um das Cottage herum zur Straße. Johanna übernahm die Führung. Sie scherte sich nicht um die Kaninchenlöcher, denn sie brauchte ja keine Angst zu haben, sich den Knöchel zu brechen, wenn sie in eins hineintrat. Greta stolperte ihr mit rudernden Armen und gerecktem Hals hinterher. »Jetzt mach schon, du Gans«, sagte Johanna, äffte den Gang ihrer Schwester nach und stürmte vorwärts.
Als sie zur Straße kamen, wurde es einfacher. Greta konnte spüren, wie der Weg steiler wurde, und ihr Körper passte sich automatisch an das Gefälle an. Sie marschierten weiter hinauf, zu ihrer Linken das Meer, dessen wildes Rauschen noch lauter toste als sonst. Die Mädchen hielten ihr Haar zusammen, damit es nicht im Wind flatterte. So liefen sie weiter, bis die Straße wieder flach wurde und in einer leichten Kurve vom Meer wegführte. Dann sahen sie es gleichzeitig: ein flackerndes Lagerfeuer in der Ferne.
»Hörst du das?«, sagte Greta. Die Mädchen blieben stehen und gingen in die Hocke. Der Klang einer Mundharmonika wehte durch die Dunkelheit auf sie zu. »Ich muss Pipi machen«, flüsterte Greta.
»Dann mach Pipi«, sagte Johanna und rückte ein Stück vor, um besser sehen zu können. Drei schemenhafte Gestalten saßen am Feuer und zwei kleine hüpften im Kreis um sie herum. Einer der Wagen war nah am Feuer aufgestellt und die Tür stand offen. Johanna flüsterte, drinnen säße ein alter Mann auf einem Stuhl.
Greta zog ihr Nachthemd hoch und versuchte zu pinkeln, aber es klappte nicht. »Lass uns jetzt gehen«, sagte sie, doch kaum war sie aufgestanden, hatte sie wieder das Gefühl, Pipi machen zu müssen.
»Warte. Die Zwillinge sehe ich, deine Tinkerfrau aber nicht.« Johanna kroch noch ein Stück vor. Greta blieb hinter ihr, kniete sich ins nasse Gras und konzentrierte sich auf Johannas weiße Beine. Sie hörte die ersten Klänge einer Fiddle, die sich zu der Mundharmonika gesellte. Ob der Wind die Musik wohl bis in ihr Zimmer getragen hätte, wenn sie zu Hause im Bett geblieben wären? Dann hörte die Musik auf.
Das hüpfende Mädchen rief etwas in der Sprache der Tinker, und die drei Erwachsenen, die am Feuer saßen, erhoben sich und spähten in die Dunkelheit. Ein Mann, der ungefähr so alt wie Big Tom war, schnappte sich eine Holzplanke, die im Gras lag, und näherte sich. Er schwang die Planke drohend in der Luft. Greta zog den Kopf ein und hielt den Atem an.
Johanna trat aus dem Gebüsch auf die Straße, als wäre gar nichts dabei. »Guten Abend«, sagte sie.
Der Mann starrte sie an, dann entdeckte er Greta. »Das sind die zwei Mädels von unten«, rief er den anderen zu.
»Was machen die denn hier?«, fragte das Tinkermädchen, rannte zu dem Mann und stellte sich hinter ihn. Der Mann warf die Planke ins Gras. Der Junge folgte seiner Zwillingsschwester schweigend und beobachtete alles.
»Wir können ja wohl machen, was wir wollen«, sagte Johanna und stemmte die Hände in die Hüften.
»Johanna!«, flehte Greta, als sie langsam aufstand. Sie hörte Leute durch das hohe Gras kommen und das Feuer, das knisterte und knackte. Johanna blieb ungerührt stehen, obwohl ihr der Wind das Nachthemd um die Beine schlug und das lange Haar ins Gesicht peitschte. Gleich tauchten bestimmt noch mehr Mitglieder des Ward-Clans mit Holzplanken aus der Dunkelheit auf. Greta nahm ihren letzten Mut zusammen, drehte sich um und lief davon. Sie lief so schnell sie konnte nach Hause zurück und tastete sich dabei an der niedrigen Mauer entlang, die bis zum Tor der Cahills reichte.
Sie lief um das Cottage herum, kletterte unbeholfen durchs Fenster, zog die nassen Strümpfe aus, rieb sich die Füße rasch mit einem Lappen sauber, kroch unter die Bettdecken und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Johanna noch am Leben war. Sie horchte an der Wand, doch nebenan war es still. Falls Johanna in fünf Minuten nicht zurück war, würde sie Lily und Big Tom wecken. Sie zählte still vor sich hin, gab Johanna abermals fünf Minuten.
Eine geschlagene Stunde später kam Johanna endlich durchs Fenster. »Herrgott, Greta«, sagte sie. »Schönen Dank auch!«
»Wo warst du so lange? Ich dachte schon, die hätten dich abgemurkst!«
Johanna setzte sich aufs Bett und zog lässig ihre Schnürsenkel auf. »Ich hab noch ’ne Weile bei denen am Feuer gesessen und dann hat der Junge mich zum Tor gebracht. Die sind es gewohnt, nachts umherzuziehen. Du glaubst gar nicht, wo die schon überall waren, sogar die Kleinsten. Dublin. Cork. Manchester. Liverpool. Kannst du dir das vorstellen?«
Nach jeder Stadt machte Johanna eine ehrfurchtsvolle Pause. Greta konnte ihrer Schwester genau anhören, dass sie im Geiste schon durch die Straßen von Manchester und Liverpool gelaufen war und sich die Bewohner und deren Geschäfte vorgestellt hatte.
»Die Einzige, die ich nirgends sehen konnte, war deine Tinkerfrau.«
»Gute Nacht«, sagte Greta und klemmte die Bettdecken unter sich fest, damit Johanna sie nicht wegziehen konnte.
»Der Junge, der mich heimbrachte, heißt übrigens Michael. Michael Ward.«
»Mir doch egal.«
Beim ersten Hahnenschrei ging Big Tom aufs Feld hinaus, um Julias Leichnam in das Zimmer von Johanna und Greta zu tragen. Greta presste sich an die Wand, als er an ihr vorbeikam und Julias Schultertuch ihr Gesicht streifte. Es verströmte den gleichen kräftigen Geruch wie die Tiere und ließ Greta daran denken, wie gern sie beim Melken ihre Wange an die warme Flanke der Kuh lehnte. Lily verkündete, dass nur Johannas und Gretas Zimmer in Frage käme. Greta nahm es still hin. Eigentlich machte ihr die tote Frau auf ihrem und Johannas Bett nichts aus, aber sie hatte das Gefühl, dass es falsch war, so zu denken. Sie schaute vom Flur aus zu, wie Big Tom die Tote aufs Bett legte und sie dann in eine sitzende Position brachte. Lily wickelte ihr einen Verband um den Kopf und legte ein sauberes Tuch auf das Kissen. Dann legten sie sie wieder auf den Rücken und Lily richtete ihr die Beine, den Rock, die Schürze, das Schultertuch und die Hände. Das Haar der Frau hatte sich gelöst. Zuerst fügte Lily es zusammen und schob es ihr unter den Kopf, doch dann breitete sie es wie einen Fächer auf Gretas Kissen aus.
»Sieh nur, wie lang es ist«, flüsterte Johanna.
»Sprich nicht über die Tote«, warnte Lily, während sie der Toten unters Kinn fasste und ihr vorsichtig den Mund zuschob. Doch als Lily die Hand wegnahm, ging der Mund der Frau wieder auf. Lily schaute sich suchend um.
»Schneid einen Streifen vom Mehlsack ab und bring ihn mir«, sagte sie schließlich zu Johanna.
Johanna verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Streifen Sackleinen zurück. Lily schob ihn der Toten unters Kinn und verknotete die beiden Enden auf dem Kopf der Frau. Als Lily diesmal die Hände wegnahm, blieb der Mund der Toten geschlossen. Greta trat näher ans Bett heran, um besser sehen zu können.
»Bist du sicher, dass sie tot ist?«, fragte Greta. Die Frau schien sie unter halb geschlossenen Lidern anzublinzeln, wie jemand, der nur so tut, als hätte er die Augen zu.
Lily bedeckte die Augen der Toten mit der Hand. »Hol mir zwei Münzen aus der Tasse über dem Kamin.«
Als sie ihr Möglichstes für die Frau getan hatten, bereiteten Big Tom und die Jungs sich in der Küche darauf vor, zum Camp zu gehen. Johanna bettelte, dass sie sie mitnehmen sollten. Sie jammerte und stöhnte, sie folgte Lily auf Schritt und Tritt, sie flehte Big Tom an, warf ihren Brüdern verzweifelte Blicke zu, doch die zuckten nur mit den Schultern und schauten weg. Sie stampfte mit den Füßen und drohte, ihnen zu folgen. Sie zog Lily am Arm und versprach, alles zu tun, was Lily wollte, wenn sie sie nur mit zum Camp gehen ließ.