Sieben Tage einer Ehe - Mary Beth Keane - E-Book

Sieben Tage einer Ehe E-Book

Mary Beth Keane

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Beschreibung

Von der Autorin des Indie-Bestsellers Wenn du mich heute wieder fragen würdest Der charmante Barkeeper Malcolm und die ambitionierte Anwältin Jess sind schon seit dem College ein Paar. Sie leben in ihrer Heimatstadt Gillam und sind bereit, eine Familie zu gründen. Doch als sie auch nach vielen Jahren noch immer kein Kind erwarten, beginnt Malcolm, sich anderen Dingen zu widmen: Mit seiner eigenen Bar verwirklicht er einen Traum, während Jess sich zu fragen beginnt, ob sie wirklich das Leben lebt, das sie sich wünscht. Als ein schwerer Schneesturm Gillam erschüttert, wird die darauf folgende Isolation zum Brennglas für die verdrängten Probleme der fragilen Ehe: Was passiert, wenn ein Paar unterschiedliche Träume hat? Wer gibt wem Halt, wenn diese Träume platzen? Und was heißt es wirklich, sich füreinander entschieden zu haben? "Von der ersten bis zur letzten Seite ein beeindruckend stimmiges Buch, das mich tief berührt hat." Süddeutsche Zeitung

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Seitenzahl: 487

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Das Buch

Malcolm und Jess sind schon einige Zeit verheiratet. Als sich ihr Kinderwunsch auch nach Jahren nicht erfüllt, stellt das ihre Beziehung auf eine harte Probe. Sie beginnen, sich anderen Lebensträumen zu widmen, und merken erst spät, dass sie sich so immer weiter voneinander entfernen. Dann legt ein schwerer Schneesturm über mehrere Tage alles lahm – und die eigentlich bedrohliche Ausnahmesituation birgt auf einmal auch ganz neue Chancen...

Die Autorin

MARY BETH KEANE machte ihren Master of Fine Arts an der University of Virginia und schrieb mit dem Roman Wenn du mich heute wieder fragen würdest einen internationalen Bestseller, der auch in Deutschland ein großer Erfolg war und derzeit als TV-Serie verfilmt wird. Nach ihrem Debütroman Mit dir bis ans andere Ende der Welt ist Sieben Tage einer Ehe ihr dritter Roman auf Deutsch. Mary Beth Keane lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen zwei Söhnen in der Nähe von New York.

Mary Beth Keane

Sieben Tage einer Ehe

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Reissig

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-191-1

Das Motto auf der übernächsten Seite stammt aus Louis Erdrich, Liebeszauber.

Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch,

Berlin: Aufbau Taschenbuch 2019.

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2019

Die Originalausgabe »The Half Moon« erschien 2023 bei Scribner, New York.

© 2023 Mary Beth Keane

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: © Marcel / Stocksy

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Danksagung

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Für meine ersten Lieben, Annette und Catherine

Richtig und falsch waren Bedeutungsnuancen, nicht zwei Seiten einer Medaille.

Louise Erdrich, »Liebeszauber«

1

Malcolm Gephardt konnte schon von weitem erkennen, dass in der Bar viel los war, selbst durch die schmutzige Windschutzscheibe seines Hondas. Es war ein nasskalter Abend, die Bürgersteige im Stadtzentrum waren seit Tagen mit schmutzigem Schnee übersät, der nicht schmelzen wollte. Die meisten Läden hatten die Wetterwarnung ernst genommen und wegen des aufziehenden Sturms geschlossen, aber als Malcolm sich der Ampel näherte und seinen eigenen Laden in dem braun geschindelten Gebäude am Fuße des Hügels erblickte, wurde ihm warm ums Herz.

»Schau sich das einer an«, sagte er zu seinem leeren Wagen. An diesem Abend wirkte der Laden anders als sonst, er strahlte eine mitreißende Energie aus; jenes einzigartige glückselige Chaos, das es nur in einer überfüllten Bar gab, wo gute Musik lief, Freunde einander in die Arme fielen und sich überall Behaglichkeit breitmachte, egal wie eiskalt es draußen war. Er versuchte, die Bar mit den Augen eines Fremden zu sehen. Seine Bar. Wirkte sie einladend? Bildete er sich das bloß ein oder brachte das Licht, das auf die Straße fiel, die gesamte Fassade zum Leuchten? Ja, entschied er, als er geschmeidig auf seinen Parkplatz scherte, und zum ersten Mal seit Wochen wallten Hoffnung und Vertrauen in ihm auf: in sich selbst, seine Stadt, diese Menschen, das Leben, das Schicksal und die eigene innere Stimme. Es ist eine gute Stadt, eine gute Bar, es geht mir prima, sagte er sich im Stillen, wie ein Gebet. Half Moon, Halbmond, stand auf dem alten Holzschild über der Tür. Verziert war es allerdings mit einem geschnitzten Viertelmond (ein Fehler, auf den die Leute gern hinwiesen), der im Laufe der Jahre schwarz und schimmlig geworden war; Malcolm hatte ihn, als der Deal durch war, gleich am nächsten Tag geschrubbt und strahlend weiß überstrichen.

Heute Abend standen zwei Frauen draußen und rauchten; eine dritte leistete ihnen bibbernd Gesellschaft. Ein positives Zeichen. Allerdings bedeutete es, dass er nun nicht zum Hintereingang gehen konnte, weil sie ihn bereits entdeckt hatten und ihm zunickten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sie zuzugehen und das Übliche zu sagen: Na wie geht’s, alles klar bei euch, gut seht ihr aus, es soll noch mehr Schnee geben, was für ein Winter, übers Wochenende kommt hier wohl keiner weg, hoffentlich gibt’s keinen Stromausfall, was täten wir ohne Fernseher, ha ha ha. Er musste den Frauen zur Begrüßung die Wange küssen, und wenn sie ihn mit besorgter Miene fragten, ob es ihm gut ging, musste er fröhlich tun, als hätte er keine Ahnung, worauf sie anspielten, und wenn sie ihn kurz darauf abermals fragten, musste er sich mit dem Verstellen noch etwas mehr Mühe geben.

All das fiel ihm wesentlich schwerer ohne einen breiten Tresen vor sich, der die Leute auf Abstand hielt. Jedenfalls fiel es ihm schwerer als früher. Aber warum? Wahrscheinlich, weil er geglaubt hatte, sich selbst zu kennen. Weil er geglaubt hatte, Jess zu kennen. Er klammerte sich an das gute Gefühl von vorhin. Mach weiter, befahl er sich, du stehst den Abend schon irgendwie durch, denk einfach nicht an den nächsten. Neuerdings kam er öfter auf Ideen. Als er in der Woche zuvor auf der Wappinger an der Ampel stand, der Sonnenuntergang ein lila Bluterguss über dem Tallman Mountain, der breite Hudson dahinter verborgen, dachte er: Ich könnte doch weiterfahren. Ich könnte nach rechts abbiegen, Richtung Mexiko. Oder nach links, Richtung Kanada. Ich bräuchte nur regelmäßig zu tanken. Er sah gut aus, war charmant, man mochte ihn auf Anhieb. Eine Tatsache, die ihm schon sein Leben lang bewusst war und ihm sicher helfen würde, wenn er in irgendeinem Dorf in Quebec auftauchen und nach Arbeit suchen würde. Er überlegte, wie viel Geld im Safe lag und wie viel Spielraum noch auf den Kreditkarten blieb. Er dachte an sein Haus und überlegte, an welchen Gegenständen sein Herz hing, aber was davon war ihm wirklich wichtig? Die Kaffeekanne? Der Ledersessel? Dann wurde die Ampel grün, der Gedanke verflog wieder, und als er an der Bar ankam, hatte er das seltsame Gefühl, als läge ihm etwas Wichtiges auf der Zunge, das ihm partout nicht einfallen wollte.

Während er sich draußen mit den Leuten unterhielt, gestattete er sich die Hoffnung, dass vielleicht zwanzig Gäste drinnen waren. Zwanzig wären ein anständiger Abend, dann konnte er zufrieden sein, es wäre vermessen, sich gleich vierzig zu wünschen. Durchs Fenster schauen wollte er lieber nicht, das brachte nur Pech. Dreißig, wenn’s hochkam. Gut möglich, dass es dreißig waren. Ein Schneesturm zog auf, das Gallagher’s und das Parlor hatten gar nicht erst aufgemacht. Das Primavera nebenan ließ nach neunzehn Uhr keine Gäste mehr herein. Bei Tia Anna’s oder dem neuen Thai-Laden wusste er es nicht genau. Wenn es unvermeidlich war, würde er schließen, aber bis dahin würde er Bier zapfen.

»Er ist da«, hörte er Roddy beim Hereinkommen sagen, und sein Optimismus geriet kurz ins Wanken. Wie immer wehte ein Hauch von Hektik in Roddys Stimme mit, eine Klangfarbe, die Malcolm über den Gesprächslärm hinweg erreichte wie ein Zupfen am Ärmel. Vierzig Gäste. Mindestens. Sein Freund Patrick war da. Siobhán auch, sie wippte sogar mit der Hüfte im Takt zur Musik, die aus der Jukebox kam. Seit Jess gegangen war, riefen seine Freunde ihn viel öfter an und schauten bei ihm vorbei, und ihre Fröhlichkeit rührte ihn, auch wenn sie nur aufgesetzt war; als er letzten Samstag wachwurde, weil Patrick und Toby in seiner Küche lärmend nach Kaffeefiltern suchten, bekam er sogar einen dicken Kloß im Hals. Schon seit fast vierzig Jahren machten Patrick und er sich regelmäßig über Toby lustig, aber da stand er, ihr gemeinsamer Kumpel, schnupperte an der Kaffeesahne, die er in Malcolms Kühlschrank gefunden hatte, und checkte das Verfallsdatum. Ob sie wohl auch mit Jess telefonierten? Siobhán bestimmt. Ein paar andere sicher ebenfalls. Doch niemand sprach das Thema direkt an. Wenn sie sich für eine Seite entscheiden mussten, ließen sie ihn durch kleine Zeichen wissen, auf welcher sie standen.

»Malcolm!«, rief Roddy zu ihm herüber.

Malcolm nickte Patrick und Siobhán zu und signalisierte ihnen, sich noch einen Moment zu gedulden. Roddy war Malcolm schon seit dem Moment auf die Nerven gegangen, als er seine erste Schicht im Half Moon antrat, aber er schien wenigstens ehrlich zu sein, sein Onkel hatte die Hand für ihn ins Feuer gelegt, und Ehrlichkeit war das Wichtigste für Malcolm nach dem Desaster vom letzten Jahr, als er herausfand, dass John ihn wahrscheinlich schon seit dem Tag beklaut hatte, als Malcolm die Bar übernahm; John hatte bündelweise Bargeld unterschlagen und nur die Kreditkartenabrechnungen über die Kasse laufen lassen. Und das, nachdem Malcolm ihn all die Jahre gedeckt hatte, als sie beide noch für Hugh Lydon arbeiteten. All das Koks, das John sich reinzog. Seine Frau, die auf der Festnetznummer anrief und fragte, wo er steckte, obwohl sie es längst wusste, und ihre Wut dann an Malcolm ausließ, der dumm genug war, ans Telefon zu gehen. Als er den Laden damals übernahm, hatte er John natürlich angeboten zu bleiben, und zum Dank dafür wurde er von John bestohlen.

Emma, seine beste Barkeeperin, sagte es ihm. Morgens um elf, als sie hundert Luftballons für eine private Feier aufblasen mussten. Sie nahm ihn am Arm, zog ihn ins Damenklo und schloss die Tür ab. Als ihre warme Hand seinen Trizeps berührte, war er wie elektrisiert. Er dachte lieber nicht darüber nach, wie sie seinen Gesichtsausdruck in jenem Moment interpretierte, denn als nächstes hob sie die Hände, wie um zu sagen: Entspann dich! Krieg dich wieder ein! Ich will dir nur was erzählen, okay? Sie legte den Finger auf die Lippen und horchte, um sich zu vergewissern, dass auf dem Flur niemand vorbeikam, aber die Servicekräfte waren vollauf mit dem Heliumtank beschäftigt, André schnitt lange Ballonbänder zurecht, und die Stühle standen immer noch umgekehrt auf den Tischen wie ein Wald aus Mahagonibeinen.

Sie wolle niemanden verpfeifen, sagte sie zu ihm, aber ihr sei schon seit einer Weile aufgefallen, dass John sein Trinkgeld nicht ins Glas steckte, und schau dir André an mit zwei Jobs gleichzeitig, und Scotty mit seiner Kinderschar. Jedenfalls sehe sie nicht ein, ihre Wochenenden dafür zu opfern, dass dieser Typ ihr das sauer verdiente Geld aus der Tasche zog. Sie habe John zur Rede gestellt und er habe ihr auf Anhieb dreihundert Dollar geboten.

»Hat er die Nummer schon abgezogen, als Hugh noch hier war?«, fragte Malcolm.

»Wo denkst du hin!«, sagte Emma. Bei Hugh Lydon hätte sich das niemand getraut. Aber bei Malcolm konnten solche Mistkerle sich das erlauben.

John ging ohne Protest, was man als Schuldeingeständnis werten konnte, und Malcolm war gezwungen, Ersatz für ihn zu finden. Roddys Onkel war Stammgast und Chef der Bauarbeitergewerkschaft. Ein Hüne, die Wangenfarbe wie rohes Porterhouse-Steak. Jess war ihm manchmal über den Weg gelaufen, als sie nach ihrem Jurastudium für die Arbeitergewerkschaft Laborer’s International arbeitete. Jedes Mal, wenn er sie sah, zielte er mit Fingerpistolen auf sie und rief: »Malcolms Mädchen!« Es war ihr gleichgültig, dass er sich nie ihren Namen merkte; die Blicke der anderen Anwälte (Unglaublich, dass Sie den kennen!) machten das mehr als wett. Roddy sei ein guter Junge, sagte der Onkel zu Malcolm, er habe das College zwar nach zwei Semestern abgebrochen, aber wenn er wolle, sei er sehr clever. Er trinke nicht, sagte der Onkel. Und soweit er wisse, nehme der Junge auch keine Drogen. Hauptsache, man bekäme ihn vom Computer weg, das sei gut für ihn. Sein Vater habe sich schon vor Jahren von der Mutter getrennt, der Junge bräuchte dringend ein paar männliche Vorbilder. Würde Malcolm ihm den Gefallen tun?

»Malcolm!«, rief Roddy schon wieder. Was der Onkel in seiner Lobeshymne nicht erwähnt hatte: Der Junge war eine Nervensäge; er stand permanent unter Strom. Und das war schlecht, denn die Hektik eines Barkeepers übertrug sich auf die Gäste und schlimmstenfalls auf den gesamten Laden. Malcolm hatte gedacht, dass Roddy sich entspannen würde, sobald er eingearbeitet war, aber Fehlanzeige, es wurde immer schlimmer mit ihm. Und heute Abend trug er auch noch ein knallbuntes T-Shirt mit der Aufschrift »Byte Me« und dem Bild einer Diskette aus den Achtzigern. Was hatte Malcolm zu ihm gesagt, als er ihn einstellte? Wir haben hier einen Dresscode. Zieh dir was Dunkles an. Rasier dich. Kämm dich. Herrgott noch mal.

Malcolm war noch nicht in der Stimmung, sich um Roddy zu kümmern. Was wollte der Junge überhaupt? Ging es etwa um Jess? Hatte sie im Half Moon angerufen? Womöglich war sie noch in der Leitung und wartete darauf, dass Malcolm endlich ans Telefon kam. Aber wer benutzte denn noch die Festnetznummer? Außer Malcolms Mutter natürlich, die die Nummer auswendig kannte, seit er dort vor sechsundzwanzig Jahren seine erste Schicht angetreten hatte. Oder alte Stammgäste, die nach ihrer Hüft-OP im Bett lagen, aber trotzdem beim Super Bowl mitwetten wollten. Wärst du so nett, mir das Geld vorzustrecken, Malcolm? Na klar. Kein Problem. Aber wenn sie die Wette verloren, konnte er seinem Geld hinterherrennen.

Oder war Jess vielleicht in der Bar? Er schaute sich um.

Am Tresen war sie nicht. Auch nicht auf der Empore, ihrem Lieblingsplatz, von wo aus sie die Leute an der Jukebox schikanieren konnte. Bevor es das neue System gab, hatte sie sich die Zahlencodes sämtlicher Songs eingeprägt, die sie hasste, und wehe, jemand wollte Piano Man hören.

Roddys Miene verriet ihm jedoch, dass es nicht um Jess ging, sondern um ein Problem mit einem Gast. Er ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen. Gelächter ertönte, ein paar Leute spielten Darts. »Gephardt!«, rief jemand. Er drehte sich um und entdeckte zwei Kumpel aus dem Fitnessstudio. Einen alten Nachbarn aus dem Viertel seiner Mutter. Den Typ aus dem Friseursalon. Und seinen Kumpel aus dem Feinkostladen mit einer neuen Freundin. Hübsch. Alles wunderbar. Es konnte gar nicht besser sein. Auf seinem Weg durch die Bar klopfte er ein paar Leuten auf den Rücken und erhielt selbst ein paar freundliche Klapse. Die Leute waren gut drauf, fühlten sich wie zu Hause. Die Gruppe am Fenster war vielleicht einen Tick zu laut. Er beschloss, sie im Blick zu behalten, während er sich sammelte.

Und dann sah er Hughs Handlanger, Billy, der allein an einem Zweiertisch saß, ein Glas Whiskey vor sich. Ihre Blicke trafen sich und Billy hob sein Glas, als wollte er ihm zuprosten. Ein Prost auf die Gästeschar. Und auf das Geld, das der Abend garantiert einbringen würde. Malcolm wurde übel. Ignorier ihn, sagte er sich. Mach einfach weiter.

Er warf seinen Schlüsselbund wie gewohnt in die Schublade und nickte Emma zu. Sie hatte das Haar zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Er gab sich wirklich Mühe, nicht auf so etwas zu achten, aber sie hatte einen schönen Nacken, und als er für eine Sekunde verstohlen zu ihr hinüberschaute, bemerkte er eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte.

»Wie lange sitzt er schon da?« Malcolm deutete mit dem Kopf zu Billys Tisch.

»Eine Weile«, sagte Emma. »Hat bestimmt auf dich gewartet.«

Er zog an seiner verspannten Schulter, um sie zu dehnen, und hatte sofort Jess’ Stimme im Ohr: Das machst du immer, wenn du dich unwohl fühlst. Er hasste es, sich zu verspäten, aber seine Mutter war mit einem Hackbraten vorbeigekommen. Sie hatte seinen Kühlschrank inspiziert, als wäre er wieder zweiundzwanzig und eben erst von zu Hause ausgezogen. Als sie gegessen hatten und sie ihm die Reste einpackte, sah Malcolm im Geiste Jess vor sich, wie sie die Augen verdrehte. »Ich muss los, Ma«, sagte er schließlich. »Kommst du alleine klar?«

»Was ist denn das für eine Frage?«, sagte sie. »Natürlich komme ich alleine klar.«

Früher waren freitags um vier immer die Bauarbeiter eingetrudelt. Um sechs zogen sie weiter, und die Zugpendler rückten nach. Gegen sieben hatte er gewöhnlich nach Jess Ausschau gehalten für den Fall, dass sie auf ein Bier und ein Sandwich vorbeikommen wollte, bevor sie ihm mit den Worten »Bis später« einen Gutenachtkuss gab. Jess hatte ihn ja vor Veränderungen gewarnt, aber wie hätte er denn ahnen sollen, dass die Leute an kaputten, versifften Barhockern hingen? Und dass sie immer wieder dieselben Lieder aus der Jukebox hören wollten, als wäre seit 1996 kein einziger neuer Song mehr produziert worden? Dabei hatte er lediglich einen Bruchteil seiner Vision tatsächlich umgesetzt. Er hatte auf die Schnelle ein paar neue und relativ preiswerte Sachen besorgt. Doch wie sich herausstellte, wollten die Leute nichts Schönes, sondern lieber etwas Vertrautes.

Die einzige Kundengruppe, die größer wurde, als Malcolm den Laden übernahm, waren Minderjährige mit ihren Freunden aus der Provinz. Das bedeutete Ebbe in der Kasse, denn die Kids bestellten bloß Softdrinks für einen Dollar, verzogen sich damit aufs Klo und kippten dann mitgebrachte Schnapsfläschchen hinein. Die hatten einen Riecher für so etwas. Kaum wechselte irgendwo der Besitzer, tauchten sie auf, mit klirrenden Party Shots in den Taschen.

»Glaubt nicht jede Generation, diesen Trick erfunden zu haben?«, hatte Jess gesagt, als er ihr davon erzählte.

Wo sie wohl gerade steckte? Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte und ihm wieder klar wurde, dass er keine Ahnung hatte, zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Bis Anfang der Woche war sie bei ihrer Freundin Cobie gewesen, die mit ihrer Frau und den beiden Söhnen in Manhattan wohnte. Dass sie bei Cobie untergeschlüpft war, lag nahe: Sie kannten sich seit dem College, und in Jess’ und Malcolms gemeinsamem Freundeskreis zählte Cobie zu den wenigen, die nur mit Jess befreundet waren und keine Verbindung zu ihrer gemeinsamen Heimatstadt hatten. Doch als er Cobie einige Tage zuvor anrief, weil Jess nicht auf seine Nachrichten reagiert hatte, sagte sie ihm, Jess sei wieder in Gillam.

Sieh mal einer an, hatte Malcolm gedacht. Sie pirscht sich nach Hause.

Cobie sprach Gillam aus, als hielte sie sich dabei die Nase zu. Zwei Mal war sie in Gillam gewesen: auf Malcolms und Jess’ Hochzeit, und fünfzehn Jahre davor, um Malcolm kennenzulernen. Damals redete sie in einer Tour über interessante Dinge, die ihr auffielen. Zum Beispiel, dass es im Umkreis von acht Kilometern sieben katholische Kirchen gebe, und dass so viele Geschäfte irische Namen trügen. Und dass so viele Autos einen Gewerkschaftsaufkleber auf der Stoßstange hätten. Als sie zusammen durch die Stadt spazierten, kreischte sie jedes Mal auf, wenn sie einen entdeckte. Schreiner! Tunnelbauer! Gerüstbauer! Stahlarbeiter! Rohrschlosser! Als hätte sie noch nie von diesen Berufen gehört. Was man denn in so einem Job verdiene, fragte sie. Welche Zusatzleistungen es gebe. Wie lange man diese Arbeit machen könne.

»Warum willst du das wissen?«, fragte Malcolm. »Hast du vor, dich als Tunnelbauer zu bewerben?« Jess warf ihm einen warnenden Blick zu. Aber Cobies Bemerkungen gingen ihm auf die Nerven. In seinen Augen war sie ein Snob.

Aber interessant, dass Jess wieder in Gillam war. Sie wollte sich bestimmt mit ihm treffen, aber sie war stur. Tja, nun hatte er ja Zeit zum Nachdenken gehabt und ihr einiges zu sagen. Ohne Aussprache würde er sie jedenfalls nicht wieder hereinlassen, soviel stand fest. Als sie sich damals kennenlernten, hatte er hinterm Tresen gearbeitet, und sie hatte bei ihren Freundinnen gestanden und ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Er war wie elektrisiert und zugleich verblüfft gewesen, weil sie so strahlte und alle so stolz auf sie waren, weil sie auf ein so gutes College ging, sie hatte langes, glänzendes Haar und wenn sie sich zu ihren Freundinnen drehte, raubte ihm ihr perfektes Profil den Atem. Und während er Drinks mixte und die Gäste am Tresen bediente, wartete er insgeheim darauf, dass sie wieder zu ihm hinüberschaute.

Seit Cobie ihm erzählt hatte, dass Jess wieder in Gillam war, malte er sich aus, wie sie es sich mit ihrer Mutter vor deren Blumentapete gemütlich machte, um die neueste True-Crime-Doku anzuschauen. Bestimmt überlegte sie, wie sie auf ihn zugehen und sich bei ihm entschuldigen sollte. Als er sie damals das erste Mal nach Hause fuhr, war sie fast vierundzwanzig, er achtundzwanzig. Noch war nichts zwischen ihnen gelaufen, aber an jenem Abend hatte er sich vorgenommen, sie zu küssen; es war ihm schleierhaft, warum er es nicht längst getan hatte. Sie waren vier Schulklassen auseinander, hatten sich auf der Highschool verpasst. Gut möglich, dass er dort ihrem älteren Bruder Mickey begegnet war, den er nur dem Namen nach kannte; Mickey war zwei Jahre jünger als er und ein Streber gewesen, der lieber Fußball als Football spielte. Jess war schön und lustig und irgendwie anders als die anderen Mädchen. Wenn sie sich an den Tresen stellte, bekam er jedes Mal weiche Knie, wurde tollpatschig und verlegen, keine Spur mehr von der selbstsicheren Geschmeidigkeit, mit der er sich auf der schmalen Bühne seines Arbeitsplatzes bewegte. Früher war er nie verlegen gewesen; erst, seit er ihr begegnet war.

Sie erzählte ihm, dass sie in Manhattan wohnte, aber alle paar Wochen nach Gillam käme, um ihre Eltern zu besuchen und mit ihren Highschool-Freundinnen auszugehen. An dem Abend, als er sie zum ersten Mal nach Hause fuhr, saß sie mit ihrer Clique an der Bar, und als die anderen gehen wollten, schlug er ihr vor, noch zu bleiben und ihm Gesellschaft zu leisten.

Woran er sich noch am besten erinnerte, als er sie um vier Uhr morgens vor dem Haus ihrer Eltern absetzte, war nicht der Kuss und wie er sich angefühlt hatte, sondern dass sie aus dem Auto hüpfte und wie eine Fünfjährige zur Vordertreppe rannte. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und ruderte dabei mit den Armen. Als sie die Tür erreichte, drehte sie sich um und winkte ihm zu, bevor sie drinnen verschwand; kein aufreizendes Winken, auch kein sittsames à la Miss America, sondern ein überschwängliches, kindliches. Als er allein in seinem Auto saß, den üblichen Gestank der Bar auf der Haut, musste er lachen. So ein verrücktes Huhn.

Wahrscheinlich war sie seit ihrer Rückkehr nach Gillam jeden Tag an ihrem gemeinsamen Haus vorbeigefahren und hatte sich nicht getraut, anzuklopfen, weil ihr die richtigen Worte fehlten. Soll sie ruhig weiter schmoren, dachte Malcolm. Ich komme ihr bestimmt nicht entgegen.

Die Musik war eingängig. Immer mehr Leute wippten im Takt. Er schob sich durch die Menge zu Patrick und Siobhán.

»Schau dir den Laden an«, sagte Patrick, während Siobhàn ihn behutsam umarmte, als wäre er ein Kind, das schlecht geträumt hatte. »Rappelvoll.«

Malcolm sagte nichts dazu, um den Eindruck zu erwecken, dass es immer so voll war. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er Patrick ja nichts vormachen musste. Patrick wusste Bescheid; er war sein ältester Freund und hatte schnell gemerkt, dass es nicht so lief, wie Malcolm sich das erhofft hatte. Einige Monate zuvor hatten Patrick und Siobhán den sechsten Geburtstag ihres Sohnes in der Bar gefeiert. Sie hatten einen Zauberer engagiert und Malcolm erzählt, Eamon und seine Freunde seien ganz verrückt nach den Mozzarella-Sticks im Half Moon. Die Eltern von Eamons Freunden hatten sie auch noch eingeladen, damit die Rechnung höher ausfiel. Malcolm weigerte sich damals, Patricks Geld anzunehmen. Er fand es dann in seinem Auto, in einem Umschlag im Handschuhfach, wo er seine Nikotinlutschtabletten aufbewahrte.

Er schaute zu Billys Tisch, aber Billy war schon wieder weg. Er hatte Malcolm nur zu verstehen geben wollen, dass er ihn im Auge behielt.

»Macht ihr heute Date Night?«, fragte Malcolm und bedeutete Bridget, der Kellnerin, seinen Freunden eine Runde zu bringen.

Siobhán warf Patrick einen Blick zu, der einen Hauch von Panik verriet.

»Ja, gewissermaßen«, erwiderte sie. Malcolm schaute zu Patrick, der seinem Blick jedoch auswich. Malcolm griff nach den leeren Gläsern, die noch vor ihnen standen. »Sorry, dass die noch nicht abgeräumt wurden«, sagte er. »Ich schicke gleich jemanden, um den Tisch abzuwischen.«

»Lass nur, kein Problem«, sagte Siobhán.

»Ja, mach dir bitte keine Umstände, Mal.«

»Normalerweise bin ich früher hier. Meine Mutter ist vorhin vorbeigekommen, um Essen zu bringen.«

»Lass dich von uns nicht stören«, sagte Patrick. »Wir können ja später noch reden. Falls du zwischendurch Zeit hast.«

»Ja? Okay, prima.«

Es war inzwischen über vier Monate her, seit Jess fortgegangen war. Siebzehn Wochen, um genau zu sein. Thanksgiving hatte er mit seiner Mutter, seiner Schwester, seinem abstinenten Schwager und seinen drei pubertierenden Neffen gefeiert. Er hatte sich volllaufen lassen, und seine Mutter, die ihm sonst Vorträge über genetische Veranlagung und seine Arbeit hielt, hatte ihn einfach nur nach oben in sein altes Bett gebracht und ihn zugedeckt. Am nächsten Morgen hatte sie ihm Kaffee und Rührei hingestellt und kein Wort gesagt.

Weihnachten hatte er mit Patrick und Siobhán verbracht, weil seine Mutter zu seiner Schwester nach Boston gefahren war; Silvester im Half Moon. Bei sich zu Hause ließ er rund um die Uhr den Fernseher laufen, weil er die Stille nicht aushielt. Wenn seine Freunde ihn besuchten, ließen sie sich selbst durch die Hintertür herein; wäre Jess dagewesen, hätten sie das nie getan. Anfangs war es ein Schock. Mit dem Erwachsenwerden und dem Heiraten verlagerte sich der Fokus auf das eigene Umfeld, doch plötzlich sorgten sich alle um ihn, und er wurde das Gefühl nicht los, dass seine Freunde, alles Männer Mitte vierzig, es kaum erwarten konnten, sich samstagsnachmittags vor ihren Familien zu drücken unter dem Vorwand, nach Malcolm zu schauen.

»Malcolm«, sagte Roddy, als Malcolm sich dem Tresen näherte. »Hallo.«

Die Bar war brechend voll. Eine Gruppe von Leuten fing plötzlich an zu singen, andere stimmten mit ein, jeder kannte den Song, und schon machten alle mit. Hätten sie ihn beim Autofahren gehört, wären sie vielleicht still geblieben, aber in der Bar, mit einem Drink in der Hand, zusammen mit lauter Fremden? Pure Magie. Malcolms Traum war, dass so etwas jeden Abend passierte, aber das war natürlich unmöglich. So etwas ließ sich nicht planen, es klappte nur, wenn die richtigen Faktoren zusammenkamen. Eine lauschige Atmosphäre, ein Gefühl der Verbundenheit, ein schneeschwerer Abendhimmel – war der Funke einmal übergesprungen, gab es kein Halten mehr.

Am liebsten hätte er ein Video aufgenommen und es Jess geschickt: Siehst du? Ich hab’s dir doch gesagt.

Roddy sah besorgt aus, aber Malcolm wollte sich den Moment nicht von ihm verderben lassen. Im Januar hatte irgendwer ein Urinal von der Wand abmontiert und durch die Seitentür nach draußen geworfen, wo es in unzählige Stücke zerbrach. Es war das dritte Urinal, das aus der Wand gerissen worden war, seit Malcolm die Bar übernommen hatte. In diesem Fall hatte der Übeltäter wenigstens das Wasser abgestellt. Malcolm hatte noch immer nicht herausgefunden, wer dahintersteckte. Es musste jemand gewesen sein, der sich mit Absperrventilen auskannte und einen Schraubenschlüssel dabeihatte. Als Roddy ihm damals mitgeteilt hatte, dass das Urinal verschwunden war – einfach weg! –, war er völlig hysterisch. Hätte Malcolm nur ein falsches Wort zu ihm gesagt, wäre er garantiert in Tränen ausgebrochen.

»Warum macht jemand sowas?«, fragte Roddy und folgte Malcolm aufs Männerklo. »Ich versteh das nicht.«

»Da gibt’s nichts zu verstehen«, erwiderte Malcolm. »Leute, die betrunken sind, bauen eben Mist. Du musst dich wieder beruhigen.«

Aber seit dem Vorfall mit dem Urinal war Roddy bei der Arbeit noch angespannter. Und nun versuchte er zum x-ten Mal an diesem Abend, Malcolms Aufmerksamkeit zu erregen. Malcolm atmete tief durch und setzte seine zuversichtlichste Miene auf.

»Dieser Typ war wieder hier«, sagte Roddy.

»Ich weiß.«

»Und …«

»Roddy, ich brauch noch ’ne Minute«, fiel Malcolm ihm ins Wort und warf ihm einen Blick zu, der sagte: Du schaffst es doch locker, so lange ohne mich klarzukommen, oder? Dann öffnete er die Tür zum Lagerkeller und tastete sich im Dunkeln die Treppe hinunter. Es war muffig da unten, die Decke niedrig, Fässer auf der einen Seite, Kisten mit protzigen Markenlogos auf der anderen. Er zog an der Schnur, um das Licht einzuschalten. Dann hob er die Hände, legte sie auf den Querbalken über seinem Kopf und lauschte. Erleichterung machte sich in ihm breit. Alles wird gut, sagte er sich, als er das Klackern der Absätze auf dem Parkett und das Scharren der Stühle hörte. Er fuhr über einen Stapel von Tischtüchern, die noch in Folie eingeschweißt waren, betrachtete die Gläser mit Kirschen und Oliven, die vakuumversiegelten Nuss-Mix-Packungen, die noch zwei Jahre haltbar waren. Eine Bar voller Gäste. Das wollte er einen Moment lang genießen, um sich später daran erinnern zu können.

Als er das Half Moon übernahm, hatte er bereits seit vierundzwanzig Jahren dort gearbeitet. Die Bar war ihm sogar vertrauter als sein Elternhaus; der Geruch, die Art und Weise, wie das Licht je nach Jahreszeit und Witterung hereinfiel. Im Half Moon hatte er gelernt, wie man kaputte Klospülungen und undichte Rohre repariert. Die Bar hatte ihn stark gemacht, weil er kistenweise Bud Lite und Ultra aus dem Keller hochschleppen musste, da Hugh kein Light-Bier zapfen wollte. Im Half Moon hatte er gelernt, Barzahlung zu akzeptieren oder abzulehnen. Er lernte den Umgang mit Vertrieblern und welche von ihnen Markengläser, Servietten und noch dazu Cocktailstrohhalme springen ließen, weil sie für ihr Leben gern plauderten. Er lernte, dass er in jeder Bar der Stadt aufs Haus trinken konnte und dafür umso mehr Trinkgeld geben musste. Er lernte, mit jedem zu reden und Gemeinsamkeiten zu finden. Er lernte, sich die Sorgen und Nöte der Leute anzuhören und dabei tunlichst nicht seine eigenen preiszugeben. Er lernte, nett zu Frauen zu sein, ohne die Grenze zu überschreiten, ihnen das Gefühl zu vermitteln, attraktiv zu sein, ohne dass es anzüglich klang, und wenn diese Frauen dann selbst die Grenze überschritten, lernte er, sie in ihre Schranken zu weisen, ohne sie dabei zu beleidigen oder in Verlegenheit zu bringen. Er lernte, sich nicht schockiert zu zeigen, wenn sie ihm ihre Geheimnisse verrieten, diese ganz normal erscheinenden Frauen, die mit ihren nahezu identischen Kunstlederjacken, Keilabsätzen und Korkenzieherlocken so aussahen, als wollten sie an einem Ü40-Schönheitswettbewerb teilnehmen; wenn sie zu viel getrunken hatten oder sich von ihrem Ehemann oder Partner schlecht behandelt fühlten, schütteten sie ihm ihr Herz aus. Er lernte, dass es Frauen gab, die durchschnittlich und bieder wirkten, doch Gedanken hegten, die sie Fremden eigentlich niemals sagen würden, außer, sie saßen an einem Freitagabend zu lange am Tresen und fanden den Barkeeper attraktiv.

»Das sind Mütter, die meisten jedenfalls«, berichtete er Jess danach. »Die haben Babys zu Hause.« Das Urteilen hob er sich für später auf, für sie.

Doch Jess versuchte immer, ihn davon abzuhalten. Sie sagte ihm, er solle sie nicht dafür verurteilen, dass sie sich auf der Jagd nach einem vergänglichen Kick einen Moment lang in ihre Jugend zurückversetzten. Er war jedes Mal verblüfft, wenn sie diesen Standpunkt vertrat. Würde sie solche Dinge etwa auch jemandem erzählen, den sie kaum kannte? Darum ginge es nicht, meinte sie dann. Sondern darum, zu verstehen, dass man einfach dreißig Sekunden lang wieder dieses berauschende Gefühl in seinem Leben haben wollte. Was sei daran so schlimm? Zumal die meisten am nächsten Morgen von einer hungrigen Kinderschar und einem Haufen schmutziger Wäsche begrüßt wurden. Anders als Malcolm bekam Jess oft genug mit, wie belastend das für ihre gemeinsamen Freundinnen war. Als Jess eine von ihnen fragte, wie sie das alles schaffte – die Kinder, den Haushalt, den Job, die Stoffservietten an den Feiertagen und so weiter –, legte die Freundin den Finger auf die Lippen, zog ihre Nachttischschublade auf und zeigte Jess ihren heimlichen Opioid-Vorrat; sie bekam das Zeug von Freundinnen zugesteckt, die einen Kaiserschnitt hinter sich hatten, die Pillen aber aus Angst vor der Suchtgefahr nicht weiter nehmen wollten.

»Und du willst trotzdem ein Baby, obwohl du all das weißt?«, fragte Malcolm.

»Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Absolut.«

Wie hatte er darauf reagiert? Er erinnerte sich nicht mehr.

Der Schnee kam wirklich näher. Die Luft draußen war schwer und still.

Sie schickt bestimmt eine Nachricht, weil sie sich Sorgen macht, dachte er. Wegen des Sturms.

Da hörte er, wie die Tür zum Lagerkeller knarrend aufging und jemand zögernd auf die Treppe trat.

»Malcolm?« Das war die Stimme von Emma. Er schaute zu ihr hoch. Sie trug ihre übliche Arbeitsuniform: schwarzes Hemd, schwarze Jeans, wadenhohe schwarze Stiefel.

»Ja?«, sagte er.

»Komm mit«, sagte sie.

»Es geht um Tripp«, fuhr sie fort, als sie sich durch die Menge den Weg zum Fenster bahnten. »So habe ich ihn noch nie erlebt.« Tripp war um die sechzig, klein, doch breit gebaut. Er kam schon seit Jahren, zahlte stets bar, ließ nie anschreiben. Er saß immer am Fenster, legte ein paar Zwanziger auf den Tresen und verschwand, sobald die Scheine aufgebraucht waren. An diesem Abend jedoch nicht. Diesmal legte er noch Scheine nach. Er fuchtelte mit den Armen, als regte er sich über irgendetwas auf, und seine schwerfälligen Bewegungen ließen erkennen, dass er sturzbetrunken war.

Tripp habe Roddy gefragt, wie oft die Bierleitungen gereinigt würden, sagte Emma. Er habe auch wissen wollen, welches Spülmittel sie für die Gläser benutzten. Er habe in den Raum hineingesagt, dass er im Gesundheitsamt anrufen wolle, er kenne dort jemanden, und so eine Konzession könne im Handumdrehen entzogen werden. Als Emma ihn bei Roddy einen Jameson ordern hörte, habe sie ihm stattdessen ein großes Glas Eiswasser hingestellt.

Dann seufzte sie; das tat sie immer, bevor sie zum eigentlichen Problem kam. »Keine Ahnung, worüber sie geredet haben, aber als Nächstes hat er den großen Kerl da drüben einen ‚selbstgefälligen kleinen Scheißer’ genannt.«

Malcolm hätte beinah gelacht – so ziemlich jeder Kerl Mitte zwanzig war ein selbstgefälliger kleiner Scheißer –, aber dann teilte sich die Menge plötzlich, und er sah, dass der Kerl vor Wut kochte.

»Lasst mich mal durch, Leute«, sagte Malcolm und drängelte sich durch das Gewühl, um zu den Streithähnen vorzudringen. Aber es war zu spät. Die Atmosphäre war bereits zum Zerreißen gespannt. Gleich würde es eine Schlägerei geben.

Malcolm legte Tripp die Hand auf den Arm, um ihn zu besänftigen. Er war viel zu alt für diesen Blödsinn. Früher war Tripp freitagnachmittags direkt vom Büro mit dem Taxi zur Bar gefahren und sobald er sich etwas bestellt hatte, hatte er seine Krawatte abgenommen und sie sich übers Knie gelegt. Aber er war schon eine ganze Weile nicht mehr dagewesen. Normalerweise suchte er keinen Streit. Nach ein paar Drinks fing er schlimmstenfalls an, sich darüber auszulassen, dass er bald zwanzig Hektar Land in Peru kaufen und dorthin ziehen wolle, denn dort gebe es schöne und günstige Grundstücke. Er wolle aus seinem Leben aussteigen und noch einmal von vorn anfangen. In der Natur leben, Farmer werden. Dann fühle er sich gesünder und ausgeglichener – im New Yorker Ballungsraum könne man davon ja nur träumen. Er sagte, auf vielen Grundstücken im Heiligen Tal der Inkas gebe es erntereife Obstbäume; Feigen, Guaven, Äpfel. Das Schmelzwasser aus den Anden liefere Trinkwasser. Er wolle Solarpaneele aufstellen und sich durch richtiges Ackern fithalten, im wahrsten Sinne des Wortes.

Viele Menschen hatten ein bestimmtes Thema, auf das sie immer wieder zu sprechen kamen, wenn sie tranken: die Ex-Frau, eine gescheiterte Musikerkarriere. Tripps Thema war das Aussteigen.

»Wenn das so einfach wäre, würde es wohl jeder machen«, hatte Malcolm einmal gesagt, als Tripp wieder mit seinem Lieblingsthema anfing.

»Du auch?«

Malcolm lachte. »Nein, ich nicht. Was soll ich denn mit zwanzig Hektar Guavenbäumen anfangen? Ich wollte damit nur sagen, dass viele Leute genau so denken wie du.«

An Tripps Antwort erinnerte er sich nicht mehr. Er warf einen Blick zu Patrick und Siobhán herüber. Der Moment der puren Magie war zerplatzt wie eine Seifenblase.

Der junge Kerl verzog wütend das Gesicht und holte zum Schlag aus. »Warte«, sagte Malcolm, aber der Kerl ließ nicht mit sich reden, und schon prallte Fleisch auf Fleisch. Eine Energiewelle brandete auf Malcolm zu, kitzelte seinen Nacken. Tripp sackte in sich zusammen.

Nick, der Türsteher, fing den zweiten Schlag des jungen Mannes routiniert ab, während Malcolm versuchte, Tripp wegzubringen. Aber Tripp rührte sich nicht.

»Roddy«, sagte Malcolm. »Pack mal mit an.« Nick kümmerte sich um den Schläger und dessen Freunde und forderte sie auf, die Bar zu verlassen.

Malcolm und Roddy zogen Tripp durch die Schwingtür in die Küche und setzten ihn auf einen Klappstuhl. André war gerade mit der Fritteuse zugange, Scotty zerlegte Kartons. »Der bleibt auf keinen Fall hier«, sagte André. »Nick soll ihn rausschmeißen.«

Malcolm schaute auf die Uhr. »Es ist erst halb zehn. Wenn er etwas nüchterner ist, rufe ich ihm ein Taxi. Hoffentlich hat niemand die Polizei angerufen.«

»Ich spiele hier nicht den Babysitter«, sagte Scotty. »Ich muss weg, bevor wir hier einschneien.«

»Ich auch«, sagte André.

Emma stand in der Tür und sah schweigend zu.

Malcolm beugte sich zu Tripp herunter. »Hey, Tripp!«, sagte er laut. »Wo wohnst du?« Tripp hatte eine eigene Firma und schien ziemlich wohlhabend zu sein. Malcolm nahm an, dass er in dem großen viktorianischen Haus hinten am Acorn Drive wohnte, aber das sollte Tripp ihm bestätigen, bevor er ihn mit dem Taxi dorthin schickte.

Doch Tripp drückte nur seine Wange gegen den kalten Edelstahlschrank und schloss die Augen.

»Roddy«, sagte Malcolm. Er bekam allmählich Kopfschmerzen. »Wenn du mitbekommst, dass ein Gast sich die Kante geben will, kannst du ihm nicht einfach alles geben, was er verlangt.«

»Ich habe ja versucht, es dir mitzuteilen.«

»Was hast du versucht, mir mitzuteilen? Dass sich einer am Tresen betrinkt? Mit Betrunkenen umzugehen, ist nun einmal unser Job.« Malcolm seufzte. »Hat er bezahlt?«

»In bar, wie immer.«

»Und die anderen? Die jungen Männer?« Roddys Miene verriet, dass sie noch die Zeche schuldeten. Malcolm schaute stumm zu Emma herüber; sie eilte sofort durch die Schwingtür in die Bar zurück, um die Typen noch zu erwischen.

Roddy schwieg einen Moment. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass du sie rauswirfst.«

»Geh zurück an die Arbeit«, sagte Malcolm.

In der Bar hatte sich die euphorische Stimmung in Luft aufgelöst. Ein paar neue Gäste waren inzwischen aufgetaucht, aber sie schienen zu spüren, dass etwas passiert war, und verhielten sich reservierter als die früheren Gäste. Immer mehr Leute bezahlten ihre Drinks, zogen sich die Jacken über. Mit dem Singen und Tanzen war es vorbei. Der Abend würde früh enden. Normalerweise hatten sie von acht Uhr abends bis vier Uhr morgens geöffnet, aber der Sturm brachte alles durcheinander. Eine Dreiviertelstunde später waren nur noch Patrick und Siobhán da. Malcolm stellte die Musik leise.

Er ging zu seinen Freunden hinüber. Sie hatten offenbar schon bezahlt.

»Der Kerl wäre um ein Haar zusammengeschlagen worden«, sagte Patrick. »Er schuldet dir was.«

Malcolm seufzte. »Das wird ihm vermutlich erst klar, wenn er wieder nüchtern ist.« Er setzte sich zu ihnen. »Ist schon eine Weile her, dass ich eine Schlägerei beenden musste.«

Die Türglocke ertönte, doch Emma rief, sie hätten schon geschlossen.

»Hör mal, Malcolm«, sagte Patrick mit angespannter Miene.

»Was ist denn heute Abend mit euch los?«, fragte Malcolm.

Patrick und Siobhán schauten sich stumm an, dann drehte Siobhán sich zu ihm. Er kannte sie, seit sie fünfzehn waren; sie war damals zu seiner Clique gestoßen und hatte sich in Patrick verknallt.

»Mal«, sagte sie. »Wann hast du zuletzt mit Jess gesprochen?«

»Warum?«

»Wir möchten sichergehen, dass du Bescheid weißt. Bevor du es auf andere Weise erfährst.«

Malcolm wartete. Sein Puls verlangsamte sich, dröhnte ihm in den Ohren. Hinter ihm verteilte Emma das Trinkgeld. Die neue Kellnerin verabschiedete sich und machte sich auf den Weg. Sie war erst seit Weihnachten da und hatte Probleme, sich einzugewöhnen. Er musste sich noch um Tripp kümmern. Er musste noch aufräumen. Es schneite jetzt kräftig. Er dachte an die Lastschriften, die in den nächsten Tagen vom Konto eingezogen wurden, an den Eiertanz, den er vollführen musste, um einen weiteren Monat zu überstehen. Doch während er dort saß und seine Freunde bei dem Versuch beobachtete, ihm auf möglichst schonende Weise eine Hiobsbotschaft zu überbringen, schien alles, was in diesem Moment in der Bar passierte, vor ihm zurückzuweichen, und etwas Verschwommenes am Rande seines Blickfelds wurde mit einem Mal klar erkennbar. Er spürte ein Brennen in der Brust. Er spürte jede Faser seines ein Meter neunzig großen breitschultrigen Körpers. Plötzlich wurde er so müde, dass er sich am liebsten auf den klebrigen Boden gelegt hätte, um auf der Stelle einzuschlafen.

»Du und Jess habt nicht miteinander geredet, oder?«, fragte Siobhán.

Er sparte sich die Antwort, da sie offenbar mehr wusste als er. Er fühlte sich zutiefst erschöpft.

»Weißt du, dass sie hier ist? In Gillam?«

»Ja, ich hab davon gehört«, erwiderte er, und in dem Moment wurde ihm klar, dass seine Vermutung, Jess wäre bei ihrer Mutter, womöglich falsch war. Cobie hatte nichts dergleichen erwähnt.

»Meg Whelan hat sie gestern Abend auf der Madison gesehen. Aber nicht in ihrem eigenen Wagen. Sondern in einem anderen, auf dem Beifahrersitz.«

»Aha.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Komm endlich zur Sache«, sagte Malcolm.

Patrick räusperte sich. »Kennst du meinen Collegefreund? Den, der etwa zu der Zeit hierherzog, als du die Bar gekauft hast?«

»Neil«, sagte Malcolm.

»Ja«, sagte Patrick.

»Schwierige Scheidung«, fügte Malcolm hinzu. Ihm war, als schwankte der Boden unter seinen Füßen.

Ein Durchschnittstyp in einem Poloshirt. Nichts Besonderes, soweit Malcolm sich erinnern konnte. Einmal war er mit Patrick im Half Moon aufgetaucht, beide hatten schon ziemlich einen im Tee. Toby war auch dabei gewesen. Sie hatten eine Kneipentour gemacht, um Neil zu zeigen, was es in Gillam alles gab, und Patrick hatte das Half Moon als Endstation erkoren, um den Abend dort ausklingen zu lassen. Aber Malcolm war damals abgelenkt gewesen, er hatte Ärger mit einem Lieferanten gehabt, weil er immer häufiger in Verzug geriet. Später hatte er sich Vorwürfe gemacht, nicht gastfreundlich genug gewesen zu sein

»Ich weiß davon«, sagte er, obwohl das nicht stimmte, nicht einmal ansatzweise. Inzwischen war ihm klar, warum Patrick und Siobhán gekommen waren; jeder andere hätte sofort kapiert, was sie ihm mitteilen wollten, nur er nicht. Der Gedanke war ihm zwar schon gekommen, aber er hatte ihn jedes Mal wieder verworfen, weil er einfach keinen Sinn ergab. Er und Jess hatten Probleme, das ja, aber sie waren ein Paar. Und er kannte Jess so gut wie sich selbst; ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Launen.

Malcolm konnte sich beim besten Willen nicht mehr an Neils Gesicht erinnern. Es war einfach zu weit hergeholt, dass ein Typ, den er kaum kannte, ausgerechnet mit dem Menschen zu tun haben könnte, der ihm am vertrautesten war.

»Von wem wisst ihr es?«

»Von ihm. Neil.« Patrick wandte den Blick ab.

»Ihr wisst es von ihm? Nicht von ihr?« Malcolm starrte Siobhán an. »Hat sie es dir nicht gesagt?«

»Sie reagiert nicht auf meine Nachrichten.«

»Dann stimmt es also vielleicht gar nicht.«

Patrick und Siobhán schwiegen beide.

»Doch, es stimmt«, sagte Patrick schließlich.

»Wir wollten nicht, dass du dir wie ein Idiot vorkommst«, sagte Siobhán. »Wir dachten, es wäre das Beste, wenn du es von uns erfährst. Aber ich glaube, wir sollten dabei bedenken, was Jess durchgemacht hat, und …«

»Woher kennt sie ihn überhaupt?«

Siobhán betrachtete ihre Hände. »Sie ist ihm bei uns begegnet …«

»Bei dieser Grillparty? Da war ich doch auch. Oder meinst du etwas anderes?«

»Du weißt doch, wie das ist. Samstags, wenn du in der Bar bist, treffen wir uns. Jess ist immer dabei. Und Neil seit etwa einem Jahr auch.« Die drei ließen den Blick durch die Bar schweifen, als sähen sie sie zum ersten Mal.

»Worauf willst du hinaus?«, sagte Malcolm. »Dass sie sich unterhalten haben?«

»Er ist ja auch Anwalt«, sagte Patrick. »In einer großen Kanzlei. Hat seinen Abschluss ungefähr zur gleichen Zeit wie Jess gemacht. Sie haben wohl ein paar gemeinsame Freunde.«

»Das weiß ich«, sagte Malcolm. »Irgendein alter Kommilitone von ihr ist auch in dieser Kanzlei.« Er merkte sich immer ein paar Fakten über jeden. Keinen Tratsch, das war ihm zuwider, nur Gesprächsstoff, falls jemand ins Half Moon kam und etwas Aufmunterung brauchte. »Aber was willst du mir überhaupt damit sagen? Dass es etwas Ernstes ist?«

»Nun«, begann Siobhán, doch als Patrick fast unmerklich den Kopf schüttelte, schluckte sie die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Malcolm atmete auf. Die Frage, was schwerer wog – war es etwas Ernstes, oder bloß ein Flirt? – kam ihm absurd vor. Er wollte es gar nicht genau wissen. Das konnte er jetzt nicht verkraften. Er grübelte bereits seit Wochen darüber nach, was er getan hatte und was er hätte besser machen können – nur, um zu erfahren, dass Jess eine Geschichte am Laufen hatte, in der er gar nicht mehr vorkam. Sein Herz begann zu hämmern.

»Sie macht gerade etwas durch«, sagte Siobhán leise. »Anders kann ich mir das nicht erklären. Sie macht etwas durch, was niemand von uns verstehen kann.«

»Willst du damit sagen, dass ich es auch nicht verstehen kann? Zählst du mich dazu?«

Roddy war damit beschäftigt, den Tresen zu wischen. Was für ein Abend. Wäre Malcolm ein Zauberer gewesen, hätte er keine Probleme gehabt. Aber das war er nicht. Er konnte keinen Laden führen, der an drei Abenden in der Woche nur halb voll war. Er war inzwischen fünfundvierzig und hatte noch nie einen anderen Job gehabt. Und er war wirklich gut in seinem Job. Doch er wurde immer älter, und das zog eine unweigerliche Erkenntnis nach sich: Man konnte wirklich gut in etwas sein und trotzdem scheitern.

»Das ist alles meine Schuld«, sagte Siobhán. »Ich wollte unbedingt dafür sorgen, dass seine Töchter in der Schule Anschluss finden. Also habe ich Patrick jedes Mal gebeten, ihn ebenfalls einzuladen.«

Malcolm erhob sich. »Wisst ihr was? Mir fehlt jetzt wirklich die Zeit dafür.«

Es war einen Monat her, seit er zuletzt mit Jess gesprochen hatte. Er war gerade dabei, eine Tüte Lebensmittel ins Haus zu tragen, als ihr Name auf dem Handydisplay aufleuchtete. Er ließ die Tüte auf den Küchentresen fallen, zwei Äpfel rollten heraus und fielen zu Boden. Hastig drückte er auf den Knopf, der ihm ihre Stimme bringen würde. Sie fragte, wie es in der Bar lief, wie es seiner Mutter ging. Seine Antworten klangen wohl schroff und frustriert, denn statt ihm den Grund ihres Anrufs zu nennen, sagte sie, sie müsse aufhören. »Jess!«, rief er noch, aber sie hatte bereits aufgelegt. Das war eigentlich nicht ihre Art. Und dann ging ihm auf, dass sie geweint hatte. Im Laufe ihrer Beziehung hatte er sie nur ganz selten weinen sehen, und jedes Mal war es darum gegangen, dass in ihrem Garten nichts wuchs, während es in den Gärten der anderen so üppig blühte, dass sie kaum mit dem Gießen nachkamen. Zu wenige Eizellen. Follikelanzahl zu niedrig. Abgebrochene IFV-Zyklen. Unsinnige Versicherungsanforderungen. Warten auf den richtigen Moment. Immer nur warten. Einnistungsversagen. Entwicklungsversagen. Hoffen, dass ihre Periode bald kam. Hoffen, dass ihre Periode ausblieb. Er hatte von Anfang an Angst gehabt, etwas Falsches zu sagen, wenn sie darüber redeten. Kleine pastellfarbene Schachteln mit Tabletten und Nahrungsergänzungsmitteln auf dem Küchentresen, ein ganzes Kühlschrankregal war voll damit. Jess beim Telefonieren mit der Versicherung, ihren Aktenordner vor sich auf dem Küchentisch, darauf bestehend, dass die Klinik bereits ein Schreiben geschickt hatte. Jess, die die Namen der Medikamente aufzählte, als hätte sie einen Doktortitel in Pharmakologie, als beherrschte sie fließend eine Sprache, von der er kein einziges Wort verstand. Jeden Samstagvormittag, wenn sie sich Zeit für den Papierkram nahm, wie sie es nannte, hörte er sie sagen: Sicher, ich bleibe gern in der Leitung, ich warte nun schon eine Stunde – bis sie irgendwann den Kopf in den Armen vergrub.

Jess, die Malcolm sagte, dass sie verdammt noch mal nicht wisse, was sie zum Abendessen wollte, weil sie den ganzen verdammten Tag lang telefoniert habe, und die sich dann entschuldigte, es täte ihr leid, sie sei nur frustriert. Malcolm, der neben ihr stand und das Gefühl hatte, irgendwie ausgegrenzt zu werden. Als wolle er die Hand ausstrecken, um Jess zu berühren, doch irgendetwas war im Weg.

Wann hatte er dieses Gefühl zum ersten Mal gehabt? Am Abend der Hochzeit ihrer Freundin Rachel, auf der Toilette des Yachtclubs in Hyannis. Seit Jess weg war, dachte er oft an diesen Abend zurück. Sie hatte ihn gebeten, mit hineinzukommen und ihr Kleid zu halten. Sie hatte den Reißverschluss aufgemacht, sich das Kleid über den Kopf gezogen, es ihm gegeben und die kleine Kühltasche geöffnet, die sie an der Garderobe zurückgelegt hatte. Er legte sich das Kleid über den Arm, spürte die Wärme ihrer Haut auf dem Stoff. Sobald sie sich ausgezogen hatte, geriet sie in Panik. Der Waschbeckenrand war zu schmal. Der Abflussstopfen fehlte. Was, wenn alles im Abfluss verschwand? Während er fieberhaft über eine Lösung nachdachte, sank sie schon auf die Knie und breitete eine dreifache Lage Papierhandtücher auf dem Fliesenboden aus. Als alles zu ihrer Zufriedenheit war, legte sie ihre zwei Fläschchen mit Pulver und Flüssigkeit auf die Handtücher, dazu ihre Spritze und Injektionsnadel. »Kann ich dir helfen?«, fragte er, während sie den Inhalt des einen Fläschchens in das andere füllte.

»Nicht nötig«, sagte sie und schaute lächelnd zu ihm hoch; zweifellos kam ihr in jenem Moment die gleiche Erinnerung wie ihm, nämlich an das einzige Mal, als er ihr eine Spritze verabreicht hatte, einen Trigger Shot, der an einer Stelle am Rücken gesetzt werden musste, die sie selbst nicht erreichen konnte. Er hatte damals Blut und Wasser geschwitzt, und als er fertig war, war er auf dem geschlossenen Klodeckel sitzen geblieben, bis sein Puls aufhörte zu rasen, während Jess sich die Hand auf den Rücken presste und bis dreißig zählte.

Die Hochzeit in Hyannis war das erste Mal gewesen, dass sie sich auswärts eine Spritze geben musste. Damals hatten sie noch nicht alles durchgemacht, standen noch ganz am Anfang, was sie aber natürlich nicht wussten. Jess hatte Verabredungen abgesagt, sich aus Geschäftsreisen herausgewunden, aber die Hochzeit ihrer Freundin konnte sie weder verschieben noch absagen. Sie hatte damit gerechnet, an diesem Tag längst schwanger zu sein.

Als er sie dort mit wild entschlossener Miene auf dem Boden knien sah, wallte Liebe in ihm auf, für sie und für das Ziel, das sie so beharrlich verfolgten. Er schaute ihr genau zu, als sie sich an den Bauch fasste und die Nadel hineindrückte. Nebenan spielte eine neunköpfige Band so laut, dass die Wände wackelten. Die Wölbung ihres Bauches über dem Slip sah blass und verletzlich aus. Sie machte sich Sorgen, dass die ganzen Medikamente sie dick machten, aber er fand sie an jenem Abend wunderschön.

»Ich habe einen Timer für die nächste Spritze gesetzt«, sagte sie, ohne aufzublicken. Sie musste sich insgesamt drei Injektionen geben, mit einer Stunde Abstand. »Aber ich kriege das hin, jetzt habe ich ja ein System.« Dann hob sie die Papierhandtücher auf und sagte: »Geh dich ruhig amüsieren.«

»Ich kann dir wieder mit dem Kleid helfen.«

»Nein, es geht schon«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss, bevor sie wieder in ihre Highheels stieg.

Als er eine Stunde später an der Bar stand, um sich einen Drink zu bestellen, sah er sie Richtung Toilette gehen, das Täschchen unauffällig an der Seite ihres Kleides verborgen. Auf jener Hochzeit gestand er sich zum ersten Mal ein, dass er sich Sorgen machte und das beängstigende Gefühl hatte, irgendetwas zu übersehen, irgendetwas tun zu müssen.

Aber inzwischen hatten sie mit alldem aufgehört. Die blauen Flecken auf ihrem Bauch waren verblasst. Der Aktenordner, der fast sieben Jahre lang auf der Fensterbank gelegen hatte, befand sich längst in einer Schublade. Malcolm brauchte nie wieder unter einer Neonleuchte in einen Plastikbecher zu wichsen. Er brauchte nie wieder den Flur hinunterzugehen, um dem Klinikpersonal (stets weiblich und blutjung) Bescheid zu geben, dass sein beschrifteter Becher bereitstand.

Zuerst dachte er, sie würden wieder an den Punkt zurückkehren, bevor das alles angefangen hatte. Dass sie wieder in der Bar vorbeischauen würde, um ihn zu überraschen. Dass sie ihn wieder anlächeln, ihm wieder verführerisch zuzwinkern würde. Er sagte sich, dass es eine Weile dauern würde, dass er sich gedulden musste. Und dann war sie weg.

»Tut mir leid, Mal«, sagte Patrick, als sich in Malcolms Kopf alles zu drehen begann. »Ich dachte, du wüsstest es vielleicht schon. Und es tut mir leid, dass wir es dir ausgerechnet hier gesagt haben. Ich dachte, es wäre besser so, aber es war wohl ein Fehler.«

»Ich habe dich gewarnt«, sagte Siobhán.

»Stimmt, sie hat mich gewarnt«, fuhr Patrick fort. »Ich dachte, du würdest es hier vielleicht besser aufnehmen; bei dir zu Hause ist es ja gerade verdammt einsam, Kumpel. Aber Siobhán war anderer Meinung. Wie auch immer. Es tut mir wirklich leid.«

»Schon in Ordnung.«

»Nein, ist es nicht. Sollen wir dir helfen, die Stühle hochzustellen? Es schneit immer heftiger.«

»Ich mache das schon«, sagte Malcolm, ohne sich zu rühren. Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, doch er wollte sie nicht stellen. Er war verwirrt, doch zum ersten Mal seit Monaten spürte er auch einen Hauch von Ruhe in sich, ein winziges Licht, das ihm helfen würde, alles besser zu verstehen, sobald er die Kraft hatte, über die Worte seiner Freunde nachzudenken. In den siebzehn Wochen, seit Jess gegangen war, hatte er gelernt, wie anstrengend es war, sich wie gelähmt zu fühlen; als hätte sie die Tür eben erst hinter sich zugeschlagen und als stünde er noch immer erschüttert da, sich angespannt fragend, was danach kam. Nun wusste er es. Und in gewisser Weise war das eine Erleichterung.

Siobhán und Patrick waren die letzten Gäste, die sich auf den Weg machten. Als sie die Tür öffneten, fegte der Schnee durch den Vorraum bis in die Bar.

Malcolm wandte sich Roddy zu. »Wie geht es unserem Freund?«

»Er ist nicht mehr da«, sagte Roddy. »Ist wohl durch den Küchenausgang abgehauen.«

»Wirklich? Dort ist doch alles vereist.«

Malcolm durchquerte die Küche, öffnete die Tür und spähte in die Dunkelheit, um sich zu vergewissern, dass Tripp nicht mit einem Beinbruch in der Gasse lag. Er schaltete die Taschenlampe seines Handys ein, trat vorsichtig nach draußen und hielt das Licht in alle Richtungen. Jess und Neil? Er konnte es noch immer nicht fassen. Wer hatte den ersten Schritt gemacht? Hatte sie ihm ein Zeichen gegeben, dass sie interessiert war? Oder war sie ihm in einer besonderen Stimmung erlegen, und dann wusste sie nicht mehr, wie sie es hätte rückgängig machen sollen? Der Bewegungsmelder aktivierte die Außenbeleuchtung, und im Lichtkegel sah Malcolm den wirbelnden Schnee. Einen Moment lang vergaß er, warum er überhaupt draußen war und was er dort wollte. Die Gasse war leer, bis auf den Müllcontainer, ein paar Dutzend flachgedrückte, zusammengeschnürte Kartons und einen Stapel kaputter Transportboxen, die schon seit über einem Jahr dort standen.

»Du bist ja immer noch hier«, sagte er zu Emma, als er in die Bar zurückging. Es war ein früher Feierabend für alle, doch so rasch, wie der Schneefall nun zunahm, hätte er den Laden besser schon Stunden vorher geschlossen. Emma musste nach Yonkers fahren. Auf der Brücke gab es sicher einen Stau. Roddy zählte gerade sein Geld. Alle anderen waren schon weg. Malcolm zog den Bauch ein. Hoffentlich bekam er keine Wampe. Jess sagte immer, bei seiner Statur fiele das nicht so auf. Bei ihr hörte es sich an, als könne er gar nichts dagegen tun, weil schon sein Vater eine Wampe gehabt hatte, sein Onkel ebenfalls, beide waren mit Mitte vierzig an einem Herzinfarkt gestorben. Er stützte sich am Tresen ab. Emma war mit ihrem Handy beschäftigt, ihre Finger flogen über das Display, als spielte sie auf einem Instrument. Falls sie wegen des Schneesturms lieber nicht so weit fahren wollte, konnte sie ja bei ihm übernachten. Genug Platz hatte er jedenfalls. Keine große Sache. Wenn sie Lust hatte, konnten sie sich ja einen Film anschauen.

»Bist du sicher, dass du bei diesem Wetter fahren willst? Du kannst gerne bei mir auf dem Sofa schlafen, wenn du möchtest.« Er versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, als sei ihm der Gedanke gerade erst gekommen.

Als sie von ihrem Display aufsah und ihn musterte, schienen ihr hunderte Gedanken gleichzeitig durch den Kopf zu gehen, aber dann sagte sie, sie würde vorsichtig fahren, ihre Reifen seien nagelneu.

»Gut«, sagte er, unschlüssig, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. »Pass auf dich auf.«

Ein Schneepflug rauschte vorbei, als Emma sich auf den Weg machte. Malcolm schaute sich ein letztes Mal in der Bar um. »Bist du fertig?«, fragte er Roddy, während er sich die Jacke anzog. Er hielt Roddy die Tür auf, und als er sich umdrehte, um sie abzuschließen, kam ihm der Gedanke, dass er Roddy anbieten sollte, ihn nach Hause zu bringen.

»Schönen Abend noch«, sagte er stattdessen.

»Dir auch«, sagte Roddy und fügte dann hinzu: »Hör mal, ich wollte dir noch was sagen, besser spät als nie, oder? Tut mir echt leid wegen Jess. Das vorhin war ihre Freundin, oder? Die Lady, mit der du gesprochen hast?«

»Roddy«, sagte Malcolm. »Das mit Jess geht dich nichts an.«

»Oh.« Roddy wurde knallrot. »Bitte entschuldige.«

Als er den Jungen mit hochgezogenen Schultern durch den Schnee davonstapfen sah, in seiner dünnen Windjacke und mit abgewetzten Turnschuhen, kam er sich wie ein Monster vor. Roddy war halb so alt wie er und schaffte es noch nicht einmal, eine Playlist auszuwählen, wenn Malcolm ihn darum bat. Der Junge schien von der Hand in den Mund zu leben. Sein Onkel hatte behauptet, er sei clever, ein Computergenie. Warum zum Teufel bekam er sein Leben dann nicht auf die Reihe? Malcolm hatte versprochen, sich um ihn zu kümmern.

Einen Moment später hielt Malcolm neben ihm an. »Soll ich dich mitnehmen?«, rief er.

»Nein, danke«, rief Roddy zurück, ohne stehenzubleiben. »Ich gehe lieber zu Fuß.«

Malcolm war so verblüfft, dass er lachen musste.

Dann fuhr er kopfschüttelnd davon.

2

Im Mai 2004war Jess fünfundzwanzig und Malcolm dreißig, sie waren also mehr als erwachsen genug. Das Serienfinale von Friends stand kurz bevor, und die Gesichter der Hauptdarsteller prangten auf nahezu sämtlichen Bussen von New York City. Jess würde das Baby mit sechsundzwanzig zur Welt bringen, mit einem soliden Abschluss in der Tasche. Cobie hatte ein paar Freundinnen eingeladen und war damit beschäftigt, aufzuräumen und Snacks bereitzustellen, während Jess am Fenster nach Malcolms Wagen Ausschau hielt. »Ich bin mal kurz weg!«, rief sie Cobie zu, als sie seinen schwarzen Nissan entdeckte, dann rannte sie die Treppe hinunter bis um die Ecke, wo er immer auf sie wartete. Als sie einen Parkplatz gefunden hatten, gingen sie zum nächsten Drugstore und waren so schockiert von den gepfefferten Preisen, dass sie den billigsten Test nahmen. Aber als sie in der Schlange warteten und Malcolm das Kleingedruckte auf der Packung las, wusste Jess, dass sie dem Test nicht trauen würde, weil er nur halb so viel kostete wie die anderen. Also lief sie schnell zum Regal zurück und nahm stattdessen den teuersten. Als sie wieder bei Malcolm in der Schlange stand, drückte er sie an sich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er.

»Du dir auch nicht«, sagte sie und legte die Arme um ihn.

Vor ihnen warteten zehn andere Leute darauf, Alltagsdinge aufs Kassenband zu legen: Mascara, Kondome, Beruhigungsdragees, Grußkarten, Zahnpasta. Es war ein schöner Frühlingsabend.