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Reinhold Stecher war nicht nur ein geschätzter Bischof, Buchautor und Maler, sondern ein begnadeter Redner, ein Meister des gesprochenen Wortes. Wo immer er zu Vorträgen und Ansprachen bei festlichen Anlässen eingeladen wurde, war er es, der dem Ereignis das eigentliche Glanzlicht aufgesetzt hat. Er hatte die Gabe, das Leben in seiner ganzen Vielfalt zur Sprache zu bringen, dabei den Alltag aufzubrechen und so das Fenster zu Gott zu öffnen. Weil er Land und Leute wie kaum ein anderer kannte, das Gespräch sowohl mit Universitätsprofessoren und Künstlern, aber auch mit einfachen, kranken und alten Menschen pflegte, waren seine Reden stets geerdet - ganz gleich, vor welchem Kreis er gesprochen hat. Und es waren neben den kirchlichen Einrichtungen viele Institutionen - vom Alpenverein bis zu den Touristikern, der Industriellenvereinigung und der Ärztegesellschaft, der Bruderschaft St. Christoph und der Universität -, die den Bischof eingeladen hatten. Diese Stärke zeigt sich in den Vorträgen und Ansprachen, die für dieses Buch gesammelt wurden. Sie umspannen einen Zeitraum von über 20 Jahren und wurden von seinem ehemaligen Generalvikar und Wegbegleiter Klaus Egger ausgesucht. Bischof Reinhold Stecher behandelte folgende Themen: Kirche im Wandel der Zeit (zur Situation und zum Führungsstil in der Kirche) Natur und Heimat (Gedanken zum Tourismus, zur Schöpfung) Christsein in der Welt von heute (Dialog mit den Natur- und Geisteswissenschaften) Berufe und Berufung (an die Berufsgruppen der Unternehmer, Ärzte, Bürgermeister, Politiker) Wachsen und Reifen (das pädagogische Wirken - vom Kindergarten über die Schule bis zum Altern) In Sorge um das Humanum (Wachsamkeit gegen alle Unmenschlichkeiten - am Beispiel der Reichskristallnacht und des Anderle von Rinn) In mitbrüderlicher Verbundenheit (an seine Mitbrüder im Bischofsamt, Kardinal Franz König und Helmut Krätzl)
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Seitenzahl: 328
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Reinhold Stecher
Begegnungen mit Land und Leuten
Herausgegeben von Klaus Eggerim Auftrag der Diözese Innsbruck
Wir danken der Katholischen Bibelanstalt für die freundlicheAbdruckgenehmigung aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (Weish 7,15–25).
© 1980 Katholische Bibelanstalt, StuttgartViele Bibelstellen in diesem Buch werden von Bischof Reinhold Stecher jedoch nicht wortwörtlich nach der Einheitsübersetzung zitiert, sondern er verwendet auf dem Hintergrund seiner hebräischen und altgriechischen Sprachkenntnisse eigene Ausdrücke.
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2014
© Verlagsanstalt Tyrolia, InnsbruckUmschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-VerlagDas Umschlagbild zeigt Innsbruck „über den Dächern“: links der Dom,in der Mitte die Jesuitenkirche und rechts die Hofkirche, daneben der Stadtturm.Lithografie: Artilitho, Lavis (I)Druck und Bindung: Gorenjski-Tisk, Kranj (Slowenien)ISBN 978-3-7022-3324-2 (gedrucktes Buch)ISBN 978-3-7022-3354-9 (E-Book)E-Mail: [email protected]: www.tyrolia-verlag.at
Vorwort (Bischof Manfred Scheuer)
Einführung (Klaus Egger)
Kirche im Wandel der Zeit
Rast unter dem Baum
25 JAHRE DIÖZESE INNSBRUCK (1989)
Die Volksfrömmigkeit – Kostbarkeit oder Gefahr?
INNSBRUCK (1989)
Geleise in die Zukunft der Heimatkirche
PRIESTERTAGUNG, BRIXEN (1992)
Gedanken zum Dienst der Kirchein der Welt von Arbeit und Wirtschaft
TAGUNG, SALZBURG (1992)
Natur und Heimat
Tirol braucht Fenster
50 JAHRE TIROLER KULTURZEITSCHRIFT „DAS FENSTER“INNSBRUCK (1991)
Durch das Gastland geht ein Erwachen
100 JAHRE TOURISMUS IN TIROL, INNSBRUCK (1989)
Ein Bergblumenstrauß der Dankbarkeit
150 JAHRE OESTERREICHISCHER ALPENVEREIN, WIEN (2012)
Wasser – Schatz der Zukunft
SYMPOSIUM, SALZBURG (2004)
Forstexkursion in die Bibel
150 JAHRE TIROLER FORSTVEREIN, INNSBRUCK (2004)
Christsein in der Welt von heute
Gläubiges Herz und forschender Geist
UNIVERSITÄT INNSBRUCK (1990)
Das christliche Menschenbild
THEOLOGISCHE FAKULTÄT INNSBRUCK (2002)
Christliche Erwachsenenbildung
KATHOLISCHES BILDUNGSWERK KÄRNTEN, KLAGENFURT (1998)
Dichtung und Glaube
UNIVERSITÄTSPFARRE ST. CLEMENS, INNSBRUCK (1996)
Berufe und Berufung
Ringen um Sprache
DREILÄNDERTREFFEN KATHOLISCHER PUBLIZISTENPUCHBERG BEI WELS (1990)
Zum Profil des Unternehmers
INDUSTRIELLENVEREINIGUNG TIROL, INNSBRUCK (1991)
Die Tiroler Gemeinden
BEZIRKSBÜRGERMEISTERTREFFEN, LANDECK (1995)
Gedanken eines Seelsorgers zum Arztsein
CHIRURGENKONGRESS, INNSBRUCK (1997)
Wachsen und Reifen
Silberne Schale und goldener Apfel
WERKWOCHE DER KINDERGÄRTNERINNEN SÜDTIROLS, NALS (1991)
Liftfahrt in das Hochhaus der Werte
LANDESKINDERHEIM AXAMS, INNSBRUCK (2002)
Zeitlose Geburtstagswünsche
450 JAHRE AKADEMISCHES GYMNASIUM INNSBRUCK (2011)
Auf die alten Tage hin
PRIESTER-SENIOREN-TREFFEN, BRIXEN (1993)
In Sorge um das Humanum
Die Reichskristallnacht
UNIVERSITÄT INNSBRUCK (1998)
Wider die Unmenschlichkeit
ARBEITSGEMEINSCHAFT VATERLANDSTREUER VERBÄNDE TIROLSINNSBRUCK (1990)
Die Frage Judenstein
INNSBRUCK (1985)
Im Durchgangshaus der Gesellschaft
50 JAHRE CARITAS, INNSBRUCK (1995)
Der „Nobody-Helfer“
625 JAHRE BRUDERSCHAFT ST. CHRISTOPHST. ANTON AM ARLBERG (2011)
In brüderlicher Verbundenheit
Das hohe Amt des Wegweisers
50. UND 25. BISCHOFSJUBILÄUM VON KARDINAL FRANZ KÖNIG UNDWEIHBISCHOF HELMUT KRÄTZL, WIEN (2002)
Übersicht der Ansprachen und Vorträge
„Natur als Medizin“, das war der erste Text, den ich von Reinhold Stecher bei Exerzitien erhalten habe. Er weiß darin vom Ordnenden und Heilenden des Gehens, von der schöpferischen Kraft der Bewegung, auch für das Denken. In der Vielfalt der Reize und Sinneseindrücke, z. B. in den Medien, führt die Natur zur Stille und zur Schönheit. Reinhold Stecher hat das Buch der Natur – durchaus im Sinne eines Bonaventura oder auch eines Johannes Kepler – gelesen und erschlossen. Die Natur ist nicht nur Ort des Trainings und der Fitness, auch nicht nur der Ästhetik, sondern sie trägt die Spuren Gottes. Bischof Reinhold hat vielen Menschen geholfen, die Abstumpfung, die Stumpfsinnigkeit und damit auch eine Form der Dummheit zu überwinden.
Ende der Achtzigerjahre habe ich Karikaturen von Bischof Reinhold in die Hände bekommen. Eine zeigt den Schweizer Kampf um die Generalabsolution bei der Weltbischofssynode 1983 zum Thema „Versöhnung und Buße in der Sendung der Kirche von heute“ in Rom, die andere Don Quichotte und Sancho Pansa unverwechselbar als einen österreichischen Kardinal mit seinem damaligen Weihbischof. Reinhold Stecher hat das Buch des Humors und auch der Freiheit gelesen und geschrieben. Er hat durch seine Karikaturen und auch durch seine Deutungen Freiräume und Spielräume in deprimierenden Situationen und Phasen der österreichischen Kirche erschlossen.
In einer kurzen, aber prägnanten Osterpredigt geht es um Fragen der Mengenlehre, um die Klammer vor einer Menge, um das Plus oder das Minus. Auferstehung ist das Plus vor der Menge des Lebens, vor der Ansammlung von Erfahrungen und Widerfahrnissen. Reinhold Stecher hat das große Ja Gottes vermittelt, und das in einem Land, in dem Glaube und Religion teilweise mit viel Druck oder auch mit Angst verbunden waren. Und er hat die Beziehungen zu unserer Wurzel, die trägt, zum Judentum entscheidend verbessert.
Der junge Reinhold Stecher kam wegen „Organisation einer Wallfahrt“ auf die Waldrast in Gestapohaft. Bei einem Gedenken an die Opfer der Pogromnacht im November 1938 hat er das Entsetzen über die Ermordung von Innsbrucker Juden ausgedrückt. Dann forderte er das nüchterne Bedenken der Hintergründe, den Wurzelverzweigungen des Hasses nachzugraben, den Nährboden für Vorurteile, Sündenbocktendenzen, Horizontverengungen, Rassenstolzdummheiten und Aberglauben aufzuspüren. Weil er die absolute Rechtlosigkeit in Zeiten des Staatsterrors erfahren hat, war er ein leidenschaftlicher Verfechter und Verteidiger des Rechtsstaates, auch und gerade gegenüber denen in der Kirche, die meinten, dass der Gegensatz zum Recht die Liebe sei. Aber das Gegenteil von Recht ist nicht die Freiheit und die Liebe, sondern das Unrecht, die Barbarei, die Willkür und die Unterdrückung.
Bischof Reinhold hat etwas von der größeren Gerechtigkeit im Sinne der Bergpredigt verwirklicht: Er hat Menschen mit Behinderung Räume der Beziehung und der Freundschaft eröffnet, er hat Brunnen ermöglicht, deren Wasser Leben gespendet und gerettet haben. Und er hat nicht einfach Recht haben und Recht behalten wollen, sondern die Versöhnung gesucht. 1993 unterzeichnete er die Petition von SOS Mitmensch gegen eine Verschärfung der Asylgesetzgebung. Als der Innenminister 1990 die Abschiebung von 7000 Rumänen ankündigte, meldete er sich in den Medien zu Wort. Die Diözese Innsbruck werde die Flüchtlinge in den Pfarren aufnehmen, so der Bischof, denn er fände „die Idee einer Deportation ungeheuerlich. Vielleicht habe ich zu lange in der Diktatur gelebt.“
Bischof Reinhold wurde von zahlreichen Organisationen als Festredner eingeladen; dementsprechend breit ist die Fülle an Themen in seinen Ansprachen und Vorträgen. Der Diözese Innsbruck ist es ein Anliegen, dieses Vermächtnis in Buchform erscheinen zu lassen. Ich danke Klaus Egger, seinem Generalvikar und Wegbegleiter, für die Auswahl und Zusammenstellung der Texte.
Manfred ScheuerBischof von Innsbruck
Reinhold Stecher war nicht nur ein im ganzen Land geschätzter Bischof, Autor von Büchern, die auf Bestsellerlisten stehen, und begabter Hobbymaler, dessen Bilder Jahr für Jahr auf einer Vernissage versteigert wurden, um mit dem Erlös beachtliche Brunnenprojekte in Albanien, Brasilien und vor allem in Afrika zu finanzieren, er war auch ein begnadeter Redner, ein Meister des gesprochenen Wortes. Wo immer er zu Vorträgen und Ansprachen bei festlichen Anlässen eingeladen wurde, war er es, der dem Ereignis das eigentliche Glanzlicht aufgesetzt hat. Hilde Domin hat einmal geschrieben:
Wir Pächter und Weinbauern des Lebensessen Brot und trinken Wein,aber wir leben vom Glanz.
Reinhold Stecher hatte die Gabe, dem Leben in seiner ganzen Vielfalt jenen Glanz zu verleihen, der den Alltag aufbricht und das Ewige ahnen lässt.
Geprägt von einer selbstverständlichen Gläubigkeit in der Familie, von der Lebensfreude seiner Mutter und ebenso durch die große Bibliothek seines früh verstorbenen Vaters, wurde er als junger Theologiestudent wegen der Organisation und Teilnahme an einer verbotenen Wallfahrt nach Maria Waldrast in Gestapohaft genommen und dann zur Wehrmacht einberufen. Er überlebte als einer der wenigen seiner Kompanie die fürchterliche Schlacht vom Ilmensee (1941/42) und wurde dann nach Nordkarelien in Russland abkommandiert. Dort begann der 3600 Kilometer lange Rückmarsch nach Norwegen mit Heimkehr nach Innsbruck im Herbst 1945. Gerade die dunkelsten Stunden im Angesicht des Todes haben sein Vertrauen in Gott und in gute Menschen vertieft und gestärkt. Aus der Zuflucht zu Gott erwuchs ihm Zuversicht. Nicht bloß in seinem bischöflichen Wahlspruch „Dienen und Vertrauen“, sondern auch in seinen vielen Vorträgen und Ansprachen geht es ihm immer wieder um das grundlegende Vertrauen, das dem Leben Weite und Tiefe verleiht. In Psalm 34,6 heißt es: „Blickt auf zu ihm und euer Antlitz wird strahlen“. Ja, es war so etwas wie eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die in seinem Auftreten und seinen Reden spürbar wurden.
Gefragt war er nicht bloß als glänzender Redner, sondern immer auch als Bischof, der für alle da ist und Fenster öffnet hin zu dem Geheimnis, das wir Gott nennen.
Es gibt in der Biografie von Reinhold Stecher noch einen kaum wahrgenommenen Bereich, der für sein gesamtes Wirken bedeutungsvoll wurde. Nach seiner Priesterweihe hat er neben seelsorglichen Aufgaben über mehrere Jahre hinweg an einer Dissertation über die Weisheitsliteratur im späten Judentum gearbeitet. Diese zum Teil erst im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christus entstandenen Bücher des Alten Testamentes zielen auf die Vermittlung von Lebenswissen, das zum einen in der Glaubenserfahrung Israels und zum anderen im Gespräch mit der zeitgenössischen Kultur wurzelt. So will der Verfasser des Weisheitsbuches den Gebildeten seiner Zeit zeigen, dass sein Glaube echte Weisheit ist, und den Glaubensgenossen sagen, dass ihr Glaube der philosophisch-heidnischen Welt ebenbürtig ist. Im Buch der Sprüche geht es um Lebensbewältigung im umfassenden Sinn, oft in enger Berührung mit der Weisheit Ägyptens und des Zweistromlandes. Zentrales Thema ist die menschliche Existenz unter individuellen, gesellschaftlichen und religiösen Gesichtspunkten, aber auch die unbelebte Natur, Pflanzen- und Tierwelt. Aber alles steht unter der großen Überschrift „Initium sapientiae est timor domini“ – „Der Anfang aller Weisheit ist die Achtung vor dem Herrn“ oder frei übertragen „Die Kenntnis des Heiligen ist Anfang und Wurzel aller Erkenntnis und Bildung“. Der Weise ist ein Mensch, der überlegt, sich geschickt und sachkundig verhält, der klug und kundig das Leben bewältigt und meistert. Die Sprache der Weisheit ist eine poetische, die primär nicht Wissen, sondern gläubige Lebenserfahrung vermitteln will, oft in kurzen und prägnanten Sprüchen. Diese äußerst knappen Hinweise auf die Weisheitsliteratur des Alten Testamentes nehmen sich beinahe wie ein Porträt von Reinhold Stecher aus! Vergeblich sucht man in seinem schriftlichen Nachlass nach wissenschaftlichen Arbeiten, aber hinter allem, was er gesprochen und geschrieben hat, blitzt immer wieder ein großes und breitgefächertes Wissen auf. Kurze Hinweise auf bedeutende Gestalten der Humanwissenschaften, der Literatur und Theologie legen Zeugnis davon ab. Mit „wachem Geist“ suchte er in den verschiedensten Themenbereichen nach einer tragfähigen Synthese von Glaube und Vernunft mit dem Ziel, den Menschen zu dienen, wie er es in seinem programmatischen Wahlspruch „Dienen und Vertrauen“ zum Ausdruck gebracht hat.
Reinhold Stecher war auch mit Leib und Seele Tiroler. Er kannte Land und Leute wie wenig andere. Er hat das Gespräch mit Universitätsprofessoren und Künstlern genauso gesucht und gepflegt wie mit einfachen, kranken und alten Menschen. Daher waren seine Vorträge auch wirklich geerdet, ganz gleich, vor welchem Kreis er gesprochen hat.
Neben vielen anderen Ehrungen wurde er im Jahr 1994 „für seine Verdienste um die Schaffung eines Klimas der Toleranz und des Dialogs“ von der Universität Innsbruck mit dem Ehrendoktorat der Philosophie ausgezeichnet.
„Kirche im Wandel der Zeit“, „Natur und Heimat“, „Christsein in der Welt von heute“, „Berufe und Berufung“, „Wachsen und Reifen“ und „In Sorge um das Humanum“ sind die Themen dieses Buches. Den Abschluss bildet die Festansprache zum 50- und 25-jährigen Bischofsjubiläum von Kardinal Franz König und Weihbischof Helmut Krätzl im Rathaus von Wien.
Die hier abgedruckten Vorträge und Ansprachen wurden in der Zeit von 1985 bis zum Jahr 2012 gehalten und tragen selbstverständlich auch Spuren dieser Zeit- und Gesellschaftssituation. Wenn sich einzelne Bilder und Gedanken wiederholen, so ist das ein Hinweis darauf, welches Gewicht sie für Reinhold Stecher haben.
Jeweils am Beginn der einzelnen Kapitel werden Adressaten und Themen vorgestellt.
Innsbruck, im Herbst 2013
Klaus Egger
In seinem langen Leben hat Reinhold Stecher ganz verschiedene Kirchenerfahrungen gemacht. In seiner Jugend war es die Kleruskirche, in der NS-Zeit die verfolgte Kirche, dann kam eine Kirche im Aufbruch bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Der gesellschaftliche Wandel in den Sechzigerjahren hat auch vor der Kirche nicht Halt gemacht und neue Problemsituationen mit sich gebracht. Gefragt war eine Kirche mit menschlichem Gesicht, eine Kirche, die den Menschen Heimat bieten kann. Als unermüdlicher Verfechter einer „offenen Kirche“, die niemanden ausgrenzt und sich den Fragen der Zeit stellt, nimmt Reinhold Stecher als Bischof immer wieder zu kirchlichen Fragen mit großem Freimut Stellung. Das sind aber keine Kampfansagen, sondern Ermutigungen für all jene, die den vom Konzil eingeschlagenen Weg weitergehen wollen: ein Text zum 25-jährigen Diözesanjubiläum (1989), in dem er zur Situation der Kirche Stellung bezog, und Vorträge vor Priestern und kirchlichen Mitarbeitern.
„Das Senfkorn ist zwar das kleinste unter allen Samenkörnern, aber wenn es ausgewachsen ist, ist es das größte von allen Gartengewächsen und wird zu einem Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und darin wohnen …“
(Mt 13,32)
Mit dem Blick auf diese Stelle des Evangeliums darf ich wohl nicht nur die Kirche als Ganzes, sondern auch die Kirche von Innsbruck im Besonderen mit einem Baum vergleichen. Es ist ein uralter Baum in unserer Heimat Tirol, unter den ich mich da niederlasse, fast so alt wie jene berühmten, gewaltigen Lärchen im Ultental, für die die Wissenschaftler ein Alter von beinahe 1800 Jahren errechnet haben sollen.
Da sind 25 Jahre Diözesangeschichte natürlich nichts. Aber es sei mir erlaubt, mich zu diesem Anlass unter diesem Baum hinzustrecken und über dieses merkwürdige Gebilde nachzudenken, den alten Stamm mit der rissigen Rinde, die ausladenden Äste und das doch immer wieder sich erneuernde Grün des religiösen Lebens, durch das die Sonne schimmert.
Romantisches Träumen erlaubt dieser Baum nicht. An seiner Krone zerren die Wetter und Winde der Zeit, und beides fällt von ihm herunter: Früchte und dürre Äste.
Aber es tut gut, die Hektik des kirchlichen Alltags mit dem verwirrenden Vielerlei des Aktuellen zu unterbrechen, und einmal dem lebendigen Ganzen nachzusinnen, das dieser breitausladende Baum des Gottesreiches darstellt, die tragenden Äste hinaufzuverfolgen, wie sie sich verteilen, verzweigen und überschneiden und schließlich doch irgendwo eine gemeinsame Gestalt finden, wie es bei jedem Baume ist.
Es geht mir nicht um Analyse und exakten Überblick. Mit den Instrumenten der Statistik und der Sonde des Soziologen vermag ich nicht besonders gut umzugehen. Es gelingt mir nicht, distanziert-exakt prüfend hinaufzuschauen in diese Lebendigkeit der Strukturen, die man sieht. Es geht mir auch um das, was man nicht sieht.
Natürlich müsste man sich darüber klar werden, an welchen Ästen die Früchte zukunftsträchtig schwerer hängen, oder wo ein Ast in einen Schattenwinkel hineinwächst, in dem nicht viel gedeihen kann. Wer einen Baum betrachtet, muss freilich alle Ungeduld ablegen. Bäume wachsen nicht im Zeitraffertempo der Macher. Vielleicht hat Christus für sein Reich absichtlich so viele Gleichnisse der Geduld gewählt: sprossende Bäume und reifende Saaten, nächtelang rudernde Fischer und wartende Jungfrauen mit den Lampen … Und noch eines hat der Herr vom Baum wie vom Weinstock betont: dass die Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit bildet, dass sich alles aus einem Stamme verzweigt, und sein Leben aus Wurzeln erhält, die in der Tiefe verborgen liegen.
Aber nun hinein in das Geäst und Gezweig des kirchlichen Lebens!
Der erste Ast, den ich verfolge, wächst aus der innersten Mitte empor – und bleibt in der Mitte: Es ist der Ast der Heiligen Feier, der Ast der Mysterien, der Eucharistie, der Sakramente. Es war die besondere Sorge des letzten Konzils, sich um das strömende Leben und Blühen dieses Astes zu kümmern. Wie steht es bei uns mit diesem Ast? Wenn ich zum Beispiel an den Sonntag denke, dann gibt es da natürlich auch Entfremdungserscheinungen, Verständnisverlust und zeitgemäße Unverbindlichkeit. Aber im Ganzen gesehen ist dieser Ast doch in dem Menschenalter, das ich überblicke, um eine Welt lebendiger geworden, verjüngt und wesentlicher. Ob ich jetzt an die leise Intimität einer Roratemesse in der Hochschulgemeinde denke, oder an irgendeinen Firmgottesdienst im kleinen Bergdorf, an die große Liturgie mit dem Papst am Bergisel oder an die Osterzeremonie in den Pfarrgemeinden – es hat sich viel getan an diesem Ast. Und dass bei einem derartigen Vitalitätsschub der eine oder andere wilde Trieb ausschießt, ist mehr Naturereignis als Katastrophe.
Die große Linde im Schlosspark von Ambras bei Innsbruck
Im schlimmsten Fall muss halt das Amt auch einmal die Baumschere in die Hand nehmen … Aber wer hier nur Fehlentwicklungen zu sehen glaubt und nur den Verlust der Formen von gestern beklagt, der schaut den Baum weder mit den Augen des Glaubens noch mit denen der Liebe an.
Und doch bleibt mir viel zu wünschen und zu beten, wenn ich zu diesem Ast hinaufschaue. Dass wir die rechte Innigkeit finden und nicht in Formalismen steckenbleiben; dass wir auf alle Rücksicht nehmen, auch auf jene, die im Raum des Heiligen das Experiment nicht so lieben; dass wir die rechte Sprache der Zeit in der Verkündigung finden; dass auch die Kunst der Zeit in den Raum des Heiligen eindringe; dass in allem die Ehrfurcht dominiere, vom kleinen Ministranten bis zum Verwalter der Geheimnisse.
Auf einen Seitenzweig der Sakramente schaue ich mit Sorge: Er scheint sich dem Schatten und der Verkümmerung zuzuwenden und Blätterschwund zu erleiden: Es geht um das Sakrament der Umkehr. Es mag vieles daran schuld sein – von einseitigen Akzenten in der Kirche bis zu den billigen Mechanismen einer Verdrängungsgesellschaft, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld überflüssig zu machen scheinen – gleichviel, die Kirche kann sich das Baumsterben auf dieser Seite nicht leisten. Die Früchte dieses Zweiges sind für die Kirche unverzichtbar.
Und weiter geht mein Blick zum hundertfach verzweigten Ast der Gemeinden. Wenn ich auch noch nicht überall gewesen bin, in den letzten acht Jahren bin ich auf diesem Ast viel herumgeklettert. Es sind gute Erinnerungen, die da aufsteigen: Abende mit Pfarrgemeinderäten und Pfarrkirchenräten, mit Frauen und Männern, Jugendlichen und Senioren, Menschen aus allen Schichten, Berufen und Altersstufen. Und ich weiß, wie viel Mitsorge und Verantwortung, Einsatz und Ideen, Mühen und Aktionen, Bazare und Renovierungen, Krankenbesuche und Kontakte, Fröhlichkeit und Gebet von diesen Gremien ausgehen.
Der Ast war in früheren Zeiten nicht immer so lebendig. In ihm liegt viel Hoffnung. Und ich schicke ein Gebet hinauf, dass er lebendig bleibe, gerade dann, wenn nicht mehr alle Amselnester auf ihm besetzt sind, will sagen, wenn nicht in jedem Widum mehr ein Priester sein kann …
Und dann steigt da ein dritter Ast empor, der seine Zweige überall hinsendet: Es ist der Ast der überdiözesanen und diözesanen Gemeinschaften.
Es ist ein dankbarer Blick, den ich auf die Orden werfe, die weiblichen und die männlichen. Durch sie lebt in der Baumkrone der Ortskirche der Geist und die Spiritualität der ganz Großen der Kirche weiter: Augustinus und Benedikt, Norbert und Franziskus, Ignatius und Vinzenz, Theresia und Alfons, die sieben Väter des Servitenordens, Don Bosco und Dominikus, Bernhard und Johannes vom Kreuz, Maria Ward und Franz von Sales und viele, viele andere – durch ihre Gefolgsleute wird die Kirchengeschichte des geistlichen Lebens in der Heimat zur lebendigen Gegenwart. Und immer wieder wachsen neue Formen solcher Gemeinschaften. Und trotz aller verschiedenen Akzente gibt es einen beglückenden Geist des Miteinander. Der hilfesuchende Bischof weiß ein Lied davon zu singen.
Und weiters breitet dieser Ast die Seitenäste der verschiedensten Organisationen, in- und außerhalb der Katholischen Aktion, aus. Man möge mir das Durcheinander verzeihen – ein Blick in eine große, grüne Baumkrone ist nun einmal nicht so wie der in eine geordnete Kartei. Da arbeiten also Katholische Jugend und Jungschar, Männer- und Frauenbewegung, Familienverband und Lehrerverein, Kindergärtnerinnen und Diözesansportverband, Arbeiterjugend und KAB, Verband christlicher Unternehmer und Mittelschullehrer, Ritterorden und Dritte-Welt-Gruppen, Opus Dei und Drittordensgemeinschaften, Bundesheerseelsorge und Gastarbeiterbetreuung, Pfadfinder und Studentenverbindungen, Gen-Bewegung und Fokolare, Malteser und Bruderschaften, Krippenvereine und Chöre, Vinzenzgemeinschaften und Gruppen, die sich in Rocca di Papa zusammengetan haben, Kolping und Tourismusseelsorge … Hoffentlich nimmt es mir niemand übel, wenn ein Zweig verdeckt war. Der Überblick ist gar nicht einfach. Aber das alles ist gewachsen, weil eben das Leben so bunt ist und die Notwendigkeiten und Bedürfnisse so vielfältig sind.
Und doch muss ich das Gebet emporschicken, dass in all dem kein organisatorischer Leerlauf entstehe, und dass die Zweige nicht vergessen, dass sie zu einem Seitenast gehören, und der Seitenast, dass er aus einem Ast wächst, und der Ast, dass er aus einem Stamm kommt, und der Stamm, dass er nur aus einer Wurzel lebt, einer Tiefe.
Noch ein weiterer Ast prägt und füllt die Baumkrone der Kirche Tirols, auch wenn er sich im Alltag meist bescheiden versteckt. Es ist der Ast des menschlichen und sozialen Helfens. Er war von Anfang an da, schon damals, als vor 2000 Jahren die Kirche noch eine winzige Staude war. Inzwischen hat er viele Zweige getrieben, auch hier bei uns. Zu ihm gehören die Mitarbeiter der Caritas, die pflegende Krankenschwester und die Familienhelferin, der Bruder-in-Not-Spender und die Sternsinger, die Betreuerin im Elisabethinum und die Altenpflegerin, das Engagement von „Frauen helfen Frauen“, der Solidaritätsfonds der KAB für schwer zu vermittelnde Jugendliche und die 35 Ortsgruppen des Vinzenzvereins, die emsige Arbeit des Sekretariats für Entwicklungshilfe und die Ferienangebote des Familienreferates, die Aktivitäten der Telefonseelsorge und das stille Wirken von „Rettet das Leben“, die Eheberatung, die Ehevorbereitung und der Arbeitskreis für Alleinerziehende …
Der Ast des Helfens sprengt den Rahmen der Diözese: Woche für Woche liegen mir die Schecks zur Unterschrift vor: nach Sudan und Armenien, in den Sahel und nach Indien, in die Slums von Brasilien und das Elend auf den Philippinen, nach Kenia und in den Kamerun, nach Madagaskar und Peru …
Was müsste ich diesem Zweig wünschen und erbitten? Dass seine Zweige immer wieder dorthin dringen, wo die Not in den Lücken der Gesellschaft und der Welt nistet? Und dass sich auf ihm keine Schmarotzerpflanzen niederlassen? Das auch. Vor allem aber, dass er immer durchpulst bleibe von jener Haltung des Dienens, die Christus uns allen eingeschärft hat.
Je länger ich in den großen Baum hinaufschaue, umso mehr große Äste kommen in Sicht. Der nächste ist der Ast der Glaubensbildung. Auch er gehört in einer Diözese wie der unseren zu den Großstrukturen. Und das muss so sein – in einer Epoche des weltanschaulichen Vielerlei und der ethischen Verwirrspiele in der Gesellschaft, der Spannungen und gegenseitigen Vorwürfe im innerkirchlichen Raum, in einer Welt, in der eiskalte Rationalität und pseudomystische Geheimlehren nebeneinanderstehen. Glaubensbildung tut not.
Es ist ein großer Ast. Da ist die Theologische Fakultät dieses Landes mit ihrem ganzen Wissenschaftsbetrieb, die Ausbildung der Lehrer und Katecheten, die Pädagogischen und Religionspädagogischen Akademien, das Religionspädagogische Institut, das die Religionslehrer fördernd begleitet, die Priesterfortbildung, die Bildungshäuser. Hierher gehört das Netzwerk des Katholischen Bildungswerkes, der Stephanusgemeinschaft, des Theologischen Fernkurses. An diesem Ast hängen Tausende von Schulklassen mit ihrem Religionsunterricht, seinen Chancen und seinen Problemen. Hierher gehört auch alles Mühen um das kirchliche Pressewesen und sein Niveau, vom „Präsent“ über die „Kirche“ bis zum kleinsten Pfarrblatt, von der Sendung der Kirche in den Massenmedien bis zur einfachen Sonntagspredigt.
Was möchte ich zu diesem Ast als Gebet hinaufsenden? Dass auf ihm Glaubensfreude und Geistesschärfe, große Offenheit und tiefe Verwurzelung in der unvergänglichen Botschaft blühen mögen; und dass dieser Ast immer einen Raum von Freiheit in der Kirche finde, der wirklich nur beim Wildwuchs in die Lüge beschnitten wird.
Und weiters ist da noch der Doppelast der Berufungen. Auf der einen Seite gibt es viele Berufungen im Stand der Laien: Religionslehrer und Pastoralassistenten, Pfarrhelfer und Tischmütter, bewusstes Sich-in-den Dienst-Stellen als Frau und Mutter, Berufungen zu vielen Aktivitäten in all den genannten Ästen, zu Diensten wie Gottesdienstleiter, Firmhelfer und Kommunionhelfer, Berufungen zu ehrenamtlichen und hauptamtlichen Diensten. Ein neuer Zweig ist die Berufung des verheirateten Diakons. Er gedeiht zwischen der Astgabel und er gedeiht gut!
Und dann ist da der Ast der geistlichen Berufe. Hier ist der Blattstand im Priesterseminar und in den Noviziaten dünn geworden. Der Blick auf die junge Generation der Priester und Schwestern sagt zwar, dass die, die durchgehalten haben, gesunde Blätter sind. Das muss auch einmal gesagt sein. Aber es sind zu wenig. Warum wohl? Auch den unter dem Baum sitzenden Bischof beschleicht oft die Ratlosigkeit. Liegt es an uns, den Zölibatären: Leiden wir unter einem Verlust an Strahlkraft? Liegt es daran, dass dieser Ast dem rauen Wind des Zeitgeistes besonders ausgesetzt ist? Oder lähmt der Wohlstand doch auch den Mut zum Verzicht? Oder will vielleicht der Herr der Kirche auch eine Entwicklung korrigieren, weil man lange Zeit nur den Ast klerikaler Berufungen in der Kirche gesehen hat? Oder haben wir doch streckenweise ein Manko an echter Frömmigkeit? Die Antwort ist wahrscheinlich so vielschichtig wie die Fragen.
Ich weiß nur, dass ich zu diesem Ast der Berufungen heiße Gebete hinaufschicke, Dank für jede gelungene Berufung, Bitte um weitere. Auf beiden Ästen geht es nicht um die Zahl, letztlich nur um den Geist. Und dass dieser Geist und sein Feuer in junge Herzen strömen.
Und damit komme ich zum siebten und letzten Ast. Je mehr ich in die Baumkrone der Kirche von Innsbruck eindringe, umso öfter greife ich nach diesem Ast. Er ist der verborgenste aller Äste, doch wenn er fehlte, dann wäre der große Baum nur ein toter Riese, wie eine Zirbe, die der Blitz getroffen hat. Es ist der Ast der Beter.
Er reicht vom Schweigen des Karmel bis zu den Meditationen junger Menschen, vom Wirken der Gebetskreise bis zum Kinderkreuzweg, von den Rosenkränzen in den alten Händen bis zum Chorgebet der Klöster, vom Priester, der zum Brevier greift, bis zur Wächterin vor dem Tabernakel, vom murmelnden Beten der Tausenden, die auf Wallfahrt gehen, bis zur Stille der Einkehrtage und Exerzitien. Zu diesem Ast gehören das Stammeln der Verzweifelten und der Jubel der Festmessen. Zu ihm gehören das Werk des Künstlers und das Jauchzen der Geigen.
Wie die grünen Blätter eines Baumes die Sonnenenergie verwandeln, so holen die Beter für den ganzen Baum das Strömen der Gnade und das Walten des Geistes vom Himmel. Der Ast der Beter hat alle Kirchenkrisen, Glaubenskrisen und Gesellschaftskrisen überstanden. Und an diesem Ast hat in der Kirche immer der Frühling begonnen …
Darum kann ich Gott nur bitten, dass er diesen Ast in Innsbrucks Kirche erhalte und entfalte. Vor aller Aktion nach außen muss immer die Wende nach innen da sein.
Die Rast unter dem Baum geht zu Ende. Ich will es bei diesen sieben großen Ästen bewenden lassen. Wenn man sich ein wenig Zeit nimmt, in die große Baumkrone hineinzusinnen, kommt man darauf, dass in einer Diözese so vielfältiges Leben ist, so viel Freude und so viel Sorge, so viel Gewachsenes und so viel Bedrohtes, dass man vom Wissen um die eigene Unzulänglichkeit des Dienstes an diesem Baum überwältigt wird.
Und es kommt eine große Dankbarkeit in mir auf gegenüber den vielen Händen, die sich da regen, und die vielen Herzen, auf die man bauen darf. Es überwältigt mich die Dankbarkeit gegenüber meinen Mitbrüdern im Priesteramt und im Dienst des Diakons, die so treu am Werke sind, und gegenüber den vielen Laien, die in so schwierigen Zeiten wie diesen zu dieser unserer Kirche stehen. Und darum stehe ich mit der Hoffnung auf, dass das Wort des Psalmisten auch für meine Kirche in Innsbruck gilt:
„Sie gleicht dem Baum,gepflanzt an Wasserbächen,der seine Früchte bringt zu seiner Zeitund dessen Laub niemals verwelkt …“ (Ps 1)
Wenn man in Tirol beginnt, über die konkrete Kirche des Landes im Gebirge nachzudenken, über ihre Schätze und Chancen, über ihre Risiken und Gefahren, kommt man an diesem Thema nicht vorbei. Auch im Jahre 1989, in dem wir unser 25-jähriges Diözesanjubiläum begehen, begegnet es mir überall, in allen Kreisen, an allen Orten, im Blumenschmuck am Wegkreuz und in den liebevoll renovierten Kreuzwegstationen, im erst neu entstandenen Martinsumzug der Kinder wie in der uralten Gebetswache vor dem Heiligen Grab, in den naiven Votivtafeln am Wallfahrtsort und in den Körben für die Kräuterweihe am 15. August …
Was ist eigentlich die „Volksfrömmigkeit“? Das ist gar nicht so leicht und präzise zu beantworten, auch wenn wir ungefähr wissen, was gemeint ist. Sie ist eine Symbiose von Gläubigkeit und Brauchtum, sie ist eine Erweiterung der großen Liturgie der Kirche und des Erlösungsmysteriums hinein ins Leben, in den Alltag der Menschen, in Geste und Farbe, in Bild und Symbol, in Formel und Brauch. Wenn ich die große, tragende Liturgie der Kirche mit einem herrlichen Park vergleichen wollte, in dem alle Wege dem einen Tempel des großen Geheimnisses in der Mitte zustreben, in gemessener, gewachsener und hie und da (manchmal fast zu sehr) geregelter Schönheit, dann ist die Volksfrömmigkeit ein Bauerngarten, wo Suppengemüse, Gewürzkräuter und Herbstblumen ein etwas chaotisches, aber herzhaftes Ensemble bilden, das Duft und Farbe ausströmt, aber auch eine geheime Neigung zur Verwilderung hat.
Ich glaube, dass es Volksfrömmigkeit immer wieder geben muss. Auch zur Zeit Jesu war sie da, und der Herr scheint sie in vielem toleriert zu haben. Einmal muss sie im christlichen Leben wohl deshalb da sein, weil es weite Räume des Lebens gibt, die nun die zentrale christliche Liturgie (die heilige Messe, der Wortgottesdienst und die Karwochenliturgie) nicht ohne weiteres mit sichtbaren Zeichen des Heils erfüllt. Wobei man allerdings gleich bemerken muss, dass immer dann, wenn die Liturgie der Kirche sich entfremdet und nicht mehr verstanden wird, die Volksfrömmigkeit zu wuchern beginnt. Dieses Phänomen hat z. B. die Zeit vor der Reformation gekennzeichnet.
Ich glaube aber auch, dass die Volksfrömmigkeit manchmal so etwas wie ein gewisses Korrektiv sein kann, das das Gemüt in der Kirche gegen eine Überintellektualisierung, Überreflexion und Überproblematisierung anmeldet. Von daher ist es verständlich, dass im Schatten der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Volksfrömmigkeit wiederum ins Kraut schoss, aber zum Teil eben als durchaus berechtigtes Anliegen des verachteten Gemüts. Beide Entwicklungen, die vor der Reformation und die in der kühlen Luft der Aufklärung, sollten uns bis zum heutigen Tage zu denken geben. Denn es gibt sie immer wieder, die Entfremdung vom Zentralen des Christentums und die Vernachlässigung des Gemüts. Und es wäre immer zu wünschen, dass die große Theologie und die große Liturgie und die Volksfrömmigkeit aufeinander zugehen, und dass die Letztere nicht der Ersatz der Ersteren wird.
So haben also viele Formen der Volksfrömmigkeit durchaus ihre Berechtigung, und zwar nicht nur im Sinne einer rückwärtsgewandten Brauchtumspflege. Sie schafft so etwas wie gläubige Kultur, mit den Kapellen und Kreuzwegstationen, den Bildern an den Häusern und dem Bittgang über die Flur, in den Segnungen von Fahrzeug und Vieh, Wohnung und Schule, in den Zügen der Beter zu den heiligen Orten, im Andenken, das man mit nach Hause nimmt, mit dem Kreuzlein, das man dem Kind um den Hals hängt. Auch in unserer so nüchternen Zeit ist Volksfrömmigkeit entstanden. Ich erinnere nur daran, dass in meiner Kindheit am Heiligen Abend die Friedhöfe alle im tiefsten Dunkel lagen. Nach dem Krieg begann man, Kerzen für die Gefallenen in die Fenster zu stellen, dann wanderten die Lichter auf die Gräber, und heute ist der Friedhof ein einziges großes Lichtermeer, und wenn man bedenkt, dass die Kirche in der zweiten Weihnachtsmesse das Thema „Lux et Origo“ feiert, Licht und Ursprung der Welt, dann hat diese Volksfrömmigkeit der erleuchteten Gottesacker einen tiefen Hintergrund im christlichen Glauben.
Viele Formen der Volksfrömmigkeit sind außerordentlich wichtig für Gemeinschafts- und Gemeindebildung. Das gilt für Familie und Pfarre, Jugendgruppe oder Altersheim. Man mag an den Martinszug der Kinder, die Bergfeuer junger Menschen, die Wallfahrt der Familie oder das Herbergsuchen denken – fast alle Formen der Volksfrömmigkeit schließen einen Weg zum andern hin ein. Deshalb gehört gesunde Volksfrömmigkeit und ihre Pflege, ja ihre schöpferische Weiterentwicklung auch zum Bild einer modernen Großstadtpfarre.
Diese so liebenswürdigen und sinnenhaften Verankerungen des Glaubens scheinen mir in einer Zeit wie der unseren besonders wichtig, da ja der immer deutlicher heraufdämmernde Priestermangel eine Einschränkung liturgischer Vollzüge wie der heiligen Messe notwendigerweise nach sich zieht.
Aber der so freundliche Bauerngarten der Volksfrömmigkeit zeigt auch Neigung zum Wuchern, und man muss ein wenig auf der Hut sein. Vielleicht darf ich kurz andeuten, in welche Richtung die Fehlentwicklungen der Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte bis zum heutigen Tag gegangen sind.
Es gibt die uralte Versuchung zur Magie. Magie, die so alt wie die Religion in der Menschheitsgeschichte zu sein scheint, will die Gottheit mit bestimmten Praktiken zwingen. Es geht nicht um das tiefreligiöse Vertrauen, sondern um das Beherrschen von Tricks, die Segen bringen und Fluch abwehren. Bestimmte Riten, bestimmte Gebete, bestimmte Wiederholungen werden ganz sicher „nützen“. Wenn man’s falsch macht, nützt es nichts. Wenn man dieses Gebet nicht sagt oder diese Wallfahrt nicht mitmacht, ist die Mutter Gottes „beleidigt“. Die Welt wird mit Dämonen und bösen Geistern erfüllt, gegen die eben ganz bestimmte Frömmigkeitsformen „helfen“. Man sage nicht, das alles habe es nur im Mittelalter gegeben. Die tiefsten Ängste des Menschen sind zeitlos, zeitlos ist auch der untaugliche Versuch, sich davon zu befreien, und zeitlos ist das Bestreben, diese Bedürfnisse finanziell auszunützen. Auch heute gehen Leute um, die mit geheimen Rezepten die Geldtaschen für sich öffnen. Und das geheime Rezept hat etwas besonders Bestechendes. Das schlichte Vertrauen auf den gütigen Gott reicht bei weitem nicht aus. Darum wuchern in der Kirche Bewegungen mit geheimen und geheimsten Offenbarungen, die sich mit Vorliebe auf naive Fromme stürzen, und ich weiß, warum ich diesen Taschendieben im Volke Gottes entgegentrete. Es ist eine magische Entartung von Volksfrömmigkeit, wenn bei irgendeiner Unterlassung oder vernünftigen Änderung in der Kirche in den religiösen Vollzügen sofort auf daraus entstehende Flüche und böse Folgen hingewiesen wird. So hat zum Beispiel eine sich sehr fromm gebärdende Broschüre ein Autobusunglück in Zirl und den Dammbruch bei Stava1 in Trient der Rache des Anderl von Rinn2 zugeschoben. Bei solchen Vorstellungen wandert der christliche Glaube zurück in die dämonenerfüllten Urwälder des Steinzeitmenschen, dessen Religiosität wesentlich von der Besänftigung und Lähmung böser Geister geprägt war. Volksfrömmigkeit kann auch heidnisch werden.
Eine zweite Gefahr der Volksfrömmigkeit ist die Wucherung des Nebensächlichen. Auch diese Gefahr ist nicht ohne Aktualität. Unwichtiges wird zur Hauptsache hochgespielt und somit das Wesen des Christentums verdunkelt. Irgendein Heiliger nimmt eine Rolle ein, die nur dem Welterlöser zukommt. Eine im Detail auf ihre Echtheit kaum überprüfbare Privatoffenbarung wird wichtiger als das Wort Gottes. Eine Segensformel gilt mehr als das Mysterium der Eucharistie, ein Weihwassertropfen wird wichtiger als die Frömmigkeit des Herzens.
Es gibt also dieses Wuchern in Richtung Primitivisierung, Veräußerlichung, Magie. Das muss man wissen, und darum braucht der bunte Bauerngarten das Jäten, sonst werden bald einmal die Brennnesseln ins Kraut schießen.
Zum Schluss möchte ich auf drei Formen der Volksfrömmigkeit hinweisen, die bei uns aktuell und lebendig sind, und die gleichzeitig einen tiefen Bezug zu den zentralen Wahrheiten der Heilsbotschaft haben.
Da ist einmal die Wallfahrt. Sie drückt das hoffende Unterwegs-Sein des Christen aus, das mühsame Wandern und das doch Vertrauen-Können. Der Blick vom Georgenberg hinunter in die stundenlange Lichterschlange durch Wald und Schlucht offenbart eine der schönsten Formen von Volksfrömmigkeit.
Und dann gehört hierher die Krippe. Sie stellt das Mysterium der Menschwerdung in das Leben der Familie, in die heilige Zeit, in eine säkularisierte Welt. Und sie hat in unserer Zeit einen nie erwarteten Aufschwung genommen.
Und zum Dritten muss ich in Tirol die Herz-Jesu-Verehrung nennen. Sie führt – wenn sie richtig geübt wird und nicht nur an Äußerlichkeiten hängen bleibt – hinein in das innerste Wesen des erlösenden Gottes, „dessen Herzens Sinnen von Geschlecht zu Geschlecht geht, ihre Seelen dem Tod zu entreißen und sie im Hunger zu nähren …“3
Er soll und muss also weiterblühen, der Bauerngarten der Volksfrömmigkeit, auch in neuen Formen, aber man darf nicht auf das Unkraut vergessen, und dass die wuchernden Stauden den Blick auf das Eigentliche des christlichen Glaubens nicht verstellen dürfen.
Vor einiger Zeit ist in Österreich eine Befragung durchgeführt worden (Europäische Wertestudie), in die einige Tausend Katholiken einbezogen waren. Man hat diese Leute gefragt, was sie mit dem Begriff Kirche alles verbinden. Dazu bot man ihnen eine Reihe von Kombinationen an. Auf die Kombination „Kirche – Zukunft“ haben ganze drei Prozent bekannt, dass sie diese Begriffe miteinander verbinden würden. Ich bin mit allen Statistiken, die das Innere des Menschen betreffen, immer sehr vorsichtig gewesen. Aber zum Nachdenken bringt es einen doch, dass heute mit dem Begriff „Kirche“ Zukunft kaum verbunden wird. Unter Papst Johannes XXIII. war Kirche eindeutig mit Zukunft verbunden. Heute ist es anders. Das mag verschiedene Gründe haben. Ein Grund ist sicher, dass an den Steuerrädern und Kommandostellen der Kirche durchwegs ältere Herren tätig sind. Da ist es verständlich, dass der Blick eher zurückgewendet ist. Das gehört irgendwie zum Altwerden dazu. Man unterliegt auch der Gefahr einer Vergangenheitsverklärung. Gesundbleiben und Altwerden ist nicht nur ein biologischer Vorgang, sondern ist auch wesentlich bestimmt von einer geistigen Einstellung. Es gibt jugendliche Greise und greise Jugendliche. Ich weiß, dass hier eine ganze Reihe jugendliche Greise sind. In meiner Diözese sterben wenige am Pensionsschock. Das hat auch Vorteile.
Mir sind von früher her Werke von Futurologen bekannt. Futurologie ist eine sehr vielseitige Wissenschaft. Man kann aber viel weniger voraussagen, als man gemeinhin meint. Man kann wohl technische Dinge voraussagen, die Ressourcen der Erde berechnen, Bevölkerungspyramiden erstellen und auch herausarbeiten, was für soziale Probleme darin liegen. Aber schon bei der Wirtschaft wird man ganz vorsichtig. Wie oft müssen doch wirtschaftliche Daten korrigiert werden. Man kann in Italien und auch in Österreich mit relativ gesicherten Verhältnissen doch nicht alles voraussagen. Die Wissenschaft von der Zukunft ist sehr zurückhaltend, besonders in Bezug auf die Vorhersage geistiger Entwicklungen. In diesem Bereich kann man fast nichts voraussagen. Hier ist alles viel unsicherer als die Wettervorhersage. Die in den letzten Jahrzehnten erfolgten Veränderungen in der Kirche hätten wir nie voraussehen können.
Aber diese Zurückhaltung gegenüber allen Aussagen über die Zukunft heißt nicht, dass wir nicht nach vorne schauen können. Wir haben eine Zukunft und wir haben eine Verantwortung für das Morgen. Die Frage für das Morgen, die wir heute zu beantworten haben, heißt: Was will der Herr, was will Christus, was ist der Wille Gottes? Manche stürzen sich zur Beantwortung dieser Fragen auf Privatoffenbarungen aller Art. Ich habe keine, und ich werde dem lieben Gott auch nicht böse sein, dass ich keine habe.
Was bleibt uns zur Erforschung des Willens Gottes? Es bleibt uns erstens sein Wort und das Dogma, das die Offenbarung – sein Wort – zu fassen versucht hat, damit es nicht verloren geht. Das Zweite ist die Situation. Auch durch die Situation spricht Gott zu mir. Schließlich unterliegt alles der Vorsehung.
Im Licht des Wortes Gottes gibt es auch Traditionen, gewachsene Dinge, die kein Mensch so ohne weiteres über Bord schmeißt, von denen man aber sagen kann, sie sind gewachsene Dinge. Sie waren sehr oft eine Antwort auf eine Situation, die anders war als die unsrige. Da gilt es abzuwägen, was anders geworden ist, wo heute die Gewichte liegen. Die Situation ist in der Welt nicht überall gleich. Selbst in Nord- und Südtirol gibt es unterschiedliche Voraussetzungen. Anderswo sind die Unterschiede noch größer.