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Mit 90 Jahren blickt Bischof Reinhold Stecher auf ein bewegtes Leben zurück. In seinen neuen, bisher unveröffentlichten Erzählungen erinnert sich an Not und Elend in der Zeit von Diktatur und Krieg, an Begegnungen und Fügungen, aber auch an Heiteres und Skurriles. Und er illustriert diese Begebenheiten selbst in seinen ausdrucksstarken Aquarellen. In gewohnt nachdenklichen wie auch humorvollen Art und Weise verbindet er seine persönlichen Erlebnisse mit leisen, leicht verständlichen und zu Herzen gehenden Worten der christlichen Verkündigung - und zurück bleibt die Gewissheit: Das Leben ist ein Geschenk. Erstmals erzählt Stecher in diesem Buch, wie er mehrmals nur knapp dem Tod entkommen ist: im Innsbrucker Polizeigefängnis, in der Kaserne von Werschowitz (Prag), in den Wäldern am Ilmensee (Karelien) oder später bei einem Lawinenabgang im Hochgebirge. Er denkt zurück an seine Studienzeit, an die Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen, bei denen er als Lehrer und später als Bischof "in die Schule ging". Es ist ein dankbarer Blick zurück auf ein Leben, in dem der Autor die Barmherzigkeit Gottes ausmacht, "eine Liebe, die stärker ist als der Tod". "Aber es gibt kein Licht ohne Schatten", schreibt der Innsbrucker Altbischof mit sorgevollem Blick auf die heutige Situation der Seelsorge. Die Verantwortlichen in der Kirche, vor allem jene, die am Pflichtzölibat festhalten, lädt er ein, mit Christus über den See zu fahren und sich auf die Stelle bei Markus zu besinnen, in der es heißt: "Als er ausstieg, sah er die große Menschenmenge und wurde von Mitleid ergriffen. Denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben ..."
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Seitenzahl: 96
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Reinhold Stecher
Spätlese
Mit Aquarellen des Autors
Tyrolia-Verlag · Innsbruck–Wien
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Foto am Schutzumschlag: © Eric Lichtenscheidt, Bonn, anlässlich der Verleihung des
ökumenischen Predigtpreises 2010
Lithografie: Artilitho, Lavis (I)
Druck und Bindung: Gorenjski Tisk, Kranj
ISBN 978-3-7022-3235-1 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3236-8 (E-Book)
E-Mail: [email protected]
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Vorwort
Das Lied der Lieder
Als die Zillertalbahn nach Ramuschewo fuhr …
Heizmaterial
Die Goldene Stadt
Ein altes Lied berührt mich noch immer
Das Trauma
Die stille Reise in das weite Land des Geistes
Das Schwindelmanöver
Ich bin bei Kindern in die Schule gegangen
Kinderzeichnungen
Einiges haben mir Jugendliche beigebracht
Wienaktion
Fenster in die Welt
Schatten gibt es immer
Die Lawine
Balkongedanken
Dieses kleine Buch ist eine Spätlese. Ich lasse auf den herbstlichen, stillen Wassern bunte Blätter vorüberziehen, wie sie im Lauf des Lebens von den Bäumen gefallen sind.
Da sind die dunklen, schwarzbraunen der Not und des Elends, bei deren Anblick man froh ist und verwundert, dass man’s überlebt hat und dass in allem Frust immer etwas da ist, das größer ist als alle Verhängnisse des Lebens.
Und da sind die vielen, vielen hellen Blätter freundlicher Erinnerungen, die das Leben reich und erfüllt gemacht haben, in völlig unverdienten Begegnungen und Fügungen, und immer wieder flüstern die Wellen der Zeit, die sie tragen, dass alles Gnade ist.
Und da sind manchmal auch die grell-bunten übermütigen Blätter, die Erinnerung an Heiteres und Skurriles, um die man auch so froh sein muss, weil der Humor ein Gruß ans Dasein ist.
Es geht uns allen gleich. Viele Leserinnen und Leser werden Ähnliches, Schwereres und Bedeutsameres als ich erlebt haben. Und in einer stillen Stunde des Daseins oder einer rückblickenden Spätlese kann man doch erfahren, dass das Leben ein Geschenk ist.
Eine der schönsten Dichtungen der Bibel ist das Schir ha-Schirim, das Hohe Lied der Liebe. Ich möchte es für die „Spätlese“ als Ouvertüre wählen.
Die markante Spitze des Brandjochs stand im letzten Abendlicht. Ich kannte ihn gut, diesen Eckpfeiler der Nordkette, mit dem weiten Blick über die Stadt und das Tal. Und jetzt war dieser stolze Gipfel in der verglühenden Sonne wie ein steinernes Symbol der Freiheit und der Hoffnung, der einzige Fleck meiner lieben Heimat, den ich sah. Und dieser winzige Ausschnitt grüßte durch die Gitter des winzigen Kerkerfensters des Gestapogefängnisses. Und ich habe an diesem Abend wirklich geglaubt, dass ich das Brandjoch zum letzten Mal sehen durfte. Denn unmittelbar vorher hatte man mir mitgeteilt, dass ich am nächsten Tag für den Transport ins Konzentrationslager Dachau eingeteilt sei. Der Freitag war immer der gefürchtete Tag der Transporte. Da wurde man zu zweit zusammengefesselt, auf den Bahnhof transportiert und dann in einem Viehwaggon verliefert.
Nach dem Krieg hatten ja viele gesagt, sie hätten von den Konzentrationslagern nichts gewusst oder nur verschwommenharmlose Vorstellungen gehabt. Bei manchen mag das stimmen – ihr Gewissen surfte nur noch auf den Riesenwellen der allgegenwärtigen Propaganda –, aber für eine sehr große Anzahl stimmte das nicht. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Man wusste von Zügen mit Juden, die an den allgemeinen Bahnsteigen vorbeigeschleust wurden und deren Fracht in diesen Lagern verschwand. Aber man wollte es andererseits nicht wissen. Es war ja „eine so große Zeit“. Und wenn sich da wer entgegenstellte – nun ja, dann flogen eben Späne. Und so hat man weggesehen und verdrängt und vergessen und am Schluss nichts mehr gewusst.
Sonne über dem Brandjoch
Aber wir haben damals genau gewusst, was das KZ ist. Wir – die Studenten der Theologie in den ersten Semestern und Mitglieder der geheimen Jugendgruppen. Mein Volksschulkatechet Otto Neururer war schon ermordet worden. Und wenn man – selten – einen sah und kannte, der vom KZ zurückkam, dann war er ein verhärmter, abgemagerter Mann und ein großer Schweiger, den man auch nicht fragen durfte. Jede Auskunft hätte für ihn den Tod bedeutet.
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