Mit Otto aufs Land - Eva Andorn - E-Book

Mit Otto aufs Land E-Book

Eva Andorn

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Beschreibung

"Wir hatten keinen Plan. Nicht von Hundeerziehung, nicht von Ölheizungen und Sickergruben, vom Holzhacken oder Kaminanfeuern oder Hühnerhalten." Ein Paar, Anfang fünfzig, Stadtmenschen und Hundeanfänger, zieht mit Leonberger-Welpe Otto aufs Land, in ein kleines Dorf in der Prignitz, Deutschlands am dünnsten besiedelter Region. Von Erziehungsversuchen und der Übermacht des Unkrauts, von Widrigkeiten und Staunen, Verzweifeln und Lachen erzählen diese Kurzgeschichten, mal heiter, mal nachdenklich. Der kleine Hund ist stets dabei und macht sich "nützlich", ob im Beet oder im Haus ...

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Über dieses Buch

Ein Paar, Anfang fünfzig, zieht von Berlin nach Brandenburg – in ein 40-Einwohnerdorf in der Prignitz, Deutschlands am dünnsten besiedelter Region. Beide haben keine Erfahrung mit dem Landleben. Kurz vor dem Umzug kommt Leonberger-Welpe Otto dazu – von Hundeerziehung haben beide auch noch keine Ahnung.

Alles ist neu, alles muss sich einspielen. Wie sie und Hundekind Otto dies meistern und ob es die richtige Entscheidung war, aufs Land zu ziehen, davon erzählt dieses Buch, mal heiter, mal nachdenklich.

Über die Autorin

Die Autorin hinter dem Pseudonym Eva Andorn, Jahrgang 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie ist ausgebildete Sprach- und Literaturwissenschaftlerin, PR-Beraterin und Lektorin und lebte in Bonn und Berlin, wo sie unter anderem für verschiedene Redaktionen tätig war. Nach mehr als zwanzig Jahren in der Hauptstadt zog es sie aufs Land. Sie lebt mit Mann, Hund und Hühnern in einem Dorf in der Prignitz/Brandenburg. Wenn sie nicht gerade selbst schreibt, arbeitet sie als freie Lektorin.

Inhalt

Ein Kasten Bier

Bekannt wie’n bunter Hund

Weicheier

Probezeit

Anfängerrasse

Liebes Haus

Klassenclown

Wissen aller Art

Naturgewalt

Weltentdecker I – Natur für Anfänger

Kontrollfreak allein zu Haus

Raunächte

Schlundfleisch & Hühnerfuß

Moorloch

Goldi muss gehen

Vier Räder für ein Halleluja

Wehwehchen rund um Magen und Darm

Früher war hier nur Sterben

Weltentdecker II – Staunen mit Hund

Frühling, Alter!

Ich bin kein Mensch für die Anzucht

Soundtrack

Wildwasserbahn und Wellness

Immer was los

Freiheit oder Vogelfutter

Kleiner Großer

Die Winter sind hart, die Sommer lang

Epilog – Spätsommer

Quellen

Dank

Und sonst?

Ein Kasten Bier

Noch zehn Tage bis zum Umzug. Otto, unser Hundekind, hilft mir beim Packen. Während ich einen Karton auseinanderfalte, steckt Otto seine Zunge in die Tragegrifföffnung eines fertig gepackten Kartons und fängt an, eifrig zu schlecken. Etwas Rotes wird eingespeichelt, und als er das Rote durch die Öffnung zu zerren versucht, erkenne ich den Ärmel meines Lieblingspullovers. Demnächst also vielleicht Lieblingspullunders.

Umzug mit einem Welpen, genial. Otto ist ein Leonberger, also ein Riesenbaby. Er ist fast viereinhalb Monate alt und wiegt dreiundzwanzig Kilo. Seine Pranken lassen schon erahnen, dass er ein sehr großer Hund werden möchte.

Mein Mann, Marc, und ich hatten uns schon länger gewünscht, einen Hund aus dem Tierheim zu adoptieren, aber das hatte beim ersten Versuch nicht geklappt. Zwar hatten wir uns in einen mittelgroßen Straßenmix verguckt, doch meinte der Hundetrainer, nachdem er uns ein paar Mal beim Gassigehen beobachtet hatte: Wachhund mit Aggressionsstörung und Anfänger mit Stadtwohnung – ganz schlecht für alle Beteiligten.

Wir waren traurig, aber einsichtig und schoben das Thema auf. Zumal wir uns immer mehr wünschten, aus der Stadt wegzuziehen, gern aufs platte Land, so richtig raus. Also gab es zunächst viel zu überlegen, zu planen und zu tun, und von Kaufvertragsentwürfen, Gutachten, Besichtigungsterminen in unserer Wohnung, An- und Ummeldungen und sonstigen Vorbereitungen schwirrte mir schon beachtlich der Kopf.

Es war August, in zwei Monaten würden wir umziehen. Marc druckste herum und zeigte mir schließlich ein Foto: ein Wurf entzückender Fellknäuel. Lustige dicke Babygesichter.

„Ja, und?“, wollte ich wissen, leicht alarmiert.

„In Sachsen-Anhalt gibt es gerade einen Wurf Leonberger!“

Ich wusste, dass er die Rasse so schön findet, während es mich vor langhaarigen Fellmonstern graust. Beliebt bei U-Bahn-Fahrten an Regentagen: ein nasser, stinkender Megazottel, der den ganzen U-Bahn-Wagen in seinen brackigen Dunst einhüllt. Hilfe! Wenn es schon um Rassehunde geht, dann wäre ich sofort beim Dobermann: beeindruckend groß, elegant, kurzfellig, sabbert nicht.

Ich versuchte, auf Zeit zu spielen.

„Wir ziehen bald um, da ist hier doch nur Chaos, wollen wir das einem Welpen zumuten? Und dann vor allem den Umzug? Und ich drehe auch ohne Hund bald durch. Sowas muss man doch vorbereiten!“

Marc konterte: „Wir hätten ja noch Zeit, uns vorzubereiten und alles Wichtige zu besorgen, wir können ihn ja sowieso nicht beim ersten Kennenlernen mitnehmen. Aber wir müssen uns schnell entscheiden: Die ersten Wochen sind doch so wichtig, die Prägephase, später macht es keinen Sinn. Und bis dann der nächste Wurf da ist … Willst du noch ein Jahr warten? Außerdem ist es doch toll, wenn der Kleine mit uns aufs Land zieht, wo er ganz viel Platz hat und ‘nen eigenen Garten.“

Ja, ich hätte gut noch ein Jahr warten können. Und woher wusste er was von „Prägephasen“? Er hatte sich offensichtlich vorbereitet auf meine Angst vor Neuem und speziell vor zu viel Neuem gleichzeitig. Ich setzte gerade zu einer Antwort an, da holte er noch einen Trumpf aus dem Ärmel:

„Das ist übrigens ‘ne Anfängerrasse!“

Lieb, gutmütig und pflegeleicht seien die.

Also ließ ich mich auf einen Besuch ein.

„Das verpflichtet uns noch zu gar nichts“, laut Marc.

Bei den Züchtern im Garten legten riesige Tiere mit gigantischen Köpfen ihre Pfoten auf das Tor zwischen ihrem Auslauf und uns, wedelten freudig mit ihren buschigen Schwänzen und ließen sich ausgiebig hinter den Schlappohren kraulen. In einem abgetrennten Bereich dösten drei wuschelige Knäuel. Die kamen neugierig angetapst und beschnupperten uns, ließen sich streicheln und dösten weiter. Marc war begeistert. Auf einem kurzen Spaziergang besprachen wir uns. Marc hatte sich in das Kerlchen verguckt, das ihn am ausgiebigsten beschnüffelt hatte, Otto. Während ich, wenn überhaupt, zu dem Bruder tendierte, der aus dem Stand in den Schlaf umgeplumst war. Fraglos süße Biester. Und Marc war so aufgeregt und freute sich so sehr, also warf ich meine Skepsis über den Haufen. Zwei Wochen später würden wir den Kleinen abholen.

Zehn Kilo wogen die Welpen, und ich stellte mir vor, dass das bei akutem Harndrang so werden würde, als müsste man flott einen halben Bierkasten die Treppe nach unten in den Hof tragen. Denn Treppen hinauf- und vor allem hinuntergehen sollen Welpen ja nicht, zumindest nicht zu oft.

Die nächsten zwei Wochen rotierten wir und entdeckten ganz neue Welten, vor allem im Kleintiersupermarkt. Ob Bettchen, Shampoo, Bürsten, Spielzeug, Futter oder Leckerlis von Fischhaut bis Schlundfleisch, alles gab es in einem leicht überfordernden Ausmaß. Wir lasen uns ein, kauften ein, stellten Möbel um und verschlossen Steckdosen. Marc baute ein Notfallhundeklo aus einem Quadratmeter Kunstrasen auf dem Balkon.

Als wir den Kleinen abholten, hatte er sich auf fast einen ganzen Kasten Bier verdoppelt: Er wog bereits achtzehn Kilo. Sein Bettchen beschnupperte er, zog es aber tagsüber meistens vor, irgendwo auf dem Boden zu liegen, Hauptsache, alles im Blick. Gern im Bad auf den kühlen Fliesen, bei geöffneter Tür, sodass ich mich mehrmals zu Tode erschrak, als ich nichtsahnend das Licht anmachte und da was Großes lag.

Die ersten Tage war er noch etwas zurückhaltend, aber ganz schnell forderte er Spiel und Kuscheln ein, tappte uns hinterher, wollte überall dabei sein und war kaum müde zu kriegen (von wegen Welpen schlafen fünfzehn bis zwanzig Stunden am Tag). Aufs Klo musste er ständig, und es dauerte etwa eine Woche, bis er nicht mehr hauptsächlich aufs unversiegelte Parkett urinierte. Wir rannten ständig mit Lappen, Küchenrolle, Essigreiniger und Parkettpflege durch die Wohnung. Wir saugten, wischten, rollten mit der Fusselrolle, wuschen Decken und Handtücher und wieder von vorn.

Ich möchte „Hundepapst“ Martin Rütter widersprechen, der als praktische Eigenschaft langhaariger Hunde erwähnt, dass sich ihre ausgefallenen Haare zu gut sichtbaren Knäueln sammeln, die man nebenbei auflesen kann. Der kleine Otto jedenfalls verursachte nicht nur solche Haarnester, sondern ließ auch überall unzählige einzelne Haare herumfliegen, und wir klaubten sie aus Unterhosen, von der Zahnbürste, aus dem Kaffee.

„Mit den Haaren können wir später die Maulwürfslöcher verstopfen, soll ja helfen“, sagte Marc, der in Bezug auf Otto doch stets etwas Positives findet.

Manchmal fragte ich mich in den ersten Wochen, ob ich eine gute Hundemutter sein könnte, ich fühlte mich die meiste Zeit einfach überfordert. Würde ich das Kind lieben können?

Als hätte er den Mutterinstinkt, perlte vieles an Marc ab, die schönen Momente überwogen Stress und Sorgen. Dabei war er es, der zehn Nächte lang im Wohnzimmer bei Otto kaum ein Auge zutat, da der Kleine sich auch im Schlaf ab und zu per Zunge oder Pfote versicherte, ob der Zweibeiner noch da war, und da er Otto auch nachts die Treppen nach unten tragen musste.

Wir waren beide ständig müde, und wenn wir wach waren, helikopterten wir um das Hundebaby herum. Versuchten, seine Geräusche zu interpretieren, an seinem Kot abzulesen, ob es ihm gutging, lauschten seinem Atem, wenn er schlief und gaben uns Mühe, ihm erste Kommandos beizubringen. Der Kleine lernte schnell, als Erstes „Sitz“ und „Platz“, was wir in „Platsch“ umtauften, das Geräusch, das er macht, wenn er vor Müdigkeit umfällt. Wir tauschten Decken aus, kauften neues Spielzeug und stellten ihn vom „Kennerfleisch“ auf schwedisches Welpentrockenfutter um.

Das Vorumzugschaos scheint Otto gar nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil: Er will überall „mithelfen“.

Das Wohnzimmer sieht nun aus wie eine seltsame Christo-Installation. Eine Wand aus Umzugs- und Bücherkartons vorm leeren Regal. Eine Kartonwand vor dem Fenster. Dazwischen in Knallfolie eingewickelt mehrere Bilder, Sesselbeine, eine Glastischplatte und eine Stehlampe. Es gibt Schneisen zum Balkon und zum Sofa. Das Sofa ist unsere kleine Rettungsinsel. Hier liegen wir nun, Marc und ich, im rechten Winkel zueinander, fast Kopf an Kopf. Seit Otto Einzug gehalten hat, macht auch Marc täglich einen Mittagsschlaf. Er will sich nur kurz hinlegen und verlässlich fallen ihm die Augen zu. Er atmet schon ganz ruhig. Ich starre auf das Chaos um uns herum. Das Parkett ist fleckig, und es riecht nach Essigreiniger. Auf meiner Decke wimmelt es von Hundehaaren.

Da kommt das Fellbündel etwas ungelenk um die Ecke getrabt – gerade aufgewacht, geschüttelt, geprüft, wo wir sind, ah, sehr schön, Gruppenkuscheln. Mit einem Hüpfer ist Otto auf dem Sofa, natürlich zwischen unseren Köpfen. Er schleckt mir einmal über Wange und Nase, bettet das Köpfchen zwischen seine Vorderpfoten und schmatzt kurz, dann höre ich auch von ihm regelmäßige Atemzüge. Es stinkt, aber es ist gemütlich und gerade sehr friedlich. Ich lehne meinen Kopf an das warme, weiche Fell, spüre den Puls des Kleinen und schließe die Augen.

*

Bekannt wie’n bunter Hund

Im Laufe weniger Tage schon wurden wir mit Hundekind Otto ein bisschen berühmt im Kiez, standen auf einmal im Fokus unserer Nachbarschaft. Als wäre permanent ein Scheinwerfer auf uns gerichtet. Spot on: die Hundeanfänger mit ihrem Riesenbaby!

Die Anonymität der Großstadt hatte mich nie besonders gestört. In dem Haus, in dem wir zuletzt fast sechs Jahre lang wohnten, kannten wir immerhin die meisten Nachbarn, man half sich mal mit einem Ei oder einer Bohrmaschine, plauderte kurz im Treppenhaus. Die weiteren etwa achtzig Menschen in den angrenzenden Häusern, die auch zu unserem „Block“ gehörten – da war ich komplett aufgeschmissen, was auch an meinem extrem schlechten Gedächtnis für Gesichter liegen mag.

Nun hatte das Hundebaby Einzug gehalten, und auf einmal waren wir bekannt bei Zwei- und Vierbeinern, die uns vorher nie aufgefallen waren, umgekehrt wohl genauso wenig.

Das fing an bei den Lieblingskumpels und ersten Verliebtheiten unseres Hundes, zwangsläufig kamen wir mit den jeweiligen Frauchen und Herrchen ins Gespräch.

„Was, Sie wohnen auch hier? Nie gesehen!“

Bald winkten wir uns schon von weitem.

Otto hatte zwei Lieblingsspielkameradinnen. Eine war die Zwergpinscherdame aus unserem Haus, handtaschengroß. Mit der Besitzerin hatten wir bisher nur Kontakt in Form von „Hallo“ und Türaufhalten gehabt. Nun waren wir wie Mütter am Sandkasten, wenn die Kleinen zusammen spielten. Otto war schon viel größer als die Pinscher-Freundin, was diese aber durch Mut und Spielfreude wettmachte. Wenn sie ihn aus fünfhundert Metern Entfernung sah, kam sie schon angeschossen.

Dann war da noch eine bezaubernde, fluffige weiße Pomeranian-Hündin, ausgeführt von einem armenischen Rentner, der stets sehr höflich war und erzählte, dass er schon lange Jahre in der Gegend lebte. Seine kleine furchtlose Hündin schlang gern ihre Vorderpfoten um Ottos Hals, die beiden sahen lustig aus zusammen – wo die Liebe hinfällt.

Einen richtigen Raufkumpel hatte unser Kleiner natürlich auch, eine schwarze Französische Bulldogge, gut erzogen, mit nettem jungem Herrchen.

Wir haben ja den Verdacht, dass Otto sich selbst für einen kleinen, filigranen Hund hielt.

Abgesehen von seinen Freunden waren für Otto auch fast alle anderen Vierbeiner interessant. Es kam vor, dass ein anderer Hund nicht mit ihm spielen wollte oder sollte, zum Beispiel ältere Hunde, die keine Lust mehr hatten auf wildes Raufen, oder kleinere Hunde, die Angst hatten, oder Dackel. Dann brauchte Otto einen Moment, damit klarzukommen – waren doch alle so spannend und potenzielle Kumpel, bis auf die Dackel.

Ottos unbändige Neugier und Aufgeschlossenheit führten manchmal zu kuriosen Szenen, und der Weg zum Kiosk, der in fünf Minuten zu Fuß zu bewältigen wäre, konnte mit dem Welpen eine halbe Stunde dauern: Eines Vormittags schienen sämtliche Hunde unseres Kiezes unterwegs zu sein. Egal, wohin ich schaute und mich wandte, es waren Hunde in Sichtweite. Von wegen entspannte Gassirunde. Unser Kleiner setzte sich alle paar Schritte hin, beobachtete, war aufgeregt, wollte losspringen – spielen! Da kam auch noch, schon von der anderen Straßenseite winkend, der nette junge Typ mit dem Mastiff, etwa in Ottos Alter. Otto saß, guckte etwas angespannt, wollte gern hin, benahm sich aber. Der andere saß wie versteinert da und starrte. Wir Zweibeiner plauderten kurz, mit etwas Abstand, um die Hunde nicht durch den nahen Reiz des anderen zu überfordern, das Übliche („Wie klappt’s mit der Erziehung?“ „Naja, mal so, mal so.“ … „Immer noch Trockenfutter?“). Es ging gut. Die Lage war entspannt, so unser Eindruck, und wir versuchten, aneinander vorbeizukommen. Da hatten wir nicht mit unseren Viechern gerechnet. Abwechselnd: „Na komm, wir gehen jetzt!“ Hund blieb sitzen. „Na komm!“ Na gut, ein Meter, und wieder hinsetzen. „Komm! Ach, was ist denn heute wieder mit dir los?!“ Ich freute mich still, dass es mir nicht allein so ging.

Um die Ecke wartete schon ein Spanielmix, die beiden beschnüffelten sich freundlich. Austausch mit Herrchen. Unser Geplauder muss auf Außenstehende wie eine Art Contemporary Dance mit eigenwilliger Choreografie gewirkt haben, mit Umeinandertänzeln und -greifen, um die Leinen zu entwirren.

Wir bekamen in den Stadtwochen nicht nur von anderen Hundehaltern Zuspruch – der Kleine zauberte allen Menschen ein Lächeln ins Gesicht. Spot auf Otto, immer sachte gepudert mit rosa Einhorn-Glitzerstaub.

Coole Jungs sprachen uns an, wie groß Otto noch werde, und staunten mit offenen Mündern. Ein Radfahrer stoppte abrupt an der für ihn grünen Ampel, um mich zu fragen, was das denn für eine Rasse sei. Die Bauarbeiter an der Ecke gerieten ins Schwärmen. Kinder riefen: „Der ist ja sooooo süß, darf ich den mal streicheln? Oh, ist der weich!“, und eine alte Dame blieb stehen und klatschte in die Hände. „Ein Leonberger!“, rief sie verzückt, und: „Der ist ja so hübsch! Diese Maske!“ Wir waren ganz stolze Eltern. Ein älteres Paar berichtete verträumt, dass sie selbst mal einen Leo hatten und wie schön die Zeit mit ihm war. Eine Frau beugte sich von ihrem Balkon und reckte den Daumen nach oben: „Eine tolle Rasse! Was für ein prächtiger Hund, herzlichen Glückwunsch!“ Was etwas seltsam war, wir haben ja nichts dazu beigetragen, dass er so ein hübsches Kerlchen ist.

Ob alt oder jung, Frau oder Mann, argentinisch, armenisch, deutsch, russisch oder ukrainisch – alle wirkten für einen Moment wie verzaubert, wenn sie auf das kleine Fellbündel trafen. Otto brachte Freude in die Welt.

Na gut, einmal traf ich beim Gassigehen auf eine Kindergruppe im Vorschulalter. Eins fragte doch tatsächlich die Erzieherin: „Ist das ein Kampfhund?“ Da mussten wir lachen, die Erzieherin und ich. Der flauschigste Kampfhund aller Zeiten.

Und dann gibt es, mit Bezug aufs Hundekind zum Glück selten, diese Menschen, die es schaffen, einen aus der rosaroten Idylle zu reißen. Schlagartig ist man zurück in der Realität übellauniger Großstadtbewohner. Manche guckten einfach komisch, starrten, nicht auf freundliche Weise. Vielleicht mochten die keine Hunde, hatten Angst oder fragten sich, was die offensichtlich inkompetente Hundehalterin mit dem Riesenvieh in der nicht artgerechten Stadtumgebung verloren hatte.

Einmal übte ich im Hof mit Otto, er fing an zu bocken, wollte nicht weiter und warf sich hin, mitten auf den Weg. Eine patent wirkende propere Frau um die sechzig, mit Kurzhaarschnitt und rosigen Wangen, verlangsamte ihre Schritte, grüßte knapp und streichelte Otto, natürlich ohne vorher zu fragen. Ich wartete auf die übliche Nachfrage nach der Rasse, dem Alter, dem Wuchs, ein Lob, eine Freude. Die Frau sah mich nur kurz an, runzelte die Stirn und sagte: „Na, Sie müssen noch viel lernen!“

*

Weicheier

Wir sind Hausherren. Vor einer Woche haben wir die Schlüssel übernommen für unser Fachwerkhaus in einem winzigen Dorf in der Prignitz, in der am dünnsten besiedelten Region Deutschlands. Wir, Marc und ich sowie unser nunmehr fast fünf Monate altes Leonbergerkind Otto, standen im Wohnzimmer und schauten uns ungläubig um. Selbst der Hund schien zu staunen.

„Irgendwann ziehen wir aufs Land!“ So fing das an, geht ja vielen so – wenn man mal wieder genervt ist von der Stadt mit den vielen Menschen, dem Lärm, dem Schmutz und Müll, überhaupt: dieser Veränderung, denn früher war ja alles besser – weniger, leiser, sauberer … Aber die meisten leben weiter in der Stadt. Weil Träumen manchmal reicht. Wenn man sich ärgert, aber sich kurz in ein vermeintlich idyllisches Landleben reindenken kann, dann muss man sich schon gar nicht mehr so sehr ärgern. Irgendwann …

Ich bin ein Träumer und ein „Irgendwann“-Typ. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie ich auf einer gepflegten Terrasse sitze, in einem bequemen Gartenstuhl aus zertifiziertem Holz, die Manufactum-Arbeitshandschuhe auf den Tisch lege, aus einem PANTONE-7467-C-farbenen Becher vom fair gehandelten Kaffee nippe und zufrieden, nach getaner Gartenarbeit, auf meine üppig blühenden und duftenden Rosen schaue.

Nun ist Marc eher ein Macher als ein Träumer. Sonst gäbe es Otto nicht in unserem Leben, hätten wir kein Kastenwagen-Wohnmobil und ein Haus schon gar nicht.

Wenn Träume schlagartig zu Realität werden sollen, wird mir erst mal angst und bange. Wie – jetzt? Wie soll das gehen? Da muss man doch ganz viel vorbereiten, ändern, sich fortbilden und überhaupt – wir haben doch gar keine Zeit!

„Irgendwann ziehen wir aufs Land, ja?“, äußerte ich einmal wieder. Die Dauerbaustelle nebenan nervte, ein Klavierschüler weiter oben in unserem Haus mit den papierdünnen Wänden übte zum einhundertsten Mal erfolglos den Anfang von „Freude schöner Götterfunken“.

„Wann willst du denn aufs Land ziehen?“, fragte Marc lauernd.

„Ja, pffffft, ich weiß doch noch nicht mal, wohin ich gern ziehen würde.“

Es war Oktober, und wir begannen zu überlegen, wo wir uns vorstellen könnten, zu leben und alt zu werden.

Ein altes Haus sollte es sein, keine neue Bodenversiegelung, kein gelecktes Neubaugebiet, Häuser in Reih und Glied, wo der eine dem anderen auf den Teller gucken kann. Wir wollten auch kein „Handwerkerobjekt“, an dem wir noch jahrelang amateurhaft selbst hätten herumsanieren müssen. Zumal wir beide schon Anfang fünfzig sind, da hat man ja schon Rücken und andere Zipperlein.

Ein Garten sollte es sein – Marc stellte sich schon Heimwerkerprojekte vor, ich träumte von Gemüsebeeten und bienenfreundlichen Blühstreifen.

„Im Osten ist alles irgendwie entspannter und freier“, sinnierte ein Freund, und wir stellten fest, dass es genau das war, was wir beide wollten. Also ab in den wilden Osten.

Wir fuhren im Novemberregen nach Brandenburg. Und verliebten uns gleich bei der ersten Hausbesichtigung. Ins Dorf mit seinem kleinen, von Efeu berankten verwunschenen Schloss aus rotem Backstein, eigentlich ein Herrenhaus, mit der mächtigen alten Eiche im Schlosspark, dem Schlossteich, in dem zwei Schwäne ihre Bahnen zogen. Mit Backsteinhäusern, Fachwerk, zwischendrin etwas auf den ersten Blick charmanter Verfall. Stellenweise Kopfsteinpflaster. Keins dieser schnurgeraden Brandenburger Straßendörfer, geduckte Häuser, ewig breiter Fußweg. In Felder, Wald und Wasser. Ins Haus und in den wilden Garten.

Das kam uns alles höchst unwahrscheinlich vor. Es musste einen Haken geben. Wir wollten alles richtig machen – ich hatte wirklich viele Folgen von „Die Schnäppchenhäuser“ auf RTL2 geschaut, wo man aus der Ferne wohlig schaudernd betrachten kann, wie sich Menschen zweifelhafte, kraft- und geldzehrende Bauprojekte antun. Wir kamen also wenige Tage nach der Besichtigung mit einem Baugutachter vorbei, und der hatte nichts Wesentliches auszusetzen. Wir fragten vorsichtig nach, warum unsere Vorbesitzerin das Haus verkaufte. Sie zöge zu ihren Kindern nach Bayern, sagte sie, allein könne sie in dem großen Haus nicht mehr wohnen. Es klang wehmütig. Traurig, aber für uns eine Erleichterung: Anscheinend spielten keine Gründe wie Nachbarschaftsstreitigkeiten oder ein geplanter Straßenausbau eine Rolle. Marc studierte Bebauungspläne, Katasterauszüge, ich recherchierte zu möglichen Reizbegriffen im Zusammenhang mit dem Dorfnamen, der Gegend. Aber nein, einen großen Windpark gibt es schon ein paar Kilometer weiter, es steht auch kein Autobahnausbau an. Unser Grundstück grenzt an ein Naturschutzgebiet. Es gibt auch keine Hochwassergefahr durch einen Fluss oder Bach in der Nähe.

Ein paar Tage Kribbeln, wie Verliebtsein. Warten auf ein Zeichen, nicht wagen zu hoffen, sich doch beim Hoffen ertappen. Dabei, wie ich in Gedanken schon die Räume einrichtete. Wir bekamen den Zuschlag.

Die Eltern äußerten Bedenken, unsere Freunde beglückwünschten uns, einer rief, dafür umso entschiedener: „Ihr seid ja bekloppt!“

Fast ein Jahr verging. Trotz aller Vorbereitungen erschien mir unser Umzug bis zuletzt fern und unwirklich. Und wenn ich die Vorstellung, in einem Dorf zu leben, an mich ranließ, war diese etwas bedrohlich. War das die richtige Entscheidung? Es gab keinen Weg zurück nach Berlin, wir könnten schlicht keine bezahlbare Wohnung mehr finden. Würden wir das schaffen mit Haus, Hund, Garten und den Hühnern, die unsere Vorbesitzerin uns zu überlassen gedachte? Würden die Nachbarn uns gut aufnehmen, würden wir Freunde finden? Uns ganz bald beide arg auf die Nerven gehen? Nähe und Zu-zweit-Isolation kannten wir zumindest schon vom Homeoffice und aus Pandemiezeiten.

Erst als siebzig Umzugskartons Einzug hielten, wurde der Schritt greifbarer. Planen, organisieren, räumen, träumen und streiten. Den Welpen versorgen, liebhaben und erziehen, nicht zu vergessen. Wobei wir die Erziehung in diesen Tagen vernachlässigten. Ich bastelte kleine Papiermöbel, die ich auf Grundrissvergrößerungen hin- und herschob. Aufbruchstimmung, wieder so ein Kribbeln, Ungeduld und auch Zuversicht.

Auf einmal fand alles zum letzten Mal statt, was weniger dramatisch war, als es klingt. Gute Freunde treffen, die uns bestimmt bald besuchen würden. Noch einmal shoppen. Und noch einmal der vermurkste Anfang von „Freude schöner Götterfunken“ …

Da sind wir nun, es ist wieder Oktober. Das Haus ist groß und es ist leer – die Möbel und Kartons kommen erst eine Woche nach uns. Wenigstens haben wir den Küchentisch und die Stühle übernommen. Den Rest improvisieren wir aus unserem Campingfundus. Der Wagen hat zum Glück auch einen Kühlschrank, so pendeln wir nun mehrmals am Tag Saft, Butter, Käse, Joghurt balancierend zwischen Wagen und Haus durch den Garten.

Wir putzen und malern uns durch jeden Raum, die Matratze wandert vom Wohnzimmer in die Küche ins Arbeitszimmer. Marc sieht mit seinen mattweißen Farbflecken im Gesicht und auf den Klamotten aus wie eine neue Spezies Albinomarienkäfer und flucht über die Abkleberei wegen der Balken. Ich breche den Schrubberstiel gleich an den ersten Fliesen ab und ekle mich vor Spinnweben, toten Insekten, dem Staub von Generationen auf Querbalken und den Hinterlassenschaften in den Ecken, alte Hundespielzeuge, Haargummis, Wattestäbchen und so fort.

„Lass das doch mit deinem Perfektionismus, wird doch sowieso wieder dreckig“, ruft Marc.

„Ja, aber dann ist es unser Dreck.“