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Für die Wirtschaftskrise werden wir noch lange bezahlen. Gier und Verantwortungslosigkeit haben sie verursacht. Aber niemand ist es gewesen. Und was ist mit dem Klimawandel? Und den Arbeitsbedingungen in China und Vietnam? Niemand ist schuld daran. Oder doch? Wie war das noch mit dem T-Shirt für 15 Euro? Tatsache ist: Unser Handeln hat Folgen - für die sind wir verantwortlich. Wir können aber weder die Welt retten, noch sind wir an allem schuld. Wie können wir also verantwortlich handeln in einer unüberschaubar gewordenen Welt? Die Autoren setzen sich grundlegend mit unserer Verantwortlichkeit auseinander. Mit der wünschenswerten Klarheit.
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Seitenzahl: 378
MICHAEL SCHELLBERG UNDMORITZ FREIHERR KNIGGE
MITRÜCKGRATSTEHTMANBESSER
DIE WELT, DAS LEBEN UND WAS MICH DAS ALLES ANGEHT
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-0295-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Den Menschen, die uns lieb und teuer sind und ohne die wir nicht das wären, was wir sind.
Wer hat Angst vor Verantwortung? Niemand! Und wenn sie kommt? Dann laufen wir!
Die weltweite Finanzkrise hat einen Scherbenhaufen riesigen Ausmaßes hinterlassen. Doch es findet sich fast niemand, der bereit wäre, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Während sich die Leistungsträger zu Zeiten des Erfolges auf den gesellschaftlichen Ehrentribünen drängelten, bleiben im Misserfolg die Anklagebänke leer. Der Erfolg hat ein Gesicht, der Misserfolg hingegen nicht. Seine Ursachen liegen angeblich im System. Wer den Schaden hat, hat sich blenden lassen. Wer ist dafür verantwortlich? Niemand! Wer hat mein Geld? Niemand! Wer gibt es mir wieder? Niemand!
Einen wunderbaren Vergleich zwischen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und der Irrfahrt des antiken Helden Odysseus hat der Philosoph Peter Sloterdijk gefunden. Der Sage nach machte Odysseus aus einem einäugigen und Furcht einflößenden Riesen einen blinden und verwirrten Riesen. Wie? Zunächst hatte er ihn geblendet und ihm dann auf seine Frage: »Wer hat mich geblendet?«, geantwortet: »Niemand!« – Odysseus und seinen Begleitern gelang unerkannt die Flucht.
Wer die Kunst, es nicht gewesen zu sein, beherrscht, der verschwindet auch heute noch in der weiten Ferne der Unbelangbarkeit. Jeder, vom Kleinkind bis zum Erwachsenen, versucht bisweilen, diese Kunst einzusetzen: »Ich? Nein! Ich war’s nicht!« Denen, die diese im Laufe der Jahrtausende gereifte Fertigkeit meisterlich beherrschen, ermöglicht sie mittlerweile noch viel sagenhaftere Taten, als einfältige Riesen zum Narren zu halten. Ähnlich abenteuerlich, aber mit weit abenteuerlicheren Folgen. Anders als bei Odysseus begegnen wir diesen Taten aber nicht mit Sympathie, sondern mit strikter Ablehnung.
Niemand übernimmt nirgendwo Verantwortung für die Wirtschafts- und Finanzkrise. Da stehen wir nun wie der geblendete und verwirrte Riese und fragen uns, ob das so sein kann, ob das so sein darf. Wenn wir uns das Schicksal des blinden und verwirrten Riesen zukünftig ersparen wollen, so schlägt Peter Sloterdijk vor, sollten wir uns an folgenden Grundsatz halten: Handle jederzeit so, dass du am Ende auf die Frage, wer es war, nie antworten musst: »Niemand war es!«
Wir – die Autoren – bekennen uns zu diesem Grundsatz, da er im Gegensatz zu den nicht enden wollenden gesellschaftlichen Verantwortungsdebatten keine vorschnellen Schlüsse zulässt. Er verlangt von uns nur eines: der Kunst, es nicht gewesen zu sein, mit der Kunst zu begegnen, es gewesen zu sein.
Von dieser Kunst handelt dieses Buch.
Viele Menschen haben uns im letzten Jahr gefragt, wovon es denn handele, unser neues Buch. »Verantwortung«, haben wir dann gesagt. Die Reaktion der Fragenden war meist die gleiche. Fast ein wenig mitleidig hieß es: »Oh, das ist aber ein weites Feld!« Dem konnten wir uneingeschränkt zustimmen. Ein sehr weites Feld.
Die Verantwortung hat es Menschen noch nie leicht gemacht, warum sollte es ausgerechnet uns, die über sie schreiben wollen, anders ergehen? Während ihre schillernde Schwester, die Freiheit, uns immer wieder einiges verspricht, verlangt uns die Verantwortung alles ab, wenn wir nach Antworten auf die Fragen suchen, die uns das Leben stellt. Und in der Tat gibt es Fragen, auf die wir Antworten gut gebrauchen könnten:
Was ist meine eigene Verantwortung? Es geht nicht darum, die Verantwortungslosigkeit unfähiger Politiker, gieriger Manager, unmoralischer Medienmacher oder fauler Lehrer anzuprangern. Wir müssen den Blick auf uns selbst richten.Wie weit geht meine persönliche Freiheit? Wir beschreiben eine Idee von Freiheit, die weiß, wo die eigene endet und die des anderen beginnt.Gibt es ein »richtiges« Maß für Verantwortung? Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie viel Verantwortung man Menschen zumuten und wie viel man ihnen zutrauen sollte.Was heißt eigentlich gebildet? Alle reden von Bildung. Wir auch. Und wir scheuen uns nicht, der Wissens- und Meinungsbildung die Charakterbildung zur Seite zu stellen.Verantwortung war nie eine leichtfertige, sie war stets eine ernsthafte Sache. Das zeigte uns bereits ein Blick ins sprachgeschichtliche Wörterbuch. Dort fanden wir für »Verantwortung« die sehr ernsthaften Erklärungen »Antworten geben« und »Einstehen müssen«. Damit war unser Weg vorgezeichnet: Wir stehen in der Verantwortung, Auskunft zu geben. Das werden wir auf den folgenden Seiten tun.
Wer zur Verantwortung gezogen wird, von dem wurden Antworten erwartet, die er nicht gegeben hat. Diesem Schicksal hoffen wir zu entgehen. Ein wenig Sorge, die richtigen Antworten zu geben und dafür auch noch einstehen zu müssen, hatten wir im Vorfeld schon. Doch je länger wir uns mit Verantwortung beschäftigten, desto deutlicher wurde uns, dass es zunächst weniger um Antworten geht als vielmehr darum, die richtigen Fragen zu stellen. Wir wollten wissen, was Verantwortung braucht, um lebendig zu werden:
Wer steht in der Verantwortung? Vor wem und für was? Wer muss für was in welchem Umfang einstehen? Wer wem worauf umfassende Antworten geben? Wer handelt verantwortungsbewusst, wer verantwortungslos? Wie viel Freiheit braucht Verantwortung, wie viel Verantwortung Freiheit? Wie weit reicht Verantwortung, wo ist ihr Anfang, wo ihr Ende? Ist Verantwortung teilbar? Lassen sich Verantwortlichkeiten noch eindeutig Personen zuordnen? Was lastet auf unseren eigenen Schultern, was auf denen unserer Mitmenschen und was auf den von uns geschaffenen Institutionen und Systemen? Und was in Gottes Namen haben wir alle damit zu tun?
Auf diese und weitere Fragen wollen wir unsere Antworten geben.
Michael Schellberg und Moritz Freiherr Knigge, Sommer 2010
»Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst.«
Heinz von Foerster
»Am Anfang war das Wort, und Gott war das Wort«, heißt es in der Bibel, und das Wort und die Antwort waren bei Gott. Doch die Antworten, die Gott und seine Vertreter auf Erden gaben, reichten den Menschen bald nicht mehr. Sie machten sich selbst auf die Suche nach Antworten, und was fanden sie? Die Verantwortung.
VERNUNFT STATT GLAUBEN. Nicht ganz zufällig erschien der Begriff Verantwortung im Zeitalter der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert erstmalig auf der Bildfläche. Der Mensch hatte sich aufgemacht, sich von göttlicher Bevormundung zu befreien. Martin Luther hatte ihn allein vor Gott gestellt, befreit von einer Institution, die sich nach Meinung vieler zu weit von Gottes überliefertem Wort entfernt hatte. Und es dauerte gar nicht lange, da sagten sich die Menschen, wenn schon allein, dann auch richtig, dann auch ohne Allmächtigen und dessen allumfassende Liebe und Strafe. Der bis dahin größte Verantwortungsträger wurde in den Ruhestand geschickt.
Das klingt übertrieben und womöglich ein wenig ketzerisch, wenn man bedenkt, dass immerhin eine Milliarde Menschen auf dieser Welt dem katholischen Allmächtigen noch heute die Treue halten. Dennoch stimmt es, insbesondere für Europa: Die Bitte um göttlichen Beistand soll in der europäischen Verfassung nicht mehr ausdrücklich erwähnt werden, und mehr als die Hälfte aller Europäer bezeichnen sich nicht mehr als praktizierende Christen.
Wir haben uns Gottes zwar nicht entledigt, ihm aber doch eine Nebenrolle zugewiesen. Wir wollen es einmal ohne ihn probieren. Ob das gut so ist, fahrlässig oder anmaßend, das soll uns zunächst nicht weiter interessieren. Wichtiger ist, dass wir nun selbst einzustehen haben für das, was wir tun oder unterlassen. Wir haben nicht nur vom paradiesischen Apfel gekostet, wir sind auf den Geschmack gekommen. Wir haben uns selbst an Gottes Stelle gesetzt und uns zugetraut, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Die ersten Antworten gaben die Denker und Reformer der Aufklärung, die ihren Zeitgenossen darlegten, wovon es sich zu befreien galt. Von Macht, von der Herrschaft der einen über die anderen. Von denen, die von Gottes Gnaden meinten, Menschen in Abhängigkeit halten und ihnen vorschreiben zu können, wovon, wie und wozu sie zu leben hatten. Adelige und Geistliche mussten den Wechsel von göttlicher Gnade zu menschlicher Gnadenlosigkeit während der Französischen Revolution am eigenen Leib erfahren und konnten auf dem Schafott nicht auf die Brüderlichkeit der Freien und Gleichen hoffen.
Ein neues Zeitalter brach an, das Zeitalter der Aufklärung. Es versprach ein helles Zeitalter der Vernunft zu werden, das die Dunkelheit des Mittelalters vertreiben sollte. Es verhieß einen freien, gleichen, brüderlichen, gewissenhaften und vernünftigen Menschen. Einen Menschen, der wusste, wovon er sich befreien und wozu er seine Freiheit nutzen wollte. Dem großen Freudenfest folgte – wen mag es verwundern – die erste Ernüchterung und eine Erkenntnis, die uns bis heute begleitet: Wer Freiheit wählt, der wählt Verantwortung gleich mit.
Davon wussten bereits die Urväter des freiheitlichen Denkens ein Klagelied zu singen. Denn obwohl sich unsere Ahnen nicht mehr vor Gott und seinen gestrengen geistlichen und weltlichen Stellvertretern auf Erden verantworten mussten, hatten sie sich von Anfang an mit der lästigen Frage herumzuplagen, wo Freiheit beginnt und wo sie endet. So umrahmte bereits der Philosoph Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts die frisch gewonnene Freiheit mit eindeutigen Bedingungen. Er rief dazu auf, sich um die »unschädlichste aller Freiheiten« zu bemühen, nämlich diejenige, »in allen Bereichen von seiner Vernunft umfassend Gebrauch zu machen«.
FREIHEIT UND VERANTWORTUNG. Hundert Jahre später war die Aufbruchsstimmung der Aufklärung bei Friedrich Nietzsche bereits einer tiefen Melancholie gewichen: »Gott ist tot! Wir aber sind frei: Was wisst ihr von der Qual der Verantwortung gegen sich selbst!« Auch die Einsicht von existenzialistischen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Jean-Paul Sartre, dass jede Situation, in die wir geraten, letztlich selbst gewählt sei, man jedoch immer die Freiheit besitze, sich zu entziehen, und sei es durch Zuhilfenahme eines Stricks, klang wenig tröstlich.
Da stand der Mensch nun mit seinem Gewissen, zur Freiheit verdammt, und wurde ständig daran erinnert, dass er sich für oder gegen Verantwortung entscheiden müsse. Und als reichte diese ständige Erinnerung noch nicht, da kam auch noch ein gewisser Max Weber um die philosophische Ecke und erklärte, es sei ja recht löblich, dass wir bereit wären, uns unserem Gewissen zu stellen, aber letztlich ginge es doch nicht um die Absicht, sondern vielmehr um die Folgen unserer Entscheidungen. Das wurde ja immer schöner! Dass Verantwortung lästig sein kann, war ja bereits bekannt, aber dass man als freier Mensch vom Regen der Verantwortung in die Traufe der Freiheit käme, war eine im höchsten Maße beunruhigende Nachricht.
Und je größer die Freiheit wurde, desto länger wurde der Schatten der Verantwortung. Es galt, selbstständige Antworten auf die Fragen nach einem geglückten Leben zu finden. Die Freude darüber, nun selbst zur letzten Instanz von Freiheit und Verantwortung geworden zu sein, wich allzu bald der Erkenntnis, dass es nicht unbedingt einfacher wurde mit dem Anspruch, sich jeden Morgen im Spiegel in die Augen sehen zu können.
Doch so leicht ließen wir uns nicht unterkriegen. Wir wollten unsere Freiheit in die eigenen Hände nehmen, und wir haben davon reichlich Gebrauch gemacht. Der menschliche Eigennutz wurde vom Makel des Sündhaften befreit. Mit der Marktwirtschaft haben wir ein System entwickelt, das ein wunderbares Versprechen gibt: jeder, wie er will, zum Wohle aller. Mehr Eigenliebe, gelenkt durch die unsichtbare Hand des Marktes, macht alle glücklich. Wohlstand und persönliche Freiheit waren nicht länger das Privileg der Privilegierten, sondern das Recht eines jeden:
Wir haben Staaten geschaffen, in der die Souveränität beim Volk und nicht in den Händen weniger liegt. Wir genießen Wahlfreiheit, wir können uns unsere Frauen, Männer, Freunde und Freundinnen selbst aussuchen, die Politiker und Parteien, die wir wählen, die Zeitungen und Bücher, die wir lesen, die Fernseh- und Radioprogramme, die durch unsere Wohnzimmer flimmern oder unsere Autos beschallen, die Produkte, die wir kaufen oder anbieten wollen, unsere Ausbildung oder unser Studium.Wir haben gut bezahlte Politiker und deren hochgradig spezialisierte und qualifizierte Staatssekretäre, um die Geschicke einer modernen Demokratie effektiv zu unserem Wohle zu lenken.Wir sind Bürger eines Staates, der uns Abwehrrechte gegen ihn selbst zusichert! Freie Meinung, freies Eigentum, freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit, freie Versammlung, die Freiheit vor Diskriminierung, betriebliche Mitbestimmung, freie Kunst, freie Wissenschaft, freie Berufswahl, das Postgeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung – alles inklusive.Wir gehören zu denen, die frei und gleich an Rechten und Würde geboren, mit Vernunft und Gewissen ausgestattet und einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen sollen, wie uns der Artikel 1 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« aus dem Jahre 1948 zu verstehen gibt.Wir haben die Idee des Eigennutzes eigenmächtig verfeinert, indem wir mit der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland eine Wirtschaftsordnung eingeführt haben, die freien Marktzugang, freie Preisbildung und Vertragsfreiheit garantiert, die sich selbst überlassenen Märkten nicht über den Weg, aber den auf ihnen handelnden Menschen einiges zutraut, um für mehr Wohlstand in unserem Lande zu sorgen.Wir haben ein soziales Netz der staatlichen Sicherung gespannt, das denjenigen, die nicht oder nicht mehr durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit bedingt am »freien Spiel der Kräfte« teilnehmen können, ein menschenwürdiges Leben ermöglichen soll.Wir haben eine rechtlich geschützte Pressefreiheit und in Deutschland neben dem privaten Fernsehen das gebührenfinanzierte Fernsehen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das sich auf einen Bildungsauftrag verpflichtet hat.Wir teilen die Vorstellung, dass freier Zugang zur Bildung die Selbstbestimmung des Einzelnen befördern soll und zu einer menschlicheren Gesellschaft beizutragen habe.Wir haben im Prinzip die Zukunft zur Richtschnur für die Verantwortung gemacht. Wir haben die Fragen, die einst ein Umweltminister in Turnschuhen stellte, ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Wir sind dabei, Antworten zu finden, wie wir den zukünftigen Generationen eine Welt überlassen können, in der nicht der letzte Baum gerodet wurde und die Staatsverschuldung noch mehr Nullen aufweist als ohnehin schon.Wir haben den Wissenschaften freie Hand gegeben, die sich mit unseren Nervensystemen beschäftigen. Biologen, Mediziner und Physiker erforschen die Mechanismen, die unsere Lebensvorgänge steuern, und wir erwarten von der Psychologie, den letzten unbekannten Winkeln unserer Seele auf die Spur zu kommen. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben wir mit der Untersuchung beauftragt, nach welchen Mustern wir unter welchen sozialen Bedingungen Entscheidungen treffen.Kein schlechtes Fundament: Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechte als Bedingungen eines freien Lebens. Wir waren wahrlich nicht untätig, um der Freiheit zu mehr Geltung zu verhelfen. Wir haben uns einiges zugetraut, und die Ergebnisse können sich sehen lassen. Und auch wenn die Menschheit im 21. Jahrhundert noch weit von paradiesischen Zuständen entfernt ist, so hat sie doch ein nicht unbedeutendes Stück auf ihrem Weg zurückgelegt. Wir haben die Idee von Freiheit und Verantwortung verallgemeinert, institutionalisiert, und wir leben diese Idee.
Da könnte man doch meinen, alles sei in bester Ordnung. In Ordnung vielleicht, aber in bester? Da sind wir in unseren Landen so frei wie vermutlich nie zuvor in unserer Geschichte, und trotzdem beschleicht uns bisweilen das Gefühl, es stimme etwas nicht, es laufe etwas aus dem Ruder. Finanzkrise, grenzenlose Gier, Politikverdrossenheit, Terrorismus, Amokläufe, Jugendgewalt, soziale Ungerechtigkeiten, vernachlässigte, misshandelte und verwahrloste Kinder, Menschenrechtsverletzungen und Hungerkatastrophen, Klimawandel und Umweltverschmutzung, religiöse Fundamentalisierung auf der einen und hemmungslose Spaßgesellschaft auf der anderen Seite.
Na ja, so ganz prima scheint es nicht zu laufen, allen unseren freiheitlichen Bemühungen zum Trotz. Woran liegt das? Haben wir etwas Wesentliches übersehen bei der Verwirklichung unserer freiheitlichen Bestrebungen? Haben wir den vollmundigen Versprechungen der Freiheit mehr geglaubt als den leidenschaftlichen Appellen an unsere Verantwortung? Haben wir es versäumt, unseren Freiheiten verantwortungsvolle Grenzen zu setzen?
Das kann doch gar nicht sein! Wir haben doch alles nach bestem Wissen und Gewissen organisiert. Wer würde ernsthaft behaupten, wir wären unserer Verantwortung nicht nachgekommen? Wir haben doch wirklich alles unternommen, um dem Einzelnen mehr Freiheitsräume zu geben, wir haben Verantwortung gesellschaftlich bestmöglich verankert und keine Mühen gescheut, den Möglichkeiten und Beschränkungen unserer Gehirne, Seelen und den sozialen Bedingungen unseres Handelns auf die Spur zu kommen. Jeder kann sich auf die ihm gegebenen Freiheiten konzentrieren, während gesellschaftliche Institutionen und Systeme in der Verantwortung stehen, diese Freiheiten zu schützen.
Vielleicht liegt genau hier der Kern des Problems. Vielleicht sprechen ja immer mehr Menschen von einer tief greifenden Verantwortungskrise, weil wir etwas getrennt haben, was zusammengehört: persönliche Freiheit und persönliche Verantwortung. Vielleicht haben wir bewusst oder unbewusst einen Zustand der Unverbundenheit geschaffen, in dem sowohl die Freiheit unseres Willens als auch unser Wille zur Verantwortung zusammenschrumpfte.
Warum soll ich mir Gedanken darüber machen, weshalb die Wahlbeteiligung immer neue Tiefstände erreicht, wenn die Profis in den Parlamenten überhaupt nichts mehr von den Sorgen und Nöten ihres Wahlvolkes wissen?
Was kann ich dafür, wenn es in den Medien weniger um die Wahrheit als um öffentliche Empörung geht, weil sich damit höhere Quoten und Auflagen erzielen lassen?
Was hat das mit mir zu tun, wenn Sportler meinen sich dopen zu müssen, um erfolgreich zu sein, und auch noch so dämlich sind, sich dabei erwischen zu lassen?
Ich bin nicht verantwortlich dafür, leere Flaschen vom Bürgersteig zu räumen, öffentliche Toiletten sauber zu hinterlassen oder für die schulischen Leistungen meiner Kinder. Wozu gibt es denn die Müllabfuhr, Reinigungskräfte und Lehrer? Warum ein Problem direkt mit dem Nachbarn ausräumen, wenn ich auch Anzeige gegen ihn erstatten kann? Warum kein halbes Hähnchen für 1,99 Euro kaufen, wenn es zu diesem Preis angeboten wird? Warum soll ich bei Pöbeleien in der U-Bahn einschreiten, wenn überall Security herumläuft? Außerdem bezahlen wir die Polizei mit unseren Steuergeldern! Warum jemandem meinen Sitzplatz anbieten, wenn dieser nicht ausdrücklich für ältere oder behinderte Menschen gekennzeichnet ist?
Geht uns das alles vielleicht wirklich nichts an, weil wir über gar keine echte Willensfreiheit verfügen? Die Forscher sind bestimmenden Faktoren auf die Spur gekommen, die unseren Köpfen und Herzen vorgeben, was wir zu tun und zu lassen haben:
Da sind die Neurowissenschaften so frei, unsere lieb gewonnenen Freiheitsspielräume lediglich als Folge biochemischer Prozesse zu interpretieren. Gerhard Roth, einer ihrer führenden Vertreter, ist überzeugt: In spätestens zehn Jahren wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass es Freiheit im Sinne einer subjektiven Verantwortung nicht gibt.Da sind Sozialwissenschaftler so frei, die soziokulturellen Bedingungen – die Erfahrungen, Werte, Symbole und Institutionen unserer Gesellschaft –, die unser Handeln prägen, in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken.Da kommen Wirtschaftsethiker wie Karl Homann zu der Überzeugung, dass der »Ort der Verantwortung« nicht beim Einzelnen zu suchen sei, sondern in den Regeln der jeweiligen Systeme wie Wirtschaft, Politik, Medien oder Familie. Wir haben gesellschaftliche Systeme geschaffen, die immer weniger als willentlich erzeugt, sondern vielmehr als allmächtige Naturgesetze empfunden werden, denen wir die Verantwortung übergeben haben, die wir selbst nicht mehr schultern wollen.Da bleibt nicht mehr viel Platz für freie Entscheidungen, kaum noch Raum für selbstbestimmtes und verantwortliches Handeln. Längst ist doch alles vorherbestimmt, sei es durch die Evolution, unser Gehirn oder die Regeln unserer gesellschaftlichen Systeme. Der Rest, der uns an persönlicher Freiheit bleibt, wird zur persönlichen Angelegenheit. Der Rest an Verantwortung bleibt bei denen, die sich für unsere freiheitlichen Systeme wie Demokratie und Marktwirtschaft sowie deren Institutionen zuständig erklärt haben.
Was kann ich dafür, wenn in China die Menschenrechte verletzt werden? Ich bin Unternehmer und kein Politiker! Warum soll ich als Spitzensportler auf eine Teilnahme bei Olympia verzichten, auf die ich Jahre ehrgeizig hingearbeitet habe? Politik und Sport sollten getrennt bleiben!
Was kann ich dafür, wenn das Finanzsystem kollabiert? Gut, vielleicht war ich gegenüber den wirtschaftlichen Eliten und ihren Forderungen nach mehr Deregulierung etwas zu leichtgläubig, aber ich bin Politiker und kein Manager! Wollen Sie mich jetzt für das verantwortlich machen, was die Leute im Fernsehen sehen wollen? Ich schreibe den Zuschauern doch nicht vor, was sie zu gucken haben! Dafür bin ich nicht zuständig.
NICHT ZUSTÄNDIG? Warum sollten wir uns mit unserer persönlichen Verantwortung auseinandersetzen, wenn wir diese der Zuständigkeit anderer überlassen haben: in den unsichtbaren und sichtbaren Händen des Marktes, der Politik oder den Medien, den Managern, Politikern oder Redakteuren? Warum soll ich mich mit dem Zweck, den Mitteln und den Folgen meines Handelns auseinandersetzen, wenn unser Wirtschaftssystem einer äußerst attraktiven Logik folgt: »Maximiere deinen eigenen Nutzen, und es wird für alle gesorgt sein«? Wenn Zweck, Mittel und Folgen also eine Einheit bilden?
Wir leben in einer hochgradig spezialisierten Gesellschaft. Über allem, was wir tun, liegt der Mehltau der Arbeitsteilung. Das hat gute Gründe, weil diese Spezialisierung die Funktionsfähigkeit des jeweiligen Systems sichert. Für alles gibt es zuständige Spezialisten. Und das ist ja gut so: Wer würde sich schon gerne von einem Arzt operieren, von einem Anwalt vertreten, einem Politiker regieren, einem Banker beraten lassen, die ihr Handwerk nicht verstehen? Es birgt aber die Gefahr, die eigene Verantwortung zu sehr auf den eigenen Bereich zu beschränken.
Und dann wären da noch all unsere natürlichen Eigenschaften, durch die wir angeblich keine andere Wahl haben:
Warum sollte ich mich mit meiner persönlichen Freiheit auseinandersetzen, wenn über das, was ich tue oder unterlasse, meine biologischen Muster oder die Struktur meines Nervensystems entscheiden?Laut der Sozialpsychologie sinkt die Bereitschaft, Zivilcourage zu üben, mit der Anzahl der Personen, die Zeugen eines Übergriffes werden (»Bystander-Effekt«). Warum soll dann ausgerechnet ich die rühmliche Ausnahme bilden und meine Gesundheit gefährden? Wer kann ernsthaft von mir erwarten, Mitgefühl zu zeigen, wenn die Natur mich dafür nicht ausgestattet hat?Wenn Männer auf Wettbewerb programmiert sind und dieser ein Fundament unserer wirtschaftlichen Ordnung ist, wer kommt eigentlich ständig auf die Idee, Führungskräfte in »Kooperations-Workshops« zu stecken? Es kommt ja auch keiner auf die Idee, aus einem Autisten einen brillanten Rhetoriker machen zu wollen.Warum sollte ich weniger Fleisch essen? Der Mensch ist nun einmal von Natur aus Fleischfresser und kein Vegetarier!Berechtigte Fragen, wenn man davon ausgeht, Freiheit sei einerseits eine durch und durch persönliche Angelegenheit und andererseits weitestgehend biologisch festgelegt. Nachvollziehbare Aussagen, wenn man Verantwortung entpersonalisiert und arbeitsteilig organisiert hat. Vor diesem Hintergrund gibt es tatsächlich wenige Gründe, sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen.
Warum auch, wenn nicht man selbst, sondern andere in der Verantwortung stehen und dies auch nur zum Teil? Uns ernsthaft zu fragen, wofür wir unsere Freiheit einsetzen wollen, hat wenig Sinn, wenn diese Freiheit einerseits durch biologische und neurologische Muster eingeschränkt wird und andererseits die Regeln des Systems schon dafür sorgen, dass alles seine Ordnung hat.
Doch selbst wenn der »Ort der Verantwortung«, wie manche meinen, in Zukunft nicht mehr beim Einzelnen zu suchen wäre, so müssten wir doch die nächsten Jahre – bis wir uns unserer persönlichen Verantwortung endgültig entledigen könnten und einen Zustand größtmöglicher Unverbundenheit verwirklicht hätten –, irgendwie über die verantwortungsvollen Runden bringen.
Wir wollen die Zeit nutzen, die uns bleibt. Wie wollen wir unsere Vernunft und unser Gewissen dazu einsetzen wollen, uns im Geiste der Brüderlichkeit zu begegnen? Wir können den Versuch unternehmen, in Verbindung zu treten – zu uns selbst und dem, was wir wollen, zu unseren Mitmenschen und dem, was sie wollen, und zu der Welt, in der wir leben.
WOLLEN, ABER NICHT KÖNNEN? Ein wenig Mut brauchen wir dafür schon. Den Mut, die Welt, in der wir leben, mit zu erzeugen und zu verändern. Als Mitglied einer Gemeinschaft, die Fragen stellt und nach Antworten sucht, wie ein Leben, das auf Selbstachtung, wechselseitigem Respekt und Kooperation beruht, konkret aussehen könnte:
Sitzen ist schön, aber Stehen nicht schlimm, wenn jemand anderes den Sitzplatz nötiger braucht als ich.
Ein Schnäppchen schont den Geldbeutel, aber belastet das Gewissen, wenn dafür kleine Kinderhände schuften mussten.
Natürlich geht es mich etwas an, wenn anderen in der U-Bahn Leid angetan wird.
Wir sind so frei. Wir können uns für eine Freiheit entscheiden, die nicht nur selbst etwas will, sondern auch aufmerksam ist gegenüber dem Wollen anderer, ohne ein Schild dafür zu brauchen, wer auf einem Platz in der Bahn sitzen darf, ohne einen Staat, der einen Mindestpreis für Brathähnchen festlegt. Wir können selbst bestimmen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, deren Bürger Polizei und Security als zuständig, aber sich selbst als verantwortlich betrachten.
Wir können uns selbstbewusst mit dem Zweck unseres Handelns, den eingesetzten Mitteln, und den möglichen Folgen unseres Tuns oder Unterlassens auseinandersetzen, ohne auf unsichtbare Hände, äußere Zwänge oder das Verhalten anderer zu verweisen. Dafür müssen wir jedoch die Dinge wieder verbinden, von denen wir uns so tatkräftig befreit haben, und unsere Sichtweise radikal verändern. Wir müssten uns vorstellen, wie unser Leben aussehen könnte, wenn wir das Wollen und nicht das Nicht-Können in Augenschein nehmen.
Wie sähe es um unsere Verantwortung aus, wenn wir alles, was wir mühsam getrennt haben, wieder zusammenführen würden?
Freiheit und Verantwortung als zwei Seiten einer, meiner eigenen Medaille zu verstehen,
nicht zwischen Vernunft und Begierde zu trennen, sondern von Wollen zu sprechen,
mich nicht hier und die Gesellschaft dort zu sehen,
meine Ängste, meine Gefühle, meine Unvernunft genauso als Teil meines Wollens zu betrachten wie die Anforderungen, Erwartungen und Ansprüche, die meine Mitmenschen, Institutionen und Systeme an mich haben,
meinem Gewissen zu folgen und nicht auf die Mechanismen des Systems zu verweisen,
mit meinem inneren Schweinehund Frieden zu schließen und äußere Bedingungen nicht mehr als Zwänge, sondern als Entscheidungshilfen zu begreifen.
Es bedeutet, das Leben ungezwungen, selbstbewusst, und verständnisvoll zu führen. In Verbundenheit. Führt das zu was? Wir glauben schon. Und zwar dann, wenn man davon ausgeht, dass jeder von uns alles, was er tut, deshalb tut, weil er es tun will. Jeder von uns tut stets das, was er will, niemand handelt gegen seinen eigenen Willen.
Niemand handelt gegen seinen eigenen Willen? Jeder tut, was er will? Ist das nicht eine gewagte These? Ja, aber wir benötigen einen radikalen Ausgangspunkt für unsere Überlegungen.
Natürlich können wir weiterhin darauf pochen, dass man eigentlich gegen den eigenen Willen gehandelt hat, weil man zu etwas gezwungen wurde. Selbstverständlich kann man auf die Umstände, die einem keine andere Wahl lassen, auf die inneren Schweinehunde, die einem tagtäglich das Leben zur Hölle machen oder auf unsichtbare Hände verweisen, die irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen. Wir können uns eingestehen, mal wieder schwach geworden zu sein, wir können dafür werben, eigentlich ganz anders zu sein, nur nicht dazu zu kommen. Wir können auf Zeitnot, volle Terminkalender oder auf die Folgen verweisen, die dieses Tun oder jenes Unterlassen für uns hätte. Wir können uns damit entschuldigen, dass uns immer und überall die Hände gebunden sind, dass wir ständig mit dem Rücken zur Wand stehen.
Doch machen wir uns nichts vor:
WIR WERDEN NICHT GEZWUNGEN. Wir suchen nach Ausreden und Ausflüchten, die das eigentliche Ziel, den tatsächlichen Zweck unseres Handelns verschleiern sollen. Das gilt selbst für die Extreme unseres Lebens. Situationen, in die keiner von uns geraten möchte, die aber an dieser Stelle für unser Gedankenexperiment notwendig sind. Notwendig, um die Perspektive zu verstehen, aus der Verantwortung erst verstehbar wird: Niemand kann gezwungen werden, einem anderen Menschen Leid anzutun, ihn zu foltern, ihn zu ermorden und sein Wollen über das Wollen eines anderen zu stellen. Keiner zwingt uns dazu, es ist, es bleibt unsere Entscheidung.
WIR ENTSCHEIDEN UNS DAFÜR. Wir entscheiden uns dafür, jemand auf Geheiß eines anderen zu erschießen, mit Druck zu einem Geständnis zu bewegen, preisgünstigen statt fair gehandelten Kaffee zu kaufen, Schmiergelder zu zahlen, uns korrumpieren zu lassen, uns zu wenig um unsere Kinder zu kümmern, Steuern zu hinterziehen, der Boulevardpresse Glauben zu schenken, unsere beste Freundin nicht zurückzurufen oder »Ego-Shooter« zu spielen, statt Hausaufgaben zu machen.
WIR HABEN UNSERE GRÜNDE. Wir wollen am Leben bleiben, wir wollen nicht selber das Opfer von Unterdrückung und Gewalt werden, wir wollen wenig Geld ausgeben, einen Auftrag gewinnen oder die Macht genießen, am längeren Hebel zu sitzen, wir wollen uns entspannen und nicht Verstecken spielen, mehr Geld in der Tasche haben, lieber fernsehen, als zu klönen, und lieber ballern, als Wurzeln zu ziehen.
Das Erste, womit wir wieder Verbindung aufnehmen müssen, ist unser eigenes Wollen. Und da schadet eine gewisse »protestantische Strenge« im Denken nicht. (Ein wenig gnädiger mit sich selbst und anderen umzugehen, dazu werden wir noch kommen.) Radikal ehrlich und schonungslos. Keine Ausreden, keine Ausflüchte mehr! Keine Rechtfertigung, warum etwas nicht geht, keine Prognosen, was passieren würde, wenn man dies oder jenes täte, keine inneren Schweinehunde, keine äußeren Zwänge, keine Hinweise darauf, warum es unser wirtschaftliches oder politisches System schon richten werde. Kein ruhiges Gewissen mehr, das Ende aller Gewissheiten. Gute Gründe dafür, warum wir etwas tun oder unterlassen, finden sich immer, das ist keine Frage, sollen aber jetzt keine Rolle spielen.
Was zählt, ist, sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, warum man so handelt, wie man handelt. Verantwortung findet im Hier und Jetzt und nicht im Konjunktiv statt. Deshalb sollten wir zunächst auf größtmögliche Distanz zu unserem geschäftigen Alltag gehen und uns dem zuwenden, was wir tagtäglich tun oder unterlassen. Wir sollten den Lauf durch unser Hamsterrad für einen kurzen Moment unterbrechen und uns ein paar Fragen stellen. Verschnaufpause!
WELCHEM ZWECK DIENT DAS, WAS ICH TUE ODER NICHT TUE? Wir wollen Geld, Dominanz, Status quo, Fernsehen oder Sitzplätze, und das sollten wir uns bewusst machen.
Ja, ich hätte die Stelle als Projektleiter in der Stiftung, die sich um bessere Bildungsmöglichkeiten für Kinder in Schwellenländern einsetzt, haben können, aber ich wollte nicht, hätte ich doch auf die Hälfte meines jetzigen Gehalts verzichten müssen.Ja, es gab die Möglichkeit, in der Diskussion nachzugeben, aber ich wollte das nicht, ich wollte meinen Gesprächspartner dominieren.Natürlich hätte ich meinen Vorgesetzten auch widersprechen können, aber ich wollte das nicht, weil ich keine Lust auf negative Konsequenzen habe.Ja, ich hätte heute mein Buch weiterlesen können, bin aber dann doch wieder vor dem Fernseher eingeschlafen.Ja, ich hätte meinen Sitzplatz jemandem anbieten können, war aber selber froh zu sitzen.Das hat einen großen Vorteil: Wer den Finger an der eigenen Nase hat, hat keine Zeit, mit diesem auf andere oder anderes zu zeigen. Wer sich seiner selbst bewusst wird, der bemüht sich erst um eigene Antworten auf eigene Fragen, bevor er Antworten von anderen erwartet, und er wird feststellen, dass er die Welt um sich herum mit anderen Augen sieht, weil er mit Argusaugen auf sich selbst schaut und auf das, was er tut.
Wer auf sich schaut, der nimmt direkten Anteil an der Welt, in der er lebt, der beobachtet nicht aus sicherer Entfernung. Der gibt sich nicht damit zufrieden, zu wissen, wie es besser geht, der schaut erst einmal, was überhaupt geht: Der verklärt nichts und macht sich nichts vor.
Wir kaufen bei Discountern, weil wir Geld sparen wollen, wir nehmen die verkorkste Beziehung zu unseren Mitarbeitern in Kauf, weil wir die meisten ohnehin für Idioten halten, wir nutzen unsere Beziehungen, weil wir uns davon handfeste Vorteile versprechen, und wir kaufen Markenklamotten, weil sie wichtig für unseren sozialen Status sind. Wir reden mehr als andere, weil wir mehr zu sagen haben, wir beharren auf unseren Standpunkten, weil die der anderen auf tönernen Füßen stehen, und wir lesen die BILD-Zeitung, weil wir uns empören wollen. Wir haben begriffen, dass es an uns liegt, ob wir die Welt um uns herum als gegeben oder als gestaltbar betrachten wollen. Wir sind ein Teil von dem, was um uns herum geschieht, wir handeln gemäß eigenen Neigungen und Vorlieben, so wie alle anderen auch.
Mit dem Unterschied, dass wir dafür ohne Wenn und Aber die Verantwortung übernehmen.
Wir Fernsehzuschauer geben zu, dass die Tour de France mit Lance Armstrong – Doping hin oder her – spannender ist als ohne ihn.Wir Banker wussten schon früh, dass unsere Tresore voll mit faulen Krediten sind, aber wenn wir als Erster den Kopf rausgestreckt hätten, wäre allein unser Aktienkurs ins Bodenlose gestürzt.Uns Politikern war klar, dass wir durch den stetigen Abbau von Regulierungen mit zur Finanzkrise beigetragen haben, aber wir wollten mitverantwortlich sein für eine boomende Wirtschaft und Wahlen gewinnen.Ja, ja, ich als Konsument sehe die Schilder in den T-Shirts, und ich habe keine Ahnung wie die Produktionsbedingungen in Bangladesch sind, aber für 50 Euro habe ich eine ganze Tüte voll Klamotten.Natürlich weiß ich als Autofahrer, dass ich nicht rechts überholen darf, aber ich bin diese Verkehrserzieher, die mit hundert über die linke Spur schleichen, einfach satt, und dann kostet das jetzt eben.Ich als Vertriebsprofi wollte mir keine Gedanken darüber machen, ob man auch in anderen Ländern Geschäfte machen kann, weil ich von Umschlägen unter Tischen gut leben konnte.Einmal im Jahr will ich als Tourist halt leben wie Gott in Thailand, mit allem, was dazugehört, schließlich habe ich Urlaub!Zeit für Tacheles! Wir tun nicht so, als hätten wir mit alledem, was um uns herum passiert, nichts zu tun, als ginge uns das nichts an. Wir haben gesagt, was wir wollen, unumwunden und geradeheraus, ohne Ausflüchte und ohne Ausreden. Wir bekennen uns zu dem, was wir wollen. Wir setzen uns auf kein moralisches Ross. Wir rücken unser eigenes Handeln weder ins Licht der ethischen Untadeligkeit noch der sozialen Erwünschtheit. Wir geben nicht vor, eigentlich etwas ganz anderes zu wollen, oder verweisen darauf, keine Wahl gehabt zu haben. Wir hatten die Wahl, und wir haben uns entschieden. Basta!
Aber ist das nicht eine merkwürdige Vorstellung von Verantwortung? Fehlt da nicht noch etwas Entscheidendes?
Ja, es fehlt noch etwas sehr Entscheidendes: selbstständig Antworten auf die Frage zu finden: Gefällt mir das, was ich will?
GEFÄLLT MIR DAS, WAS ICH WILL? Denn erst mit der Beurteilung darüber, ob einem das gefällt, was man will, wird Verantwortung zur Freiheit. Und da die meisten von uns nicht auf einer einsamen Insel leben, liegt der Verdacht nahe, dass auch andere Menschen etwas wollen könnten. Zu diesem Wollen kann ich mich in Beziehung setzen, indem ich mir die Konsequenzen meines Wollens für das Wollen meiner Mitmenschen bewusst mache:
Wenn ich günstig einkaufen will, will jemand anderes unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten.Wenn ich rechts überhole, will jemand sicher nach Hause kommen.Wenn mir die Beziehung zu meinen idiotischen Mitarbeitern egal ist, ist sie diesen wichtig.Für meine volle Tüte Klamotten wollen anderswo kleine Kinderhände nicht arbeiten, sondern spielen.Erst wenn ich Anteil nehme am Wollen meiner Mitmenschen – wo immer sie auch sein mögen, im Großraumbüro nebenan oder in Bangladesh –, erst wenn ich mein Wollen mit dem Wollen anderer abzugleichen bereit bin, werde ich sagen können, ob mir das, was ich will, gefällt.
Erst wenn ich den Mut fasse, genauer hinzuschauen und herauszufinden, wo ich Teil eines Problems bin oder Teil einer Lösung werden kann, trete ich in Verbindung. Zu meinem Wollen und dem Wollen anderer. Dann mache ich Freiheit möglich. Eine Freiheit, deren Zweck darin besteht, zu einer Gemeinschaft beizutragen, in der sich selbstbewusste Menschen in Selbstachtung und mit wechselseitigem Respekt begegnen können. Nicht mehr und nicht weniger!
Wer sich mit dieser Welt und ihren Menschen verbunden fühlt, der sollte vorsichtig sein in seinem Urteil. Doch wir sind schnell mit unseren Urteilen, sehr schnell. Wir wissen, wer an den Pranger gehört und wer sich der Verantwortungslosigkeit schuldig gemacht hat. Einen Tag stellt die Boulevardpresse das Jugendamt an den Pranger, weil es wieder einmal versäumt hat, ein verwahrlostes Kind aus den Händen seiner überforderten Eltern zu befreien. Am nächsten Tag stehen die Sozialarbeiter immer noch am selben Pranger: diesmal jedoch, weil sie so herzlos waren, ein Kind seiner Mutter zu entreißen.
Unsere Urteile sind unerbittlich und klar. Klarer als die Umstände es meist zulassen, nicht selten auf tönernen Füssen, grenzüberschreitend, bisweilen unverschämt und im schlimmsten Fall ohne Sinn und Verstand. Wir haben unsere Meinung, und die lassen wir uns ungern nehmen, mag auch die Beweislast noch so erdrückend sein. Wir wissen, was läuft. Uns macht man nichts vor.
Doch wer wissen will, ob ihm das, was er will, auch gefällt, der sollte behutsamer vorgehen und sich auf Spurensuche begeben, der sollte ein ernsthaftes Interesse daran haben, zu erkunden, wie es um das wechselseitige Wollen bestellt ist.
Nur wenn ich wach bleibe, wenn ich aufmerksam bin gegenüber mir selbst, meinen Mitmenschen und den Zusammenhängen, in denen ich lebe, ist gegenseitiges Verständnis möglich.
Nur dann, wenn wir mit offenen Augen durch diese, unsere Welt laufen, werden wir einen Blick hinter den Vorhang unseres wechselseitigen Wollens und seiner Funktionsweisen werfen können. Das führt uns zu einer weiteren Frage, auf die wir Antworten finden wollen: Will ich die Welt, in der ich lebe, verstehen?
Wir wissen zwar nicht, ob wir uns anders verhalten hätten, erwarten aber von anderen, päpstlicher zu sein als der Papst. Wir kritisieren unseren Finanzberater für seine allzu vorsichtige oder riskante Vorgehensweise, um ihn hinterher dafür zu verurteilen. Wir machen dabei nicht halt vor Pauschalisierungen: typisch Lehrer, Manager, Politiker, jüngere Generation, Frauen, Männer, Katholiken oder Muslime.
Natürlich sind das Vorurteile, aber hat nicht jedes Vorurteil einen wahren Kern?, denken wir. Im Zweifel ist uns alles recht, wenn wir nur ein wenig mehr Ordnung in unsere Welt bekommen. Was aber, wenn die Welt wesentlich weniger ordentlich wäre, als wir es uns wünschen? Wenn sie stattdessen unendlich vielschichtig, kaum entschlüsselbar, bedrohlich oder gar das pure Chaos wäre?
Wenn wir uns mit der Welt verbinden und nicht länger aus sicherer Entfernung auf das blicken, was um uns herum geschieht, dann machen wir eine überaus interessante Entdeckung: Das, was wir Welt nennen, erscheint plötzlich als ein Teil von uns. Die Welt verliert ihre Feindseligkeit, weil wir nunmehr verantwortlich sind für das, was wir in dieser Welt tun.
Man muss sich auf die Welt einlassen, in der man lebt, wenn man etwas verändern will. Ja, man muss sich auch auf die Menschen einlassen, die in dieser Welt leben. Ja, man muss sie sogar mögen, die Menschen, mit all ihren Fehlern, Ungereimtheiten, ihrer Engstirnigkeit und ihren Dämlichkeiten. Man muss verbunden sein mit der Welt und ihren Menschen und sich den Herausforderungen stellen, wenn man etwas bewirken möchte. Wir können das: uns die Welt zu eigen machen, wenn wir in ihr wirken wollen. Wir können unsere Kräfte entfalten, wenn wir uns in der Öffentlichkeit, über die Büroflure und Supermarktgänge bewegen, die Zeitung aufschlagen, den Fernseher anmachen oder ausschalten oder einen wie auch immer gearteten demokratischen Beitrag leisten wollen. Wir haben es nicht anders gewollt!
»Grundlage jeder wahren Verantwortung und damit der höchsten Form von Menschenwürde bleibt es, sich darüber klar zu werden, was das, was man tut, wirklich bedeutet.«
Max Steenbeck
In der »Berliner Monatszeitschrift« kam es 1784 zu einer Debatte darüber, was der Begriff Aufklärung bedeutet. Kant vertrat dabei die Auffassung, dass sich menschliche Unmündigkeit einzig und allein durch Selberdenken überwinden lasse. Unmündig sei der Mensch keinesfalls, weil es ihm an Verstand mangele, sondern weil er nicht den Mut habe, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.
Die Fülle an Ratgebern aller Art, die unsere Buchhandlungen füllen, der unkritische Konsum von Medienberichten, Flurfunk und Tratsch aller Art, aber auch die Sehnsucht nach Instanzen, die es schon für uns richten, seien als Belege dafür genannt, dass es diese Mutlosigkeit auch heute noch gibt. Es war und ist noch immer bequem, unmündig zu sein. Sich und andere dazu zu ermuntern, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, um Herrschaftsansprüche aller Art zu kritisieren und zu überwinden, war zu Kants Zeiten ein ehrgeiziges Vorhaben.
Das ist es auch heute noch: Gut 200 Jahre nach dem Königsberger Philosophen sind einige Menschen, unter ihnen der Hirnforscher Christian Scheier, der Meinung, das Nachdenken würde überschätzt: »Wenn man mit der ganz großen Brille darauf schaut, was die Hirnforschung uns heute zeigt, dann ist es sicherlich dieses, dass das Nachdenken lange Jahre überschätzt wurde in seiner Bedeutung und wir ganz sicher, man schätzt bis zu 85 Prozent, unsere Alltagsentscheidungen ganz intuitiv treffen. Wir treffen bis zu 20000 Entscheidungen jeden Tag und 18000 bis 19000 davon sind intuitiv.«
Nachdenken wird überschätzt! Ein Slogan, wie man ihn eher auf jenen Gratispostkarten vermuten würde, die hierzulande in fast jeder Kneipe zur Mitnahme aushängen und zum Schmunzeln anregen. Doch Scheier ist kein zum Schmunzeln anregender Sonderling, sondern ein ernst zu nehmender Vertreter einer Forschungsrichtung, die in den letzten Jahren für erhebliches Aufsehen gesorgt hat: die Hirnforschung.
WIE VIEL BESTIMMT DAS GEHIRN? Die Hirnforschung meldet – so darf man behaupten – deutliche Herrschaftsansprüche an. Im Zentrum ihrer Kritik steht nicht mehr und nicht weniger als unser freier Wille und damit ein fundamentaler Bestandteil unseres aufgeklärten kulturellen Selbstverständnisses. Nicht wenigen erscheint die Hirnforschung wie ein selbst erschaffenes Monster, eine Art Frankenstein, das uns zu Gefangenen unserer inneren chemischen Prozesse herabwürdigt.
Eine wahrlich unheimliche Annahme – aber eine selbstverständliche Konsequenz aus dem in der Aufklärung begonnenen Projekt: Wer seinen Mitmenschen die Losung »Sapere aude!« (Wage zu denken) entgegenschleudert, darf sich nicht wundern, dass einige Mutige es tatsächlich wagen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und nicht nur über den gestirnten Himmel über ihnen und die Welt um sie herum nachzudenken, sondern auch über den Verstand selbst.
Die Forschung ist weit fortgeschritten. Ein Verbot dieser Forschung kommt ohnehin nicht in Betracht, da ein solches kaum mit der Forderung vereinbar wäre, selber nachzudenken. Angebracht ist jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Hirnforschung und ihren Vertretern. Dass nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, gilt auch hier. Denn während nur wenige Hirnforscher mal wieder den neuen Menschen ausrufen, sehen sich die meisten einem Ethos verpflichtet, nach dem sie auf der Suche nach Wahrheit sind und nicht im Besitz derselbigen.