Mitgegangen - Jürgen Ehlers - E-Book

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Jurgen Ehlers

4,9

Beschreibung

Düsseldorf, Februar 1929. Am Zaun einer Großbaustelle wird die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden. Gewürgt, missbraucht, erstochen, mit Petroleum übergossen und angezündet. "Wer tut so etwas?", fragt einer der Polizisten erschüttert. Die zynische Antwort lautet: "Meistens der Vater. Oder der Onkel." Doch dieser Fall ist anders. Kommissar Wilhelm Berger sieht sich rasch mit einer ganzen Reihe brutaler Überfälle auf Männer, Frauen und Kinder konfrontiert. Ist hier ein Wahnsinniger am Werk? Ein Verdächtiger wird schließlich gefasst und gesteht alles. Doch die grausamen Morde gehen weiter... Dieser Fall hat sich tatsächlich zugetragen, wenngleich die Namen der Opfer abgeändert wurden. Jürgen Ehlers zeichnet das bizarre Bild des triebhaften Serientäters Peter Kürten, der mit seinen grausamen Verbrechen die Düsseldorfer Bevölkerung monatelang in Furcht und Schrecken versetzt und unter dem Namen "Der Vampir von Düsseldorf" in die Kriminalgeschichte einging.

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Jürgen Ehlers

Mitgegangen

Jürgen Ehlers, geboren 1948, arbeitet im Geologischen Landesamt in Hamburg. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis, die in verschiedenen Verlagen im In- und Ausland veröffentlicht wurden, und ist Herausgeber von Krimianthologien. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«. Er lebt in einem kleinen Dorf unweit von Hamburg. »Mitgegangen« ist sein erster Kriminalroman bei KBV.

Jürgen Ehlers

Mitgegangen

Originalausgabe

© 2005 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,

Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion: Dorothee Steuer, Sankt Augustin

Satz: Volker Maria Neumann, Köln

ISBN 3-937001-41-7

E-Book-ISBN 3-95441-033-0

Mord

9.2. - 11.2.1929

1.

»Da hinten!« Der Polizist an der Absperrung weist Wilhelm Berger den Weg.

Es ist kalt. Berger fröstelt. Unausgeschlafen ist er auch. Es ist Samstagvormittag; sie haben ihn aus dem Bett geholt. Sein erster eigener Fall. Die Tote liegt zwischen allerlei Müll in einem Winkel des Bauzaunes direkt neben der Vinzenzkirche. Berger registriert leere Dosen und die Überreste eines Weihnachtsbaumes. Fuhrmann und Kosinski sind schon da. Sie machen einen betretenen Eindruck.

»Weiß Mombach Bescheid?«

»Ich habe alles Nötige veranlasst.« Fuhrmann bückt sich umständlich und zieht die Plane zur Seite.

»Mein Gott!«, entfährt es Berger. Vor ihm liegt die halb verkohlte Leiche eines Kindes. Ein kleines Mädchen. Berger beugt sich über den Leichnam. Es stinkt nach Petroleum und verbranntem Fleisch.

»Höchstens zehn Jahre, das Mädchen«, sagt Fuhrmann.

Eher sieben oder acht, denkt Berger. Die Kleidung ist fast vollständig verbrannt. Ein mageres, kleines Kind. Die Haare versengt. Berger hebt den Kopf an. Die Unterseite hat das Feuer nicht erreicht. Blond ist sie gewesen, die Kleine. »Sie war vermutlich auf dem Schulweg. Irgendjemand hat ihr aufgelauert, sie erstochen und dann hier in dieser dunklen Ecke abgelegt.«

Kosinski schüttelt den Kopf. »Wenn sie auf dem Schulweg war – wo sind dann ihre Schulsachen?«

»Weggeworfen, über den Bauzaun vielleicht.«

»Die Baustelle wird gerade abgesucht. Aber hier hinter dem Zaun, da liegt jedenfalls nichts. Das wissen wir schon.«

»Weiß man schon, wer das Mädchen ist?«

Fuhrmann schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. – Ein Bauarbeiter hat die Kleine gefunden, gegen halb zehn heute früh. Da hat die Kleidung noch geglimmt, sagt er.«

»Noch geglimmt? Dann muss die Tat ja gerade erst geschehen sein! – Hat der Mann irgendetwas gesehen?«

»Nein. – Er ist völlig fertig.«

Kein Wunder, denkt Berger.

»Kaputtgemacht und weggeworfen wie ein Stück Müll. So ein kleines Kind! – Wer tut so etwas?«, überlegt Fuhrmann.

»Der Vater«, sagt Kosinski. »Oder der Onkel. Aber meistens ist es der Vater.«

»Den werden wir uns vornehmen«, seufzt Berger. »Wenn wir erst wissen, wer das ist. Wenn wir ihn haben. Aber erst einmal kommt jetzt der Bauarbeiter.«

Im Bauwagen ist es wenigstens warm.

»Museleck. Wilhelm Museleck.« Der Arbeiter erhebt sich von seinem Sitz, zögert, streckt schließlich Berger die Hand entgegen. Besonders sauber sieht sie nicht aus.

Berger gibt ihm die Hand. »Bleiben Sie doch sitzen! – Herr Museleck, ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.«

»Aber alles was ich weiß, das hab ich doch Ihrem Kollegen schon gesagt.«

»Ich möchte es gern noch einmal hören«, beharrt Berger.

»Bitte.« Es klingt trotzig.

»Sie arbeiten hier auf der Baustelle?«

»Ja. Aber im Augenblick nicht. Jetzt liegt der Bau ja still. Wegen dem Frost.«

»Schon lange?«

»Seit dem 5. Januar.«

Berger nickt. »Aber heute waren Sie trotzdem hier.«

»Ja. Wir haben doch die Moniereisen geholt, von unserem Lagerplatz in Oberkassel. In der Löricker Straße ist das. Mit dem Lastwagen. Lastwagen mit Anhänger.«

»Wir?«, fragt Berger.

»Ja. Der Eccarius, der hat gefahren. Ich war der Beifahrer, und dann war da noch der Plassmann und der Wahl. Der Alois Wahl, der ist Schmied.«

»Aha. Und als Sie hier ankamen …«

»Als wir ankamen, da war das Tor zu. Und da ist der Eccarius los und hat den Schlüssel geholt.«

»Und Sie – anstatt im warmen Wagen sitzen zu bleiben, sind Sie draußen in der Gegend herumspaziert. Bei 16 Grad Kälte!«

»Ich war – ich musste pinkeln.«

Berger überlegt. Der Eingang, der ist doch auf der anderen Seite, zur Kettwiger Straße hin. »Und um Ihre Notdurft zu verrichten, da sind Sie ganz um den Bauzaun herum und hier in diese Ecke?«

»Ich wollte doch nicht, dass die anderen alle – ich meine …« Der Mann wird rot.

Berger sieht ihn mahnend an: »Herr Museleck, das wollen Sie mir doch nicht erzählen, das glaubt doch kein Mensch, dass Sie als Maurer sich so genierlich anstellen!«

»Nein.«

»Also?«

»Ich sollte doch Bier holen«, gibt Museleck resignierend zu.

Mein Gott, denkt Berger. »Bier! Bei dieser Kälte! Das werden wir überprüfen müssen. – Gut. Also, Sie wollten Bier holen, und dann mussten Sie austreten, und da haben Sie die Leiche entdeckt.«

Der Mann nickt. »Sie lag genau da, wo ich hinpinkeln wollte. Genau da!«

»Und dann?«, fragt Berger.

»Und dann hab ich gepinkelt. Ich musste doch so dringend. Und danach hab ich den anderen Bescheid gesagt, und die sind alle gekommen und haben sich die Geschichte angeguckt. Ja, und dann, dann hat der Eccarius die Polizei geholt.«

»Ah, ein neues Gesicht! Sie müssen Berger sein.« Professor Stolley streift die Handschuhe ab.

»Können Sie schon …?« Berger fühlt sich beklommen.

»Etwas sagen? Nicht viel, fürchte ich. Ein Mädchen, vermutlich acht Jahre alt, etwas Untergewicht, schlechte Zähne, einen Armbruch, der schlecht verheilt ist. Wer immer das behandelt hat, der hat gepfuscht.«

»Ein Sexualverbrechen?«, fragt Berger.

»Was glauben Sie denn? Ein Raubmord vielleicht?« Der Professor lacht. »Sie sehen doch, wie das hier aussieht.«

»Sie ist erstochen und verbrannt worden«, verteidigt sich Berger ärgerlich.

»Das ist nicht alles. Selbst als Laie können Sie mehr sehen. Der Körper weist zwar Stichverletzungen auf, aber das Kind ist zunächst einmal gewürgt worden. Mit einer Hand. Mit der rechten Hand. Da sind die Abdrücke. Der Täter ist Rechtshänder. Als die Kleine bewusstlos war, hat er dann wohl zugestochen. Es gibt einen Stich in die Schläfe – hier – und dreizehn Einstiche in der Brust des Kindes. Mit einem sehr langen, schmalen, scharfen Messer offenbar. So wie es aussieht, gehen einige der Stiche direkt durchs Herz. Daran ist sie dann verblutet. Und die Stiche, die sind beinahe gleichmäßig verteilt. Es sieht aus wie ein Muster.«

»Ja«, sagt Berger.

»Und dann hat er sich an dem sterbenden Kind vergangen. Das können Sie auch sehen, wenn Sie genau hingucken. Da!«

»Mein Gott – und das mitten in Düsseldorf, in aller Öffentlichkeit!«

»Bei der Kälte? Nein, das glaube ich nicht. Er wird irgendein Zimmer irgendwo in der Nähe gehabt haben.«

»Aber das Blut auf dem Boden …«

»Das haben Sie richtig erkannt, ja. Das sind Blutspuren hier auf dem Boden. Aber es ist zu wenig. Wissen Sie, wie viel Blut so ein Mensch hat? Nein? Sechs Liter hat ein Erwachsener! Ein Kind natürlich weniger. Aber mehr jedenfalls als das, was Sie da am Boden sehen. Nein, ich schätze mal, der Bursche hat die Leiche erst hinterher an den Bauzaun verbracht und sie dann mit Petroleum übergossen und angezündet.«

Berger schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht glauben!«

»Glauben Sie, was Sie wollen. – Das Kind ist übrigens seit gestern Abend tot. Das ist jetzt nur eine erste Schätzung, aber ich würde sagen, der Tod ist so gegen achtzehn oder neunzehn Uhr abends eingetreten.«

»Aber das Feuer – die Kleidungsreste haben noch geglimmt, als der Museleck sie gefunden hat. Der Bauarbeiter.«

»Dann ist das Feuer eben erst später gelegt worden. Heute früh. Aber da war die Kleine jedenfalls schon lange tot.«

»Hier geht’s zu wie im Tollhaus!« Kosinski sieht noch finsterer aus als sonst. Auf der Straße, außerhalb der Absperrung, haben sich inzwischen zahlreiche Schaulustige angesammelt.

Berger sieht sich um. Jetzt, im Licht des späten Vormittags liegt der Fundort der Leiche wie auf dem Präsentierteller, von den umgebenden drei- und viergeschossigen Häusern mühelos einsehbar. Auf einem der Balkone entdeckt Berger eine vielköpfige Familie. Ein Fernglas wird herumgereicht.

»Das ist unmöglich.«

Kosinski zuckt mit den Schultern. »Wir kriegen keinen Sichtschutz aufgebaut.«

»Warum ist die Leiche dann immer noch nicht abtransportiert?«

»Geht nicht. Die Staatsanwaltschaft war noch nicht hier. Es ist ja Samstag, da schlafen die Herrschaften lange.«

»Sind wir denn mit der Spurensicherung fertig?«

»Längst fertig. Bei dem Frost gibt’s nicht viel Spuren. Und was immer da gewesen sein mag, das hat unser verehrter Herr Polizeipräsident längst zertrampelt. Der war nämlich zuerst hier. Mit großem Gefolge!«

»Da kommt er«, ruft jemand. In der Tat, da kommt Langels, der Polizeipräsident, und mit ihm Mombach und all die anderen hohen Tiere. Das Gemurmel aus der Menge schwillt an.

Langels geht auf die Leute zu. »Bitte, gehen Sie doch weiter! Behindern Sie nicht die Arbeit der Polizei. Hier gibt es nichts zu sehen.«

Aber niemand geht.

»So muss es erst kommen, dass einer umgebracht wird!«, ruft jemand aus der Menge. »Wo bleibt unser Polizeischutz?«

»Ich versichere Ihnen, wir tun alles, was in unseren Kräften steht …«

»Wo bleibt der Polizeischutz hier in Flingern?« Das Gemurmel wird lauter. Die paar Mann von der Schutzpolizei haben Mühe, die Leute zurückzudrängen.

»Bitte gehen Sie nach Hause! Behindern Sie nicht die Arbeit der Polizei!«

»Schluss damit«, sagt Berger zu Kosinski. »Das muss aufhören. Zum Teufel mit der Staatsanwaltschaft. Die Leiche wird jetzt abtransportiert.«

2.

Als Berger wieder im Präsidium eintrifft, ist nur Mombach im Zimmer. »Böse Geschichte. Ich hätte mir für Sie einen netteren Einstand gewünscht.«

Ich auch, denkt Berger. »Wo sind die anderen?«

»Alle noch draußen. Befragen die Anwohner, suchen nach Zeugen. Das Mädchen ist übrigens inzwischen identifiziert. Eine Rosa Olbricht, neun Jahre alt. Die Tochter eines Bäckers aus der Langerstraße. Sie war zum Spielen bei einer Schulfreundin gewesen, in der Rosmarinstraße.«

»Wo ist das?«

Mombach zeigt es ihm auf dem Stadtplan. »Als sie bei Dunkelwerden nicht zurück war, haben die Eltern sich Sorgen gemacht und die Kleine dann schließlich als vermisst gemeldet.«

»Und das erfahren wir erst jetzt?«

»Das war natürlich bei der nächsten Polizeiwache, nicht bei uns. Polizeirevier 17. Der Vater war betrunken, sagen sie. Da haben die Kollegen den Fall nicht so ernst genommen.«

Berger seufzt. »War schon jemand bei den Eltern?«

»Noch keiner. Ich denke, das müssen Sie machen. Mit Fuhrmann zusammen am besten.«

Berger nickt. »Ich denke, ich brauche erst einmal einen Kaffee.«

»Kann ich mir denken nach dem Schock!«

Der Kaffee ist stark, aber nur noch lauwarm. Besser als nichts.

3.

Es ist schrecklicher, als er gedacht hat. Gut nur, dass er wenigstens Fuhrmann mit dabei hat.

»Den bringe ich um, den Kerl! Den bringe ich um!« Albert Olbricht baut sich vor den Polizisten auf, als seien sie die Mörder.

»Bitte beruhigen Sie sich, Herr Olbricht«, sagt Berger.

»Ich soll mich beruhigen? – Mein Kind wird ermordet, bestialisch ermordet, und dieser Mensch sagt, ich soll mich beruhigen?« Der Mann kommt Berger gefährlich nahe. Sein Atem riecht nach Alkohol.

»Vater, lass doch!«, ruft die Frau.

»Hier, trinken Sie das, das beruhigt«, sagt Fuhrmann. Er hält dem Mann die Branntweinflasche hin.

Olbricht fährt herum. »Das beruhigt nicht!«, brüllt er, aber dann gießt er sich doch mit zitternden Fingern ein Glas ein.

Die große Tochter sitzt im Sessel und weint.

»Sie kann nicht gehen«, erklärt die Mutter. »Kinderlähmung. Fünfzehn ist sie jetzt. Unsere Rosa hat sie immer ausgefahren im Rollstuhl, wenn sie aus der Schule kam. Sie war so ein liebes Mädchen. – Was soll jetzt nur werden!«

»Ich weiß, wie furchtbar das jetzt ist für Sie«, versucht Berger. Hohles Gerede! »Aber ich muss Sie ein paar Dinge fragen.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen?«

Berger schüttelt den Kopf. »Frau Olbricht, wer immer das getan haben mag, er muss gefunden werden. So schnell wie möglich. – Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wer für diese Tat in Frage kommt, oder?«

Frau Olbricht schüttelt den Kopf.

Berger stellt seine Fragen. War die Kleine oft zum Spielen bei ihrer Freundin in der Rosmarinstraße? Mit wem hatte das Kind Kontakt? Haben sich irgendwelche Männer in auffälliger Weise für das Mädchen interessiert? Was ist mit Onkeln, Schwägern, sonstigen Verwandten?

Frau Olbricht schüttelt immer nur den Kopf. Keine verdächtigen Männer. Ein Onkel ist tot, der andere nach Amerika ausgewandert. Der Schwager lebt im Sauerland; den haben sie seit Jahren nicht mehr gesehen.

»Wieso fragen Sie denn dauernd nach unseren Verwandten?«, fragt Olbricht lauernd.

»Herr Olbricht, wir müssen alle denkbaren Kontakte überprüfen.«

»So?« Olbricht erhebt sich.

Nicht provozieren lassen! Berger bleibt sitzen. Das fehlte noch, hier im Hause des Opfers eine Schlägerei anzufangen.

»Und als Nächstes wollen Sie dann noch wissen, wo ich gestern gewesen bin, was? Ich, der Vater!«

»Ja.«, sagt Berger. »Wo sind Sie gestern gewesen?«

Fuhrmann hat ihm erzählt, der Armbruch des Mädchens gehe möglicherweise auf Olbrichts Konto. Der Vater sei schon ein bisschen grob.

Olbricht baut sich drohend vor Berger auf.

»Vater ist zu Hause gewesen, die ganze Zeit über«, sagt Frau Olbricht.

»Ja«, bestätigt ihr Mann. »Ich bin die ganze Zeit hier gewesen.«

»Aber die Anzeige, die Vermisstenanzeige, die haben Sie doch aufgegeben?«

»Ja.«

»Also waren Sie nicht den ganzen Abend zu Hause!«, stellt Berger fest. Fuhrmann fasst ihn am Arm.

»Wir sind zusammen zur Polizei gegangen«, sagt Frau Olbricht. »Wir waren den ganzen Abend zusammen.«

Fuhrmann seufzt leise. Berger schließt die Befragung ab. Mehr ist aus der Familie nicht herauszubekommen.

»Die beiden lügen«, sagt Fuhrmann, als sie wieder auf dem Rückweg sind. »Ich habe mich umgehört. Olbricht ist die meiste Zeit des Abends in der Kneipe gewesen, heißt es. – Aber der Mörder ist er trotzdem nicht.«

»Nein«, antwortet Berger. »Ich habe es auch gesehen. Er ist Linkshänder.«

Auf der Straße kommt ihnen Kosinski entgegen. »Da seid ihr ja. Kommt mit, es sieht so aus, als hätten wir doch noch einen Zeugen gefunden.«

4.

»Sie haben also einen Hilferuf gehört letzte Nacht?« Hinter der Baustelle des Schwimmbades, auf der anderen Seite der Kettwiger Straße, liegt eine weitere Baustelle, die gehört zu den Opel-Werken, und da gibt es einen Nachtwächter. Johann Horst heißt der, er ist fünfundsechzig Jahre alt.

»Ja.« Der Mann sieht aus, als ob es ihm inzwischen Leid tut, irgendetwas gesehen oder gehört zu haben.

»Und wann war das?«

»Kurz nach Mitternacht. Eine Frauenstimme. Da bin ich mit dem Hund raus, auf die Straße, hab aber niemand gesehen.«

»Nein.« Logisch, auf der Kettwiger Straße kann ja auch nichts zu sehen gewesen sein. Das tote Mädchen lag ja auf der anderen Seite, bei der Vinzenzkirche.

»Eine Frauenstimme?«, fragt Kosinski. »Kann es auch ein kleines Mädchen gewesen sein?«

»Weiß ich nicht.«

»Sie haben jedenfalls gedacht, es war eine Frau?«

»Ja. – Ja, und dann hab ich das Gelände abgesucht, vorsichtshalber. Aber da war niemand. – Ja, und dabei hab ich dann diesen Beutel gefunden …«

»Was für einen Beutel?«

Der Nachtwächter legt seinen Fund auf den Tisch. Eine Art Damastsäckchen. Berger und Kosinski greifen gleichzeitig zu. Sie sehen sich an; Kosinski zuckt mit den Achseln. Berger öffnet das Täschchen, schüttet den Inhalt auf den Tisch. Ein Taschentuch und ein Haustürschlüssel.

»Vielleicht hat der Kerl das ja verloren!«

Erneut sehen die beiden Polizisten sich an. Beide denken dasselbe. Dieser Beutel gehört nicht dem Täter, der gehört allenfalls dem Opfer! Einen Augenblick lang sagt niemand etwas. Schließlich räuspert sich Kosinski: »Ich bin das vorhin abgegangen. Von der Vinzenzkirche bis hier, das sind fast zweihundert Meter. Zwei hohe Bauzäune dazwischen. Solide Bretterzäune. Da müsste einer schon ziemlich laut schreien, dass man das hier hört!«

»Noch dazu im Bauwagen«, setzt Berger nach.

Der Nachtwächter zuckt mit den Schultern. »Wenn ich es nicht gehört hätt, wär ich ja nicht rausgegangen!«

Kosinski sieht Berger an. »Draußen ist es ganz schön kalt. Da muss man als Lustmörder ja schon aufpassen, dass man nicht festfriert an seinem Opfer! – So ein Bauwagen, der wäre da natürlich etwas gemütlicher!«

Berger sagt: »Herr Horst, diese Lampe, die Sie da haben, das ist doch eine Petroleumlampe, nicht wahr?«

»Petroleum, ja.«

»Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir uns hier in Ihrem Wagen einmal ein bisschen umsehen?«

»Wieso denn? – Nee, natürlich nicht!«

So gut kann sich keiner verstellen, denkt Berger. Der Kerl weiß noch immer nicht, worum es hier geht. Es wäre so einfach, so logisch. Er trifft bei einem seiner Rundgänge auf das Mädchen, nimmt es mit in den Wagen. Und dann – er mag zwar alt und klapprig sein, aber mit einem neunjährigen Kind wird er immer noch fertig. Und dann hat er ja auch noch den furchterregenden Hund. Er vergeht sich an dem Kind, und als ihm bewusst wird, was er getan hat, bringt er es um, schleppt die Leiche so weit wie möglich weg und versucht schließlich, sie mit Petroleum zu verbrennen. Doch er hat nicht genug Petroleum …

Kosinski hebt die Flasche hoch. »Das müssten Sie aber auch mal wieder nachfüllen«, sagt er.

Der Nachtwächter nickt.

Doch die Überprüfung des Wagens ergibt keine Auffälligkeiten. Keine Blutspuren, weder im Raum noch an der Kleidung des Nachtwächters. Kosinski geht schließlich zu Olbrichts. Eine halbe Stunde später ist er wieder zurück. Fehlanzeige. Tasche und Schlüssel sind dort unbekannt. Die beiden Polizisten verabschieden sich mit Handschlag von dem Nachtwächter. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagt Kosinski. Johann Horst wird nie erfahren, dass er eine gute halbe Stunde lang unter Mordverdacht gestanden hat.

5.

Berger und Kosinski sind auf dem Weg zurück zum Präsidium. Als sie an der Vinzenzkirche vorbeikommen, bleibt Berger stehen.

»Was ist?«, fragt Kosinski.

»Sehen Sie, wie dunkel der Platz jetzt ist? Die Nische im Bauzaun, die ist von hier aus gar nicht zu erkennen. Es stimmt schon, an dieser Stelle war der Täter völlig ungestört. Er hat sich den Platz gut ausgesucht, an dem er das Kind abgelegt hat.«

»Ja, das könnte man meinen. – Aber andererseits hat er die Aufmerksamkeit geradezu gesucht. Immerhin hat er die Leiche angezündet. Ein hübsches kleines Feuerchen. Das muss man überall gesehen haben, über den ganzen Platz hinweg!«

»Warum nur?«

»Was weiß ich. Weil es ihn aufgeilt, vielleicht. – Gut möglich, dass er auch jetzt hier irgendwo herumsteht und uns zusieht.«

Berger sieht sich um. Der Täter jetzt hier? Denkbar wäre es natürlich. Wenn es doch so wäre! – Aber der Platz ist leer.

»Jedenfalls sind wir im Arsch«, sagt Kosinski.

»Wie?«

»Im Arsch. – Wenn es keiner der Angehörigen ist und keiner aus der Umgebung des Tatorts, der die einmalige Scheißgelegenheit genutzt hat, sich das Kind zu greifen, zu benutzen und abzumurksen, wenn das alles nicht ist, dann stehen wir völlig im Dunkeln.«

»Wir haben gerade erst mit der Untersuchung angefangen!« Es klingt hohl.

»Tatsächlich?« Kosinski fragt sich, ob der Berger wirklich so naiv ist. Hoffentlich nicht. »Was für eine Untersuchung denn? Keiner weiß was, keiner hat was gesehen. Was sollen wir da untersuchen? Und soviel steht fest: Wer immer das getan hat – er wird es wohl wieder tun!«

Daran mag Berger lieber nicht denken.

In Mombachs Zimmer brennt noch Licht; seine Tür steht weit offen.

»Sie? Ich dachte, Sie wären längst zu Hause!« Es muss fast Mitternacht sein inzwischen.

Mombach schüttelt den Kopf. »Ich will erst noch die Protokolle durchgehen. Bin gleich fertig.«

Berger hängt seinen Mantel an die Garderobe. Die Protokolle von seinem Fall! – Aber Mombach ist natürlich der Chef. Berger reibt sich die steif gefrorenen Hände. »Und? Was Interessantes dabei?«

Seine Stimme muss ihn verraten haben. Mombach guckt hoch. »Ich will Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen, ich will helfen, wenn ich kann.«

»Ich nehme Ihre Hilfe gern an«, sagt Berger rasch. Er spürt, wie er rot wird.

»Das hier, das ist vielleicht eine echte Spur. Da ist ein Mann gesehen worden, der mit einem Handwagen durch Flingern gezogen ist. Mit einem vierrädrigen Handwagen. Und da lag etwas drin, das mit Tannenreisig zugedeckt war. – Das könnte die Leiche der kleinen Olbricht gewesen sein.«

»Tatsächlich? – Tannenreisig oder vielleicht auch ein Tannenbaum?«

»Es heißt: Tannenreisig.«

»Und die Zeit?«

»Das soll so gegen fünf oder sechs Uhr morgens gewesen sein.«

»Das käme hin. – Dem müssen wir nachgehen. Das muss raus, an die Presse.«

»Das habe ich schon veranlasst.«

Berger setzt sich in den Sessel, reibt sich die Augen. Also gibt es doch wenigstens eine brauchbare Spur, denkt er. Vielleicht.

6.

Als Berger nach Hause kommt, sieht er zu seiner Freude, dass noch Licht brennt. Jutta ist noch da. Jutta, zweiundzwanzig Jahre, groß und schlank, Studentin der Rechtswissenschaften. Ein Zufall, dass sie sich kennen gelernt haben, ein Wunder, dass sie noch zusammen sind. Wie gut, dass er jemanden hat, mit dem er über alles reden kann.

»Du wirst den Kerl schon fassen!« Jutta streicht ihm über das Haar.

Berger weiß, dass er jetzt schlafen sollte. Aber er kann nicht schlafen. Zu vieles ist passiert. Und zu viele Fragen sind offen. Ist der Fundort der Leiche wirklich der Tatort? »Wir glauben, dass der Mann das Kind mit in seine Wohnung genommen und dort ermordet hat. Und später hat er dann die Leiche zum Bauzaun bei der Vinzenzkirche gebracht, mit Petroleum überschüttet und angezündet.«

»Er hat also eine Wohnung für sich allein?«

»Wahrscheinlich, ja.«

»Wenn es diese Wohnung gibt, ist sie nicht weit von der Vinzenzkirche. So ein Kind ist schwer, das trägt man nicht kilometerweit!«

»Vielleicht …« Er erzählt Jutta von dem Handwagen.

»Und was heißt das?« Jutta unterdrückt ein Gähnen.

»Er kann die Leiche ohne Mühe durch die ganze Stadt gefahren haben.«

»Unsinn! – Du sagst, das Mädchen war auf dem Weg nach Hause. Die Eltern wohnen in der Langerstraße und das Kind hat in der Rosmarinstraße gespielt. Das ist alles ganz dicht bei der Vinzenzkirche, wo ihr die Leiche gefunden habt, alles mitten in Flingern. Da wohnt auch der Täter! Ihr braucht nur die Straßen abzusuchen, Haus für Haus. Behrensstraße, Engelbertstraße, Mettmanner – die ganze Ecke.«

»Möglich …«, murmelt Berger. Im nächsten Moment ist er eingeschlafen. Jutta löscht das Licht und fährt mit dem Taxi zu ihren Eltern nach Hause.

7.

Es ist kalt in der Wohnung; die Fensterscheiben sind mit Eisblumen bedeckt. Berger ist früh aufgewacht; er sieht dem Tag freudlos entgegen. Zum ersten Mal fragt er sich, ob es wirklich richtig war, nach Düsseldorf zu gehen. Sicher, da ist das geerbte Haus, und da ist die Planstelle, aber die Stadt ist ihm fremd. Bis auf Jutta. Wegen Jutta ist er hier.

Jetzt, beim kargen Frühstück in der kalten Wohnung, jetzt packen ihn die Zweifel. Ist es der richtige Beruf, den er sich da ausgesucht hat? Hat der Weltkrieg nicht ausgereicht, seinen Bedarf an Toten zu decken? Muss er sich jetzt auch noch im Frieden damit beschäftigen? Und was für Tote! Das ermordete Kind hat ihn stärker betroffen gemacht, als er sich selbst eingestehen will. Gequält, gewürgt, erstochen, angezündet. Liegengelassen wie ein Stück Müll. Und es gibt nichts mehr, was man jetzt noch tun könnte.

Nein, denkt er, das stimmt nicht. Ich muss den Täter fassen. Das ist meine Aufgabe. Dazu bin ich ausgebildet. Wenn es kein Verwandter und kein Nachbar ist – umso schlimmer. Umso größer die Gefahr, dass er weiter mordet. In einem Monat, in einem Jahr vielleicht. Was für eine brutale Tat! Aber auch extrem leichtsinnig. In aller Offenheit, mitten in der Stadt. Es muss einfach Zeugen geben. Heute werden sie sich melden. Heute erwischen wir ihn. Also los.

8.

Grauer Februarmorgen. Mürrische, unausgeschlafene Polizisten. Das Zimmer ist überheizt und schon jetzt völlig verraucht. Der Kaffee zu stark, wie immer. Berger nimmt einen Schluck und setzt den Becher wieder ab.

»Hier, haben Sie das gesehen?« Fuhrmann schiebt ihm die Zeitung hin. »Grzesinski, der Innenminister. Unser preußischer Innenminister! Sagt im Landtag: ›Mehr Geld braucht die Polizei nicht, der geht es sowieso schon zu gut. Und wer zweiunddreißig ist und bei der Polizei, der hat seine zehntausend Reichsmark auf der hohen Kante.‹ – Ich nicht, kann ich nur sagen. Ich nicht! Und ich bin inzwischen über fünfzig!« Fuhrmann ist erbittert.

»Ich habe auch keine zehntausend«, sagt Berger.

Aber du hast jedenfalls ’ne reiche Freundin, denkt Fuhrmann. Er sagt: »Was glauben Sie, wie solche Dinge bei der Bevölkerung ankommen? Was wir da wieder zu hören kriegen! Ihr fresst euch fett auf unsere Kosten, und die Mörder, die kriegt ihr trotzdem nicht!«

Berger wirft dem Kollegen einen kritischen Blick zu. Er ist in der Tat zu dick, der Gute. »Wir lassen uns alle nach Berlin versetzen«, schlägt er vor, um das Gerede zu beenden. »Und? Gibt es sonst was Neues?«

Fuhrmann schüttelt den Kopf: »Nichts. Keine Spur von dem Mann mit dem Handwagen. Und ansonsten hat keiner etwas gesehen oder gehört. Es ist unfassbar!«

»Es kann natürlich sein, dass sich morgen oder übermorgen noch jemand meldet«, sagt Berger. »Jemand, der das erst am Montag aus der Zeitung erfährt, oder auf der Arbeit davon hört.«

Fuhrmann ist skeptisch. »Ich fürchte, da wird nicht viel kommen.«

»Es gibt noch einen Punkt, dem wir nachgehen sollten«, gibt Kosinski zu bedenken. »Die Ecke bei der Vinzenzkirche liegt nicht auf dem direkten Wege von der Rosmarinstraße zur Langerstraße. Die kleine Rosa ist immer die Flurstraße gegangen, sagt die Mutter. Der Täter muss das Kind also dazu gebracht haben, vom Wege abzuweichen.«

»Das wissen wir doch gar nicht! Er kann ja irgendwo in der Flurstraße wohnen, sie dort getroffen und in sein Zimmer gezerrt haben.«

»Unfug. Der hat die Kleine doch da ermordet, wo wir sie auch gefunden haben!«

»Vielleicht.«

»Ich frage mich, wie er das wohl gemacht hat. Wie er wohl das Kind dazu gebracht hat mitzugehen. Neun Jahre – da weiß man doch schon, dass man nicht mit Fremden mitgehen darf.«

Berger zuckt mit den Achseln. »Bonbons vielleicht. Oder Schokolade. Wie auch immer – das wird bei der Obduktion herauskommen.«

9.

»Was wir am Freitag gegessen haben?« Frau Olbricht wirkt gefasst, aber bei dieser Frage sieht sie den Polizisten doch erstaunt an.

»Ja, das heißt, in erster Linie natürlich, was die kleine Rosa gegessen hat.« Fuhrmann fühlt sich unbehaglich.

»Also mittags, da gab es Sauerkraut und Kartoffeln.«

»Und – wie haben Sie die zubereitet?« Das ist wichtig, hat Berger ihm eingeschärft. Fuhrmann hat keine Ahnung, wie man Sauerkohl vielleicht zubereiten könnte.

»Ganz normal«, sagt Frau Olbricht.

Fuhrmann sieht sie an. »Und – was heißt das?«, fragt er schließlich.

»Erst die Kartoffeln gekocht, in Wasser, mit nem halben Teelöffel Salz, dann kleingestampft, und dann mit dem Sauerkohl verrührt.«

»Und – Fleisch?«

»Ja, da hab ich fetten Speck genommen. Den schneide ich immer in kleine Würfel und dann brate ich ihn in der Pfanne an. Und wenn er dann schön knusprig braun ist, vermenge ich ihn mit dem Kohl und den Kartoffeln.«

»Ja. Und – was hat die Rosa dazu getrunken?«

»Ob sie was getrunken hat, weiß ich gar nicht. Kann sein, dass sie etwas Milch getrunken hat. Milch mit Kaffee.«

»Mit Kaffee?«, fragt Fuhrmann. Das hätte es bei ihm zu Hause nicht gegeben.

»Ja, mit Kaffee.«

»Und wann haben Sie zu Mittag gegessen?«

»Das war so zwischen vierzehn Uhr und 14.30 Uhr etwa.«

»Das war also die letzte Mahlzeit, die sie … bevor sie …«

»Ja. Bei ihrer Freundin hat sie nichts gegessen, das weiß ich. Da kriegt sie nie etwas.«

»Und zum Frühstück? Wissen Sie noch, was es da gegeben hat?«

»Ja, zum Frühstück, da hatte sie süßes Graubrot, mit durchwachsenem Schinkenspeck. Das hat sie mit zur Schule genommen. Und in der Schule hat sie dann morgens immer eine Tasse Milch getrunken. – Sagen Sie, warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?«

»Jede Einzelheit kann wichtig sein«, sagt Fuhrmann unbestimmt. Hoffentlich fragt sie nicht nach, denkt er. Hoffentlich fragt sie nicht weiter nach! Ich kann ihr doch nicht sagen, dass wir ihrem kleinen Mädchen den Bauch aufschneiden wollen und nachgucken, was drin ist!

Frau Olbricht fragt nicht nach. Doch die Obduktion bringt auch keine neuen Erkenntnisse. Es werden weder Spuren von Bonbons noch Schokolade gefunden.

10.

»Ich komme wegen dem Mord an dem Mädchen …« Der Polizist ist verlegen, dreht den Tschako in seinen Händen. Dies ist nicht der Dienstweg, denkt er; er fühlt sich unbehaglich.

»Kommen Sie, setzen Sie sich!«

»Danke. – Ja, also, ich weiß nicht, ob Sie in der letzten Woche die Zeitung gelesen haben …«

Berger schüttelt den Kopf. Eis auf dem Rhein, davon war die Rede. Und irgendetwas war mit dem Kellogg-Plan, aber das meint der Kollege sicher nicht.

»Ich komme von Gerresheim …«

Bergers Hoffnung sinkt. Gerresheim, das ist vom Tatort an die fünf Kilometer entfernt, wenn nicht mehr. Eine ganz andere Welt. Aber von Eck sagt: »Gerresheim? Der Überfall auf die Frau?« – Wenigstens einer, der die Zeitung liest, denkt Berger.

Der Polizist nickt. »Ja. Am Montag ist das gewesen, in der Berthastraße. War ja nur eine kleine Notiz in der Zeitung, und ich dachte mir, vielleicht haben Sie das nicht gesehen. Aber wenn Sie das sowieso schon alles wissen …«

»Ich weiß gar nichts«, sagt Berger. »Was war das in Gerresheim?« Warum hat von Eck nichts davon gesagt?

»Also, da ist am Sonntagabend diese Frau Krohn überfallen worden. Apollónia Krohn. Das war so kurz nach neun Uhr. Sie hatte eine Freundin besucht und war auf dem Weg nach Hause. Und dann, als sie in die Berthastraße einbiegt, da hört sie plötzlich Schritte hinter sich. Jemand folgt ihr. Geht mal schneller, mal langsamer. Die Sache ist der Frau Krohn unheimlich. Sie bleibt stehen, will den Mann vorbeilassen. Der geht auch vorbei, ruft ›Guten Abend!‹ – und dann kehrt er plötzlich um. Er sagt zu der Frau Krohn: ›Keinen Laut!‹, oder so ähnlich, und im selben Moment fängt er auch schon an, mit einem Dolch auf sie einzustechen. Auf den Kopf. Alles geht rasend schnell. Sie schreit: ›Julius!‹ – das ist der Name von ihrem Mann, dann fällt sie auf die Knie. Der Kerl sticht weiter auf sie ein, und dann bricht sie zusammen und verliert das Bewusstsein.«

»Stiche auf Kopf und Leib – genau wie bei der kleinen Olbricht!«

»Insgesamt zwölf tiefe Stiche.«

»Ganz genau wie bei dem kleinen Mädchen. Und – lassen Sie mich raten – ich nehme an, es war eine junge Frau, noch ziemlich kindlich?«

Der Polizist schüttelt den Kopf. »Groß, kräftig, fünfundfünfzig Jahre alt.«

Das passt nicht, denkt Berger. Das hat mit unserem Fall nichts zu tun. »Und – ist sie tot?«

»Nein. Sie hat Glück gehabt. Der Mörder hat wohl geglaubt, dass sie tot wäre, und hat von ihr abgelassen. Sie ist aber wieder zu sich gekommen, nach Hause gelaufen, und ihr Ehemann hat dann sofort den Arzt gerufen. Die Nachbarn hatten zum Glück Telefon.«

»Hat sie den Täter beschreiben können?«, fragt Fuhrmann.

»Leider nicht. Es ist ja alles so schnell gegangen. Und ziemlich dunkel war es auch. Da draußen gibt es ja noch keine Straßenbeleuchtung.«

»Hat sie denn gar keine Angaben machen können?«

»Der Kerl hat einen dunklen Überzieher und einen dunklen Hut getragen, sagt sie.«

»War er größer oder kleiner als sie, alt oder jung?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube, das hat sie in dem Moment nicht registriert.«

»Wir werden mit der Frau sprechen müssen«, sagt Berger.

Wahnsinn

11.2. - 6.4.1929

1.

Als Berger vom Krankenhaus zurückkommt, telefoniert sein Chef gerade. »Entschuldigung.« Berger will die Tür schon wieder schließen, aber Kriminalrat Mombach winkt ihn geradezu aufgeregt zu sich ins Zimmer.

»Ja, genau, das passt haargenau!« Er gibt Berger ein Zeichen, sich zu setzen. »Schicken Sie ein Foto, am besten per Kurier, dass wir das an alle Dienststellen verteilen können. Und an die Presse.«

»Eine Spur?«, fragt Berger.

Mombach nickt. »Ja, natürlich. – Danke, ja, das ist ganz hervorragend!« Als er den Hörer auflegt, strahlt er über das ganze Gesicht.

»Eine heiße Spur?«

»Heißer geht es gar nicht! – Das war Grafenberg. Die Heil- und Pflegeanstalt. Da ist einer ausgebrochen. Schwitzer heißt der. Der hat da eingesessen, weil er ein kleines Mädchen umgebracht hat. Ein Kind von elf Jahren. Hat es in seine Wohnung gelockt, vergewaltigt und dann erstochen. Zahlreiche Stiche und Schnitte, sagt Friese. Das ist der Leiter der Anstalt, mit dem hab ich eben telefoniert.«

»Aus Grafenberg ausgebrochen? Hier bei uns in Düsseldorf? Wieso weiß ich nichts von dem Fall?«

»Ist schon vor ein paar Wochen passiert. Warten Sie, ich hab es mir aufgeschrieben – ja, hier steht es. Am 24. November. Also vor gut zehn Wochen. Das ist unser Mann, Berger.«

»Ja, vielleicht.« Berger kann den Enthusiasmus seines Chefs nicht ganz teilen.

»Das ist er auf jeden Fall! – Ach ja, das Beste wissen Sie ja noch gar nicht, das hab ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt: Nachdem er das Kind umgebracht hatte, hat er die Leiche auf dem Dachboden versteckt. Und dann ist er hinterher noch mal wiedergekommen und hat Feuer gelegt. – Was sagen Sie jetzt?«

»Genau wie bei der kleinen Olbricht«, muss Berger zugeben. »Bis heute Mittag hätte ich noch geglaubt, das ist unser Täter …«

»Jetzt nicht mehr?«

»Ich weiß nicht. Inzwischen haben wir es nicht mehr nur mit einem Mord an einem kleinen Mädchen zu tun …« Berger berichtet von dem Überfall in Gerresheim und seinem Besuch im Krankenhaus. Leider hatte die Frau Krohn den Täter wirklich nicht beschreiben können.

»Das sind zwei ganz verschiedene Fälle.«

»Das habe ich auch erst gedacht, aber die Art des Überfalls, die Stiche in den Kopf …«

Mombach überlegt einen Augenblick. Schließlich wischt er den Einwand vom Tisch: »Na und? Was sagt das schon? Der Mann ist aus Grafenberg ausgebrochen, aus der Irrenanstalt. Er ist wahnsinnig. Und die zwei Überfälle, die wir jetzt gehabt haben, die gehen doch eindeutig auf das Konto eines Wahnsinnigen! – Friese sagt, der Ausbruch ist damals natürlich gemeldet worden. Wir haben auch schon ein Foto, aber er schickt uns gleich noch einmal einen Abzug. Wir haben das damals nicht mit dem größten Nachdruck verfolgt. Und – um ehrlich zu sein – wir haben wahrscheinlich gedacht, der Mann ist unterwegs nach Süden. Nach Koblenz vielleicht.«

»Nach Koblenz? Wo war denn das damals mit dem Kind?«, fragt Berger. »Nicht hier in Düsseldorf?«

»Nein, nicht hier. Das war in Kreuzberg. An der Ahr.«

»An der Ahr?« Das ist über hundert Kilometer von Düsseldorf entfernt.

2.

»Hum-ta-tä! Hum-ta-tä!«, dröhnt es von der Straße. Berger schließt das Fenster.

»Sehen Sie, es hat am Ende doch noch geklappt!« Fuhrmann strahlt.

»Ja.« Es ist nicht zu überhören. Der Rosenmontagszug wälzt sich durch Düsseldorf. Berger stammt nicht aus dem Rheinland, er kann dem Karneval nichts abgewinnen.

»Alles durch private Spenden!«

Berger verkneift sich seinen Kommentar. Hoffentlich passiert heute nichts, denkt er. Die Polizei ist voll damit beschäftigt, den Rosenmontagszug zu schützen und das Chaos einigermaßen in Grenzen zu halten. Im Präsidium ist nur eine Notbesetzung.

»Es steht in der Zeitung«, sagt Fuhrmann.

»Ja.«

Aber diesmal meint der Kollege nicht den Karneval, sondern die Fahndung nach Emil Schwitzer. »Er ist 1,72 m groß, schlank, hat hellblondes, seitlich gescheiteltes Haar, auffallend große Poren im Gesicht, ähnlich wie Pockennarben … Und dazu bringen sie sein Foto. Den finden wir, da gibt es gar keine Frage.«

»Er kommt von der Ahr«, sagt Berger. »Wer weiß, ob das wirklich unser Mann ist!«

»Ja, an der Ahr, da ist er wohl geboren, das stimmt. Aber der Schwitzer, der hat auch Beziehungen nach Düsseldorf. Der war ja Händler oder so was, und der hat wohl eine Freundin hier in Düsseldorf gehabt. In Flingern.«

»Was?« Berger fährt hoch. Sollte an der Geschichte doch etwas dran sein?

»Ja, aber da ist er nicht. Kosinski hat das schon überprüft. Die Frau wohnt noch da, aber sie lebt jetzt mit einem anderen Mann zusammen. Wenn der Schwitzer sich da blicken lässt, bekommen wir sofort Bescheid.«

»Schön. – Und wo ist Kosinski jetzt?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich beim Umzug mit dabei.«

»Beim Umzug? Als was denn, als Nosferatu vielleicht?«

Fuhrmann lacht.

Berger beißt sich auf die Lippen. Als Vorgesetzter hätte er das nicht sagen dürfen. Er hat sich an die neue Rolle noch nicht gewöhnt.

Aber Fuhrmann sagt: »Der Kosinski, der ist schon in Ordnung. Der wirkt nur so finster, aber in Wirklichkeit – in Wirklichkeit ist der in Ordnung.«

3.

»Ich konnte nicht früher weg!«

»Ja, da musst du dich nun schon entscheiden zwischen deinen Mördern und deiner Freundin!«, sagt Jutta gewollt schnippisch.

Das ist ein Scherz, aber Berger ist nicht nach Scherzen zumute. »Du glaubst ja gar nicht, was bei uns los ist. Selbst aus Köln haben sie inzwischen angerufen.«

»Wegen dieses Schwitzer, von dem die Zeitungen schreiben?«

»Nein, nicht nur wegen Schwitzer. Der Mord erinnert sie an einen Fall von vor dem Krieg, sagen sie, wo auch ein kleines Mädchen brutal ermordet worden ist.«

»Und?«

Berger schüttelt den Kopf. »Das kann nicht sein. Da kann kein Zusammenhang bestehen. Vor sechzehn Jahren! – Der Schwitzer jedenfalls, der wäre damals doch viel zu jung gewesen.«

»Und wie wäre es, wenn du jetzt deine Mörder einen Augenblick vergessen würdest? – Es gibt nämlich einen Grund zum Feiern.«

»Wie? – Ach, mein Gott, es ist ja Karneval!«

Berger wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Zwei Flaschen Champagner stehen da im Eis. Der Karneval hat auch seine angenehmen Seiten. »Und wie willst du hinterher nach Hause kommen?«

Jutta sieht ihren Freund an. »Vielleicht könnte ich hier übernachten?«

Karneval ist einfach prima.

4.

»Aufstehen, Berger!« Es klopft an die Wohnungstür.

Berger fährt hoch. Das ist doch Mombachs Stimme? Was macht der Chef hier in seinem Haus? Er springt aus dem Bett. Zu schnell. Alles dreht sich. Berger muss sich am Tisch festhalten. Zu viel Alkohol, denkt er. Das war zu viel gestern Abend. Wie spät mag es sein? Noch keine neun Uhr. Und Jutta? Jutta ist weg.

»Nun kommen Sie schon, Berger, wir haben’s eilig!«

»Was gibt’s denn?« Berger fährt in seine Sachen. »Ich komm ja schon!«

Auf dem Weg zur Tür lässt er noch rasch die leeren Flaschen im Papierkorb verschwinden. Sein Blick fällt auf den Spiegel. Mein Gott, sieht er aus! Und wo ist jetzt wieder der Kamm? Keine Zeit, danach zu suchen. Er fährt sich rasch mit den Fingern durch die Haare. Dann schließt er die Tür auf.

»Na endlich!« Mombach ist ungehalten.

»Entschuldigung. Was ist denn los?«

»Wie sehen Sie denn aus? Aschermittwoch, was?« Mombach lacht. »Kommen Sie mit, Berger, wir haben unseren eigenen Aschermittwoch vor uns. In Gerresheim draußen, da liegt einer. Tot.«

5.

Das Erste, was sie sehen, ist die Blutlache auf der Straße. Eine Reifenspur geht mitten hindurch.

»Kommen Sie, hier ist es!« Der Wachtmeister führt Mombach, Berger und Kosinski ein Stück weiter die Straße entlang. »Hier.«

Der Tote liegt mit dem Gesicht nach unten im Straßengraben. Mombach beugt sich über ihn, fasst nach dem Puls. »Zur Sicherheit!«, wendet er sich an Berger und Kosinski. Aber da ist kein Puls mehr.

»Der ist noch nicht lange tot«, sagt der Wachtmeister. »Die Leiche ist noch warm.«

»Tja«, sagt Mombach. »Da sind wir zu spät gekommen. – Wer hat ihn gefunden?«

»Das junge Fräulein da drüben. Sie kennt ihn. Spee heißt er.«

»Der Admiral?«

Kosinski natürlich! Berger sieht den Kollegen scharf an. Solche Scherze sind hier fehl am Platz. Man muss kein Polizist sein, um zu sehen, dass dieser Tote kein Admiral ist.

Der Wachtmeister schüttelt den Kopf. »Nein, der ist kein Admiral. Maschinist oder so etwas. Früher mal. Jetzt nicht mehr. Ist ein Invalide.«

»Erstochen«, sagt Kosinski.

»Erstochen«, bestätigt Mombach. »Und – sehen Sie das hier?«

Berger nickt. »Eine Schleifspur. – Er ist auf der Straße getötet worden. Da drüben, wo die Blutlache ist. Der Täter hat ihn erst danach in den Graben gezerrt.«

Mombach sieht nachdenklich auf den Toten hinunter. »Lederne Gamaschen«, sagt er. »Sollte mich nicht wundern, wenn der Täter sein Opfer an den Gamaschen gepackt und hier runtergezerrt hat. Das gibt Fingerabdrücke. Das muss Fingerabdrücke geben.«

»Ich geh und hole die Ausrückungstasche«, sagt Kosinski.

»Gut«, sagt Berger. »Ich spreche mit dem Mädchen.«

Das Mädchen heißt Luise Werner. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit gewesen; da hab ich hier die Flecke auf der Straße gesehen und auch dass hier etwas Schweres zur Seite geschleift worden ist. Da hab ich nachgesehen und den Spee gefunden.«

»Sie kannten ihn?«

»Ja, er wohnt hier in den Schrebergärten. Zusammen mit seinem Sohn. Da drüben, wenn Sie hier in den Weg einbiegen, sehen Sie gleich das Häuschen. – ›Herr Spee!‹, hab ich gerufen. Ich hab ihn sofort erkannt, wegen seiner Jacke. Aber er hat sich nicht gerührt. Ich bin dann in den Graben runter und hab nachgesehen. Da hab ich gemerkt, dass er tot ist. Da hab ich gleich die Polizei geholt.«

»Haben Sie ihn angefasst?«

»Nein.«

»Das haben Sie gut gemacht«, sagt Berger. Hübsch sieht sie aus, denkt er, und völlig gefasst!

Aber so ruhig wie sie scheint, ist Luise Werner gar nicht. »Kann ich wohl eine Zigarette haben?«, fragt sie.

»Bitte.« Berger gibt ihr eine.

»Ich würd Sie gern noch was fragen«, sagt das Mädchen.

»Fragen Sie.«

»Da war doch neulich dieser Überfall auf die alte Frau hier in der Gegend?«

Alte Frau! »Ja, was ist damit?«

»Wahrscheinlich hat es überhaupt gar keine Bedeutung. Aber ein paar Tage danach, als ich mit meiner Mutter hier spazieren gegangen bin, da hat uns ein Mann angesprochen. Der hat uns von dem Überfall erzählt. Wir hatten gar nichts davon mitbekommen. Und dieser Mann, der hat gesagt, wie gefährlich es ist, hier allein herumzugehen, und der hat uns dann nach Hause gebracht.«

»Das war sehr nett von ihm«, sagt Berger.

»Ja.« Sie zieht heftig an ihrer Zigarette.

»Ja, aber?«

»Er hat so viel von diesem Überfall erzählt, alle Einzelheiten, die wir gar nicht wissen wollten. Meine Mutter hat sich schrecklich aufgeregt. Es war – es war irgendwie unheimlich.«

»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragt Berger.

»Beschreiben?«

»War er vielleicht besonders groß oder besonders klein?«

»Eher so durchschnittlich, würde ich sagen.« Sie hat ihn sich nicht genau angesehen.

»Dick oder dünn?«

»Nein. Ich weiß nicht. Das Einzige, was ich wirklich sagen kann, das ist: Er war unheimlich.«

Das bedeutet gar nichts, denkt Berger. »Wissen Sie was?«, schlägt er vor. »Wenn dieser Mann noch einmal hier in der Gegend auftaucht oder Sie anspricht – könnten Sie mir dann einfach Bescheid sagen? – Hier, ich gebe Ihnen meine Karte mit. Da steht alles drauf. Mein Name und die Telefonnummer, unter der Sie mich erreichen können.«

Wahrscheinlich wird er nicht wieder kommen, denkt Berger.

»Keine Abdrücke!« Mombach erhebt sich. »Kosinski und ich, wir haben es beide versucht. Wenn er ihn an den Gamaschen in den Graben gezerrt hat, dann hat er die hinterher wieder abgewischt. Oder Handschuhe angehabt. – Der Spee, der war übrigens betrunken. Der riecht immer noch nach Alkohol.«

»Heute ist Aschermittwoch«, sagt Berger. Er geht davon aus, dass er selbst auch noch nach Alkohol riecht.

»Wir haben inzwischen den Graben und das Gebüsch abgesucht.«

»Und? Was gefunden?«

»Einen Hut haben wir gefunden. Ein paar Meter von der Leiche entfernt. Der Täter muss ihn in die Büsche geworfen haben, nachdem er sein Opfer hier in den Graben gezerrt hatte.«

»Fingerabdrücke?«

»Auf dem Filz? Da dürften wir wohl keine Chance haben! – Aber das hier, das haben wir auch noch gefunden!« Mombach hält ihm einen kleinen Gegenstand hin.

»Ein Taschenmesser!«

»Ja. Das muss dem Spee gehört haben. Er hat es wohl aus der Tasche gezogen und versucht, es zu öffnen, aber der Mörder war schneller. Das Messer lag da hinten im Gras. – Da kommt Kosinski. – Ich hab ihn rübergeschickt zum Haus von dem Spee. Er soll sich mit dem Sohn unterhalten.«

»Kosinski?«, fragt Berger.

»Kosinski kann das. Er ist manchmal etwas zynisch, aber in einem solchen Fall, da kann er sich sehr wohl zusammennehmen. – So wie es aussieht, war dies das Werk desselben Täters.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich der Schwitzer gewesen sein kann.«

Mombach schüttelt den Kopf. »Schwitzer kommt nicht in Frage. Wenn Sie etwas früher aufgestanden wären, würden Sie das schon wissen. Er war gestern Abend bei Bekannten in Köln. Das Alibi ist von mehreren Zeugen bestätigt worden.«

Was hackt er auf mir herum, denkt Berger. Darf ich nicht einmal mehr nachts schlafen?

»Es ist schon ein Elend«, sagt Kosinski. »Solche Leute, die erwischt es natürlich immer zuerst. Das ist vielleicht eine Bruchbude da drüben, alles selbst gebaut. Rudolf Spee, der war vierundfünfzig, eigentlich Maschinist, aber jetzt arbeitslos, wegen seiner Verletzung. Er war zuletzt zu Pflichtarbeiten eingesetzt, drüben am Königsbusch …«

»Das ist doch da, wo die Krohn überfallen ist!« Mombach runzelt die Stirn.

»Ja, das ist die Gegend. Gestern Abend so gegen neunzehn Uhr ist er nach Hause gekommen. Sein Sohn, der ist auch schon an die dreißig, auch arbeitslos, krank, liegt im Bett. Eine Frau gibt es nicht. Der Sohn hat den Vater gebeten, noch etwas zu Essen zu besorgen; es war nämlich nichts mehr da. Der Alte ist also losgezogen, hat auch ordentlich hinter sich abgeschlossen – mit einem Vorhängeschloss. Den Sohn eingesperrt, sozusagen. Und dann ist er nicht wiedergekommen …«

»Was immer er getan haben mag in der Zeit zwischen neunzehnUhr und seiner Ermordung – er war auch in einer Gaststätte, das steht fest. Er riecht nach Alkohol.«

»Vielleicht hat er mit seinem Mörder gezecht? – Ich hör mich mal um.«

»Ja. Machen Sie das, Kosinski. Wir treffen uns nachher, wenn Stolley mit der Obduktion fertig ist.«

Berger will zurück ins Präsidium. Hier kann er nichts mehr tun. Mombach hält ihn zurück: »Ach, ein Wort noch, Berger!«

»Was gibt es denn?« Sicher nichts Gutes!

»Die Staatsanwaltschaft hat sich beschwert über Sie. Sie hätten die Leiche der Olbricht nicht abräumen dürfen, bevor der Staatsanwalt da war.«

»Sie waren doch selbst draußen«, erwidert Berger verärgert. »Sie haben gesehen, was da los war. Die Lage war ja kaum noch unter Kontrolle. Ich musste die Leiche wegschaffen lassen«

»Weiß ich, weiß ich ja! – Aber der Herr Jansen, der hat das alles natürlich nicht gesehen. Und anschließend musste er in der Zeitung lesen, dass er verschlafen hat. Und deshalb macht er diesen Aufstand.«

»Soll ich mich etwa schriftlich entschuldigen?«

Die Ironie prallt an Mombach ab. »Schriftlich nicht, denke ich, aber ein Anruf wäre nicht schlecht.«

Berger seufzt. Das hat ihm gerade noch gefehlt.

»Jedenfalls sind wir die Verantwortung für diesen Fall bald los.«

»Was?«

»Langels hat heute früh in Berlin angerufen und das Landeskriminalamt um die sofortige Entsendung eines fähigen Mordkommissars gebeten.«

»Heißt das, dass wir unfähig sind?«, explodiert Berger.

»Fassen Sie sich, Berger! Keiner sagt das. – Aber zweieinhalb Morde in gut einer Woche! Da hat unser Präsident kalte Füße bekommen. Er hat Angst, dass er am Ende selbst schlecht aussieht. Und das will er natürlich nicht. Deshalb will er einfach die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen.« Mombach lacht – etwas gezwungen, wie es Berger scheint.

6.

»Sie halten mich ja ganz schön in Atem!« Professor Stolley zieht sich den weißen Kittel aus. Zu zweit haben sie ihn aufgesucht in der Gerichtsmedizin: Mombach und Berger.

»Aber mein lieber Herr Professor! Zwei Leichen in vier Tagen – in Ihrem Alter sollten Sie das eigentlich noch schaffen können!« Mombach lacht.

Berger ist unangenehm berührt. Darüber scherzt man nicht. Aber wahrscheinlich wird man so, denkt er. Man stumpft ab, wenn man dauernd mit dem Tod zu tun hat.

Stolley verzieht keine Miene. »Zwölf Stiche. In den Hinterkopf, in den Nacken, in den Rücken.«

»Hat er den Mann von hinten angegriffen?«, will Mombach wissen.

»Das weiß ich nicht. Aber eigentlich glaube ich es nicht. Nein, ich nehme eher an, der Messerstecherei ist ein Handgemenge vorausgegangen, bei dem Spee dann den Kürzeren gezogen hat. So wie die Verletzungen angeordnet sind, sind die Stiche von oben ausgeführt worden. Wahrscheinlich ist der Spee zu Boden gegangen, und bevor er sich wieder aufrichten konnte, hat der Mörder wie ein Wahnsinniger auf ihn eingestochen. Einer der Stiche ist tief in die Halswirbel gegangen, ein anderer Stich hat die Lunge verletzt, ein dritter Stich ist ins Hirn gedrungen. Diese Verletzungen haben zum Tode geführt – in Verbindung mit der Kälte der Nacht und nicht zuletzt auch damit, dass Spee betrunken gewesen ist. Erheblich betrunken.«

»Aber er hat noch gelebt, als der Mörder ihn in den Graben gezerrt hat?«

»Das ist gut möglich, ja.«

»Dann stimmt es also doch. – Wir haben da die Aussage von einem Arbeiter, der in aller Frühe, so gegen 5.30 Uhr an der Stelle vorbeigegangen ist. Der sagt, er habe ein Stöhnen gehört. Er hat noch gesucht, was das wohl sei, aber in der Dunkelheit nichts finden können.«

»Schade«, seufzt Berger.

»Ich glaube nicht, dass der Mann noch zu retten gewesen wäre. Mit den Verletzungen …«

»Die Reifenspur«, erinnert Mombach. »Es gibt eine Reifenspur quer durch die Blutlache. – In dem Gebiet da draußen fahren nicht allzu viele Autos. Es könnte der Mörder gewesen sein.«

»Von den Leuten, die wir bisher befragt haben, hat keiner einen Wagen gehört oder gesehen«, sagt Berger.

»Kommt vielleicht noch. – Also, was wissen wir bis jetzt? Spee ist abends so gegen neunzehn Uhr von seiner Baracke aus losgegangen, um etwas zu Essen zu holen. In der nächstgelegenen Gaststätte kauft er ein paar Bücklinge. Außerdem trinkt er das eine oder andere Bier. Dann zieht er weiter zur nächsten Gaststätte, trinkt weiter und kommt so gegen dreiundzwanzig Uhr wieder in die erste Kneipe zurück. Er kauft noch ein Kotelett für seinen kranken Sohn. Wahrscheinlich hat er inzwischen vergessen, dass er ja schon die Bücklinge hat. Und er will weiter trinken. Der Wirt verweigert ihm aber den Alkoholausschank, da Spee bereits ziemlich angeschlagen ist. Also verabschiedet der sich und wankt in Richtung Heimat.«

»Allein?«

»Soweit wir wissen allein. In keiner der Kneipen, in denen Kosinski nachgefragt hat, war Spee mit irgendeinem Kumpanen zusammen. Er hat allein getrunken, wie sonst auch. Er galt als nicht besonders gesellig. – Wir müssen davon ausgehen, dass er dem Mörder erst auf dem Heimweg über den Weg gelaufen ist.«

»Mich brauchen Sie dann ja wohl nicht mehr?« Stolley hängt seinen Kittel an den Haken.

Mombach hält ihn zurück. »Eine Frage hätte ich schon noch. Was sagen Sie: Ist es dasselbe Messer, mit dem die Krohn, die Olbricht und der Spee angegriffen worden sind?«

»Ich habe die Frau Krohn ja nicht gesehen, dazu kann ich nichts sagen. Aber bei der kleinen Olbricht und dem Spee, da würde ich schon sagen, ja, das ist dasselbe Messer gewesen. Eine sehr schmale, andererseits aber erstaunlich dicke Klinge. Ziemlich ungewöhnlich. Wenn Sie sich die Verletzungen noch einmal ansehen wollen, ich könnte Ihnen …«

»Nein danke«, sagt Mombach. »Ich glaube Ihnen aufs Wort.«

7.

Sie sitzen zusammen. Mombach hat die Zeitungen vor sich ausgebreitet. Der gestrige Mord an dem Invaliden nimmt einen breiten Raum ein. »Drei Überfälle in gut einer Woche. Zwei Morde, ein Mordversuch. Eine relativ alte Frau, ein kleines Mädchen, ein Invalide. Wenn diese Überfalle von einem Einzeltäter verübt worden sind …«

»Daran kann doch wohl kein Zweifel bestehen«, wirft Kosinski ein.

»Wenn die Überfälle von demselben Täter verübt worden sind, dann heißt das, es gibt nur eine Gemeinsamkeit: Die Absicht, jemand umzubringen.«

»Ein Wahnsinniger ist das«, sagt Fuhrmann. »Man stelle sich das vor: Dieser Mann, wer immer das ist, zieht abends los, um zu töten. Das Opfer kann ein Mann sein, eine Frau, ein Kind. Ganz egal wer oder was, Hauptsache tot. Ich möchte wetten, wenn er stattdessen eine Kuh getroffen hätte, hätte er die auch umgebracht. – Und wir haben keine Ahnung, wer das gewesen sein kann, keine einzige heiße Spur.«

»Der Mann mit dem Handwagen?«, fragt Berger.

»Hat sich erledigt. Da war Wein drin. Weinflaschen für eine Karnevalsfeier. Mit Fichtenzweigen abgedeckt, wegen der Kälte. Damit das Zeug nicht friert. Wir hatten ja fast sechzehn Grad unter Null am Samstag früh.«

»Und jetzt?«, fragt Kosinski.

»Wir haben alle befragt, die in der Umgebung wohnen. Keiner hat was gesehen oder gehört. Aber jeder hat so seine Ideen. Die Zigeuner sollen es gewesen sein, so heißt es.«

»Die Zigeuner?« Berger kann es nicht glauben.

»Ja. Wir haben ja da dieses Zigeunerlager am Hellweg. Keine Zierde für die Umgebung, das gebe ich ja zu, aber nennenswerte Straftaten sind uns bisher noch nicht gemeldet worden. Wie es heißt, schicken die ihre Kinder sogar zur Schule. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Wenn etwas passiert, heißt es immer gleich: Das waren die Zigeuner.«

»Das ist doch Unfug«, sagt Berger. »Nie und nimmer waren das Zigeuner!«

»Aber den Anwohnern ist das Lager natürlich schon lange ein Dorn im Auge. Und die glauben halt, denen ist alles zuzutrauen. Langels hat jedenfalls eine Razzia angeordnet.«

Berger schüttelt den Kopf. »Das gibt nur Unfrieden, weiter nichts.«

Es klopft an die Tür.

»Herein«, ruft Mombach.

Es ist Langels mit zwei Herren in Hut und Mantel. Alle erheben sich von ihren Stühlen, Fuhrmann als Letzter.

»Guten Abend, Herr Polizeipräsident«, sagt Mombach.

»Schönen guten Abend, meine Herrschaften! Die Verstärkung aus Berlin ist da! Ich möchte Ihnen hiermit die Herren Kriminalkommissar Sauer und Kriminalassistent Breising vorstellen. – Willkommen in Düsseldorf!« Langels strahlt.

»Willkommen in Düsseldorf«, sagt Kosinski trocken. Er fixiert die beiden Neuen. »Schade, meine Herren, Sie kommen leider etwas zu spät.«

Langels stutzt. »Was denn? Ist der Fall gelöst?«

»Kosinski!«, zischt Mombach, aber Kosinski lässt sich nicht bremsen.

»Nein«, sagt er, »der Fall ist nicht gelöst. Das nicht. Aber heute ist Aschermittwoch – den Karneval haben Sie leider verpasst!«

8.

»Und? Ist das schlecht?«, fragt Jutta.

Berger hat ihr vom Eintreffen der Berliner Kollegen berichtet. »Es ist immer schlecht, wenn man seine Fälle nicht selbst lösen kann.«

»Dieser Langels scheint ja eine ziemliche Pfeife zu sein. Die Presse nimmt ihn jedenfalls gehörig unter Beschuss.«

»Er ist in einer schwierigen Position«, sagt Berger ausweichend. Er mag es nicht, wenn Jutta überheblich von seinen Vorgesetzten spricht.

»Findest du? – Kannst du mir mal den Reißverschluss zumachen?«

»Zu oder auf?«

»Zu natürlich. Ich muss in die Uni. – Aber heute Nachmittag, da liegt nichts weiter an. Die Vorlesung von dem Brieske, die ist sowieso zum Einschlafen. Der Rhein ist dicht, steht in der Zeitung. Das muss ich gesehen haben. Kommst du mit?«

Berger schüttelt den Kopf. »Der Rhein ist nicht wirklich zu. Jedenfalls nicht hier. Alles voller Treibeis, das ja, aber zugefroren ist er nicht.«

»Aber bei Emmerich! Ich hab vorhin mit den Pätzolds telefoniert. Man kann zu Fuß über den Fluss, von einer Seite auf die andere!«

»Sei bloß vorsichtig! Und zieh dich warm an, wenn du draußen spazieren gehst. Nicht dass du am Ende auch noch ein Opfer dieser Grippewelle wirst, von der die Zeitungen schreiben!«

»Red nicht wie meine Mutter! Komm lieber mit! Wir fahren zusammen nach Emmerich!«

Absurde Idee! Berger schüttelt den Kopf. »Ich hab doch Dienst. Zwei laufende Morduntersuchungen. Da kann ich nicht einfach abhauen.«

Seine Freundin sieht ihn an. »Wirklich nicht? – Hast du mir nicht gerade erzählt, dass sie dich kaltgestellt haben? Dass du die Verantwortung los bist?«

»Ja, natürlich. Aber …« Im Grunde müsste man es wirklich machen, denkt er. Diese Pfeifen haben es nicht anders verdient.

»Was soll passieren? Dafür schmeißen sie dich nicht raus! – Und wenn doch, dann kannst du immer noch bei Papa anfangen.« Ihr Lieblingsthema.

»Ich bin kein Kaufmann«, sagt Berger.

»Aber du könntest einer werden! – Um eins am Hauptbahnhof?«

Himmel, auf was hat er sich da eingelassen! »Um zwei frühestens.« Und zum Teufel mit allen Mördern.

Als Berger das Haus verlässt, tritt er auf Glasscherben. Die Milch! Niemand hat daran gedacht, die Milch hereinzuholen. Die Flasche ist geborsten, die gefrorene Milch steht als weißer Kegel zwischen den Scherben.

9.

Langels sitzt bei Mombach im Zimmer. »Sie haben den Artikel gelesen?«, fragt er. Es klingt deprimiert.

Mombach nickt. Die Lektüre der Tageszeitungen ist immer seine erste morgendliche Amtshandlung.

»Diese Journalisten verdrehen alles«, sagt Langels.

»Ja«, sagt Mombach. Sein Chef tut ihm fast Leid. Er weiß, dass Langels im Umgang mit der Presse nicht immer eine glückliche Hand hat. »Vielleicht hätten Sie nicht selbst mit den Burschen sprechen sollen?«

»Nein, vielleicht nicht.« Langels streicht sich über das Haar. »Aber andererseits – wir haben doch nichts zu verbergen! Es ist doch in Ordnung, dass wir die Spezialisten zu Rate ziehen. Das tun andere doch auch. In Gladbeck zum Beispiel. Der Abiturientenmord.«

»Ja, natürlich. Das haben Sie den Reportern ja auch erzählt.«

»Ja. Aber was die daraus gemacht haben, das ist das Schlimme! Ich habe gesagt, dass die Gladbecker die Experten aus Berlin erst sehr spät zu Rate gezogen haben. Und so wie das jetzt hier abgedruckt ist, jetzt sieht das so aus, als habe diesmal ich viel zu früh nach Berlin telefoniert. Dabei weiß doch jeder, dass bei einem Mordfall die ersten Tage entscheidend sind!«

»Die ersten Stunden«, murmelt Mombach.

Langels starrt ihn an. Ist das eine versteckte Kritik? Selbst von Mombach? »Lang und breit habe ich denen erläutert, dass unsere Kollegen – Sie, Berger, Kosinski, Fuhrmann, Sie alle – dass Sie selbstverständlich genauso gut ausgebildet sind, wie die Herrschaften von der Berliner Mordinspektion, aber dass Ihnen einfach die Erfahrung fehlt. Die Erfahrung mit wirklich großen Verbrechen. Was passiert denn hier schon? Drei Morde im letzten Jahr. Drei! Und alles einfache Fälle. In Berlin dagegen … Lang und breit habe ich denen das erklärt.«

Mombach nickt. »Lang und breit, das war der Fehler. Die haben das dann lang und breit abgedruckt.«

»Ein verheerender Artikel!«