Mitmenschlichkeit und Gottvertrauen bewahren in Zeiten der Krise - Bernhard J. Fröhlich - E-Book

Mitmenschlichkeit und Gottvertrauen bewahren in Zeiten der Krise E-Book

Bernhard J. Fröhlich

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Beschreibung

Im Jahr 68 n. C. reist die Chronistin Anna mit ihrem Vater und ihrem Bruder von Attaleia (heute: Antalya) in die östliche Metropole Antiochia, wo der judenchristliche Schriftsteller Markus an einer Jesuserzählung schreibt. Die drei wirken mit ihren Fragen und Ideen ein in die Gestaltung des Evangeliums. Zusammen mit den Mitgliedern der Gemeinde diskutieren sie zentrale Probleme: Hat Gott sie verlassen? Warum ist Jesus nicht wiedergekommen? Welche Stellung gebührt den Frauen in der Gemeinde? Was bedeuten Jesu Worte über Brot und Wein? Wie können wir der Gewalt von außen und dem Zweifel innerhalb der Gemeinschaft standhalten. Die dabei entstehende Schrift reift dabei zum Evangelium und wird als ein Lernprogramm für die Gemeinden verstanden. Dessen politische Botschaft bringt alle in Gefahr und Anna muss am Ende nicht nur um das Leben von Vater und Bruder, sondern auch um ihr eigenes kämpfen.   Die Erzählung entführt die Leserinnen und Leser in den Lebensraum einer antiken Großstadt mit ihrer religiösen und kulturellen Vielfalt und ihren politischen Bedrängnissen und in die Wurzelzeit des Christentums, mittendrin die junge judenchristliche Gemeinschaft, die ihre Identität erst finden muss. Die damals gefundenen Antworten bieten auch heute noch vitalisierende Impulse für christliches Gemeindeleben. Die vorliegende Erzählung verbindet in verständlicher Weise religionswissenschaftliche Ergebnisse und historische Fakten mit zum Teil fiktiven Figuren und Handlungen. Sie leistet so einen interessanten Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums.

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Annas Bittbrief an den Legaten Mucianus in Antiochia, Syrien:

Mein Vater Philemon und mein Bruder Jakob aus Attaleia sind römische Bürger und dienen dem Staat, indem sie für Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität der Menschen eintreten. Das ist doch kein Verbrechen und kann kein Grund für ihre Verhaftung sein, denn auch Kaiser Augustus hat allen römischen Bürgern diese Werte als Lebensaufgabe ans Herz gelegt.

Ich beschuldige dagegen den jüdischen Bürger Antiochus aus Antiochia, meinen Vater und meinen Bruder aus Wut und Rache schlimmer Verbrechen gegen den Römischen Staat bezichtigt, sie mit Unterstützung römischer Soldaten heimtückisch überfallen und mit dem Tod bedroht zu haben.

Ich glaube nicht, dass römische Beamte sich zu Handlangern eines Unruhestifters machen wollen, der aus Gier selbst seine Verwandtschaft der tödlichen Verfolgung ausgeliefert hat.

Deswegen bitte ich den Vertreter des Kaisers in der Provinz Syria, den geschätzten Legaten Mucianus, sich meines Vaters und Bruders anzunehmen und dem römischen Recht Geltung zu verschaffen.

Die Erzählung entführt die Leserinnen und Leser in den Lebensraum einer antiken Großstadt mit ihrer religiösen und kulturellen Vielfalt und ihren politischen Bedrängnissen. Und mittendrin die junge judenchristliche Gemeinschaft, die ihre Identität erst finden muss.

Für

Annika, Fabian, Moritz, Amelie

Der Autor Bernhard J. Fröhlich, Jahrgang 1948, war nach dem Studium in Mainz (Germanistik, Theologie, Philosophie) an Gymnasien in Koblenz und Andernach tätig und unterrichtete bis 2013 die Fächer Deutsch, Kath. Religion und Ethik.

E-Mail: [email protected]

INHALTSVERZEICHNIS

Erlebnis eines Türkeireisenden

Annas Vorwort

TEIL I

Kapitel 1

Die Ankunft

Kapitel 2

Auf, nach Antiochia!

Kapitel 3

Austausch von Erinnerungen

Kapitel 4

Ausflug in die Großstadt Antiochia

Kapitel 5

Grundlinien der Jesu-Leben-Erzählung

Kapitel 6

Gemeindefeier in der Petrusgrotte

Kapitel 7

Gedanken über Heilung

Kapitel 8

Gespräch über die Passionserzählung

Kapitel 9

Gemeinsames Studium der Passionserzählung

Jesus und die Jünger im Garten Gethsemane. Jesus wird verhaftet.

Vor dem Sanhedrin

Der politische Akt der Passion: Jesus vor Pilatus

Kapitel 10 Gespräch der Geschwister

Kapitel 11 Über die Passionserzählung: Grablegung Jesu und das leere Grab

Kapitel 12 Schreibwerkstatt: Blind oder Sehen

Kapitel 13 Anna begegnet den Brüdern Rufus und Alexander

Kapitel 14 Jakob gerät in eine Schlägerei und rettet einen Römer

Kapitel 15 Jakob berichtet von seinem Besuch bei Simeon: Theologie der Zeit

Kapitel 16 Die Rolle der Zeit in der Jesus-Erzählung

Kapitel 17 Anna schreibt einen Brief an ihre Freundin Lydia in Attaleia

Kapitel 18 Jakob ist eingeladen zu Konstantius und dessen Familie

Kapitel 19 Begegnung in der jüdischen Synagoge: Jesus – Maschiach?

Kapitel 20 Pax Romana versus Schalom

Kapitel 21 Steuer zahlen?

Kapitel 22 Anna, Jakob und andere recherchieren zur Geschichte der frühen Gemeinden

Kapitel 23 Heimweg und Bedrohung durch Antiochus

Kapitel 24 Wanderung zum Tempel des Apollon

Kapitel 25 Auf dem Heimweg Diskussion über Opfer

Kapitel 26 Opferdiskussion in der Schreibwerkstatt

Kapitel 27 Was Simon von Cyrene seinen Söhnen erzählt hat

Kapitel 28 Gespräch über das Herrenmahl

Kapitel 29 Jakob schreibt seinem Freund Josef in Attaleia Konstantius‘ beigelegter Brief

Kapitel 30 Einladung in Andromachos‘ Haus

Kapitel 31 Der Besuch

Kapitel 32 Gespräche am Morgen

Kapitel 33 Nachfolge Jesu – bis zur letzten Konsequenz?

Kapitel 34 Kamel oder Tau? Und ein Besuch aus Rom

Kapitel 35 Römische Erinnerungen

Kapitel 36 Lydia aus Attaleia schreibt ihrer Freundin Anna

Kapitel 37 Andronikus berichtet von Rom

Kapitel 38 Andronikus berichtet von seiner Begegnung mit Schimon Petrus

Kapitel 39 Andronikus berichtet von Schimons Lernweg mit Jesus

Kapitel 40 Anna in Antiochia antwortet ihrer Freundin Lydia

Kapitel 41 Bei den Olympischen Spielen von Daphne

Kapitel 42 Die Siegerehrung und eine ernste Bedrohung

Kapitel 43 Andronikus: Schimon Petrus erzählte von Jesus

Kapitel 44 Andronikus erzählt von Jesu Salbung in Bethanien

Kapitel 45 Was Schimon Petrus über das Pessach-Mahl erzählt hat

Kapitel 46 Nachdenken über Judas

Kapitel 47 Gespräch in der Versammlung über Judas

Kapitel 48 Andronikus kritisiert die „Judas-Episode“

Kapitel 49 Drei Frauen überbringen die Osterbotschaft

Kapitel 50 Körper, Leib, Leben – Jesu Worte beim Brotbrechen

Kapitel 51 Die Worte über den Becher

Kapitel 52 Andronikus berichtet über Schimons Lernprozess: bei Cornelius

Kapitel 53 Kurze Darstellung der Geschichte der frühen Gemeinschaft

Kapitel 54 Die Zusammenkunft der Apostel in Jerusalem

Kapitel 55 Der antiochenische Zwischenfall

Kapitel 56 Der Weg des Paulus

Kapitel 57 Brandbrief aus Attaleia

Kapitel 58 Antwortbrief an die Gemeinde von Attaleia

TEIL II

Kapitel 59 Die Abreise

Kapitel 60 Rückkehr nach Attaleia

Kapitel 61 Gespräche in der Gemeinde von Attaleia

Kapitel 62 Begegnung mit Apollonios von Tyana

Kapitel 63 Diskussion über Apollonius' Rede

TEIL III

Kapitel 64 Zweite Reise nach Antiochia und zu Markus

Kapitel 65 Jakob und Anna treffen ihre Freundinnen und Freunde wieder

Kapitel 66 Studium der Lehr- und Lernerzählung. Teil 1

Kapitel 67 Studium der Erzählung. Teil 2

Kapitel 68 Die Verborgenheit Gottes und das Messiasgeheimnis. Teil 3

Kapitel 69 Zweite Begegnung mit Apollonios in Andromachos' Haus

Kapitel 70 Gespräch über die politische Dimension der Jesus-Erzählung

Kapitel 71 Historisches: Das hat Josephus Flavius später berichtet

Kapitel 72 Philemon bereitet seine Predigt vor: über den Rangstreit der Jünger

Kapitel 73 Philemon spricht über den Rangstreit der Jünger, er wird verhaftet

Kapitel 74 Anna sucht nach Philemon und Jakob und wird gefangen

Kapitel 75 Konstantius startet eine Befreiungsaktion

Kapitel 76 Anna in Lebensgefahr

Kapitel 77 Wieder vereint - Im Haus des Andromachos

Kapitel 78 Der Kaiser als Heiler?

Kapitel 79 Heilsgeschichte & Parusie

Kapitel 80 Die Jesus-Erzählung wird zum Evangelium

Kapitel 81 Jetzt geht es ans Abschreiben

Kapitel 82 Verabschiedung und Heimreise

Nachtrag 1 Konstantius ist endlich gekommen.

Nachtrag 2 Flavius Josephus informiert Anna

Anmerkungen

Personen, Orte, Sachen

Stadtplan von Antiochia

Nachwort

Dank

Erlebnis eines Türkeireisenden

Wer in die südliche Türkei nach Antalya fliegt, erwartet in der Regel Sonne, Badestrand und All-inclusive. So jedenfalls wirbt die Reklame, und nicht nur die der Billiganbieter. Das alles bot auch der erste Tag. Und wir, meine liebe Frau und ich, wir haben es gern angenommen, weil übermüdet nach durchgeflogener Nacht.

Aber am zweiten Tag lockte uns nicht der Strand, sondern die zusätzlich gebuchte Busrundfahrt an der Küste ostwärts entlang nach Side, die der türkische Reiseleiter Mustafa anbot. Er informierte und erzählte bildreich, aber er ließ nie mit sich diskutieren, er hatte immer recht. Auch wenn er unrecht hatte aus der Sicht der nur leise murrenden Mitreisenden, wenn es zum Beispiel um die Gleichberechtigung der Frau oder um die Stellung der Religionen in der Türkei ging.

In Side könne man den Markt besuchen. Oh, ja! Aber zuerst wollte uns Mustafa dort mit der islamischen Religion vertraut machen, und so führte er uns zur neuen Moschee. Deren vier schlanken Minarette streckten sich hoch über die Dächer der Häuser und winkten uns schon von weitem herbei.

Hinter unserem Hotel in Antalya stand auch eine Moschee mit einem Minarett, von oben ließ der Muezzin den Ruf zum Gebet erschallen, fünf Mal am Tag; morgens wurden wir dadurch sehr früh geweckt. Aber so kamen wir auch zeitig zum Frühstück und zur Abfahrt.

Vielen unserer Mitreisenden verschlug es schier den Atem, als wir schuhlos die Moschee betraten: Das einfallende Sonnenlicht ließ den gewaltigen Innenraum aufleuchten. Ein Wechselspiel von blauen und sandfarbenen Kacheln erinnerte an Wüste und Himmel oder eher an Sand und Wasser, eben die Farben Sides, dieser Stadt am Meer. Der Gebetsraum war überwölbt: mehrere kleinere Kuppeln rahmten die riesige Zentralkuppel ein, deren Basis aus einer Galerie von Fenstern bestand. Es war, als schwebte die Kuppel, und das einfallende Licht lenkte unseren Blick über die gemalten floralen Ornamente hin zu ihrem Mittelpunkt, wo in arabischen Schriftzeichen geschrieben stand:

„Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen! Lob und Preis sei Allah, dem Herrn aller Weltbewohner, dem gnädigen Allerbarmer, der am Tage des Gerichts herrscht. Dir allein wollen wir dienen, und zu dir allein flehen wir um Beistand“, übersetzte Mustafa in einem leichten Singsang und: „Das ist Al-Fatiha, die erste Sure des Korans“, erklärte er weiter. Fast alle nickten beflissen, hatten aber eher Lust zu schauen statt zu hören. Mustafa hatte Mühe, uns auf seine Erläuterungen zum Koran hin zu konzentrieren, denn überall gab es etwas zu entdecken.

Ich schlich mich davon, mit dem Islam hatte ich mich oft genug beschäftigt. Ich wollte lieber fotografieren: die Ornamente, die blumigen Arabesken in Rot und Blau und die vielen Säulen, die den großen Raum strukturierten.

Dort der Mihrāb, die Gebetsnische für den Imam, wenn er vor den Gläubigen betet. Sie ist nach Mekka ausgerichtet, und jeder Beter orientiert sich daran. Innen war der Mihrāb mit floralen Arabesken und religiösen Sprüchen geschmückt, kalligraphisch verziert. Durchbrochenes Stuckwerk, das sich wie ein wellig geraffter Vorhang von oben herabsenkte, begrenzte den Mihrāb zum Gebetsraum hin.

„Die halbrunde Nischenform des Mihrāb verstärkt die Gebetsrezitation des Imams“, erklärte Mustafa gerade und warf mir einen strengen Blick zu, weil ich anscheinend vor dem Objekt seines Vortrages stand.

Also schnell ein paar Schritte nach rechts, wo eine Treppe hoch zu dem Minbar führte, der Kanzel für die Freitagspredigt. Der Imam, so stellte ich mir vor, durchschreitet zuerst eine kleine Pforte am Fuß der Treppe und steigt dann die Stufen hinauf, hier sind es neun Stufen, eingerahmt von einem Geländer aus kleinen schmuckvollen Säulchen. Aber nur bis zur achten, denn jede dritte ist dem Propheten Mohammed vorbehalten. Wie muss das in den Ohren klingen, wenn von oben den Gläubigen predigt wird!

„… und Mohammed kehrte mit seinen Begleitern nach Mekka zurück und machte sie zu seiner Stadt“, hörte ich Mustafa erzählen.

Der zentrale Gebetsraum und auch die Nebenräume waren mit einem roten Teppich ausgelegt, worin unzählige Mal und klein stilisiert der Mihrāb eingewebt war, sandfarbig und in Reih und Glied. Darauf findet jeder Beter seinen Platz, und so kann er in Richtung Mekka sich verneigen. Mich beeindruckte die ästhetische Gestaltung des Innenraumes, die derjenigen in romanischen und gotischen Kirchen nicht nachstand, nur eben aus einem anderen religiösen Konzept erwachsen, das auch die Erfahrungen mit der Welt – der hiesigen – widerspiegelt.

Zur Gruppe zurückgekommen, hörte ich gerade noch unseren Reiseleiter sprechen:

„... nach einer türkischen Version der Miʿrāǧnāme, des Aufstiegs zu Gott, stieg Mohammed in Jerusalem auf einem Reittier mit Menschengesicht, dem Burāq, in den Himmel auf. Auch deswegen ist Jerusalem mit dem Felsendom für die Muslime ein heiliger Ort“, schloss Mustafa seinen Vertrag. Der folgende Beifall war eindeutig ernst gemeint.

Weniger erfolgreich waren die Versuche einiger weiblicher Mitreisenden, mit Mustafa über die Stellung der Frau im Islam und insbesondere in der Türkei zu diskutieren. Ich kannte das schon: Alles sei doch gut so! Und was nicht gut ist, wird abgestritten.

Während wir nach Aspendos weiterfuhren, stellten wir uns im Bus einander vor. Auf einmal waren wir nicht mehr zufällige Platznachbarn wie in einem Linienbus. Mustafas Führung in der Moschee und die Diskussion hatte uns zusammenrücken lassen. Und so entspann sich ein lebhaftes Gespräch über Mohammeds Miʿrāǧnāme, des Aufstiegs zu Gott.

„Das ist doch ein Märchen, das gibt es doch gar nicht!“, meinte Lothar aus Dresden. „Nun, solche fromme Erzählungen gibt es in vielen Religionen, das sind Legenden“, korrigierte Karl aus München, „Legenden, die einem Menschen eine hohe Bedeutung zuschreiben. Und an diesem Menschen soll man sich ein Beispiel nehmen. Darin liegt die Wahrheit.“

„Bei uns, ich meine, im Christentum, gibt es doch auch Legenden“, ergänzte Sophia aus Mainz eifrig, „zum Beispiel die von der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem …“

„Ja, ich war schon in Israel und habe auch in Bethlehem die Geburtskirche besucht“, fiel Maria aus Altötting ihr ins Wort. „Da ist die Stelle, wo Jesus geboren ist, mit einem goldenen Stern markiert. Ich glaube fest daran, dass dies wahr ist.“

„So genau darfst du das nicht nehmen, Maria“, wandte Thomas aus Frankfurt ein, „denn die Kirche wurde ja erst im Mittelalter gebaut …“

„Außerdem“, unterbrach Renate ihn, sie war in Worms zuhause, „außerdem gibt es zwei Kindheitserzählungen, und die stimmen nicht überein. Welche ist denn jetzt die wahre?“

„Aber so darf man gar nicht fragen“, mischte sich Karl noch einmal ein. „Die Wahrheit einer Legende liegt nicht auf der Ebene der Handlung, sondern auf der Ebene der Bedeutung. Deswegen kann es zwei unterschiedliche Erzählungen von der Geburt Jesu geben.“

„Dieses Gespräch erinnert mich an die Diskussionen im Café Damerau 1“, flüsterte ich meiner Frau ins Ohr. Sie nickte lächelnd.

„Ich denke“, meldete sich der bedächtige Holger zu Wort, er hatte in Stuttgart eine psychotherapeutische Praxis, „dass doch die existentielle Erfahrung wahr ist, die in den Erzählungen steckt. Zum Beispiel erzählt der Evangelist Matthäus, dass die Heiligen Familie aus Judäa fliehen musste, weil der König Herodes das Neugeborene töten wollte. Es gibt aber keine historische Quelle über einen Massenmord an Neugeborenen zu dieser Zeit. Die existentielle Erfahrung lautet: Zwar bedroht, doch überraschend gerettet, weil Gott hinter diesem Schicksal steht.“

„Und das finden wir als Motiv in vielen Überlieferungen“, bestätigte Elisabeth, die Cheflektorin eines renommierten Verlagshauses. „Denkt mal an den kleinen Zeus, den sein Vater Kronos verschlingen und töten wollte; oder an den kleinen Mose, der im Schilfkörbchen den Nil hinuntergetrieben war, aber gerettet wurde. All diesen Figuren ist gemeinsam, dass sie eine große Aufgabe zu erfüllen haben. Und ihr werdet lachen, auch dem kleinen Harry Potter hat die englische Autorin Rowling solch ein Schicksal zugesponnen: von diesem bedrohten Kind soll die Rettung der Welt ausgehen.“

„Du hast recht, Elisabeth“, bestätigte Susanne, eine Lehrerin aus Koblenz, „Rowling hat sich aus fast allen Mythentöpfen der Welt bedient, das habe ich mit meinen Kindern im Deutschunterricht herausgearbeitet. Wir haben die Potter-Romane mit Lust seziert und entzaubert. Ich dachte dann, jetzt ist es mit der Harry-Potter-Manie vorbei und wir können endlich was anderes lesen. Doch die Kinder wollten weiterhin die Spannung genießen.“

„Aber auch das hat etwas mit Wahrheit zu tun“, erklärte Holger, „denn, wenn die Kinder lesen, ereignet sich in ihnen Angst und Schrecken, Identifikation und Distanz, Befreiung, ja, Erlösung. Dadurch werden Entwicklungen angestoßen, da geschieht Reifung.“

„Das leuchtet mir ein“, gab Thomas zu, „Wahrheit hat viele Dimensionen, eine historische, eine psychische, eine ästhetische zum Beispiel.“

„Und eine existentielle“, ergänzte Holger. Einige nickten zustimmend.

„Ich verstehe die Evangelien in ihren Kontexten, also intertextuell“, meldete sich Peter, ein Theologe aus Freiburg zu Wort. Breit saß er allein mitten auf der letzten, der durchgehenden Sitzbank im Bus. Wie auf ein Kommando drehten sich alle um nach hinten, zu Peter. „Das Markus-Evangeliums zum Beispiel ist komponiert mit Elementen aus der Hebräischen Bibel, die zitiert werden und zur Deutung beitragen; außerdem greift das Evangelium zurück auf Erzählmuster und -inhalte der griechisch-römischen Welt und verwendet diese, teilweise sogar gegen deren eigene Intention. Nehmt mal allein den Begriff Evangelium, er ist eine Leihgabe und meint eigentlich eine frohe Botschaft aus dem Kaiserhaus, wenn zum Beispiel ein Kind geboren wurde oder der Kaiser einen Sieg errungen hatte. Aber Markus verwendet diesen Begriff – und das ist ein Novum – für seine große Jesus-Erzählung. Und die richtet sich eindeutig gegen Rom. Das alles zu entdecken, ist für mich spannend.“ Zufrieden schloss Peter seinen Vortrag.

„Sicher ist es wichtig, die Quellen zu identifizieren, die hinter den Texten stehen, aber …“, bemerkte Petra, sie saß in der ersten Reihe hinter Mustafa und dem Fahrer. Die ernste junge Frau aus Hannover hatte sich schon ein paar Mal die Stirn runzelnd umgedreht. Nun stand sie auf und stellte sich in den Mittelgang. Alle Insassen wandten sich wieder nach vorne. Meine Frau neigte sich mir zu: „Bestimmt eine evangelische Pfarrerin! Ob sie jetzt predigt?“

Petra fuhr fort: „… aber ich denke eher, dass der Textsinn sich im Dialog erschließt. Und der hängt doch ab von demjenigen, der in den Dialog mit dem Text tritt. Da kommt immer etwas Neues zum Vorschein. Ich gebe ein Beispiel: Früher wurden wir angehalten zu glauben, dass Jesus über die Naturgewalten gebieten könne …“

„Meinst du die Geschichte von Jesus, der sogar über das Wasser laufen kann?“, unterbrach Lothar Petras Redefluss. „Im Konfirmationsunterricht haben wir über den Witz gelacht, Jesus habe sicher gewusst, wo die Steine lagen.“

Petra verdrehte die Augen, holte tief Luft und fuhr fort: „Diese Erzählungen sind zwar anschaulich und beeindruckend wegen der Übernatürlichkeit, aber sie sind in der poetischen Form der Wundererzählung überliefert. Und diese Form verbietet es, den Text als Bericht zu lesen. Die Form transportiert eine eigene Botschaft: die Beziehung der hörenden Gemeinde zu Jesus Christus. Die Gemeinden erleben existentielle Not, wie die Jünger auf hoher See im Sturm bzw. in der Nacht. Dieses Bild verstehen wir bis heute. Und in der Not wähnen sie sich von Gott verlassen, doch wird ihnen Rettung geschenkt – durch Jesus Christus. Wir brauchen also nicht mehr an dem Inhalt zu zweifeln, wenn wir die poetische Form berücksichtigen. Mit dieser drückt Markus die Angst seiner Gemeinde aus, aber auch deren Hoffnung, dass Jesus Christus als Gottessohn und Retter aus der Verborgenheit hervortritt und sich zu erkennen gibt: „Ich bin's“. So hat sich auch Gott zu erkennen gegeben, als Mose in Not war.“

„Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter“, ergänzte der Theologe Peter. „das heißt im Griechischen Jesus Christos, Hyios tou Theou, Soter“. Fügt man die Anfangsbuchstaben zusammen, ergeben sie das Akronym „ICHTHYS“, das heißt: Fisch, und dieses Tier symbolisiert diese frühchristliche Glaubensformel.“

„Dat allet is ja schon sehr interessant. Aber wat is jetz mit dem Mohammed, der in den Himmel afjestiejen is?“, monierte Jupp aus Köln, der seinen Renteneintritt mit dieser Reise feiern wollte. „Isch tät schonn mal jerne wissen, ob auch die Tierschen wie sin Perd, der Burāq, 'nen Platz im Himmel kriejen und auch mein Hund, der Roxi. Isch bin nämlich ein Tierfreund. Ob dat der Mustafa weiß?“ Jupp erhob sich und wollte sich zum Reiseleiter vorarbeiten – die holprige Straße verlangte gute Balance, als Mustafa per Mikrofon durchsagte, wir kämen gleich in Aspendos an und sollten uns zum Ausstieg vorbereiten. Jupp winkte ab und kehrte zu seinem Platz zurück, ohne zu erfahren, ob er zusammen mit seinem Hund in den Himmel kommt.

Das Theater stellte uns Mustafa kundig und humorvoll vor, einen gut erhaltenen Bau, unter Kaiser Marc Aurel 2errichtet. Das Bühnenhaus, in vollständiger Höhe noch erhalten, reich verziert mit Säulen, Friesen und Ornamenten. Imposant der Zuschauerbereich: 41 Sitzreihen im Halbrund sind steil nach oben gebaut und dort begrenzt von einer umlaufenden Arkadengalerie. Bis zu 20.000 Zuschauer sollen hier Platz gefunden haben, erläuterte Mustafa.

Anschließend durften wir selbständig den Bau erkunden.

„Aber nur zwanzig Minuten, dann geht es weiter!“, mahnte Mustafa. Also schnell die vielen Stufen hinauf im Dauerlauf, ich will die Architektur von oben in den Blick und ins Objektiv der neuen Digitalkamera zu nehmen! Atemlos, mit pochendem Herzen stehe ich auf dem obersten Rang und versuche, meinen Fotoapparat einigermaßen ruhig zu halten: Ob ich alle Ränge für die abertausend Besucher samt Bühnenraum mit dem Weitwinkel erfasse? Während ich die passende Einstellung suche, schiebt sich jemand in das Bild, winkend, mich herbeiwinkend. Das passt ja toll! Ärgerlich lasse ich die Kamera sinken um zu warten, bis der Mensch aus meinem Bild verschwunden ist, da sehe ich, das ist eine alte Frau, die jetzt auf mich zukommt und Zeichen macht, mich ihr zuzuwenden. Eine uralte, kleine Frau ist sie, sonnenverbrannt und faltig das Gesicht, halb verborgen durch ein Kopftuch, das irgendwann einmal bunt gewesen sein mochte, jetzt aber von Staub verdunkelt war. Sie sagte etwas, sicher auf Türkisch, was ich – dieser Sprache nicht mächtig – nicht verstand. Auch waren ihre Laute eher unartikuliert, heiser, fast krächzend. Aber ihre Gesten waren eindeutig, sie hieß mich, ihr zu folgen, zumindest in den hinter dem obersten Rang verlaufenden Umgang, durch Arkaden geschützt und im Schatten. An einer Säule blieb sie stehen, wandte sich um zur Wand, zerrte dort einen losen Stein heraus und mit ihm eine verschnürte Lederrolle. Um es kurz zu machen: Die Frau öffnete das Bündel und entrollte auf dem Gesims ein Papyrus, der von Schriftzeichen eng bedeckt war. Mit ihrer mageren, runzeligen Hand wies die alte Frau auf die Schriftzeichen, ich solle lesen: Vor mir lag ein Text in Griechisch. „Έν ἀρχῇ ὁ λόγοσ ἐστὶν ...“ Das klingt doch wie der Anfang des Johannesevangeliums! Was kann ich tun? Die Alte schaute mich erwartungsvoll an, als wollte sie sagen: „Ja, du siehst hier etwas ganz Besonderes!“ und deutete auf meine Kamera. Ich überlegte: In ein paar Minuten würde Mustafa seine Touristen rufen und abzählen, um weiterzufahren. Altertümer aus der Türkei ausführen würde mich in große Gefahr bringen, ins Gefängnis zu kommen. Aber abfotografieren, das war‘s, die alte Frau hatte recht: Nur so konnte ich den Text dokumentieren und mitnehmen, ohne in die Gefahr zu laufen, länger in der Türkei bleiben zu müssen, als mir lieb war. Jetzt galt es, alle fotografische Erfahrung blitzschnell zu aktivieren. Gut, dass ich mir vor der Reise eine Digitalkamera gekauft und sie eingehend erprobt hatte. Ich beuge mich also über den teilweise aufgerollten Papyrus, fokussiere. Jetzt zittre nicht! Atme ruhig! Und ich drücke den Auslöser, immer wieder. Wie oft, das habe ich später erst im Hotel kontrolliert. Die Frau rollt den Papyrus rechts auf und links wieder ein. Ich hechte von Seite zu Seite. In jedem Fall bekomme ich den ganzen Inhalt auf den Kamerachip. Fertig! Endlich kann ich mich aufrichten und tief einatmen! Ich gab der Frau zu verstehen, dass ich fertig war. Sie rollte den Papyrus schnell zusammen, versteckte alles wieder in der Mauer und verschloss das Loch. Dann berührte sie mich sanft am Arm, als wollte sie mich loben, dass ich ihr gefolgt war. Sie lächelte mich mit ihrem zahnlosen Mund kurz an und machte ein Kreuzzeichen über mich. Bevor ich reagieren konnte, verschwand sie im Dunkel der Arkaden. Als ob ich geträumt hätte, so stand ich wie angewurzelt und blinzelte in das grelle Licht, das der helle Stein des Bühnenhauses hoch bis unter die Arkaden warf.

Da hörte ich einen mir vertrauten Pfiff, eine Melodie, mit der mich meine Frau zum Aufbruch rief: Sie stand unten vor der Fassade der Bühne und suchte die Arkadengalerie ab, wo ich noch im Dunkeln stand. Ich trat schnell ins Licht und winkte nach unten, dass ich sie gehört hätte.

„Wo warst du denn? Wir waren alle schon im Bus, nur du hast gefehlt“, fragte sie mich vorwurfsvoll, als ich wieder unten angekommen war. „Mustafa wollte schon ohne dich abfahren.“ Das würde ich ihr später erklären und Mustafa gegenüber eine kleine Schwäche wegen der Hitze vortäuschen, damit auch die Mitreisenden zufrieden wären, das sagte ich schnell. So war es dann auch.

Was dann noch weiter besichtigt wurde – Aquädukt, Brücke von Aspendos u.a.m. – habe ich nicht richtig mitbekommen, weil ich unentwegt an die Begegnung mit der alten Frau denken musste, die mich bekreuzigt hatte, und an die geheimnisvolle Pergamentrolle, deren Inhalt ich nun mit mir herumtrug, digital zwar, aber sicher zu Hause les- und entschlüsselbar.

Und was ich dann dort entschlüsselt habe, das hat mich atemlos gemacht, regelrecht umgehauen: In Koiné, dem Mittelgriechischen zur Zeit Jesu, schreibt eine Frau, eine Frau namens Anna, was sie erlebt hat.

Sie soll nun selbst zu Wort kommen.

Annas Vorwort

Έν ἀρχῇ ὁ λόγοσ ἐστὶν …

Am Anfang ist das Wort … oder wie soll ich sonst sagen?

Denn alles beginnt mit dem Wort, dem Gespräch, dem Erzählen. Und mit dem Vertrauen, dass der andere sich auf einen Dialog einlässt, der offen und vernünftig geführt wird. Menschliches Miteinander lebt wesentlich: Έν ἀρχῇ von dem Vertrauen, dass hinter allem ein Sinn ist: ὁ λόγοσ.

Hätte ich gleich geahnt, dass ich meine Erinnerungen an unsere aufregende Reise niederschreiben wollte und dann auch auf Wunsch meiner Heimatgemeinde in Attaleia veröffentlichen sollte, dann hätte ich gleich nach der Rückkehr dieses Werk begonnen. Doch ich habe alles gut bewahrt und erinnert; zudem habe ich während unseres Aufenthaltes in Antiochia vieles niedergeschrieben und zu Hause auch alle befragt, deren Leben mit dem meinigen so wundersam verbunden war und ist.

Unter diesen nenne ich zuerst unseren Vater Philemon, der mit meinem Bruder Jakob und mir die beschwerliche Reise nach Antiochia gewagt hatte, und das in den Jahren des Krieges zwischen den Juden und den Römern. Ohne ihn, den liebevollen Vater und engagierten Leiter der Gemeinde von Attaleia in Pamphylien, wären wir alle nicht heil durch die gefährlichen Zeiten gekommen.

Unsere Mutter Junia war nicht mit auf dieser Reise, doch hatte sie zu Hause, wo auch sie in der Gemeindeleitung wirkte, Philemons Aufgaben mit übernommen und so unsere Reise ermöglicht.

Auch nenne ich unter den Lieben gleich Jakob, meinen mutigen und klugen Bruder. Er ist ein Jahr nach mir auf die Welt gekommen, und wir haben alles mit einander geteilt, vor allem die Beschwerden und Freuden der großen Reise nach Antiochia und die Begegnungen mit den Menschen dort, gleich, ob Juden, Judenchristen oder Menschen aus den Völkern. Unter all diesen aber war einer, mit dem unser Schicksal seitdem unauflöslich verknüpft ist: Markus.

Mit Markus ist meine Familie schon lange verbunden durch eine Gastfreundschaft, entstanden während der ersten Reise der Apostel Barnabas und Scha'ul Paulus, die diese mit Markus von Antiochia aus nach Attaleia und über Perge hinaus bis nach Antiochia in Pisidien führte. Das war im fünften Jahr des Kaisers Claudius. Markus, damals etwa zwanzig Jahre alt, hatte in Perge das Vorhaben aufgegeben, Paulus und Barnabas zu begleiten; der Grund dafür war mir damals nicht bekannt, nur wusste ich von unserem Vater, der damals sechzehn Jahre alt war, dass Markus umgekehrt war und in unserem Haus für ein Weile Zuflucht gefunden hatte, zuerst enttäuscht von sich selbst und bestürzt wegen der harschen Kritik des Paulus, aber doch bald wieder hoffnungsfroh, weil er in unserer Familie und in der kleinen judenchristlichen Gemeinde von Attaleia ermutigt wurde, seinen eigenen Weg zu gehen. Vor allem unser Großvater Simon, der als Wollhändler schon nach Korinth gereist war und Kontakt zur dortigen Gemeinde pflegte, war für Markus eine Stütze geworden.

Ich habe Markus dann in Antiochia kennen gelernt, denn viele Monate durften wir, mein Vater, Jakob und ich, bei ihm wohnen und erleben, wie er an seiner Leben-Jesu-Erzählung, dem Evangelium, gearbeitet hat. Und wir drei wurden sogar seine Mitarbeiter.

Überraschenderweise suchte Andronikus aus Rom Markus auf, um mit ihm und auch mit uns über zentrale Fragen des Glaubens zu sprechen. Er brachte viele Aufzeichnungen mit, die von den Ereignissen in der jungen Jesus-Gruppe berichteten. Von Andronikus und dessen Frau Junia hatte selbst Scha'ul Paulus in seinem Brief an die römische Gemeinde mit großer Hochachtung gesprochen.

Als wir nach einem zweiten Besuch in Antiochia endgültig nach Attaleia zurückkehrten, trug ich eine Abschrift des Evangeliums unter meinem Gewand sicher durch die römischen Kontrollstellen: Diese war Markus‘ dankbares Geschenk an die Gemeinde von Attaleia.

Tiefe Dankbarkeit und herzliche Liebe verbinden uns mit Konstantius, unserem lieben Freund aus Antiochia, und seinen Eltern, dem Archíatros 3Andromachos und seiner Frau Julia, die an unserer Rettung mitgewirkt haben.

Großen Dank schulde ich Flavius Josephus, denn seiner seherischen Gabe verdanke ich mein Leben – und auch, kaum zu glauben, dem römischen General Vespasian, der damals zum Kaiser ausgerufen wurde.

Viele Menschen in Antiochia sind uns freundlich, ja geschwisterlich begegnet; mit manchen blieb der Briefkontakt über Jahre erhalten, vor allem mit den gleichaltrigen Freundinnen und Freunden.

Darüber will ich nun der Reihe nach berichten. Nicht erzählen will ich, als ob ich den Leser und die Leserin in eine erfundene und spannungsreiche Welt entführen wollte, um ihnen einen schönen Zeitvertreib zu bieten. Mag sein, dass dem einen Leser, der anderen Leserin mein Bericht wie eine Chronik erscheint, der eine Spannungssteigerung abgeht und in welcher manche Wiederholungen auffallen. Doch berichten will ich, was wir erlebt haben, auch wenn ich Mühe habe, die vielen und für uns selbst aufregenden Erfahrungen und Begegnungen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Da ich aber mit unserem Vater, meinem Bruder Jakob und auch mit Konstantius die Erinnerungen immer wieder geteilt und so aufgefrischt habe, kann ich dem Leser und der Leserin versichern, dass ich wahrheitsgemäß berichte, Unsicherheiten in der Erinnerung zugebe und über die Dinge schweige, die sich meinem Gedächtnis entziehen. Deswegen kann ein allwissender Erzähler an unsere Stelle treten und über all die Erfahrungen erzählen, die Philemon, Jakob und ich gemacht haben, denn wir haben uns so intensiv ausgetauscht, dass jeder auch stellvertretend für die jeweils anderen die Erlebnisse schildern könnte.

So wie ein kleines Schiff nie dem ganzen Meer auf einmal, sondern nur den es umgebenden Wellen ausgeliefert ist und der Kapitän nur diese im Blick haben kann, nicht aber den unermesslichen Ozean: So wird auch der geneigte Leser und die geneigte Leserin die eingeschränkte Perspektive erleben. Vielleicht mag man den großen Blick in den Lauf der Geschichte vermissen, nicht alle Strömungen in der Politik und in den Religionen dargestellt oder erwähnt finden. Dies alles mögen dazu Berufene tun. Zudem werden Menschen späterer Zeiten mehr wissen oder anders urteilen.

Ich hingegen freue mich, dass ich unserer Gemeinde eine wertvolle Erinnerung schenken und Markus, unserem Freund, dem Autoren des Evangeliums, ein persönliches Andenken bewahren kann.

Dies schrieb Anna, Tochter von Philemon und Junia aus Attaleia, im fünften Jahr der Herrschaft des Kaisers Titus Flavius Domitianus. 4

TEIL I

Kapitel 1: Die Ankunft in Seleukia

Die Sonne ging soeben über Seleukia auf, ihre ersten Strahlen wärmten noch nicht die Soldaten, die eine vom jüngsten Sturm beschädigte Mole ausbesserten, als ein Frachtschiff in den Hafen segelte, beidrehte und sich langsam der Hafenmauer näherte. Die Soldaten unterbrachen ihre Arbeit und schauten zu, wie der Frachtensegler anlegte. Er war noch nicht an der Hafenmauer vertäut, da sprang schon ein Junge von der hohen Bordwand herunter auf die Mole, strauchelte, weil steif von der langen Überfahrt, stürzte und fiel unter die Gruppe der Soldaten, die lachend zurückwichen.

„Hast du dir weh getan, Jakob?“, rief besorgt eine junge Frau vom Schiff herunter. Obwohl dieser hart auf dem Steinboden aufgeschlagen war, rappelte er sich schnell wieder auf, angespornt von den Rufen der lachenden Soldaten: „Du hast es aber eilig.“ - „Na, hast du was ausgefressen?“

Jakob prüfte kurz seine aufgeschrammten Knie, schüttelte seinen dunkelbraunen Lockenkopf, klopfte seine Tunika aus und rief „Nein, Schwesterherz!“ hinauf. Dann wandte er sich den Soldaten zu, die eine Pause einlegten und sich auf dem Boden lagerten: „Ich bin einfach froh, wieder auf festem Boden zu stehen. Wir hatten seit Attaleia heftigen Sturm und das Schiff schaukelt einen ganz schwindlig.“

„Dann kannst du ja mit uns kommen, festen Boden können wir bieten“, meinte ein junger Soldat, dem heller Flaum im Gesicht stand, „denn wir ziehen bald nach Jerusalem, unter General Vespasian machen wir ganz Judäa dem Erdboden gleich“, ergänzte er stolz.

„Gib vor allem auf dich acht, dass du nicht platt gemacht wirst, du Anfänger!“, fuhr ein älterer Soldat dazwischen, dessen Narben im Gesicht und auf den Armen von früheren Kämpfen zeugten. „Außerdem hat der Legat Mucianus verboten, dass wir mit Fremden über militärische Aktionen reden.“ Der Jüngere zuckte mit den Achseln und drehte dem Älteren den Rücken zu: „Wo willst du denn hin?“, fragte er Jakob. „Ich gehe mit meinem Vater Philemon und meiner Schwester nach Antiochia, wir sind Händler“, antwortete dieser, wobei er weniger seine schmerzenden Knie spürte als vielmehr eine Angst, so nah an kriegerische Ereignisse geraten zu sein. Vom jüdisch-römischen Krieg hatte er zwar schon in Attaleia gehört – in den jüdischen Gemeinden funktionierte die Nachrichtenübermittlung sehr gut –, aber jetzt rückte der Krieg so nah!

Dass dies nicht die einzige Begegnung mit der römischen Militärmacht sein sollte, das ahnte Jakob zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Schnell warf er den Soldaten ein gezwungen freundliches Lächeln zu und drehte sich dann zum Segelschiff um, das mittlerweile fest vertäut an der Kaimauer lag; ein breiter Holzsteg wurde auch schon vom Schiff hinunter auf die Mole geschoben. Jakob sah, wie sein Vater und seine Schwester Anna hinter der Reling auftauchten und mit dem Gepäck vorsichtig, weil noch ungelenk, die steilen Holzplanken zu ihm hinunterstiegen. „Willkommen an Land, Anna!“, rief Jakob.

„Auch ich habe weiche Knie, Jakob“, seufzte Anna, „drei Tage auf den Schafswollhaufen liegen und das noch bei der elenden Schaukelei, das macht schwach.“ „Aber nicht unbedingt leichtsinnig“, kritisierte der Vater, der zu seinem Gepäck auch das von Jakob geschultert hatte. „Du hättest dich verletzen und unser wichtiges Vorhaben gefährden können, Jakob. Hier, nimm dein Gepäck! Du brauchst deine Kraft für die Wanderung nach Antiochia. Und frage mich unterwegs keiner, wie lange es noch dauert!“, ordnete Philemon an, als er Jakob dessen Gepäck überreichte.

Jeder hatte seine Habe in ein großes Tuch eingerollt und dieses mit einem Lederriemen verschnürt; so würden sie auch längere Strecken gut bewältigen. Die Verpflegung trugen sie im eigenen Umhängebeutel. Anna hatte ihre langen rotblonden Haare zu einem Zopf geflochten und auf dem Kopf zu einem Kranz gelegt. So konnte auch sie den Schultersack tragen. Jakob legte sich nun die Rolle um den Nacken und über seine breiten Schultern. So groß wie sein Vater war er und überragte seine Schwester fast um eine Handbreit.

Noch einmal kurz zu den Soldaten geschaut, die sich langsam wieder an ihre Arbeit machten, und freundlich genickt. „Auf geht‘s!“

Vom äußeren, dem Vorhafen, ging es am inneren Hafen vorbei, wo die kleineren Schiffe lagen, die noch den Fluss Orontes hinauf bis Antiochia Lasten bringen konnten. Auch hier waren Menschen mit dem Be- und Entladen beschäftigt. Kamele und Esel warteten geduldig, bis ihnen die Lasten aufgelegt waren, oder reckten sich erleichtert, wenn sie von jenen befreit wurden.

„Hier in Seleukia endet die große Straße, die aus der Provinz Asia hierherführt“, erklärte Philemon. „Auf dieser Straße werden wertvolle Güter transportiert, Seide, Gewürze zum Beispiel. Und diese werden dann hier im Hafen auf Schiffe geladen und weitertransportiert, damit der Kaiser und die Reichen in Rom im Luxus leben können“. „Aber auch hier leben wohlhabende Menschen“, meinte Jakob, auf den weitläufigen Hügel hinaufdeutend, wo prächtige Villen lagen und die Oberstadt bildeten.

„Ja, viele verdienen an dem Handel, manche sogar sehr gut, weil sie die Preise hochtreiben, die Transportmittel bereitstellen oder die Transporte unterwegs sichern. Wir gehen jetzt in die Unterstadt von Seleukia und suchen jemanden auf, der uns über den Weg informieren wird“, erklärte Philemon, „denn im Einladungsbrief hat mich Markus vorgewarnt, es habe einige Vorkommnisse gegeben.“

„Warum schreibt er nicht direkt, um was es geht?“, fragte Anna.

„Naja, die militärische Lage ist kritisch, auch wenn wir weit weg sind vom Krieg in Judäa, so gibt es doch hier und auch bei uns in Attaleia Spione der Römer und deren Bundesgenossen, da müssen wir vorsichtig sein. Auch du, Jakob, wenn du mit Soldaten redest!“

„Gern hab‘ ich das nicht gemacht, ich bin halt geradewegs in ihre Mitte gestolpert.“

„Jetzt werden wir das Hafenviertel verlassen, ihr seht die große Menschenmenge, das Durcheinander, wir müssen uns da hindurchdrängen. Wir dürfen uns nicht verlieren. Und wenn doch, dann ist das Markttor da drüben unser Treffpunkt.“

Große Kamele, hochbeladen, wurden durch die Menschenmenge geführt, fremdländische Treiber bahnten ihnen auf ruppige Weise den Weg. Und es dauerte nicht lange, da hatten sie einander aus den Augen verloren. Anna versuchte unter den vielen Lauten eine vertraute Sprache herauszuhören. Ja, das Griechische dominierte, oft in Dialekten. Dann hörte sie Männer in Aramäisch sprechen, was sie allerdings nicht verstand; andere Sprachen konnte sie gar nicht identifizieren, dafür betrachtete sie die Menschen, die so unterschiedlich waren in Gestalt, Hautfarbe und Kleidung.

„Und alle sind wir Menschenkinder, Kinder Gottes“, dachte sie und fühlte keine Angst in diesem Gedränge, auch wenn sie immer wieder gestoßen, geschubst wurde und ausweichen musste.

„Gib doch acht, du Tollpatsch“, rief eine Stimme, als Anna, von rechts bedrängt, nach links gegen jemanden gestoßen war. „Verzeih!“, antwortete Anna und sah einer jungen Frau ins Gesicht, die auf ihrem Kopf einen großen Ballen trug. Der Zusammenstoß musste sie mit dem Ballen ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht haben, denn dicht neben Anna schien sie wie zu tanzen, sie wiegte ihren Körper in der Hüfte, bis sie ihre Last wieder sicher kontrollierte. Dann lächelte sie: „Schon gut, ist ja nichts passiert. Aber nun muss ich mich beeilen. Ich wünsche dir einen guten Weg! Gott behüte dich!“

Und schon verschwand sie im Getümmel. Anna hatte bei dieser kurzen Begegnung bemerkt, dass die junge Frau einen Fisch aus Holz, schön stilisiert, an einem Lederband vor der Brust trug. Seltsam! Ein Fisch? Nicht aus Gold oder Silber, nur aus Olivenholz, doch schön gemasert! Aber jetzt nicht sinnieren! Sie musste schnell weiter.

Als Anna am großen Markttor ankam, warteten schon Philemon und Jakob auf sie. „Ihr Männer habt euch ja schnell durchgekämpft!“, lachte sie.

„Naja, einige blaue Flecken hat es uns auch eingebracht“, schmunzelte Jakob.

„Und nun weiter! Dieses breite Markttor öffnet die hohe Befestigungsmauer, hier beginnt die Kolonnadenstraße, und die führt uns zum Markt in der Innenstadt“, erläuterte Philemon. Sie durchschritten das Tor und betraten die Stadt.

Links und rechts von der breiten Fahrstraße standen lange Säulenreihen, die durch Dachbalken mit den Häusern verbunden waren und so Kolonnaden bildeten. Die oben aufliegenden Strohmatten oder gar Holzdächer gaben Schatten und schützten Handwerker und Kauflustige. Überall standen Händler in den Nischen der Häuser und priesen lautstark ihre Waren an, Menschen drängten sich vor den Verkaufsständen, und in der Straßenmitte führten Treiber beladene Lasttiere, Esel und Kamele. Auch zogen Ochsen schwer bepackte Wagen, das Geklapper der Holzräder auf dem Pflaster mischte sich mit dem Peitschenknall und den drängenden Rufen der Wagenführer, die schneller vorankommen wollten.

Die hohen Häuser warfen am Morgen noch dichte Schatten auf die Straßen, so dass die drei Wanderer ohne Anstrengung vorankamen.

Anna und Jakob staunten: „So hohe Häuser gibt es bei uns zu Hause nicht, sogar mit drei, vier Stockwerken Die Menschen hier müssen wohlhabend sein“, meinten sie.

„Ich habe gehört, dass man in Rom schon Wohnhäuser gebaut hat mit sechs, gar sieben Stockwerken“, ergänzte Philemon. Anna und Jakob blieb vor Staunen der Mund offen. „Da fahre ich aber lieber mit dem Segelschiff als in solch einem Hochhaus ganz oben wohnen zu müssen“, meinte Anna, während sie auf die Straße trat und den Kopf in den Nacken legte, um sich die Höhe vorzustellen: „Ganz nah bei den Wolken!“

„Aus dem Weg!“ und „Gib doch acht!“ - Anna sprang schnell unter die Kolonnaden zurück, um einer Karawane Platz zu machen. Die Kamele schwankten unter schwerer Last in Richtung Hafen und die Treiber wollten auf dem letzten Stück ihres langen Weges nicht gestört werden.

„Wir müssen die Stadt durchqueren und vor dem Antiochener Tor hundert Schritte nach Norden gehen, dann kommen wir zum Haus unseres Gewährsmannes. Er soll eine Taube auf seine Tür gemalt haben, daran werden wir sein Haus erkennen “, erläuterte Philemon. „Wieso Taube?“, fragte Jakob, „gibt es dort Täubchen zu essen?“

„Du hast Hunger? Nein, nicht zum Essen züchtet Nikodemus die Tauben, sondern als fliegende Boten. Und heutzutage, weil Krieg ist und die Geschäfte unsicher sind, brauchen viele Leute diese Brieftauben, die Nachrichten überbringen können. Nikodemus wird uns darüber aufklären“, antwortete Philemon.

Durch das Antiochener Tor strömten, genauso wie am Hafentor, Menschen hinaus nach Osten, Antiochia zu, und von dort kommend herein in die Stadt.

Philemon, Anna und Jakob bogen nun am Tor nach Norden ab in eine ruhigere Straße, gingen an der Stadtmauer ihre hundert Schritte und kamen an ein Haus mit einer blauen Taube auf der Eingangstür. Alle drei blickten sich erleichtert an, dann klopfte Philemon.

Das Haus – etwas niedriger als die hohe Mauer, an die es sich anlehnte – hatte eine Dachterrasse, und von dort oben beugte sich ein Mann über den Sims: „Wer ist da und fragt nach mir?“

„Philemon aus Attaleia und seine Kinder.“

„Ich weiß von euch, ich komme hinunter.“

„Seid herzlich willkommen!“, rief der Hausherr, als er vor die Tür trat. „Ich bin Nikodemus, kommt herein und erholt euch von der Strapaze der Reise.“

„Wir danken dir herzlich für deinen freundlichen Empfang, lieber Nikodemus“, sagte Philemon, nachdem er Anna und Jakob vorgestellt hatte. „Aber wir müssen heute noch weiter und zu unserem Freund Markus in Antiochia.“

„Eins nach dem anderen. Zuerst nehmt Platz und erfrischt euch. Hier sind Wasser, Brot, Datteln und Schafskäse.“ Die Familie folgte der Einladung des Hausherrn und nahm auf Polstern Platz. Während die drei zugriffen, erläuterte Nikodemus: „Vor allem müssen wir in diesen schwierigen Zeiten zusammenhalten. Für unser Überleben als Juden im Römischen Reich sind klare und schnelle Informationen wichtig. Deswegen züchte ich Tauben, und zwar besonders schnelle Brieftauben 5, die Nachrichten überbringen können.“ Da hörten alle interessiert zu.

„Schon Julius Caesar hat Brieftauben verwendet, um Nachrichten zu erhalten oder zu verschicken, wenn er militärisch aktiv war oder irgendwo an den Grenzen Aufstände drohten“, erklärte Nikodemus. „Viele meiner Brieftauben verkaufe ich, die Kaufleute bezahlen mir viel Geld dafür, die besten Tauben aber behalte ich für die Zucht und für meine Botschaften, die ich senden und erhalten will.“

„Ich verstehe nicht, wie das geht“, schüttelte Jakob fragend den Kopf.

„Ich erkläre das euch an einem kleinen Beispiel. Angenommen, Markus in Antiochia und ich in Seleukia haben Tauben. Wir stecken jeweils eine Taube in einen Käfig und tauschen die Tauben aus. Jeder hat nun die Taube des anderen bei sich. Jetzt muss ich Markus schnell eine wichtige Nachricht zukommen lassen, zum Beispiel was sich hier im Hafen ereignet hat, angenommen, es sind viele Soldaten nach Judäa eingeschifft worden, dann schreibe ich auf einen kleinen Zettel eine Nachricht, die die Renntaube in einem kleinen Röhrchen am Bein mitbekommt. Dann lasse ich Markus' Taube fliegen, sie sucht sich den Weg zu ihrem Heimatort und landet bei Markus. Für diese Entfernung wird sie wohl weniger als eine halbe Stunde brauchen, vorausgesetzt, dass kein Raubvogel sie unterwegs schlägt.“

„Das ist ja fast nicht zu glauben“, staunte nicht nur Anna, die die ganze Zeit nach oben gelauscht hatte, von wo sie leises Gurren gehört hatte.

„Ich verstehe euer Staunen, aber noch mehr müsst ihr staunen, wenn ich euch anvertraue, dass es eine Nachrichtenkette gibt, die von Rom bis hierher reicht. Diese Kette mit Hilfe der Brieftauben versorgt uns mit wichtigen Informationen aus der Hauptstadt, damit wir, vor allem seit den Verfolgungen unter den Kaisern, besonders unter Nero, frühzeitig gewarnt werden. Und gerade jetzt müssen wir uns vorsehen, nicht nur weil in Judäa dieser unsägliche Krieg tobt, sondern weil wir alle, die dem jüdischen Glauben anhängen, nun verdächtigt und verfolgt werden. Mich lassen sie in Frieden, weil ich die Brieftauben züchte, die die Händler und Kaufleute brauchen. Aber in Antiochia sind viele Menschen ums Leben gekommen. Und deshalb rate ich euch, einen anderen Weg zu Markus zu gehen als den durch das Stadtzentrum.“ Mit diesem Rat beendete Nikodemus seine Erklärung.

„Wir sind Juden und zugleich Mitglieder der Gruppe des Jesus von Nazareth. Zudem haben wir das römische Bürgerrecht durch meinen Vater Simon, er war ein Freigelassener. Ich denke, wir könnten es wagen, uns in Antiochia zu bewegen“, entgegnete Philemon. „Offiziell reise ich als Kaufmann, der in anderen Städten nach Absatzmöglichkeiten für Waren aus Attaleia sucht. Unsere eigentliche Mission ist aber der Kontakt zu Markus und der antiochenischen Gemeinde. Schließlich wirkten dort ja auch Scha'ul Paulus und Schimon Petrus bis vor zwanzig Jahren.“

Da unterbrach ein lauter Ruf vom Dach her das Gespräch und Nikodemus schreckte auf. „Ich muss schnell hinauf, Andreas, mein Helfer, beobachtet den Himmel, und wenn er eine Taube im Anflug sieht, ruft er mich. Kommt mit!“

Sie liefen die Treppe hinauf, vorbei an den großen Käfigen im Obergeschoss, in denen viele Tauben gurrten, dann über eine Leiter auf die Dachterrasse. Staunend blieben die drei aus Attaleia stehen, denn ihnen bot sich ein herrlicher Blick über die Stadt bis zum Hafen und über das Meer, das im Vormittagslicht glänzte.

„Schaut nach oben, da seht ihr einen Vogel, das wird eine meiner Tauben sein, die von Ephesos her geflogen kommt!“, forderte Nikodemus sie auf, während er zusammen mit Andreas einen großen Käfig in die Mitte der Terrasse schob und dessen Boden mit Getreidekörnern bedeckte.

„Sie hat günstigen Westwind so wie unser Segelschiff“, meinte Anna, während sie mit zusammengekniffenen Augen den Vogel suchte, ihn fand und seinen rasanten Sturzflug beobachtete, bis Nikodemus rief: „Das ist wirklich meine Taube, die Athena, die schnellste meiner Renntauben. Sie bringt mir sicher eine wichtige Botschaft.“

Kaum hatte er das gesagt, da beendete die Taube ihren Sturzflug und ging über dem Haus in einen kreisenden Flug über, kreiste immer tiefer und landete schließlich flatternd auf dem Käfig. Nikodemus und sein Helfer näherten sich behutsam der Taube. Diese trug tatsächlich, wie Anna und Jakob beim Nähertreten sehen konnten, ein kleines Röhrchen an einem Bein, das Nikodemus behutsam entfernte, während der Helfer die Taube sanft streichelte und dann in den Käfig setzte, wo sie sofort Körner pickte und Wasser aus einem Schälchen trank. „Jetzt muss sie ihre verbrauchte Kraft durch Futter wieder zurückgewinnen“, erklärte Andreas, „das dauert aber nicht lange. Ist es nicht wunderbar, dass die Tauben selbst einen so langen Weg zu ihrem Heimatort zurückfinden? Wir wissen nur nicht, wie sie das schaffen“, erklärte Andreas, während er den Käfig schloss und Athena, die beste Renntaube von Nikodemus, in das untere Stockwerk trug.

„Kommt mal her, ich muss euch etwas Wichtiges mitteilen!“, rief Nikodemus halblaut, als ob kein Unberufener etwas hören dürfte. „Dieser kleine Brief enthält eine ungeheuerliche Nachricht“, und noch mehr dämpfte er seine Stimme: „Hier steht: Kaiser Nero getötet. Nachfolgekampf.“ Nikodemus schaute auf: „Und wir hier sind die Ersten in der Provinz Syria, die das wissen. Aber wir dürfen auf keinen Fall darüber sprechen, damit unsere Nachrichtenkette nicht an die Römer verraten wird.“

„Was bedeutet das jetzt für uns und unseren Auftrag, Nikodemus? Was wird sich hier in der Provinz Syria verändern?“, fragte Philemon.

„Vielleicht beendet der neue Kaiser den Krieg in Judäa, denn er wird zuerst seine Herrschaft stabilisieren müssen, das bindet die Kräfte.“

„Können wir nicht einfach froh sein, dass dieser Kaiser tot ist, durch den so viele Christusgläubige und Juden, vor allem auch Scha'ul Paulus und Schimon Petrus getötet worden sind?“, fragte Jakob.

Kapitel 2: Auf, nach Antiochia!

Als sie Seleukia durch das Antiochener Tor verließen, um in östlicher Richtung nach Antiochia zu wandern, nutzten sie die breite Handelsstraße auf der nördlichen Seite des Orontes. Natürlich waren sie nicht allein, denn viele Menschen gingen in dieselbe Richtung oder kamen aus Antiochia, teils in Gruppen, teils alleine, manche trugen eine kleine Habe zum Hafenort oder von dort aus zurück zur Großstadt Antiochia. Viele führten hoch beladene Kamele oder Esel mit sich. Hauptsächlich aber waren es große Karawanen, die den verschiedenen Zielen entgegenzogen.

„Schließlich ist Antiochia die drittgrößte Stadt im römischen Herrschaftsbereich und das Tor nach Asien, nein, eher eine Drehscheibe zwischen Asien und Rom“, begründete Philemon den dichten Verkehr.

Zu ihrem Gepäck führten sie nun auch noch zwei geschlossene Körbe mit sich, denn Nikodemus hatte ihnen vier Brieftauben übergeben, die sie Markus bringen sollten. Das leise Gurren der Tiere begleitete nun ihre Wanderung. Außerdem hatten sie mit Nikodemus verabredet, dass Philemon die Nachricht aus Rom nach Antiochia bringen sollte. Schließlich gehe es darum, hatte Nikodemus gemeint, in der jetzt eingetretenen Situation das Verhalten der jüdischen Gemeinden eher zu koordinieren, bevor die Römer in Antiochia davon Kenntnis erhielten. Dazu sei aber absolutes Stillschweigen geboten, außer Markus gegenüber, der sicher am nächsten Tag den oder die Vorsteher der jüdischen Synagogen informieren werde.

„Wie lange müssen wir jetzt wandern, bis wir in Antiochia sind?“, fragte Jakob seinen Vater neugierig. „Vor zehn Jahren habe ich vom Sonnenaufgang bis zum Mittag gebraucht, Jakob. Aber damals wohnte Markus am Stadtrand. Heute werden wir die ganze Stadt durchwandern und dann noch auf den Berg Staurin hinaufsteigen. Wie schnell wir jetzt vorankommen, hängt nicht nur von unserer Kraft ab, sondern auch davon, ob wir unterwegs von römischen Soldaten aufgehalten werden“, erklärte Philemon, „denn seitdem der jüdisch-römischen Krieg ausgebrochen ist, sind die Kontrollen des Militärs hier sicher ziemlich streng, anders als bei uns in Attaleia.“ „Gut, dass wir römische Bürger sind, so werden wir wenigsten nicht bis auf‘s Hemd untersucht“, seufzte Anna, wobei sie ihre Hand auf die Testatio 6legte, die – wie auch bei Jakob und bei Philemon – um ihren Hals hing. Sie schlugen einen schnelleren Schritt ein, um eine Kamelkarawane zu überholen. Die Kaufleute schwatzten fröhlich mit einander, anscheinend freuten sie sich auf die baldige Ankunft in Antiochia und die sicher guten Handelsmöglichkeiten. Auch die Kamele – gut genährt – schwankten trotz der Lasten zufrieden voran.

„Wir verlassen jetzt den Flussweg. Hier werden die Segelschiffe aufwärts gezogen, wenn nicht genug Wind bläst. Der Orontes mäandert stark und verlängert so die Entfernung bis Antiochia. Wir gehen den kürzeren Weg durch das Hügelland.“

Im Nordwesten zog sich der mächtige Bergstock des Amanos hin, von dunklem Wald bedeckt. Im Süden schützte der stattliche grüne Mons Kasios das Tal. Der Weg führte in eine hügelige Landschaft hinein. Hier wechselten Olivenhaine mit Weinbergen ab; in Gärten, beschattet von mächtigen Feigen- und Maulbeerbäumen, reiften Obst und Gemüse. Hin und wieder leuchtete weiß ein großes Landhaus aus dem Schatten der Palmen und Zypressen herüber.

„Wie intensiv es nach Orangen und Zitronen duftet!“ Anna blieb stehen und atmete tief ein. „Ooh, so macht Wandern richtig Lust!“

„Ja, hier lässt es sich gut leben“, meinte Jakob, „fruchtbar und reich ist diese Landschaft und ernährt die Menschen.“

„Das gelingt vor allem, weil hier so viele Sklaven in der Landwirtschaft arbeiten“, erklärte Philemon. „Die können natürlich nicht das gute Leben genießen. Was Sklaven und Leibeigene erwirtschaften, ist Eigentum der Reichen in Antiochia und Rom.“ Immer wieder stießen sie unterwegs auf eingefasste Quellen und Bäche aus den Bergen, die für Karawanen und Wanderer frisches, klares Wasser boten.

„Wir haben etwa die Hälfte des Weges geschafft“, meinte Philemon, „jetzt machen wir an dieser Quelle eine längere Rast.“

„Ein willkommener Vorschlag“, kommentierte Anna, ließ ihre Rolle von den Schultern gleiten und setzte sich aufatmend darauf.

„Brot, Käse und Datteln – wie gut das schmeckt, wenn man Hunger hat!“ Jakob hatte schnell die Mahlzeit ausgebreitet und Quellwasser in einen Ledersack abgefüllt.

„Warum gehen wir ausgerechnet zu Markus?“, fragte Anna. „Gibt es sonst keinen Menschen mehr, der legitimiert ist und die Autorität hat, von Jesus zu sprechen und über unser Gemeindeleben zu urteilen?“

„Markus ist sicher nicht der Einzige, der dafür in Frage kommt“, antwortete Philemon. „Doch in Jerusalem können wir niemanden mehr fragen, denn erstens herrscht dort Krieg, die Zerstörung der Stadt durch Vespasians Truppen steht bevor. Und zweitens sind viele Jesusanhänger längst aus der Stadt und aus Judäa, auch aus Galiläa geflohen. Markus hatte Kontakt zu Scha'ul Paulus, vielleicht ist er auch Schimon Petrus, Jakobus und anderen begegnet, die von Jesus erzählen konnten.“

„Sagtest du nicht, dass Markus nur kurz mit Scha'ul Paulus zusammen war?“, fragte Jakob.

„Das stimmt“, antwortete Philemon, „Markus hat zwar die erste Missionsreise des Scha'ul Paulus begleitet, aber dann bei Perge in Pamphylien, aufgegeben, weil er den gefährlichen Weg scheute. Ihr wisst ja, im Hinterland unserer Provinz herrschen die Räuberbanden. Und als Markus dann den Rückweg über Attaleia nahm, haben meine Eltern ihn aufgenommen. Ich war damals sechzehn Jahre alt und habe in Markus einen Freund gefunden. Er war nur ein paar Jahre älter. Ich denke, in der kurzen Zeit mit Scha'ul Paulus hat er viel gelernt, was die Botschaft von Jesus Maschiach betrifft.“

Für eine kleine Weile schwiegen sie, jeder hing seinen Gedanken nach. Vor allem genossen sie es, sich lang im Grase auszustrecken.

Endlich hatten sie die letzten Hügel und Täler hinter sich gebracht, da sahen sie von der letzten Erhebung hinab in die große Ebene von Antiochia, vom Orontes mäandernd durchströmt. Um die Stadt herum breitete sich ein reiches Gartenland mit vielen Obstbäumen aus.

„Wir werden hier ein riesiges Angebot an Früchten und Gemüse bewundern und auch genießen können“, versprach Philemon, „denn dieses Land ist gesegnet wie kein anderes.“

„Mehr gesegnet als unsere Heimat? Wie kommt das?“, fragte Jakob.

„Ihr seht, wie Antiochia in der Flussebene genügend Wasser hat. Von Norden her schützen der Mons Amanus und von Süden her der Mons Silpius vor starken Winden und vor großer Kälte im Herbst und Winter. Und im Frühling bringt der stete Westwind milde Luft ins Tal, so dass die Obstbäume früh und ungestört blühend können. Zudem trägt der Orontes immer wieder gute Erde aus dem Osten heran. Auf diesen Böden lassen sich meist zweimal im Jahr reiche Ernten erzielen.“

Sie setzten sich in den Schatten einer alten Buche und erfrischten sich mit dem Wasser, das Jakob kurz vorher an einer Quelle in den Ledersack gefüllt hatte. Und zu dem Brot, das Nikodemus ihnen mitgegeben hatte, aßen sie getrocknete Feigen und Datteln.

„Wenn wir auf den Mons Silpius hochsteigen“, sagte Philemon seinen Kindern und wies über Antiochia hinaus auf den Berg im Südosten, an dessen unteren Hängen sich die Metropole ausdehnte, „dann sehen wir von seiner Höhe aus im hohen Norden die scharfkantigen Bergspitzen des Taurus; und blicken wir weit nach Süden, dann sehen wir die schneebedeckten Gipfel des Libanon. Von diesem Schnee erhält der See Genezareth sein Wasser. Südlich von diesem Gebirge liegt das Land Judäa, und dort, Anna und Jakob, hat Jesus gelebt“, erklärte Philemon seinen Kindern.

Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Menschen kamen von dort, verteilten sich auf verschiedene Wege in den Norden und den Westen, und desto mehr Menschen kamen auch hinter ihnen her und strebten der Stadt zu. Bald waren die ersten Lager der Karawanen links und rechts der Straße zu sehen, Sklaven entluden die Lasttiere, damit die Waren auf Karren leichter in die Stadt zu transportieren waren. Manche Bauern und Händler kehrten wiederum zufrieden aus der Stadt zurück, weil sie früh am Morgen die Märkte dort beliefert hatten.

Nun näherten sie sich dem Fluss Orontes, der selbst zu dieser Zeit, schließlich war es schon Sommer, noch viel Wasser führte. Dichtes und hohes Gebüsch säumte breit die Ufer.

„Wenn man sich darin versteckt, dann kann man nachts unbemerkt über die Mauer in die Stadt“, meinte Jakob.

„Oder sich im Dickicht verstecken, wenn man was ausgefressen hat“, entgegnete Anna lachend. Sie konnte ja nicht ahnen, dass es einmal in diesem Dickicht um Leben und Tod gehen sollte.

Um in die Stadt zu kommen, mussten Philemon und seine Kinder über die Orontesbrücke und dann durch das Seleukia-Tor. Großes Gedränge, Warteschlangen, denn das römische Militär kontrollierte sorgfältig. Es war ja Krieg in der Nachbarschaft. „Römische Bürger, die die Stadt betreten wollen, können an der langen Schlange vorbeigehen und sich am Tor ausweisen“, rief ein Soldat.

„Gott sei Dank!“, seufzte Jakob, als sie sich mittels ihrer Testatio als römische Bürger aus Attaleia ausgewiesen und so zügig die Kontrolle durchschritten hatten.

„Aber auch unserem Großvater Simon sei gedankt, dass wir Freie sind“, fügte Anna trocken hinzu, „schließlich hatte er seinem Patron das Leben gerettet.“

„Habt ihr auf der Brücke nach dem Königspalast geschaut?“, fragte Philemon. „Er liegt auf einer Insel, denn östlich der Stadt ist dem Orontes ein Arm abgezweigt, so dass der Königspalast von Wasser umschlossen ist. Dort residiert jetzt der römische Präfekt, er ist der Inhaber der höchsten Reichsgewalt im Osten des römischen Reiches, außerdem arbeiten hier auch seine Generäle und die hohen Regierungsbeamten“, erklärte Philemon mit halblauter Stimme, denn immer noch waren sie in der Nähe des römischen Militärs. Philemon wies nach Südosten, Anna und Jakob schauten auf, wie sich die Stadt mit ihren Häuserreihen an den steilen Hang des Mons Silpius anlehnte. „Wie Wellen, die den Strand hinauflaufen“, meinte Anna. Sie sahen, wie von oben die Akropolis stolz herab grüßte und wie sich die Stadtmauer, mit vielen Türmen bekrönt, über den Berg hinzog, bis sie sich im Osten wieder senkte, um von dort Antiochia zu umschließen.

„Und wo wohnt Markus?“, fragten Anna und Jakob wie aus einem Munde.

„Wenn ihr der Stadtmauer auf dem Berg folgt und dann, nachdem sie wieder absteigt, dem Berggrat folgt, dann seht ihr im Osten einen Einschnitt. Dort werden wir in einer kleinen Schlucht hinaufsteigen zum Mons Staurin, der sich östlich davon anschließt und nicht so hoch ist wie der Mons Silpius. Oben ist eine Hochebene mit Weiden und mit Ölbäumen: dort müssen wir hin. Zuerst aber biegen wir in die Herodes-Straße ein. So eine Prachtstraße habt ihr noch nicht gesehen. Hinter der großen Brunnenanlage, dem Nymphaion, gehen wir am Fluss Parmenios bergwärts bis zur Porta Ferrea, dem Eisernen Tor, und von dort an der Stadtmauer des Tiberius entlang zur Schlucht, wo der Aufstieg zum Mons Staurin beginnt. So hat Markus mir den Weg beschrieben.“

Als sie in die Herodes-Straße einbogen, blieb Anna und Jakob der Mund offen stehen vor Staunen: nicht nur überraschend breit war diese Straße, so dass Fußgänger, Kutschen, Reiter je ihren Platz hatten, sondern auch noch überdacht und von Kolonnaden gesäumt, so dass die Menschen sich im wohltuenden Schatten bewegen konnten, außerdem war die Straße mit geschliffenen Steinplatten belegt, so sauber und glänzend, dass sich die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Schilfmatten schienen, darin spiegelten. Zwischen den Säulen standen heroische Skulpturen, die Anna und Jakob in der Eile nicht zuordnen konnten, Herakles, Odysseus vermutlich, auch Götter schienen dargestellt zu sein.

„Diese Straße hat der König Herodes, genannt der Große, vor siebzig Jahren bauen lassen“, erklärte Philemon, „wir laufen sozusagen über sein Geschenk an die Stadt. Aber all das schauen wir uns später an. Jetzt auf, zum Nymphaion!“

Mitten auf der Herodes-Straße, eingerahmt von Säulen und überdacht, stand ein Brunnenhaus mit reich verzierter Fassade, aus deren Nischen viele Figuren aus der griechischen Sagenwelt hervorlugten, aus ihren Mündern spritzte Wasser und kühlte die Luft um das große Becken am Fuße der Fassade herum.

„Diese Anlage heißt man Nymphaion, weil viele Quellgottheiten dargestellt sind. Eine Nymphe erkenne ich: Diese dort mit dem Lorbeer, das ist Daphne“, erklärte Philemon und wies auf einen weiblichen Kopf in der Mitte, er war der größte von allen, umrankt von Lorbeerzweigen.

„Sie sieht aus, als wäre sie Teil des Lorbeerbaumes“, mutmaßte Anna.

„Eine Erklärung dazu erfahren wir, wenn wir nach Daphne wandern. Dort gibt es ein Heiligtum, wo sie und Apollon verehrt werden“, antwortete Philemon. „Jetzt erfrischen wir uns an diesem wunderschönen Brunnen mit klarem Quellwasser aus den Bergen. Und dann beeilen wir uns, dass wir auf den Berg kommen. Ich freue mich sehr, Markus wiederzusehen.“

Für die Pracht der Herodesstraße hatten die Wanderer nun keinen Sinn mehr, galt es doch nach dem langen Weg auch noch den Aufstieg zu Markus' Haus zu bewältigen. Und das in der Hitze des Nachmittags.

„Es ging ja leichter und schneller, als ich mir das vorgestellt habe“, lächelte Philemon, als sie die Großstadt Antiochia durchquert, Militärkontrollen glücklich überstanden und hinter den letzten Häusern und der Porta Ferrea den Weg in die Schlucht gefunden hatten. Von dort aus stiegen sie den Mons Staurin hoch zum Haus des Markus.

Auf dem schmalen Bergpfad ging der Vater voran. Anna und Jakob folgten, drehten sich aber immer wieder herum und bestaunten die Metropole im Tal des Orontes, die unzähligen und hohen Häuser, die, zu Wohnkomplexen zusammengefasst, Viertel bildeten. Mittendurch ging, gut erkennbar und schnurgerade, die große Kolonnadenstraße. Die vielen Nebenstraßen orientierten sich an ihr und bildeten ein großes rechtwinkliges Netz.

„Möchtest du hier wohnen, leben?“, fragte Jakob seine Schwester.

„Eindrucksvoll ist diese Stadt schon und sie hat sicher viel mehr zu bieten als Attaleia, vor allem die vielen Bäder und Springbrunnen, wo jeder Mensch sich erfrischen kann. Und dann die Theater und die vielen Sportstätten! Da, schau rüber zum Königspalast, daneben ist ein Hippodrom, da trainieren sie gerade: Wagenrennen …“

„Vielleicht werden in diesem Jahr hier wieder Olympische Spiele veranstaltet. Dann wird es in der nächsten Zeit voll in der Stadt. Ich würde gern mal an einem Tag zuschauen. Aber du hast noch nicht auf meine Frage geantwortet, ob du hier leben möchtest.“

„All das ist verlockend, ja, aber ich gehöre in die Gemeinschaft von Attaleia, als junge Erwachsene habe ich meine aktive Zugehörigkeit versprochen, und ich freue mich, sie auch in Zukunft einlösen zu können“, antwortete Anna. „Und du?“