Moden und Trends - Die Professoren Professorinnen der Fakultät für Theologie der Katholischen Privat-Universität Linz - E-Book

Beschreibung

Heft 3/2018 Moden und Trends lenkt den Blick auf Fragestellungen, ob und in welcher Form von Trends beispielsweise in den Zusammenhängen von Wissenschaft zu sprechen ist und wie diese entstehen. Ebenfalls geht es der Frage nach, warum Moden immer wieder wechseln. Und ganz aktuell: Welche Trends zeigen sich in den sozialen Medien? Das Selbstverständnis von Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften speist sich maßgeblich aus der Erinnerung an Erlebtes, an Überliefertes, nicht selten auch Erlittenes. Wir erinnern uns allerdings nicht (nur) "einfach so", sondern pflegen Erinnerung – und konstruieren bisweilen eine "Erinnerungskultur". So greift es nicht zu weit, die jüdisch-christliche Tradition als Erinnerungsreligion oder eben Erinnerungskultur zu bezeichnen. Dieser Spur gehen die Beiträge in Heft 4/2018 nach: Erzählen und Erinnern.

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Inhaltsverzeichnis ThPQ 166 (2018), Heft 3

Schwerpunktthema:

Moden und Trends

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Oliver Dimbath

Aeternitas quo vadis?Sollte die Kirche in die Zukunft blicken?

1 Erkennen wir die Zeichen der Zeit?

2 Der Blick in die Zukunft: Von der Prophezeiung zur Prognose

3 Die Beobachtung sozialen Wandels

4 Wozu Trends, wozu Prognosen?

Anton Pelinka

Trends in der Politik

1 Das Konzept der „cleavages“

2 Megatrend Globalisierung

3 Megatrend Säkularisierung

4 Megatrend Demokratisierung

5 Homo Deus?

Konrad Huber

Von „Turn“ zu „Turn“, von „Quest“ zu „Quest“. Zu aktuellen Trends in der neutestamentlichen Exegese

1 Bibelwissenschaft als Trendsetter

2 Im Sog der „Turns“

3 Im Wandel der „Quests“

4 Unter dem Eindruck von Kompendien

5 Zusammenschau

Peter Walter

Geschichtlichkeit des Dogmas oder: Darf es im Glauben Neues geben?

1 Die Unveränderlichkeit des Glaubens

2 Beispiele für „Neues“ im Verlauf der Dogmengeschichte

3 Ausblick

Marie Helbing

Konjunkturen der (Kleider-)Mode

1 Grundprinzip der Mode

2 Mode und Wirtschaft

3 Karneval der Mode

4 Antimode

5 Simmels Modetheorie heute

Ilaria Hoppe

Katzen. Trends und Hypes in Internet und digitaler Kultur

1 Generation Internet und die Megatrends der Zukunft

2 Katzen und Memes

3 Katzenmarkt

4 Hack the cat

5 Über Katzen und Menschen

Abhandlungen

Hubert Gaisbauer

Existenz auf der Schwelle – Simone Weil

Versuch, einen Umriss zu zeichnen

Selbstverständnis angesichts des nahen Lebensendes

Letzte Briefe und Gespräche

Mission oder Seelenführung?

Der Befehl

Schönheit – ein Sakrament

Johann Maier

Mose ben Maimons Haltung zur nichtjüdischen Umwelt und zu innerjüdischen Problemfällen

1 Lebenslauf

2 Die Werke

3 Nachwirkung

4 Eine falsche Alternative

5 Die maimonidischen Streitigkeiten

6 Israel und die Völker

7 Islam, Christentum und Jesus

8 Innere Feinde

9 Die Herrschaft des Gesalbten Königs

10 Zusammenfassung

Literatur

Christian Spieß

Das aktuelle theologische Buch

Rezensionen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Moden und Trends denken? An die klassische Kleidermode oder gar an exquisite Modeschöpfer wie Marc Jacobs, Stella McCartney, Jil Sander usw.? Oder fallen ihnen auch andere Moden und Trends ein? Schließlich lässt sich Mode nicht allein auf Kleidermode reduzieren. „Der Prediger, der auf zwei Beinen auf die Kanzel steigt, trägt in der Regel auch Schuhe, Strümpfe und einiges mehr, und was er trägt, hängt zusammen mit der Kultur, in der er lebt. Und was er sagen wird, hängt hinwiederum zusammen mit den Kleidern, in denen er steckt; will sagen: mit seiner gesellschaftlichen Existenz.“1 Mit anderen Worten: Wie wir uns kleiden, wie wir handeln und was wir äußern, unterliegt einer kulturellen Prägung, die wiederum von Moden und Trends beeinflusst ist. Jene Labels, die sich in unser aller profanen Kleidung finden, markieren ihre Herkunft und sind für den Tragenden / die Tragende ein Bekenntnis. Das gleiche gilt für die theologischen Kleider, in denen wir stecken und die pastorales Handeln ‚anziehend‘ machen (sollen). Der Soziologe Thomas Schnierer hat drei Aspekte benannt, die zentral sind, wenn es um Moden und Trends geht: (a) der zeitliche Aspekt, der die Kurzlebigkeit von Moden verdeutlicht – was sich nicht (schnell) ändert, kann keine Mode sein; (b) der soziale Aspekt, mit dem das Phänomen angesprochen ist, dass es eine bestimmte Anzahl von Menschen braucht, die ‚mitmachen‘, um überhaupt von Mode sprechen zu können; diese Zahl ist kritisch, denn zu wenige wie auch zu viele ‚Modeträger‘ trüben die Erkennbarkeit einer Mode; (c) der sachliche Bereich, der schließlich angibt, in welchem sozialen Feld Moden auftreten.2 Da es nicht ohne Moden und Trends geht, die zugleich bewusst oder unbewusst unsere Kultur beeinflussen, gilt es, diese Phänomene als gesellschaftliche, die mitten in die Kirchen (samt ihren Theologien) hineinreichen, kritisch zu bedenken. Daher behandelt das vorliegende Heft, in Anlehnung an die Formulierung „Fashion is confession“3 (Mode ist Bekenntnis), die Thematik von Moden und Trends in ihren verschiedensten Facetten und welche ‚Bekenntnisse‘ mit ihnen verbunden sind. Es geht uns um das Folgende: Wie entstehen Moden und Trends und welche Funktionen erfüllen sie? In welcher Weise sind auch die (Gesellschafts-)Wissenschaften und die Theologie davon betroffen? Und: haben die Veränderungen in Kirche und Theologie (im historischen Rückblick betrachtet) etwas mit Mode und Trend zu tun?

Oliver Dimbath eröffnet aus soziologischer Sicht die facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Phänomen von Mode(n) und Trends. In seinem Beitrag werden verschiedene Formate von Zukunftsbeschreibungen vorgestellt. Zugleich diskutiert der Autor diese aus der Perspektive wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, um so zu plausiblen und tragfähigen Einschätzungen für die Zukunft von Kirche und Gesellschaft zu kommen.

Der Politikwissenschaftler Anton Pelinka zeigt in seinem Beitrag auf, dass Trends nicht einfach abzuleitende Folgen im Bereich des Politischen nach sich ziehen. Jedoch geben sie Hinweise auf mögliche und bisweilen notwendige Veränderungen und bilden in diesem Sinn einen Rahmen für Politik. Aus diesem Grund ist es gut und sinnvoll, Trends und ihre Fortschreibungen aufmerksam in den Blick zu nehmen.

Konrad Huber zeichnet in seinem Beitrag nach, welchen Niederschlag Trends aus der Kultur-, Literatur-, Text- und Geschichtswissenschaft in der Exegese gefunden haben und wie diese nicht nur aufgegriffen, sondern auch kreativ fortgeschrieben worden sind und werden. So wird deutlich, dass Profile in den Wissenschaften anhand überschreitender Themenstellungen die Diskurse wechselseitig bereichern und weiten können.

Der Dogmatiker Peter Walter zeigt auf, dass aus pastoralem Anspruch heraus nicht nur im Bereich der Frömmigkeit, sondern ebenso im Bereich der Glaubenslehre von Entwicklungen und Trends gesprochen werden kann. Angesichts dieses Aufweises ist zu erwarten, dass der Katholischen Kirche in Zukunft wohl noch spannende und vor allem notwendige Diskussionen bevorstehen.

Der Beitrag von Marie Helbig bewegt sich in jenem Bereich, der eingangs angesprochen wurde und in einem Heft zu Moden und Trends nicht fehlen darf – nämlich der Kleidermode. Ihr Beitrag, in dem sie die Geschichte der Kleidermode skizziert, hat seinen theoretischen Ausgangspunkt und Kompass in der Modetheorie von Georg Simmel.

Auch in den digitalen Medien lassen sich Moden erkennen. So tauchen schon seit geraumer Zeit immer wieder Katzenbilder auf Facebook oder Instagram auf. Ilaria Hoppe geht diesem Phänomen auf den Grund und belegt, dass sich Katzen als Motive für die unterschiedlichsten Lebens- und Gefühlslagen eignen und inzwischen wohl auch aus diesem Grund zu einem festen Bestandteil in den digitalen Medien geworden sind.

Der Philosophin Simone Weil ist der freie Beitrag von Hubert Gaisbauer gewidmet. Einfühlsam und gleichermaßen informativ lenkt er den Blick auf ihr (kurzes) Leben, ihre Empathie mit notleidenden Menschen, ihren politischen Einsatz und ihr Ringen mit dem katholischen Glauben und zeichnet so ihre liminale Existenz nach.

Der zweite freie Beitrag von Johann Maier über Moses Maimonides (geboren zwischen 1135 und 1138 in Córdoba; gestorben am 13. Dezember 1204 in Kairo) und seine Haltung zur nichtjüdischen Umwelt und zu innerjüdischen Problemlagen gewährt Einblicke in eine gänzlich andere, für uns zum Teil fremde Welt.

Liebe Leserinnen und Leser!

Eine gute und frohe Sommerzeit sowie eine inspirierende Lektüre wünscht Ihnen

Ihre

Ines Weber

(Chefredakteurin)

1 So schon 1975 Rudolf Bohren in: Dass Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 100.

2 Vgl. Thomas Schnierer, Modewandel und Gesellschaft. Die Dynamik von ‚in‘ und ‚out‘, Wiesbaden 1995, 19 ff.

3Bernd Beuscher, Stoffwechsel. Mode als Kleid des Absoluten, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 31 (2004), abrufbar unter: www.theomag.de/31/bb2.htm [Abruf: 04.06.2018].

Oliver Dimbath

Aeternitas quo vadis?

Sollte die Kirche in die Zukunft blicken?

♦ Der Autor, seit 2017 Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, erörtert die Problematik, wie Moden und Trends in ihrer Zukunftsausrichtung analytisch zu beurteilen sind. Hierfür unterscheidet er sozialwissenschaftliche Prognostik und Zeitdiagnostik von populärer Trendforschung. Abschließend geht er kurz auf entsprechende Zukunftsperspektiven im Zusammenhang von Religion und Kirche ein. (Redaktion)

1 Erkennen wir die Zeichen der Zeit?

Was tun, wenn man in Gesprächen mit Begriffen wie Me-Volution, Happyologie, Silverpreneur, Food’n’Mind, Ess-Theten konfrontiert wird? Man tut gut daran, sich rückständig zu fühlen, denn all die genannten Typen weisen den Weg in die Zukunft. Wer sie nicht kennt, hat vielleicht schon den Zug verpasst. Und vor allem wenn man sich beruflich mit Menschen beschäftigt, sollte man unbedingt wissen, was sie aktuell bewegt beziehungsweise wohin sie sich bewegen. Sie wollen sich selbst verändern, gestalten, anpassen, wollen glücklich sein, auch im Alter aktiv und vor allem berufstätig, sie wollen sich bewusster und gesünder ernähren und vieles mehr. Das ist jetzt schon so, wird aber in naher Zukunft noch viel bedeutsamer werden. Da kann man sich gleich darauf einstellen und Geschäftsideen entwickeln, denn große Marktchancen zeichnen sich in aller Deutlichkeit ab.

Konsumenten und Produzenten orientieren sich an solchen Befunden der Trendforschung. Dankbar nehmen sie ein Wissen auf, das ihnen hilft, ganz vorn dabei zu sein auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Dass viele Menschen mit Misstrauen und Unbehagen auf derartige Informationen reagieren, dürfte allerdings nicht allein als Reflex konservativ-reaktionärer Zurückhaltung zu verstehen sein. Angesichts des inflationären Aufpoppens immer neuer Etiketten regt sich der Verdacht, dass man ja so allerlei in die Zukunft hineindeuten kann. Ob sich all das aber auch heute bereits abzeichnet, oder ob es sich nur um Wunschvorstellungen eines gerade durchgehenden Zeitgeistes handelt, ist kaum zu ermessen.

Vor allem bei weitreichenden Entscheidungen oder beim Nachdenken über gesellschaftliche Werte ist mit Blick auf die Erzeugnisse der Trendforschung Vorsicht geboten. Zwar gilt es, die Augen offen zu halten, um Entwicklungen zu erkennen und sie ernst zu nehmen. Allerdings entsteht der Eindruck, als versorgten nicht nur das Marketing, sondern auch die Sozialwissenschaften die mediale Öffentlichkeit mit jeder Menge Interpretationsspam. Wie ist es unter diesen Bedingungen möglich, Orientierung zu finden? Auf den folgenden Seiten geht es darum, unterschiedliche Formate der Prognostik in den Blick zu nehmen und hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit zu diskutieren. Daraus lässt sich dann eine Einschätzung dafür entwickeln, ob beziehungsweise welchen Prognosen – beispielsweise auch im Kontext von Kirche und Gesellschaft – Aufmerksamkeit zukommen sollte. Im Fokus steht somit die Frage, inwieweit ein Blick in die Zukunft gelingen kann. Dass er, wenn man ihn einmal gewagt hat und das dort Geschaute glaubt, reale Konsequenzen nach sich ziehen kann, steht wieder auf einem anderen Blatt.

2 Der Blick in die Zukunft: Von der Prophezeiung zur Prognose

Seit Vorzeiten gehören bestimmte Formen der Zukunftsorientierung zum Handlungsrepertoire des Menschen. Zwar haben Rituale in erster Linie die Funktion, Gemeinschaften ihres Zusammenhalts zu versichern; zugleich spricht ihre Symbolik aber auch bestimmte Sinnbezüge an. Das Opferritual symbolisiert beispielsweise nicht nur Dank. Es zielt auch darauf, die Götter weiterhin gewogen zu halten. Ihr Schutz und Beistand erscheint als Voraussetzung dafür, bedeutsame zukünftige Aktivitäten überhaupt erst angehen zu können. Und wenn man sich bei längerfristigen Planungen oder im Hinblick auf das eigene beziehungsweise gemeinsame Schicksal nicht sicher war, suchte man einen Seher oder ein Orakel auf. Diese gelangten vermittels von Träumen, Gesichten oder durch die Analyse geeigneter Medien wie Tierinnereien, der Anordnung geworfener Runenknochen oder der Richtung des Vogelfluges zu Prophezeiungen oder Weissagungen. Natürlich sind solche Zukunftsvisionen keine Punktlandungen, die exakte Vorhersagen zu treffen vermögen. Sie tun gut daran, vieles im Vagen zu lassen; aber indem sie typische Zusammenhänge benennen,1 bleibt erstens ein gewisser Deutungsspielraum, der die Konstruktion von Übereinstimmungen allgemeiner Prophezeiungen mit eingetretenen Ereignissen zulässt. Zweitens besteht immer noch die Chance der sich selbst erfüllenden – oder vice versa einer sich selbst verhindernden – Prophezeiung, wenn die Protagonisten in ihrer Wahrnehmung derart auf den verkündeten Sinnzusammenhang eingestellt sind, dass sie kaum anders können, als mit Rücksicht auf sein mögliches Eintreten tätig zu werden. Der Soziologe Robert K. Merton hält dazu fest: „Die self-fulfilling prophecy ist eine zu Beginn falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden läßt. Die trügerische Richtigkeit der self-fulfilling prophecy perpetuiert eine Herrschaft des Irrtums. Der Prophet nämlich wird den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse als Beweis dafür zitieren, daß er von Anfang an recht hatte.“2

Im Grunde genügen schon diese kurzen Überlegungen, um jede Form der Vorhersage zukünftigen Geschehens grundlegend zu diskreditieren. Allerdings widerspricht dies einem wichtigen Grundsatz der modernen Wissenschaft, welcher dem französischen Sozialphilosophen und Ur-Positivisten Auguste Comte zufolge so bestimmt ist: „Bei Betrachtung der gesamten menschlichen Tätigkeit hat man ohne Zweifel das Studium der Natur so aufzufassen, daß es bestimmt ist, die Grundlage für die menschliche Einwirkung auf die Natur abzugeben. Kurz, die Wissenschaft führt zur Voraussicht, Voraussicht führt zum Handeln.“3

Seit jeher hat die systematische Beobachtung der Natur dazu geführt, Regelmäßigkeiten zu erkennen, Gesetzmäßigkeiten abzuleiten und dadurch zukünftige Entwicklungen besser voraussehen zu können. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht im Wesentlichen darin, die Bedrohung durch Naturgewalten besser in den Griff zu bekommen, ja die bislang ungebändigte Natur sogar zur Steigerung des eigenen Wohls zu domestizieren. Grundlage ist zwar stets die Fortschreibung oder Extrapolation von Beobachtungsdaten in die Zukunft; gleichwohl aber bleibt der forschende Blick an die Messwerte geheftet. Eine Prognose richtet sich somit nur auf diejenigen Zukünfte, die sich der Beobachter aufgrund seiner Erfahrung ausmalen kann. Folgt man dem Soziologen Alfred Schütz, kann man der Wissenschaft, die sich als System aus wahren – und das heißt: geprüften und nachprüfbaren – Aussagen versteht, eine gewisse, wenngleich eingeschränkte Vorhersagekraft attestieren. Wissenschaftliche Voraussicht ist damit der spekulativen Ahnung, welche sich am Alltagswissen orientiert, überlegen. Allerdings ist auch sie eine „Gewissheit auf Widerruf“4, da sie nur das sieht, was sie in ihren Datenreihen beziehungsweise Erfahrungswerten und vermittels darauf gestützter logischer Folgerungen erkennen kann. Mit anderen Worten liefert die Vergangenheit immer die Grundlage dessen, was man von der Zukunft erwarten kann: „Im Bereich unserer zukünftigen Ereignisse, von denen wir annehmen, daß sie durch unser Handeln beeinflusst werden können, halten wir uns selbst für Schöpfer dieser Ereignisse. Was wir aber wirklich im Entwurf unserer Handlungen präkonzipieren, ist ein antizipierter Sachverhalt, den wir uns so denken, wie wenn er in der Vergangenheit sich ereignet hätte. […] Die Vergangenheit ist unwiderruflich und unwiederbringlich. Die Voraussicht, als antizipierender Rückblick, hängt von unserem zuhandenen Wissensvorrat vor dem Ereignis ab und läßt daher offen, was nur durch das Eintreten des antizipierten Ereignisses selbst unwiderruflich erfüllt werden kann.“5

All das mahnt zur Vorsicht, da erstens das Unvorhergesehene eintreten, man zweitens bei der Vorhersage möglicherweise die falschen Prämissen gesetzt und etwas übersehen oder drittens gesichertes Erfahrungswissen mit Glaubenssätzen vermengt haben kann. Eine der berühmtesten Prognosen der Zukunftsforschung, die enorm einflussreiche Studie über die Grenzen des Wachstums von Dennis und Donella H. Meadows6 (1972), muss aus heutiger Sicht anders bewertet werden. Die Kybernetiker hatten in komplexen Regelkreismodellen den weltweiten Rohstoffverbrauch berechnet und festgestellt, dass die Rohstoffvorräte des Planeten nicht nur endlich sind, sondern auch in absehbarer Zeit verzehrt sein würden. Die Wirkung dieser Untersuchung war eindrucksvoll, brachte sie doch die Idee der Nachhaltigkeit ins öffentliche Bewusstsein und legte damit einen Meilenstein der ökologischen Bewegung. Allein die durch die Prognose vorgenommene Datierung des Versiegens der Rohstoffquellen erwies sich als völlig unzutreffend.

Auch hier zeigt sich also, dass der Blick in die Zukunft zu Erkenntnissen führt, die weiteres Handeln orientieren. Allerdings gibt es ein Gefälle zwischen der Einsicht in (un-)wahrscheinlichere Entwicklungstendenzen und der Treffsicherheit im Hinblick auf das Eintreten konkreter Ereignisse. Es ist nahezu unmöglich, sowohl die Randbedingungen von Situationen als auch – besonders im Kontext des Sozialen – die Aktivitäten aller Beteiligten vorherzusagen. Je mehr Einflüsse berücksichtigt werden müssen, desto unwahrscheinlicher wird eine treffsichere Prognose. Was unter den streng kontrollierten Bedingungen des Laborexperiments vielleicht noch realisiert werden kann, wird, wenn man es mit der Wahrhaftigkeitsorientierung der Wissenschaft auch nur einigermaßen genau nimmt, bei sozialen Prozessen zu einem riskanten Unterfangen.

Ganz unabhängig von der politischen Dimension der im Angesicht solcher Informationen vorzunehmenden Planung des weiteren Vorgehens stellt sich die Frage, ob dem prognostizierenden Forscher auch gleich die Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten oder Auswegen zugemutet werden kann. Und in der Forschungspraxis ergibt sich daraus für Wissenschaftler die Verlockung, aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie nach dramatischen Problemen Ausschau zu halten, zu denen die sie stützenden Daten erst noch ermittelt werden müssen. Jürgen Friedrichs, M. Rainer Lepsius und Karl Ulrich Mayer weisen in ihrer Diskussion des Zusammenhangs von Diagnose und Prognose in den Sozialwissenschaften genau darauf hin: „Vielleicht ist es ja so, daß die Soziologen mit ihren Diagnosen dramatisieren müssen, um aus der Diagnose ein politisches Problem werden zu lassen. Dann nämlich läßt sich auch begründen, warum Forschungen notwendig sind, was im nächsten Schritt dazu führt, aus den inzwischen bereitgestellten Fördermitteln auch Geld für die eigene Forschung zu erhalten. Dieses inzwischen als ‚Kassandrasyndrom‘ beschriebene Phänomen erfreut sich zwar auch in den Naturwissenschaften einiger Beliebtheit (z. B. Waldsterben, globale Erwärmung), ist aber nur in den Sozialwissenschaften fast die Regel.“7

Dies zeigt, dass Prognosen immer auch eine ‚interessierte‘ Komponente haben, sei es, wie dargestellt, auf Seiten der Forschenden, sei es auf Seiten derer, die in ihrer aktuellen Situation eine Zukunft entwerfen. Diese Zukunft kann, wie der Soziologe Karl Mannheim8 (1952) festgehalten hat, als Ideologie auf eine Bestätigung und Fortführung des Bestehenden hinauslaufen. Sie kann aber auch als Utopie eine Veränderung der Verhältnisse fordern. Mit seinem Verständnis von Futurologie weist der Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim einen Weg durch die Mitte dieses Spannungsfeldes. All dies bleibt den Wahrhaftigkeitsstandards der Wissenschaft verpflichtet. Man ist sich dort, wo aus den Prognosen auch Handlungskonsequenzen gezogen werden, über die nicht abzulegende Parteilichkeit im Klaren: „Eine futurologische Haltung wird zwischen Skylla eines empirischen Pragmatismus, der nur Vergangenheit und Gegenwart kennt, und der Charybdis eines dogmatischen Monismus, der die Zukunft ein für allemal erkannt zu haben glaubt, ihren Weg suchen – im Wissen um die ganze Gebrechlichkeit und Entfremdung menschlichen Wissens, aber auch in der unbesiegbaren Hoffnung auf die Erkenntnischance des Menschen.“9

Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so steht dem Bedürfnis nach Planungssicherheit das Problem massiver Einschränkungen der Planbarkeit gegenüber, welches sich aus der Kontingenz und Komplexität der Verhältnisse einerseits, aber auch aus dem oft nur eingeschränkt reflektierten Standpunkt des Prognostikers andererseits ergibt. Auch wissenschaftliche Beobachtungsverfahren können diesen Mangel kaum beheben, aber zumindest ein wenig lindern. Allerdings haben Wissenschaftler ebenso wie ihre Auftraggeber ihrerseits bisweilen konkrete Vorstellungen davon, wie die beobachtete Situation zu bewerten ist und wie sie künftig gestaltet werden könnte. Es ist also Vorsicht geboten, wenn über (un-)aufhaltsame Entwicklungen diskutiert wird. Dies gilt vor allem für soziale Prozesse, da es sich hierbei um Bereiche handelt, in die interessierte Akteure wirksam gestaltend eingreifen können.

3 Die Beobachtung sozialen Wandels

Das Befragen einer Kristallkugel im Sinne eines Blickes durch ein ‚Fenster‘ in die Zukunft des Betrachters kann, wie gezeigt wurde, schon allein aus logischen Gründen nicht funktionieren. Und auch wenn die Sozialwissenschaften immer wieder in die Pflicht genommen werden, gegenüber politischen Katastrophen als kapitolinische Gänse zu wirken, bleibt die Schwierigkeit, in der Vielzahl unterschiedlicher Diagnosen und Prognosen die auch tatsächlich zutreffenden zu identifizieren. Freilich finden sich im Nachhinein klar datierte Vorhersagen der Machtübernahme Hitlers, des Überfalls auf Polen oder zu Dauer und Verlauf des Zweiten Weltkriegs.10 Diese verhallten jedoch in der Vielstimmigkeit mannigfaltiger Zukunftsentwürfe. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, warum Sozialwissenschaftler überhaupt eine solche Kakophonie veranstalten. Eine Antwort liegt vielleicht in dem Eingeständnis, dass selbst die auf die Zukunft gerichtete Utopie weniger eine Prognose zukünftiger als vielmehr eine Kommentierung gegenwärtiger Verhältnisse, der Blick in die Zukunft nur ein kaum bedeutsamer Nebenschauplatz ist.

Begreift man das Genre der soziologischen Zeitdiagnostik als gesellschaftliche Selbsterkundung und Selbstvergewisserung, erscheinen die massenhaft verfertigten Gegenwartsbilder – seien es aufkommende Generationen wie die Generation X, die Generation Golf oder die Generation @, die XY-Gesellschaften wie die Risiko-, Erlebnis- oder Externalisierungsgesellschaft, oder soziale Prozesse wie die Modernisierung, Individualisierung oder Beschleunigung als Motoren gesellschaftlichen Wandels11 – einfach nur als Deutungsangebote mit Ausblicken auf je unterschiedliche Zukünfte. Vom wissenschaftlichen Anspruch der Futurologie aber weichen Zeitdiagnosen immer wieder ab, weshalb sie, ihre Zukunftsprognosen eingeschlossen, dem Vorwurf der empirischen Ungenauigkeit beziehungsweise Holzschnittartigkeit ausgesetzt sind. So beklagen beispielsweise die Soziologen Nina Degele und Christian Dries, dass sich die „holzschnittartige, essentialistische These vom globalen Kulturkampf“ bei Samuel Huntington12 gar „im Sinne einer pseudo-sozialwissenschaftlichen self-fulfilling prophecy“13 ‚bewähren‘ könnte.

Zeitdiagnosen bieten indes nicht nur eine durch einen kurzen Griff an den Puls der Gesellschaft verfertigte Momentaufnahme. Sie werden nur dadurch interessant, dass sie sozialen Wandel und damit eine klare Veränderung im Vergleich mit einem früheren Zustand der Gesellschaft diagnostizieren. Es ist das ausgerufene Neue, welches zu einem neuen Selbstverständnis der Gesellschaftsmitglieder führen und ihr weiteres Tun orientieren soll. Bei aller fehlenden Präzision derartiger Befunde wird insbesondere von der Soziologie erwartet, dass sie ‚der‘ Gesellschaft einen solchen Spiegel vorhält.

Da auch die Trendforschung, beginnend bei populärwissenschaftlichen Angeboten bis hin zu sozialwissenschaftlichen, mehr als Orientierung gebende, zeitdiagnostische Selbstvergewisserung angesehen werden kann, denn als wissenschaftlich belastbare Prognostik, werfen wir im Folgenden einen kurzen Blick auf die Zukunftsaspekte sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnostik und vergleichen sie mit Formaten der Trendforschung. Denn auch die Trendforschung steht im Ruf, nicht immer empirisch ‚wasserdicht‘ zu sein und eher die Wünsche und Hoffnungen ihres Publikums zu bedienen. Dadurch entsteht der Verdacht, dass sie nicht unparteiisch beziehungsweise von aufmerksamkeitsökonomischen Interessen geleitet ist.

3.1 Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnostik

Erkundigt man sich nach den Zukunftsbezügen in sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen, kann man mit dem Soziologen Manfred Prisching sechs unterschiedliche Verlaufsmuster erkennen. Die Analyse Prischings lässt ahnen, dass es kaum Zeitdiagnosen gibt, aus denen sich nicht irgendein sozialer Prozess ableiten ließe. Eine Fortschreibung in die Zukunft im Sinne einer Trend- oder Tendenzaussage zeichnet sich damit fast immer ab – auch wenn sie nicht explizit ausgeführt wird. Prisching unterscheidet zunächst dystopische Wandlungshypothesen, die auf Abstieg, Verfall und Dekadenz gerichtet sind, von utopischen, die Aufstieg, Fortschritt und Wohlstand verheißen. Sodann öffnet er die ambivalente Kategorie derjenigen Diagnosen, welche Deutungen für die Weiterführung bestehender Verhältnisse bereitstellen. Ambivalent ist dies, weil die schlichte Fortsetzung der Verhältnisse neutral als Stagnation, aber auch negativ als Stillstand oder positiv als Reife bewertet werden kann. Ein vierter Verlaufstypus umfasst Zeitdiagnosen, die gesellschaftliche Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung begreifen. Die hier versammelten Figuren zeigen Muster der Zyklizität, der Wellen oder der Wiederkehr. Dieser Wiederholung stehen Verläufe gegenüber, die durch Veränderungen in einem historischen Prozess ausgewiesen sind und bei denen von Übergängen wie Schwellen, Perioden oder Epochen die Rede ist. An letzter Stelle identifiziert er Diagnosen des Kontinuitätsbruchs, wie sie sich in Krisen, Entscheidungen oder Zuspitzungen erkennen lassen.14

Ganz im Sinne einer mathematischen Kurvendiskussion kann man sich diese Verläufe wie Graphen vorstellen, die zeigen, nach welcher Gesetzmäßigkeit sich die beschriebenen Phänomene entlang einer Zeitachse in die Zukunft fortführen ließen. Mit anderen Worten ist nicht nur die Thematik eines Trends von Belang, sondern auch das ihm zugrundeliegende Entwicklungsgesetz; der Trend kann absteigen, aufsteigen, auf einem Niveau stagnieren, in Wellen verlaufen oder Brüche aufweisen. Modernisierungstheorien beispielsweise folgen in der Regel einem Aufwärtstrend, indem davon ausgegangen wird, dass Modernisierung unumkehrbar fortschreitet.15Entfremdung erscheint demgegenüber als Abwärtstrend, in dessen Verlauf die Einzelnen immer weniger Herren ihres eigenen Lebens und mannigfachen Zwängen einer zunehmend kapitalistischen und technisierten Welt unterworfen sind.16 Die Zeitdiagnose einer fortschreitenden Beschleunigung erscheint in diesem Zusammenhang als Teilprozess der Entfremdung.17 Ein Abstiegsszenario entwirft auch die Externalisierungsgesellschaft, bei welcher der systematische Verfall gesellschaftlich-politischer Solidarität diagnostiziert wird.18 Und die Zeitdiagnose Retrotopia beschwört vor dem Hintergrund wachsender Verunsicherungen eine Abkehr vom utopischen Denken hin zu nostalgischen Orientierungen.19 Man könnte diese Reihe weiter fortsetzen und würde thematische Häufungen feststellen. Soziologische Zeitdiagnosen tendieren mitunter zum Alarmismus,20 wogegen ökonomische Zeitdiagnosen auch positive Entwicklungen erkennen, und manche in die Jahre gekommene These einer linearen Entwicklung kann mit ihrer Antithese konfrontiert und in die Figur einer Welle oder eines Bruches umformuliert werden.21

Das Verlockende an soziologischen Zeitdiagnosen ist, dass sie in der Regel allgemein genug sind, um auch eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen und ihr eine Deutung ihres Daseins anzubieten. Die mit ihnen verbundenen Orientierungen sind aber nicht nur auf das Leben des Einzelnen anzuwenden, sondern beschreiben zugleich Entwicklungen, die viele betreffen. Indem sie grundlegende soziale oder gesellschaftliche Probleme benennen, sind sie auch für politische und zivilgesellschaftliche Organisationen – wie zum Beispiel Kirchen oder Gewerkschaften – von Belang. Vor allem Verbände mit gesellschaftspolitischem Auftrag werden die in Zeitdiagnosen skizzierten Entwicklungen im Auge behalten. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Eintretenswahrscheinlichkeit einer Prognose als vielmehr darum, welche gesellschaftliche Selbstbeschreibung bei den Menschen ankommt beziehungsweise geglaubt und in die individuelle Definition ihrer Lebenssituation aufgenommen wird.

Mit Blick auf große gesellschaftliche Bereiche wie die Politik, die Wirtschaft, die Kultur oder die Religion gibt es darüber hinaus Zeitdiagnosen, die sich einzelnen Gebieten zuwenden und die je für sich entlang der in ihnen angelegten Zukunftsszenarien analysiert werden können. Für den Bereich der Religion ist neben der großen Prozessdiagnose einer fortschreitenden Säkularisierung die These einer Re-Sakralisierung aufgetaucht. Dazwischen gibt es vielfältige Überlegungen, die sich mit Veränderungen des Religiösen befassen – die Zivilreligion, die Diesseitsreligion, die unsichtbare Religion oder die Religion ohne Institution, um nur einige zu nennen. Als Trends weisen sehr viele dieser Diagnosen in eine Richtung: Sie thematisieren die Privatisierung des Religiösen und eine Abkehr von religiösen Kollektiven und Einrichtungen. Je nach Blickwinkel wird dies als Aufstieg des autonomen Individuums oder als Abstieg institutionalisierter Religiosität gewendet.

3.2 Zeitreihen und Megatrends

Betrachtet man die Trendforschung im strengen Wortsinn als eine Forschungsrichtung, der es um die datengestützte Ermittlung von Entwicklungshypothesen zu tun ist, hat das nicht viel mit Zeitdiagnostik zu tun. Trendforschung im populären Sinn ist jedoch ebenfalls keine empirische Wissenschaft. Ähnlich wie bei der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik interessieren sich Trendforscher eher für große Entwicklungslinien. Allerdings legen sie ihren Befunden häufig keine mitunter jahrelangen und systematischen Beobachtungen der Gesellschaft zugrunde. Vielmehr stehen sie im Ruf, zielgerichtet genau diejenigen Trendaussagen zu erschaffen, die ihr jeweiliges Zielpublikum gerne hören will. Auch diese Analysen sind freilich nicht völlig aus der Luft gegriffen, liegen ihnen doch assoziative Beobachtungen von Modeströmungen zugrunde, die zu Trends gebündelt und schließlich gegebenenfalls zu sogenannten Megatrends verdichtet werden. Die Zielgruppe solcher Analysen besteht nicht in der an gesellschaftlichen Entwicklungen interessierten Öffentlichkeit, sondern, vom Dedicated Follower of Fashion abgesehen, aus Wirtschaftsunternehmen, die sich über die Zukunft von Kundenwünschen und damit von Absatzmärkten informieren wollen. Trendforschung ist vor diesem Hintergrund eher im Bereich der Unternehmensberatung zu verorten als im Kontext der Zukunftsforschung oder Futurologie.22

Je allgemeiner und weitreichender die Proklamation eines (Mega-)Trends daherkommt, desto verheißungsvoller scheint sie zu sein. Unternehmerische Strategen, die mitunter grundlegende Richtungsentscheidungen treffen und dann auch verantworten müssen, könnten für ein solches Wissen empfänglich sein. Vielleicht verheißt es ein wenig Sicherheit im Angesicht der Gefahr, eines Tages einmal eine (Fehl-)Entscheidung rechtfertigen zu müssen. Und es beflügelt die Fantasie durch Wortschöpfungen beziehungsweise Anglizismen, die in pfiffigen Assoziationen Klischees aktueller gesellschaftlicher Themen oder Probleme juvenil und irgendwie amerikanisch daherkommen lassen. Der Soziologe Holger Rust hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Trendfabrikation als Geschäftsmodell der bewussten Irreführung zu beobachten und ihre Motive, Methoden und Strategien aufzudecken. Solange der sich wissenschaftlich gerierende Blick in die Zukunft nicht strengen Regeln folgt noch die verwendeten Forschungsmethoden aufdeckt, möchte er dieses Treiben als pseudowissenschaftliche Boulevardforschung verstanden wissen. Die Nähe zur in der Wissensgesellschaft fast vergessenen Sozialfigur des Scharlatans ist aus seiner Sicht unübersehbar.23 Rusts Warnung vor falschen Propheten tut sicherlich Not, da insbesondere verunsicherte Menschen dazu neigen, den Glauben über die Vernunft zu setzen. Fasziniert von griffigen und Neuheit verheißenden Vokabeln setzen sie auf das schönere Pferd, nicht aber auf das schnellere. Im Kontext des Wirtschaftslebens können solche Ideologien jedoch zu Fehleinschätzungen und Fehlsteuerungen führen, die schwer zu korrigieren sind, weil die Hoffnung, dass sich die Dinge doch noch in der erwarteten Richtung entwickeln, bekanntlich zuletzt stirbt.

Seriöse Extrapolationen wirken demgegenüber bei weitem nicht so süffig, und offenbar liegt vielen Zukunftsforschern, die sich wissenschaftlichen Standards verpflichtet sehen, auch wenig daran, ihre Befunde in inspirierenden, weil von Jugend- und Innovationssymbolik gesättigten Formeln darzustellen. Gleichwohl aber muss man einräumen, dass nicht alles, was vonseiten der Fachwissenschaft als Prognose angeboten wird, den strengen Qualitätsanforderungen in derselben Weise genügt. Gerade die soziologische Zeitdiagnostik ist oft der Kritik ausgesetzt, dass auch sie eher assoziativ vorgehe und ihr Publikum über die ihren Analysen vermeintlich zugrunde liegenden Forschungsmethoden im Dunkeln lasse.24 Wenn Rust25 feststellt, dass sich viele kommerziell orientierte Trendforscher soziologischer Zeitdiagnosen bedienen und ihre Verfasser dabei als Elfenbeintürmler diskreditieren, geht er über die innerwissenschaftliche Kritik an ebendiesen Zeitdiagnosen, bei der ebenfalls kaum mildere Prädikate vergeben werden, hinweg: Auch hier ist von Scharlatanerie, Feuilletonismus, Fehlschlüssen und Simplifizierung die Rede. Und während er die aus fachwissenschaftlicher Sicht durchaus nicht unumstrittenen Zeitdiagnosen der Risikogesellschaft von Ulrich Beck26 oder des flexiblen Menschen von Richard Sennett27 als Beutegut der Trendforscher darstellt, bezichtigt er den Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski28 der unseriösen Arbeit, wenn dieser seine Trendhypothesen im Rückgriff auf die Zusammenführung einer Vielzahl soziologischer Zeitdiagnosen entwickelt.

Es gibt nun allerdings zwei Dinge, in denen sich soziologische Zeitdiagnosen und die Befunde der kommerziellen Trendforschung unterscheiden. Im Gegensatz zu soziologischen Zeitdiagnosen sind die Erzeugnisse der Trendforschung erstens der Tendenz nach affirmativ und unkritisch. Ähnlich wie bei den alttestamentlichen echten und falschen Propheten ist zu unterscheiden, ob man seinen Auftraggebern – einer Organisation beziehungsweise ‚der‘ Gesellschaft – nach dem Mund redet und ihr eine verheißungsvolle Zukunft ausmalt, oder ob man mit Blick auf die gegenwärtige Situation Bedenken darüber äußert, wie das Morgen aussehen wird, wenn alles so weitergeht wie bisher. Ein wichtiger Grund für die Motivierung zu einer kritischen Prognose liegt darin, dass der wissenschaftliche Diagnostiker nicht ‚interessiert‘ zu sein hat. Er wird von der Gesellschaft dafür alimentiert, dass er sie beobachtet und über diese Beobachtung – wie empirisch gehaltvoll auch immer – Bericht erstattet. Er lebt nicht vom Applaus und nicht von Auftraggebern, denen es nicht um ‚Wahrheit‘, sondern zum Beispiel um Legitimationsbeschaffung geht. Und selbst wenn wissenschaftlichen Zeitdiagnostikern bisweilen Eitelkeit und Gefallsucht unterstellt wird, sind ihre Befunde in aller Regel nicht im warmen Regen entstanden. Natürlich wusste Ulrich Beck beim Verfassen der Risikogesellschaft nicht, wie und warum das Buch zu einem soziologischen Bestseller avancieren würde.

Man kann sich also unterschiedlicher Quellen bedienen, wenn man den Blick in die Zukunft wagen möchte. Vergleichsweise seriös sind wissenschaftlich fundierte Trendaussagen, die auf Zeitreihendaten beruhen. Liegen diese vor, gelangt man zu Wahrscheinlichkeitsaussagen im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen. Man ahnt dann, wie sich die steigende Lebenserwartung auf den Generationenvertrag und das Rentensystem auswirken könnte. Aber auch die nicht unmittelbar in Daten begründeten Zeitdiagnosen, die von Wissenschaftlern erstellt werden, welche nicht von Auftraggebern budgetiert werden, können Entwicklungen prognostizieren, vor denen man sich in Acht nehmen sollte. Auftragsforschung steht dagegen immer im Verdacht einer an bestimmte Verwertungsinteressen und deren Ideologien ‚angepassten‘ Expertise.29 Insofern mögen die Analysen der Trendscouts der Unterhaltung dienen; als Orientierungen für verantwortungsvolles Handeln taugen sie nicht.

4 Wozu Trends, wozu Prognosen?

Mit Blick auf den gesellschaftlichen Teilbereich des Religiösen stellt sich abschließend die Frage, inwieweit den Kirchen zeitdiagnostische Befunde oder Trendhypothesen zur Verfügung stehen, ob diese ihnen zur Orientierung dienen können beziehungsweise ob sie auf solche Informationen zurückzugreifen geneigt sind. Eine kurze Antwort: In soziologischen Zeitdiagnosen enthaltene Prognosen weisen auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen oder Tendenzen hin. Als Akteure im öffentlichen Raum tun die Kirchen gut daran, zu diesen Befunden Stellung zu beziehen und zu diskutieren, ob sie – beispielsweise gemäß der Idee des II. Vatikanums – die Zeichen der Zeit erkennen und sich auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen einlassen. Zugleich gibt es eine lange Reihe zeitdiagnostischer Arbeiten, die sich unmittelbar auf Kirche und Religiosität beziehen und von unabhängigen Stellen angefertigt wurden. Hierzu zählen die vielfachen Befunde, die – teilweise im Kontext gesellschaftlicher Individualisierung30 – seit den 1960er-Jahren auf eine fortschreitende Differenzierung oder Hybridisierung der religiösen Formen hinweisen31 und sich in jüngerer Zeit wieder Tendenzen einer Re-Sakralisierung zuwenden32. Insbesondere wenn solche Arbeiten in Gestalt von Prozessdiagnosen auftreten, liegt eine prognostische Interpretation ihrer Befunde nahe. Wollte man eine Meta-Diagnose über die entsprechenden Argumentationen legen, würden sich möglicherweise plausible (Mega-)Trends abzeichnen, auf die zu reagieren sich lohnen könnte. Es geht dabei nicht darum, jeder Mode nachzuhecheln, sondern sich eine Sensibilität für die Wahrscheinlichkeit sozialen Wandels zu eigen zu machen – auch und vor allem aus Sicht ‚ewiger‘ Organisationen, wenn sie vor der Wahl stehen, in großem Umfang Mitglieder zu verlieren oder sich an inhaltlich verträglichen Stellen anzupassen. Wie die Entscheidung auch fällt; sie sollte nicht blind getroffen werden. Insofern lohnt es sich, auf Synthesen sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen zu warten beziehungsweise sie zu begrüßen und genau zu lesen. Zukünftige Entwicklungen zumindest wahrscheinlichkeitsmäßig einschätzen zu können, steht auch den Kirchen gut an – beauftragen und bezahlen sollten sie die einschlägigen Analysen aber vielleicht lieber nicht. Entsprechende Studien anzufertigen fiele dann in den Zuständigkeitsbereich einer freien und aus Erstmitteln finanzierten Sozialwissenschaft.

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