Moder - Garry Disher - E-Book

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Garry Disher

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Wyatt stiehlt. Und das ziemlich gut, denn er ist vorsichtig wie eh und je, effizient und erfinderisch. Bei der Auswahl seiner Jobs greift er diesmal aufeinen Informanten im Knast zurück, der direkt an der Quelle sitzt: Sam Kramer. Bis zu dessen Entlassung kümmert sich Wyatt im Gegenzug um Kramers Familie. Doch der Afghanistan-Veteran Nick Lazar erfährt von dieser Vereinbarung. Über seinen Insider erfährt Lazar zudem, dass Kramer – und somit auch Wyatt – zu Ohren gekommen ist, dass dem schlitzohrigen Finanzberater Jack Tremayne eine satte Anklage ins Haus steht und sein Koffer mit einer Million schon griffbereit ist: Tremayne will die Flatter machen … Garry Disher trägt der Logik und Dynamik der globalen Finanzialisierung Rechnung und konfrontiert Berufsverbrecher Wyatt mit dem Ponzi-Schema :einem finanziellen Betrugssystem, womit Investitionen reicher Anleger verschleiert werden.

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Moder
Ein Wyatt-Roman
Garry Disher
1
Wyatt hatte sich in diesem Jahr in Sydney niedergelassen. Samt Dokumenten, die ihn als Bürger New South Wales’ auswiesen. In einer schmuddeligen Nacht Ende März – feucht, die Luft abgasgeschwängert – beobachtete er ein zweistöckiges Haus in Rushcutters Bay. Licht des wolken-gestreiften Mondes warf lebhafte Muster auf die Straße und blitzte kurz auf dem Zifferblatt von Wyatts alter Longines auf. Er löste die Armbanduhr von seinem knochigen Handgelenk, schob sie in die Tasche. Er war jetzt bereit, ein Schatten unter anderen Schatten. Ein Schatten, den man für einen Strauch halten würde, nicht für einen Dieb.
Er brauchte ohnehin keine Armbanduhr; sein Zeit­gefühl war ausgeprägt. Mittlerweile wartete er seit dreißig Minuten. Er glaubte nicht, dass die Polizei sich für Alan Hagger interessierte, obwohl der Typ nicht sauber war. Dennoch, er hielt Ausschau nach einem Überwachungsteam – einem Lieferwagen, einer schnellen Li­mou­sine, etwas, was in keiner der Nächte, als Wyatt sich hier aufgehalten hatte, in dieser Straße aufgetaucht war. Oder nach einer Regung, einem sich bewegenden Vorhang, einem schwachen Licht in einem Fenster mit Blick­richtung auf Haggers Haus.
Nichts.
Und auch keine Spur von einem anderen Mann, der das Geiche im Sinn hatte wie Wyatt. Aber Wyatt kalkulierte stets die unvorhergesehene Variable ein – einen Regenschauer; Hagger, der einen späten Besucher empfängt; einen Junkie, der bei einem Bruch einen Alarm auslöst; andere Dinge, die er nicht einkalkulieren konnte, hoffte er, abwehren, einpassen oder ins Leere laufen lassen zu können.
Etwa zehn Uhr dreißig und Hagger würde um elf ins Bett gehen. Das übliche Ritual: seine betagte Katze in den Garten hinterm Haus bringen und warten, bis sie ihr Geschäft erledigt hatte. Abschließen, Alarmanlage aktivieren, Zähne putzen, ins Bett. Wyatt rührte sich. Er verstand sich aufs Warten, war aber, wenn in Bewegung, ruhig und konzentriert – mit einer Intensität, die kein reines Vergnügen darstellte, sondern ein kaltes, völliges Vertieftsein. Natürlich wollte er das Geld. Aber er wollte auch das Gedankenspiel und die Aktion.
Er näherte sich Haggers Haus, verschmolz mit jedem Schatten, seine Bewegungen verhalten, nicht augenfällig für einen Nachbarn, der womöglich zur Nacht die Vorhänge zuzog. Dann war er auf Haggers Seitenweg, schlüp­f­­te in den Garten, hockte sich neben die Terrasse, während er eine seidene Skimaske überstreifte.
Er blickte den Garten hinunter, die Augen nicht fokussiert, aber darauf eingestellt, Bewegungen wahrzunehmen, mit denen er sich möglicherweise befassen oder die er ignorieren sollte. Er war mit dem Grundstück vertraut. Er hatte es mehrere Tage beobachtet, wohl wissend, dass etwas Banales sich als kritisch entpuppen konnte. Er beobachtete zudem schichtenweise – zunächst das ge­samte Bild, dann die Einzelheiten. Dieser Job – wie alle anderen, die er durchgezogen hatte – reduzierte sich auf eine gewöhnliche Strategie, fußte auf keinem fein ausgeklügelten Masterplan.
Für Hagger war er nur ein Schatten im Mondschein, als der Mann in leichtem Pyjama und lockerem Bademantel auftauchte und die alte Katze in ein Gartenbeet setzte. Hagger erleichterte sich nur zu gern selbst und wässerte den Zitronenbaum, während Wyatt ins Haus schlüpfte.
Wyatts Bewegungen waren zurückgenommen, Knie leicht gebeugt, Atmung tief und gleichmäßig. Zuerst zur Treppe, in geduckter Haltung, die Handfläche an einer Gipskartonwand. Dann die nächste Wand, eine dritte, um Schwingungen zu erspüren, die eventuell auf Regungen anderswo im Hause schließen lassen könnten. Da war aber nichts. Hagger lebte allein. Kein Besucher an­wesend.
Plane fürs Optimum, erwarte das Schlechteste, beachte die Fluchtwege.
Dann flugs die Treppe hinauf, immer an der äußeren Kante, wo die Stufen weniger knarren sollten, bis er in Haggers Schlafzimmer war. Großzügig, dezent von einer Nachttischlampe beleuchtet. Ein breites Doppelbett, ein begehbarer Kleiderschrank, schwere Vorhänge, ein einfarbiger dicker Teppich, ein angrenzendes Badezimmer. Für Wyatt von Interesse: diverse Schränke und Kommoden. Einige enthielten Haggers Kleidung, andere seine »berühmte Sammlung von Kellyana« – wie der Sydney Morning Herald es formuliert hatte. Eine Geschichte, die von einem Freigänger namens Sam Kramer an Wyatt weitergegeben worden war. Ein Großteil Wyatts jüngster Jobs war von Kramer vermittelt worden.
Ein schneller Blick unter Kissen und Matratze und in die Nachttische. Keine Waffe, kein Messer, kein Taser oder Alarmknopf. Dann vergewisserte er sich, dass niemand im Bad war, und schlüpfte in den begehbaren Kleiderschrank. Er wartete. Kurz darauf stieg Hagger die Treppe hinauf, wusch sich die Hände, warf seinen Bademantel auf den Stuhl neben dem Bett, stieg ins Bett und machte es sich bequem, löschte das Licht.
Fünfzehn Minuten später hatte das Atmen des Mannes zu einem langsamen, mühseligen Rhythmus gefunden. Wyatt schob sich ins Zimmer und hielt inne, nahm eine Einschätzung der dunklen Leere zwischen sich und dem Bett vor. Bereit, einzutauchen und von ihr verschluckt zu werden. Die Handschellen würden vorerst in seiner Tasche bleiben, das Metall vor unliebsamen Geräuschen bewahrt.
Am Bett angelangt, wartete er, dass sich seine Augen anpassten. Hagger wurde vom Licht der Uhr auf dem Nachttisch schwach beleuchtet. In Rückenlage, die Knollennase zur Decke gerichtet, die Arme über der Bettdecke ausgestreckt. Wyatt war das Betthaupt bereits aufgefallen, eine einfache, aber nützliche Konstruktion aus Holzlatten und Pfosten. Jetzt umschloss er sanft Haggers rechtes Handgelenk, zog es über die weiche, atmende Brust und fesselte es mit den Handschellen an den Bett­pfosten hinter der linken Schulter des Mannes. Hagger rührte sich. Wurde ganz still. Versuchte, sich aufzurichten, als Wyatt die Nachttischlampe einschaltete und die Schatten flohen, wurde aber vom eigenen Arm daran gehindert.
Unbehagen, ein stechender Schmerz, der gelindert werden könnte, drehte er sich auf den Bauch – aber in welchen Schwierigkeiten er auch stecken mochte, er würde ihnen dann den Rücken zukehren. Er gab es auf.
Wyatt beobachtete ihn, wie er nachdachte.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Auch das war erwartbar gewesen. Wyatt wusste, es kämen Wut, Angst und Verwirrung hinzu. Er war darauf vorbereitet, solange zu warten, bis sich alles gelegt hatte und er mit der Arbeit fortfahren konnte.
»Was wollen Sie?«, fragte Hagger. »Geld?«
Dann, als hätte er es überdacht: »Mein Sohn muss jede Minute nach Hause kommen.«
Wyatt wartete.
»In genau diesem Augenblick geht im nächsten Polizeirevier ein Alarm los, nehmen Sie also die Beine in die Hand und verziehen Sie sich in das Loch, aus dem Sie gekrochen sind.«
Einer von den Polterern. Auf die ließ man sich nicht ein. Es würde schlimmer und schlimmer, bis sie sich lächerlich vorkamen. Dann verfielen sie in das andere Extrem, um diesem Eindruck entgegenzuwirken, und es würde weitergehen, bis jemand Schaden nähme.
Wyatt wartete.
Haggers mächtige Brust hob sich für den nächsten Ausbruch, und dann brach es aus ihm heraus.
»Werden Sie mir etwas antun?«
Wyatt schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, dem Mann eine Stimme zu präsentieren, an die er sich würde erinnern können.
Hagger sagte: »Dieser Zeitungsartikel?«
Wyatt nickte. Es war ein weitverbreiteter Fehler unter Sammlern, unter Neureichen: das Prahlen in Lifestyle-Artikeln. Wyatt ging zum ersten Schrank im Zimmer. Unterwäsche, Socken. Frisch gewaschen und zusammengelegt und, davon war Wyatt überzeugt, gebügelt.
»Es ist nichts hier«, sagte Hagger. »Es ist alles in einem Schließfach in der Bank.«
Nein. Ein besessener Sammler all dessen, was Bezug zur Kelly Gang hatte, würde alles in seiner Nähe verwahren. Falls sich nichts im Zimmer befand – und weshalb sonst gab es so viele Schränke? –, musste es irgend­wo unten sein. Aber hier konnte sich Hagger die wertvollsten Gegenstände schnappen, sollte im Haus jemals ein Feuer ausbrechen.
»Das mit dem Alarm meine ich ernst.«
Wyatt zuckte mit den Achseln. Er hatte das Haus be­treten, bevor die Alarmanlage angeschaltet worden war. Sie würde losgehen, sobald er das Haus verließe, doch das war in Ordnung. Es war nun mal die einzige Möglichkeit, wie Wyatt an einer modernen Alarmanlage vorbeikam. In der Vergangenheit war er in der Lage gewesen, die meisten Alarmsysteme zu deaktivieren, aber der technische Fortschritt hatte ihn überflügelt. Heutzutage passte er sich den Umständen an. Benutzte ein Brecheisen, wenn es sein musste. Ließ einen nachlässigen Hausherrn die Arbeit für ihn erledigen.
Ein Bücherschrank mit Glastüren stach ihm ins Auge und probeweise zog er an einer der Türen. Ein Magnet­riegel – sie sprang auf. Er griff hinein.
Hagger, bemüht gewesen, etwas sehen zu können, sack­te wieder in sich zusammen.
»Bitte nicht das. Es ist überaus selten. Ich werde es nie ersetzen können.«
Wyatt begutachtete es: Erstausgabe. Der ursprüngliche, wenn auch ein wenig lädierte Schutzumschlag. Eine Viertelmillion wert. Für einen langen Moment ging er in sich. Ein Gatsby, der in absehbarer Zeit auf den Markt käme, würde für Aufmerksamkeit sorgen. Er stellte ihn zurück.
Griff noch mal hinein und zog J.J. Keneallys The Inner History of the Kelly Gang und G. Wilson Halls The History of the Notorious Kelly Gang heraus. Letztere war wie der Gatsby von unschätzbarem Wert; man wusste nur von vier existierenden Exemplaren, aber die nächste Person, die eines erwarb, würde schwerlich damit prahlen können.
Hagger versuchte, sich auf einen Ellbogen zu stützen.
»Nicht den Hall. Bitte, Kumpel, nicht den Hall. Ich merke doch, dass Sie ein vernünftiger Mensch sind.«
Wyatt hatte nie auf die eine oder andere Weise darüber nachgedacht. Er schenkte Hagger keinerlei Beachtung und hockte sich hin. Zwei glatte Holztüren im unteren Teil des Bücherschranks. Er rüttelte daran. Abgeschlossen. Er zog ein schlankes Nageleisen aus einer Innentasche seiner dünnen Jacke und Hagger schrie: »Nein! Bitte, dieser Bücherschrank kostet siebeneinhalb Riesen!«
Ein Mann, der den Preis eines schönen Möbelstückes kennt. Kennt er jedoch auch dessen Wert? Wyatt stand auf, drehte sich fragend zu Hagger.
»Bitte. Der Schlüssel ist hier im Nachttisch.«
Wyatt nickte, fand den Schlüssel und ging zurück zum Bücherschrank.
Hinter den Türen stieß er auf vollgepackte Böden. Voller Zufriedenheit stöhnte er auf, als er auf dem obersten Boden ein Schriftstück mit dem Titel The Queen v Edward Kelly entdeckte. Er nahm es heraus, überprüfte die Seitenzahl – fünfundfünfzig – und dass es sich tatsächlich auf den am 26. Oktober 1878 am Stringybark Creek begangenen Mord an Constable Thomas Lonigan be­zog.
Bei einer Auktion bis zu fünfzig Riesen wert.
Auf dem untersten Boden dann gewisse Gegenstände. Ein Bowiemesser, eine Kavalleriepistole der East India Company und ein Taschenrevolver Kaliber .32. Sam Kramers Ansage war klar gewesen: Nicht das Messer. Der in den Griff geschnitzte Name lautete S. Harte, der nicht Steve Hart war. Und ungeachtet der schlechten Bildung eines Jungen aus der rückständigen Provinz der 1870er-Jahre gab es keinen Beweis, dass es dem Bush­ranger jemals gehört hatte.
Und nicht den Revolver. Joe Byrnes vermeintliches Eigentum – JB war in den Lauf gekratzt – und angeblich unter den Dielen eines Hauses entdeckt, wo Byrne aufgewachsen war. Doch die Waffe war achtzehnhundertvierundachtzig hergestellt worden, vier Jahre nachdem man Byrne erschossen hatte.
Die Kavalleriepistole war echt, so Sam Kramer. 1876­- Dan Kelly stand dort in den Walnussgriff geschnitzt.
Wyatt holte einen mit einer Nylonkordel zu verschließenden Beutel aus seiner Tasche, faltete ihn auseinander, verstaute behutsam das Schriftstück darin, dazu die beiden Bücher und die Pistole.
»Arschloch«, sagte Hagger. Schicksalsergeben, übellaunig, aber von hinreichend Habgier und Panik getrieben, um zu hoffen, Wyatt werde einlenken.
2
Es funktionierte so, dass Sam Kramer Informationen seines Netzwerkes aus Zuträgern, Anwälten, Polizisten und Kriminellen nutzte oder solche aus Zeitungen und Magazinen, um ein Objekt auszumachen, das eines Diebstahls wert war. Diese Informationen gab er an Wyatt weiter. Der zog die Sache durch, bediente sich anschließend eines Hehlers, um einen Käufer zu finden. Mitunter ging die Initiative vom Käufer aus; zumeist jedoch stand der Diebstahl am Anfang und der Hehler hatte bereits einen Käufer im Auge. Hatte sich ein Hehler auf Kunst spezialisiert, so waren es Briefmarken oder Münzen bei einem anderen. Der Beste, um die Kellyana an den Mann zu bringen, war Axel Blackstock. Er würde seinen Anteil herausrechnen und Wyatt den Restbetrag aushändigen. Wyatt wiederum würde Kramer eine Provision zahlen. Zwanzig Prozent.
Genauer gesagt würde Sam seine Provision am Ende des Jahres erhalten, wenn seine Entlassung aus der Haft anstand. Sein Anteil hatte sich bislang auf neunzigtausend Dollar summiert, verstaut in einem Bankschließfach. Wyatt griff ab und an hinein. Eintausend hier, dreitausend da, um Kramers Ehefrau, Tochter und Sohn zu helfen, die Hypothek zu bedienen oder das Dach zu reparieren oder ein Getriebe zu ersetzen. Und niemals in einem Maße, das das Interesse der Bundespolizei oder das der Polizei des Bundesstaates wecken könnte, die, da es ihnen an Beweisen mangelte, Sam wegen einer Vielzahl ungeklärter Straftaten nicht drankriegen konnten und weiterhin seine Familie observierten.
Die Tochter, in Wyatts Alter, kümmerte sich um Sams Frau, die einer Polyarthritis wegen gelähmt war. Es gab noch einen Sohn, aber der war ein Nichtsnutz. Lahme Gäule, Kokain und mörderische Franchisevereinbarungen für ein halbes Dutzend Pizzastationen.
»Mach alles nur mit Phoebe aus«, sagte Sam zu Wyatt. »Ich liebe Josh, aber das Geld rinnt ihm nur so durch die Finger.«
Wyatt fuhr direkt zu Blackstocks weitläufigem Gästehaus an einer steilen Seitenstraße in Bondi. Weinreben, breite Veranden, der Geruch nach Meersalz in der Luft. Blackstock gehörte das Gebäude und er vermietete Zimmer an eine Mischung aus Rucksacktouristen und anderen Durch­­reisenden, dazu an ein paar Dauergäste. Günstige Preise für Zimmer, die im Sommer schmucklose Schwitzkästen waren und im Winter kalte Löcher. In diesem Ge­bäude wurde niemals etwas aus purer Herzensgüte getan, aber Axel war ein fairer und toleranter Vermieter und hatte kein Interesse, an einen Bauunternehmer zu ver­kaufen.
Wyatt stand eine halbe Stunde lang oben an der Stra­ße. Wie üblich hielt er Ausschau nach Beobachtern. Als er sich sicher war, schickte er eine SMS von einem Wegwerf-Handy an Blackstocks Wegwerf-Handy. Man werde sich in der engen Tiefgarage unter dem Gebäude treffen. Zugang an der Rückseite. Er wartete. Blackstocks Antwort traf ein.
Er ging an der Seite des Gebäudes entlang und die Rampe hinunter in einen Bereich mit schaler Luft, ölverschmutztem Boden und abgeschabten Wänden. Blackstock, ein magerer Typ mit grauem Pferdeschwanz und in seiner Standardkluft aus Shorts, T-Shirt und mit Farbe gesprenkelten Crocs, trat hinter einem Kombi hervor. Die Übergabe verlief nahezu wortlos, der Hehler mürrisch und schweigsam wie immer – für Wyatt ein Zeichen, dass es seit dem letzten Mal keine unwillkommenen Besucher gegeben hatte.
»Fünfundvierzig Riesen«, sagte Blackstock und reichte einen prallen Umschlag hinüber.
Wyatt nickte und ging. Das war der gefährliche Mo­ment. Statt zurück auf die Hauptstraße zu gehen, bewegte er sich durch Seitengassen und überwand Zäune, schnell und lautlos, jedoch ohne zeitlichen Spielraum, sich nacheinander in den naturgegebenen dunklen Reservoirs aufzulösen. Hunde bellten. Eine Frau schrie ihn an. Sirenen hätten losgehen können, hätte sie entsprechend gehandelt.
Er blieb an der Seitenstraße stehen, wo er sein Auto abgestellt hatte, gähnte einmal, um seine Ohren zu ent­stopfen. Die Nacht war still und er wollte die Geräusche des gewöhnlichen Lebens von denen unterscheiden, die Verletzung oder Tod bedeuteten. Tunnel, Treppen und Keller erforderten stets ein zusätzliches Maß an Vorsicht, und diese schmale Straße war wie ein Tunnel, der zum Strand hinunterführte.
Er konnte etwas an seinem Äußeren verändern. Er legte die Jacke ab, nachdem er den Umschlag aus der Innentasche genommen hatte. Er zog das Hemd aus der Hose, stellte den Kragen auf, rollte die Ärmel hoch. Setzte sich eine Brille mit schwerem Gestell und Fensterglas auf. Veränderte auch seinen Gang, die Schultern nach vorn gebeugt, zog er auf dem Bürgersteig einen Fuß leicht nach. Vorbei an seinem Wagen; dann links in die erste Seitenstraße. Die nächtlichen Geräusche wurden anschaulich für ihn: Fernseher, ein motzender Be­trunkener vor einer Eckkneipe, Verkehr in der Ferne. Aber keine plötzliche Unruhe in der Luft – keine Hast von Schritten oder eines heftigen Einatmens, keine Zigarette, die als Fleck in der Dunkelheit aufglühte.
Ein Mann kam um die Ecke. Jung, schlank, mit einem selbstbewussten Schritt voll jugendlicher Potenz. Aber Wyatt beobachtete, wie er sich bewegte, seine Jeans trug, sein Hoodie. Keine Pistole oder Klinge, die seine Hose nach unten zog, die sich gegen sein Rückgrat presste, seinen Gang beeinflusste.
»’n Abend«, sagte der Junge, und dann war er vorbei, und dann war er weg.
Wyatt parkte seinen Wagen in der Coogee Bay Road, etwa einen halben Kilometer entfernt von seinem Apartment, und ging den Rest zu Fuß. Er war ruhig und konzentriert, so wie er es zuvor gewesen war, in Haggers Haus, doch ein Teil von ihm war permanent auf Empfang für Signale, dass sein derzeitiges Leben vorbei sei. Dass er sich am Rande einer Situation befinde, an die man besser nicht rührte. Er verstand es, das Gefühl nicht zu ignorieren; es hatte ihm stets gute Dienste geleistet.
Er war in seiner Straße angelangt, einen Schwall Meerwasserluft in der Nase und Subtropisches, und blieb dreißig Minuten auf Beobachtungsposten. Sein Apartment lag im Erdgeschoss eines Hauses, das aussah wie ein Stapel CDs, nur nicht so hübsch. Eine der oberen Etagen hätte ihm vielleicht einen Blick auf das Meer bieten können und einen besseren auf den Verkehr, aber er bevorzugte Zugang zu den Ausgängen, sollte sich Ärger an­kündigen.
Schien alles zu stimmen. Der Abfalleimer, den er nach­lässig zur Hälfte auf den kleinen Mosaiksteinpfad vor seiner Eingangstür gestellt hatte, war noch nicht zurück auf dem mit Kahlstellen durchsetzten Rasen. Es war ein altes Apartment, Jalousien an den Vorderfenstern, und einige Lamellen waren noch immer aufgestellt. Jemand, der drinnen mit Hilfe einer Taschenlampe hätte herumschnüffeln wollen, hätte sie geschlossen.
3
In einer Weinbar in Surry Hills sagte Joshua Kramer: »Ist ’n super Abend, Laz, alter Kumpel.« Nick Lazar gab ein nicht einzuordnendes Grunzen von sich. Laz. Unerhört. Aber er ließ es durchgehen. Wollte er doch weiterhin Informationen aus dem kleinen Arschloch rausholen.
»Gute Akustik«, fuhr Kramer fort.
Franchisee in Sachen Pizzastationen am Tage, Rockstar bei Nacht. Er lebte immer noch mit Mutter und Schwester zusammen, doch in diesem Augenblick war Josh Kramers Gesicht gerötet, er selbst verschwitzt und in Hochstimmung. Auf der Bühne hatte er sich verausgabt, als sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er lediglich vor einem halben Dutzend Gäste in einem verschissenen Gemeindesaal auftrat. Eher dürr statt drahtig, eher Flaum statt gepflegtem Dreitagebart – und seine Band war Scheiße: Springsteen-Cover und schwülstige Eigenkompositionen. Lazar hegte den Verdacht, dass der Junge Veranstalter bezahlte, damit sie ihn buchten, und seinen Pizzabäckern, Tresenkräften und Boten ordentlich Druck machte, damit sie sich blicken ließen.
Lazar kratzte an dem NightWatch-Security-Logo auf seinem T-Shirt. Eine halbe Stunde nach Mitternacht und die beiden Männer auf der After-Show-Party zwei Blocks vom Gemeindesaal entfernt. Eine beschissene After-Show-Party. Bassist und Drummer waren zusammen mit den meisten Mitarbeitern Kramers nach Hause gegangen. Lazars Sicherheitsleute waren ebenfalls ge­gangen – alle beide. Die Weinbar war zu dunkel, voller verzweifelter Singles, zu viele, um eine Feier zu veranstalten, und die Musik, ein grässlicher perkussiver Techno, drang wie fernes Steilfeuer in Lazars Ohren – Ohren, abgestumpft durch jahrelange Fronteinsätze in Afghanistan.
Mit einem Mal war der Junge aufgestanden, fischte einen Umschlag aus seiner Gesäßtasche.
»Bevor ich’s vergesse.«
Lazar nickte zum Dank und zählte das Geld. Zählte noch einmal: hundert Dollar zu wenig.
»Joshua«, sagte er in traurigem Ton.
Kramer hob beschwichtigend die Hand. »Ich weiß, ich weiß, aber ich bin kreditwürdig.«
»Du warst letztes Mal schon knapp«, sagte Lazar, wü­tend auf sich selbst, dass er den Job heute Nacht angenommen hatte. Als hätte er eine Wahl gehabt.
Neben dem Fahrdienst für B-Prominenz zu Premierenabenden und wieder zurück und dem Postenstehen an Ecken, während irgendein Ladenbesitzer die Tageseinnahmen durch den Schlitz eines Nachttresors schob, war die Kontrolle des Kramer’schen Publikums so gut oder so schlecht wie alles andere.
Er nippte an seinem Bier (wer würde den Wein in dieser Weinbar schon trinken wollen?) und verzichtete auf jeglichen Unterton in seiner Stimme: »Bring doch diesen Wyatt dazu, ein paar Mäuse springen zu lassen.«
Gern hätte er eine Neuauflage des Abends einen Mo­nat zuvor gehabt, als Klein-Joshua plötzlich damit zu prahlen begonnen hatte, welch große Nummer sein Vater in Sydneys Unterwelt sei. Wie er in früheren Jahren Mannschaften für Überfälle zusammengestellt habe: auf Banken und Geldtransporter. Wie Insider ihn mit Polizeifunkfrequenzen versorgt hatten, mit Informationen über die Routen von Sicherheitstransporten und Positionen von Straßensperren, über Großeinsatz- und Überwachungsteams. Und wie er selbst jetzt, hinter Gittern, Jobs organisierte. »Zwanzig Prozent Provision. Muss sich mittlerweile zu einer Viertelmillion aufaddiert haben.«
Nun, Lazar hatte das zur Kenntnis genommen. Darauf bedacht, sein Interesse zu verbergen, hatte er mit den Schultern gezuckt. »Ich schätze mal, er wird’s nicht da ausgeben, wo er grad ist.«
Woraufhin der Junge ihm erzählt hatte, dass Kramer Seniors Viertelmillion von einem beinharten Typ na­mens Wyatt treuhänderisch verwaltet wurde, sozusagen.
Lazar hatte vor, heute Nacht mehr über diesen Wyatt in Erfahrung zu bringen. »Ich meine«, fuhr er fort, »es kann doch deinen Vater nicht jucken, wenn du ab und zu ein paar Hunderter zugesteckt bekommst.«
»Ja, nun, leichter gesagt, als getan«, erwiderte der Junge und starrte in seine Bloody Mary.
Lazar kommentierte das nicht. Eine Frau beobachtete ihn von einem Barhocker aus. Sich bewusst, dass er ihren Blick erwiderte, nahm sie lasziv und lippenstiftrot einen Schluck von etwas augenscheinlich Ungenießbarem in einem Martiniglas.
Ganz klar, der Junge blies Trübsal. Zeit, ihm die Zunge zu lösen. Lazar sagte: »Du könntest ihn immerhin fragen. Schaden kann’s nicht.«
Der Junge schien zusammenzuzucken. »Tja, Dad und ich können nicht so gut miteinander.«
Und hier haben wir den Knackpunkt, dachte Lazar. »Schade.«
Der Junge lächelte schwach. »Mein alter Herr ist nicht so leicht zufriedenzustellen.«
Lazar erkannte den inneren Kampf. Auf lange Sicht wollte sich Kramer die Anerkennung seines Vaters verdienen – aber kurzfristig wollte er es ihm heimzahlen. Indem er ihm die Viertelmillion stahl, zum Beispiel. Noch nicht bereit, sich Lazar gegenüber zu öffnen, sich in eine Lage zu manövrieren, aus der es kein Zurück gab. Zufrieden damit, um den heißen Brei herumzureden, den einen oder anderen Hinweis fallen zu lassen.
Unterdessen platzierte die Frau an der Bar einen Fuß auf die Querverstrebung ihres Hockers, ließ dabei ihren Rocksaum raffiniert nach oben rutschen. Ihr Stiletto verfing sich und sie geriet aus dem Gleichgewicht, verschüttete ihren Drink. Sie errötete. Drehte sich in dem Gefühl der Vereinzelung mit dem Rücken zur Bar. Lazar schüttelte den Kopf, völlig erschöpft und müde.
»Was ist mit deiner Mutter und deiner Schwester?«
Kramer rutschte hin und her, um auf dem viel zu prallen, quietschenden Lederpolster der Sitznische bequemer zu sitzen, und zuckte mit den Schultern.
»Sie hocken mir keineswegs rund um die Uhr im Na­cken, wenn du das meinst.«
»Könnten sie dir Geld leihen, bis du aus dem Gröbsten raus bist?«
Kramer warf Lazar einen Blick zu, als hätte Lazar ihm an diesem Abend nicht richtig zugehört. »Wie ich bereits erwähnt habe, sind wir pleite. Dad will nicht, dass die Bullen herumschnüffeln, was sie tun würden, hätten wir plötzlich eine Viertelmillion zur Verfügung.« Seine Art zu sagen: Habe ich dir alles erzählt.
»Schon klar, schon klar«, erwiderte Lazar gedehnt.
»Also muss es reichen, wenn Wyatt uns hier und da einen Riesen rüberschiebt.«
Und das verdross den Jungen. Lazar ließ Schweigen zwischen ihnen Platz nehmen, fragte sich, ob es wirklich eine Viertelmillion Dollar gebe oder wesentlich weniger oder überhaupt nichts.
Die Frau auf dem Barhocker stieg von ihrem Thron, bedachte Lazar mit einem beleidigten Blick und ging schwankend, aber hoch erhobenen Hauptes davon. Beiläufig sagte Lazar: »Hoffen wir mal, dass dein Kumpel nicht verhaftet wird oder beschließt, sich mit dem ganzen Geld zu verpissen.«
Kramer sah ihn an. »Der Gedanke kam mir in den Sinn.«
Als könnte ich mich anbieten, etwas dagegen zu tun, dachte Lazar. Es für ihn zu stehlen, zum Beispiel. Lazar hatte die Absicht, es zu stehlen, aber nicht mit dem kleinen Arschloch als Partner.
»Wie nehmt ihr Kontakt miteinander auf?«
Unwirsch zuckte Kramer mit den Schultern. »Ich bin da außen vor.«
»Joshua«, sagte Lazar geduldig, »dieser Typ geht auf Raubzüge, die auf dem Mist deines Vaters gewachsen sind, richtig? Also, wie kommt er an die notwendigen Informationen?«
»Zumindest ist er nicht so blöd und besucht Dad im Gefängnis, wenn du das meinst.«
Lazar verspürte den Drang, ihm eine runterzuhauen. Er sagte: »Nein, ich schätze, das würde bedeuten, sich Ärger einzuhandeln. Aber was glaubst du, wie sie kommunizieren?«
»Ich weiß, wie sie kommunizieren«, sagte Joshua Kramer. »Wenn Dad Freigang hat.«
Lazar spürte ein Prickeln: »Freigang?«
Als wäre Lazar begriffsstutzig, sagte Kramer: »Er hat eine niedrige Sicherheitsstufe, keine hohe Sicherheitsstufe. Sie lassen ihn zum Unkraut jäten raus, zum Entfernen von Graffiti, solche Sachen eben.«
Gut. Das war ein Lichtblick. Obwohl es schwierig werden könnte dahinterzukommen, wie, wann und für welchen Ort die Bedingungen des Freigangs Sam Kramer gestatteten, das Gefängnis zu verlassen. Es könnte leichter sein, Wyatt über die Frauen ausfindig zu machen.
»Vielleicht kriegst du deine Mutter und deine Schwester dazu, dir ein paar hundert Dollar zu geben, wenn Wyatt das nächste Mal etwas hat springen lassen.«
Kramer schnaubte. »Wie ich gesagt habe, ich bin da außen vor.«
Das brachte nichts. Lazar wackelte mit seinem Glas. »Ich nehm noch ein Coopers.«
Kramer wankte los zur Bar und Lazar fing an zu grübeln. Der Junge weiß rein gar nichts.
Fühlt bei mir vor, hofft, dass ich den Köder schlucke, aber null tatsächliche Informationen über die Hauptakteure.
Er wurde sich einer Hüfte an seiner Schulter bewusst: die Frau vom Barhocker. »Ich habe dich schon vorhin bemerkt. Spendierst du einem Mädchen einen Drink?«
Was für eine Scheißfloskel, dachte Lazar. Er starrte hoch zu ihr. Als sie seinen leeren Blick sah, schluckte sie, sagte: »Wie du willst«, und zog ab.
4
Als Erstes am nächsten Morgen loggte sich Wyatt in einen gemeinsamen E-Mail-Account ein. Die andere Person, die das Konto nutzte, war Phoebe Kramer: die Verbindung zwischen Wyatt und ihrem Vater, der derzeit in Watervale einsaß, einer Haftanstalt mittlerer Sicherheitsstufe westlich von Sydney. Ihr Kontakt mit Wyatt lief über E-Mails, die sie nicht abschickte, sondern im Entwurfordner des Kontos speicherte. Niemals Details zum Job, nur Tag und Ort des nächsten Freigangs ihres Vaters. Mit einer C3-Sicherheitsstufe war es Sam erlaubt, zusammen mit anderen vertrauenswürdigen Insassen alle zwei Wochen ein- bis zweimal Blumenbeete, Rasenflächen und Sträucher an Parkwegen zu pflegen.
Wyatt loggte sich stets ein, las die Mail, löschte sie. Ebenso wurden seine Nachrichten an sie immer im Entwurfordner gespeichert und nach dem Lesen gelöscht. Niemand sonst hatte Zugriff auf das Konto; Nachrichten, die nie gesendet oder empfangen wurden, konnten nicht abgefangen werden.
Phoebe hatte über Nacht eine Nachricht hinterlassen: $2000.
Wyatt war es egal, weshalb die Familie zweitausend Dollar benötigte. Es war Sams Geld. Er antwortete: Mittags Art Gallery.
Er duschte, zog sich an, deponierte die fünfundvierzig Riesen von Blackstock in seinem Bankschließfach, ging dann am nahe gelegenen Strand entlang, machte für einen Kaffee in der Arden Street halt. Er mochte die kleinen Buchten entlang des Coogee-Bondi-Küstenwegs. Schwimmen interessierte ihn nicht; ihm gefiel nur der Anblick. Irgendwie war das bewegte Meerwasser ein ungebändigter Trost.
Mittlerweile war es Vormittag. Der Himmel bedeckt mit blaugrauen Wolken, herangetrieben von einem Wind, der den Geruch nach Regen im Gepäck hatte. Von der Circular-Quay-Fährstation marschierte Wyatt hügelaufwärts und durch eine Parklandschaft zur Art Gallery of New South Wales. Er hatte eine Stunde damit verbracht, einen möglichen Verfolger abzuschütteln – den Weg noch mal zurück, kurze Fahrten mit Taxi und Bahn, Gebäude durch eine Tür betreten und durch eine andere verlassen. Er war überzeugt, nicht verfolgt worden zu sein. Als die zerklüftete Neigung der Straßen zurückwich, konnte er in den Bäumen den Gesang von Vögeln hören, nur kurz zum Schweigen gebracht, wenn hinter ihm der Donner über den Hafen rollte. Noch kein Niederschlag, doch die Luft war elektrisch aufgeladen. Re­gen könnte diese räuberische alte Stadt entlasten.
Er hatte keinen Regenschirm, aber er hatte einen Rucksack aus Baumwolle für fünf Dollar dabei, der zwei Riesen in Scheinen enthielt. Er dachte an Sam Kramers Frau in ihrem Rollstuhl, den Phoebe durch die Pfützen schob. Er schaute sich um, konnte sie jedoch nirgendwo sehen.
Er gesellte sich an der Garderobe zu anderen Galeriebesuchern, steckte die Wertmarke ein und begann um­herzuschlendern. Die Hauptausstellung trug den Titel Fälschung oder Kopie und präsentierte eine Anzahl Ansichten der Sydney-Harbour-Bucht, die Brett Whiteley zugeschrieben wurden und Gegenstand von Gerichtsverfahren in Bezug auf Provenienz, Materialien und Technik waren. Wyatt hatte daran seinen Spaß. Im Laufe seines Werdegangs hatte er Bilder gestohlen, die sich als Fälschungen erwiesen hatten, und er hatte echte Bilder durch Fälschungen ersetzt.
Doch seine Aufmerksamkeit galt auch den Frauen und Männern um ihn herum. Insbesondere Gesichter, die immer wieder auftauchten, ihm aber nichts sagten. Menschen, die seinen Blick auffingen und ihren zu schnell abwandten oder zu beiläufig oder ihn einer Begleitung zuwandten. Ein kurzes Aufflackern des Erkennens, eine Hand, die in eine Tasche fuhr oder in die Innentasche eines Jacketts.
Noch immer nichts von den beiden Frauen der Familie Kramer. Seit seinem letzten Besuch der Galerie war ein Jahr vergangen und er entdeckte Tom Roberts’ Coogee-Gemälde und versuchte, es mit dem Coogee abzugleichen, das er kannte. Dann stand er eine Weile vor Elioth Gruners Frosty Sunrise und versuchte zu verstehen, wohin sein Verstand ihn führte beim Betrachten der hügeligen Landschaft, der Zäune, der Wiese mit ihren Streifen der von der aufgehenden Sonne hervorgerufenen Schatten eines Bauern und seiner Tiere. Zumindest nicht zurück zu seiner Kindheit in Struggletown. Doch in Zeiten, als die Jobs unkomplizierter waren und sich bei ihm eine Menge Geld angesammelt hatte, hatte er in einer mitunter nebligen Landschaft südöstlich von Melbourne gelebt. Eine Gegend, wo Hügel bis zum fernen Meer abklappen und mit Spinnweben behängte Wiesen und Zäune beim Sonnenaufgang aussehen wie mit Juwelen besetzt. Dieses alte Leben war vorbei. Er bekam es nicht hin mit Einnahmen von zwanzigtausend hier, fünfzehn- oder dreißigtausend dort und den langen trockenen Perioden dazwischen.
Dann stand Phoebe Kramer an seiner Schulter, beachtete ihn nicht und machte ein wenig Aufhebens um Cindy in ihrem Rollstuhl. »Ist es so bequem, Mum?«
»Ja, danke, Schatz.«
Phoebe war einen halben Kopf kleiner als Wyatt, hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar und ein apart-spöttisches, nicht ganz ebenmäßiges Gesicht. Das einzige Mal, als Wyatt allein in ihrer Gesellschaft gewesen war, hatte sie ihn mit einem in seiner Reserviertheit reizvollen Beinahe-Lächeln bedacht. Sie würde sich nicht so schnell von der Legende täuschen lassen, im Zweifelsfall jedoch zu Gunsten des realen Mannes entscheiden. Jetzt wurde er sich bewusst, dass diese Anziehung noch immer existierte, und er nicht wusste, wie damit umgehen. Sie war Sams Tochter, kümmerte sich um Cindy. Und es war wahrscheinlich, dass die Polizei sie unter Beobachtung hatte.
Aber hier bestand seine Aufgabe darin, sich so zu verhalten, als würde er sie nicht kennen, als hätte er sie nie getroffen. Er betrachtete das Gemälde. Einen Meter rechts von ihm betrachteten Phoebe und Cindy Kramer es ebenfalls. Er ging zwei Meter weiter zum nächsten Gemälde, als Phoebe sich zu ihrer Mutter hinunterbeug­te, um die Decke glatt zu ziehen, und dabei versehentlich den Inhalt ihrer offenen Handtasche auf den Boden kippte.
Wyatt sagte: »Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
Er hockte sich hin, sammelte alles ein und legte es in Cindys Schoß, und schon hatten die Garderobenmarken  die Besitzer gewechselt. Beim nächsten Mal könnte es der Schlüssel für ein Gepäckschließfach im Buchrücken eines gebundenen Buches in der State Library sein. Der eine oder andere Trick, um einen aufmerksamen Blick zu täuschen.
5
Wyatt spazierte durch den Park, checkte jeden ab, ohne diesen Eindruck zu erwecken: japanische Touristen, eine chinesische Hochzeitsgesellschaft, Liebespaare auf dem Rasen, lärmende Schulkinder, Büroangestellte bei einer frühen Mittagspause. Soweit seine allgemeinen Eindrücke. Dann konzentrierte er sich auf Besonderheiten: eine Frau, die einen Ohrkopfhörer trug – sie telefonierte ge­rade. Ein muskulöser, tätowierter Typ – aber da war noch ein zweiter von seiner Sorte und ein dritter. Zwei Polizisten, die umherschlenderten, jedoch mit unruhigem Blick. Ein Mann im Wintermantel bei leichtem Sonnenschein. Hörte Wyatt ein Geräusch, das ihm missfiel – Schritte oder ein klickendes Fahrrad –, würde er sich vollständig umdrehen, nicht nur den Kopf, denn die halbe Sekunde Verzögerung, würde er zuerst den Kopf drehen und dann den Körper, um seine Faust, seinen Fuß oder seine Waffe ins Spiel zu bringen, könnte ihn das Leben kosten.
Dieses Verhalten war für Wyatt ein Reflex wie das Atmen. Auf dem Weg hinaus aus dem Park legte er es zweimal an den Tag; ein quietschendes Rad entpuppte sich als Kinderwagen, schnelle Schritte waren die einer Joggerin. Als sie ein Zucken an Wyatt wahrnahm, an diesem großen, stabilen Mann, der zugleich leichtfüßig war und fließend in seinen Bewegungen, scherte die keuchende Joggerin weit aus. Sie hätte sonst sein beängstigend offenes Gesicht gesehen, als Wyatt sie taxierte, und seine von kräftigen Venen durchzogenen Hände.
Eine kurze Fahrt mit der Fähre und dann ins Auto, abgestellt vor einem Supermarkt – am Rand, nicht in der Mitte, die zu einer Falle hätte werden können. Es hatte Parkmöglichkeiten auch auf der Straße gegeben, doch um wen auch immer es sich handeln könnte, man hätte nur ein Fahrzeug benötigt, um ihn am Bordstein festzunageln. Stets machte er einen großen Bogen um die mehrstöckigen Parkhäuser mit ihren Treppenschächten, Rampen und Ecken, wo jemand auf der Lauer liegen konnte.
Er setzte sich hinters Steuer, verriegelte die Türen und rollte über den Parkplatz hinaus auf die Straße. Auf seiner Fahrt zurück nach Coogee sah er ständig in den Rück- und Seiten­spiegel. Eine Zeit lang war da ein roter Mazda, zwei Wagen hinter ihm, dann ein silberfarbener Camry, drei Wagen hinter ihm. Ein Typ auf einem Motorroller, eine Frau mit Pferdeschwanz in einem Suzuki. Fahrradkuriere, Fahrer in Lieferwagen, Pendler. Sie alle zogen ir­gendwann mal vorbei und er erreichte seine Straße, ohne jemanden im Schlepptau gehabt zu haben.
Er fuhr rechts ran und sah sich um. Keine Lieferwagen, die mit Aufdrucken von Schüsseln und Platten für ihren Service warben; keine Bautrupps bei der Arbeit an einer Hauptwasserleitung; keine Gärtner, keine Paare, die Kinderwagen schoben, keine schnellen Limousinen ein und desselben Typs.
Früher Nachmittag.
Hungrig geworden, zog Wyatt sich um und verließ das Apartment. Zwanzig Minuten später saß er an einem Bistrotisch im Schatten eines Schirms und schob sich Calamari und Salat in den Mund. Der Wind kam kalt vom Meer herüber. Wyatt rollte die Ärmel herunter und schlüpfte in die Jacke, die er über die Lehne seines Stuhls gehängt hatte.
Er beendete das Essen und blickte hinaus zu den weißen Schaumkronen. Nun, da sein Körper zur Ruhe gekommen war, ließen die Gedanken an die Galerie und Phoebe Kramer ihn nicht mehr los. Gedanken, die er nicht bezeichnen konnte.
Vor der Neuorientierung der Kramers und den Rückschlägen war Phoebe einfach nur die Tochter gewesen, ihre Gegenwart in einer Ecke des Zimmers, wann immer Wyatt Kramer aufsuchte, um sich mit ihm zu beratschlagen, schwer durchschaubar. Irgendwann jedoch wurde deutlich, dass sie für einige Informationen ihres Vaters gesorgt hatte, und eines Tages fand sich Wyatt an ihrer Seite wieder, als der mit der Waffe bei einem Job, den sie geplant und den ihr Vater finanziert hatte.
Als IT-Spezialistin an der University of New South Wales verbrachte sie ihre freie Zeit damit, Softwareschwächen in den digitalen Beziehungen der Universität zu Spendern und Geschäftspartnern zu frisieren, um Geldtöpfe für Stipendien, für Waren und Dienstleistungen anzuzapfen und Insiderinformationen an ihren Vater weiterzugeben.
Eines Tages hackte sie sich in die Exclusive Assembly Church ein, die fünfzigtausend Dollar an einen rechten Think Tank gespendet hatte, der mit einem Professor der Business School in Verbindung stand. Es war ihr nicht gelungen, etwas von diesem Geld umzuleiten, über den E-Mail-Account der Kirche fand sie jedoch heraus, dass sich ihr australischer Zweig auf Geldspritzen seitens der Zentrale in Alabama verließ, zweimal im Jahr. Geld im ursprünglichen Sinne des Wortes: in Umschläge gestopft, in Handtaschen versenkt und eingeflogen – jedes Mal acht Stück an der Zahl – mit älteren Frauen, die sich als eine Reisegruppe aus Witwen ausgaben. Am Flughafen in Sydney angekommen, mieteten die Frauen einen Hertz-Minibus und fuhren zu der eine Stunde südöstlich von Sydney gelegenen ländlichen Enklave der Kirche.
Das bewegte Meer im Blick, rief Wyatt sich den Überfall ins Gedächtnis zurück. Ein Sonntag im Oktober, eine ruhige Seitenstraße, die Sonne wärmte die Vordersitze des gestohlenen Chrysler 300. Phoebe Kramer ruhig und konzentriert neben ihm, einen Laptop auf dem Schoß. Ihre stille, unparfümierte, nahezu reglose Gegenwart in Trekkinghose und schwarzen Laufschuhen. Star­ke, nack­te Arme, leicht gebräunt. Sie sah auf den Bildschirm, die Finger bereit über der Tastatur. Die einzigen Dinge, so hatte sie Wyatt bei der Planungssitzung erklärt, die sie benötige, um sich in den Bordcomputer des Busses zu hacken, seien ein Laptop, ein Mobiltelefon, die IP-Ad­resse des Busses und die Software, die sie bereits entwickelt habe.
Er hatte ein- oder zweimal zu ihr hinübergeschaut, während sie warteten; sie hatte zurückgeschaut, ausdruckslos, bis auf die Augen mit den schweren Lidern und den Anflug eines Lächelns. Er hatte einen Job zu erledigen, sie hatte einen Job zu erledigen; aber da war eine Unterströmung. Wyatt wusste es nicht zu deuten. Er wusste Nuancen zu deuten, die eine Vorwarnung darstellten vor Betrug oder Angriffen. Weniger sicher war er sich, ging es um das Begehren.
Es wurde weiter nicht gesprochen, nichts getan, und dann flogen Phoebes Finger über die Tasten. Der Bus tauchte hinter ihnen auf, dann neben ihnen, wurde be­reits langsamer. Die Hupe ertönte. Die Scheibenwischer fuhren wie verrückt über die Windschutzscheibe, die Warnleuchten blinkten. Wyatt sah, wie die Fahrerin die Hände vom Lenkrad nahm, es wieder umklammerte, als dem Bus quasi die Puste ausging und er wenige Meter vor dem Chrysler am Bordstein zum Stehen kam.
Wyatt streifte eine Skimaske über und stieg aus. Eine einsame Nebenstraße, Frühlingsgras, das Drahtzäune zu ersticken drohte, über allem ein Vogel, einem Papierfetzen gleich, eine von Wolken ungestörte Sonne, die eine diffuse Helligkeit über die staubigen Fahrzeuge warf. Er stieg in den Bus, stand da, eine kleine Pistole gegen das Brustbein gedrückt, und sagte zwei Worte: »Die Um­schläge.«
Er wartete. Die Frauen waren mehr empört als ängstlich – an Waffen gewöhnt, dachte er –, während sie die Sache erörterten. Nicht wert, deswegen erschossen zu werden. Das nächste Mal ein anderes Vorgehen.
Eine Stunde später war er mit Phoebe Kramer in einem Motelzimmer. Sie war immer noch müde und zurückhaltend, aber nicht so, dass es von Belang gewesen wäre.
Nur dieses eine Mal. Doch weiterhin tauchte sie in seinen Gedanken auf. Von Zeit zu Zeit.
Während seine Finger mit einer Papierserviette spielten, frischte der Wind auf, der Windchill ging nach oben und Wyatt schloss den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals. Kaum verwunderlich, dass er einen Mann bemerkte, dem die Witterungsbedingungen nichts anzuhaben schienen. Ein Mann, der offenbar vom Parkplatz aus in den Sand geschlendert war, adrett in Hosen, mit einfarbigem Hemd und Sonnenbrille. Sah erst in die eine Richtung, dann in die andere, hatte wohl alle Zeit der Welt, und er war in der Galerie gewesen.