Momente im Frauenknast - Sabine Bomeier - E-Book

Momente im Frauenknast E-Book

Sabine Bomeier

0,0

Beschreibung

Das Buch gibt anhand von Erlebnissen von inhaftierten Frauen Einblicke in eine Welt, die den meisten Menschen verschlossen ist, dem Alltag in einer Frauenhaftanstalt. Dabei geht es nicht um die begangenen Taten, sondern um das Leben hinter Gittern. Die Filze der Zellen, der monatliche Einkauf - was draußen so einfach ist, muss hinter Gittern immer wieder neu organisiert werden. Die einen versuchen an Drogen heranzukommen, die anderen wollen sich eine Perspektive nach der Haft aufbauen und tragen schwer an ihrer Schuld. So verschieden sie auch sind, das Verhältnis der Frauen untereinander ist oft von Wärme und gegenseitigem Verständnis getragen, auch wenn der Umgangston oft rau ist. Allen gemeinsam ist eine schwierige Vergangenheit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 330

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tag im Knast

Knast!Ein TagWie jeder andereDer Wecker klingelt erbarmungslosAufstehen

FrühstückenDann duschenKeine Zeit habenSchnell ins Werk gehenArbeit!

Gitter!Keine Freiheit!Den Tag überstehenWieder Mensch sein dürfenÜberleben

Abend!Der TagEndet wie immerDer Freiheit einen SchrittEntgegengegangen

Inhalt

Vorwort

Auf dem Weg ins Gefängnis

Erste Eindrücke

Frieda

Nacht im Knast

Die Hausarbeiterin

Marianne

Therapien, Gutachten und Rituale

In der Bücherei

Junkies

Margret

Schule

Geld und Einkauf

Sekt zum Geburtstag

Ein Tag im Werkbetrieb

Filze

Eine Reise von Knast zu Knast

Weihachten und Silvester

Freistunde

Eine neue Brille muss her

Sozialarbeiter und andere Schließer

Kontakte nach draußen oder die Liebe

Besuch von frommen Frauen

Kirche im Knast

Mia schreibt sich frei

Offener Vollzug

Vorwort

Mit diesem Buch möchte ich einen Einblick geben in eine Welt, die den meisten Menschen im Allgemeinen nicht zugänglich ist, in die Welt hinter Gittern, in der ich selbst fünf Jahre lang als Gefangene gelebt habe. Dabei geht es nicht um die Schilderung der Taten, auch nicht meiner eigenen, denn es soll kein rein voyeuristisches Interesse bedient werden. Es sind vielmehr Momentaufnahmen vom Alltag im Knast, die hier beschrieben werden, basierend vorwiegend auf meinen Tagebuchaufzeichnungen, die ich während der Haft gemacht habe. Dabei bleiben sicher viele Aspekte unberücksichtigt, denn das Leben hinter Gittern ist so vielschichtig wie das vor den Gittern. Ein Buch ist nicht genug, um alles zu schildern. Aber diese Momentaufnahmen sollen zeigen, dass auch in den Gefängnissen Menschen leben, die sicher Schuld auf sich geladen haben, die aber größtenteils ihr Heil nicht im Selbstmitleid suchen, sondern einen Weg zurück in die Normalität finden möchten. Das bedeutet immer auch, sich der Verantwortung für die begangene Tat zu stellen und sich mit den Hintergründen, die zu der Tat geführt haben, auseinanderzusetzen, ohne diese als Entschuldigung zu benutzen.

Mein Ziel ist es nicht, Statistiken zu liefern, sondern den gelebten Alltag zu schildern, das kann manchmal sehr subjektiv sein, denn wir Gefangene stehen den Geschehnissen nicht immer objektiv gegenüber, sondern haben manchmal unsere ganz eigene Sichtweise auf die Dinge, auch weil wir zu sehr in unserer eigenen Welt leben und manchmal vergessen, dass es noch eine andere Welt und auch andere Sichtweisen gibt auf die Dinge, die unser Leben hinter Gittern bestimmen.

Geschildert wird der Alltag in einem kleinen Frauenknast. Dabei unterscheiden sich Frauen- und Männerknäste sicher sehr voneinander. Der Umgangston unter Frauen ist rau aber auch getragen von gegenseitigem Verständnis, zudem liegt der Hintergrund weiblicher Kriminalität oft in Beziehungskonflikten. Überdies versuchen Frauen, auch aus der Haft heraus, sich weiter um ihre Familien zu kümmern und sehen sich in der Verantwortung für diese. So ist denn dieses Buch auch „nur“ eine Schilderung der Lebensweise inhaftierter Frauen.

Die Texte basieren auf Erinnerungen, zum größten Teil auf meinen eigenen, auch wenn sie hier nicht immer in der Ich-Form berichtet werden. Und sie basieren zudem auf den Erlebnissen meiner Mitgefangeninnen, die ich nach ihren Berichten aufzeichnen durfte. Die Zustände in den Knästen mögen heute anders sein, denn diese Erinnerungen und Erlebnisse sind zwischen zehn bis zwanzig Jahre alt. Der kleine Frauenknast, in denen diese Momentaufnahmen entstanden sind, ist inzwischen geschlossen, die Frauen verlegt, in bessere Unterkünfte. Aber an den grundsätzlichen Verhältnissen am Leben hinter Gittern hat sich nichts geändert. Nach wie vor werden die Filzen, das Durchsuchen der Zellen, als demütigend empfunden und die Einsamkeit während der Einschlusszeiten als bedrückend. Und auch heute werden Gefangene von ihren Partnern oder Freunden verlassen.

Ein Teil der Schilderungen sind sehr persönliche Darstellungen, dabei habe ich immer versucht, den Charakteren der Frauen gerecht zu werden und ihre Empfindungen weiterzugeben, auch wenn ich manchmal Details verfremdet habe, um einer Wiedererkennung der Frauen vorzubeugen, die wesentlichen Aussagen sind jedoch unverändert. Die Namen der Protagonistinnen sind verändert, um diese, und auch mich selbst, zu schützen, dennoch auftretende Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Auf dem Weg ins Gefängnis

Mit der fertig gepackten Tasche steht sie vor dem Bett. Sie lauscht auf die Schritte, die draußen auf dem Flur zu hören sind. Das werden die Beamtinnen des Frauengefängnisses sein. Die junge Frau soll heute aus dem Krankenhaus abgeholt und ins Gefängnis gebracht werden. Das dunkle Brennen in ihrem Magen wird stärker, ihre Beine werden zu weichen Gummistelzen und können sie kaum noch tragen. Sie hat Angst! Was wird sie erwarten? Gefängnis – was heißt das überhaupt?

Gleich nach der Tat hat man sie in diese Klinik eingewiesen. Drei Wochen hätte sie hier verbracht, hat die Ärztin ihr gestern gesagt, als sie ihr mitteilte, dass sie nun aus medizinischer Sicht wieder stabil sei. Aber Zeit bedeutet ihr nichts mehr. Drei Wochen – das ist für sie eine Aussage ohne Inhalt. Ihre Tage vergehen in einem Nebel des Nichtbegreifens und Nichtwissens. Irgendwie sind diese Wochen im weißen Krankenzimmer vorübergegangen, aber sie weiß nicht, wie die einzelnen Tage ausgesehen haben: Tage, Stunden, Wochen sind zu einer milchigen Masse geworden, aus denen sie die einzelnen Momente nicht mehr herausfiltern kann. Die Ereignisse davor liegen wie hinter grauen Schleiern verborgen. Einzelne Bilder treten nur sporadisch hervor, mal mehr und mal weniger deutlich.

Wann war es, als sie baden durfte? Sie versucht sich zu erinnern. Eine Schwester im weißen Kittel ist mit ihr in ein großes weißgekacheltes Badezimmer, mit frei stehender Badewanne gegangen. Da war so viel Blut, ihre Hände waren ebenfalls rot und auch der Rand der Wanne war rot verschmiert. Sie hatte versucht das wegzuwischen. Die Schwester saß daneben, gesagt hat sie nichts.

Auf die Toilette darf sie bis heute nicht alleine gehen. Sie muss stets nach einem Pfleger oder einer Pflegerin klingeln, wenn der Drang zu stark wird. Die Tür zum Klo darf nicht geschlossen werden, wenn sie dort sitzt. Der Pfleger steht vor der offenen Tür, schaut diskret zur Seite, wenn sie die Hose herunterlässt und beobachtet sie doch. In diesen Momenten schämt sie sich. Ihr Zimmer hat ein Fenster zum Raum der Pfleger, was immer sie auch tut, sie sehen es. Sie müssen verhindern, dass sie sich umbringt.

Ständig muss sie Pillen nehmen. Die Ärztin fragte vor ein paar Tagen, ob es ihr damit besser gehe? Aber wie soll sie das denn wissen? Wie würde es ihr denn ohne diese Medikamente gehen? Zu essen bringen sie ihr reichlich. Auch eine Flasche Wasser steht immer auf ihrem Tisch. Aber sie hat keinen Hunger und auch nur wenig Durst. Nur mit frischer Wäsche sieht es schlecht aus. Sie hat nur das, was sie auf dem Leib trägt, eine graue Jogginghose und einen schon etwas zerschlissenen blauen Pullover. Wäsche zum Wechseln hat sie nicht. Diese Sachen hat sie auf der Polizeiwache bekommen. Ihre eigene Kleidung haben ihr die Kripobeamten abgenommen. Wann war das eigentlich, fragt sie sich? Abends legt sie ihre Sachen zusammen, ein Pfleger nimmt den Packen mit und bringt ihn ihr morgens gewaschen zurück.

Täglich kommt der Pastor. Früher hatte sie nie etwas mit Kirchenleuten zu tun. Dieser Pastor redet mit ihr über das, was geschehen ist. Es tut weh und sie will sich nicht erinnern. Er zwingt sie auch nicht dazu. In ihr ist dieser dicke brennende Kloß, der alles zu ersticken scheint, dann kommt wieder der Heulkrampf. Aber nichts wird dadurch besser. Nichts kann je wieder ungeschehen gemacht werden. Sie hat einen Menschen getötet.

Von akuter Suizidgefahr haben sie gesprochen. Ja, alles hätte sie dafür gegeben, nicht mehr leben zu müssen, selbst die wenigen Bilder aus jener Nacht nicht mehr sehen zu müssen. Aber sie haben es nicht zugelassen. Nicht eine Minute durfte sie alleine sein. Aber nun halten die Ärzte sie für gefestigt genug, um der Justiz überstellt zu werden. Überstellt werden – das klingt so bürokratisch, nach einem Verwaltungsakt, der eben durchzuführen ist. Sie aber hat Angst! Auch im Gefängnis soll sie weiter unter ständiger Bewachung sein. Man will kein Risiko eingehen. Sie fragt sich, was denn so schlimm daran wäre, wenn es sie nicht mehr gäbe?

Zwei Frauen betreten den Raum. Sie sind nicht uniformiert, wie sie es erwartet hatte. Und doch sind es Beamtinnen der Justiz. Beide sind blond, in modische Jeans und Blusen gekleidet, so sauber und adrett, ohne jeden Makel. So sehen sympathische, von allen gemochte junge Frauen aus. Ihnen gegenüber fühlt sie sich klein und schmutzig in ihrer grauen Trainingshose. Waren diese Frauen jemals verzweifelt, haben sie jemals bedingungslos geliebt? Und wenn, konnten sie sicher immer angemessen damit umgehen. Menschen wie sie werden fortan über ihr Leben bestimmen, so jedenfalls hat der Pfleger es ihr erklärt. Aber sie weiß nicht, was das bedeutet.

Das Brennen in ihrem Innern wird noch stärker. Panik steigt wie eine Feuerwalze in ihr hoch. Eine der Frauen sagt etwas zu ihr, aber sie kann es nicht hören. Die Beamtin hält etwas silbrig Glänzendes in der Hand. Sind das Handschellen? Wollen sie ihr diese Eisen wirklich anlegen? Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Sie kann nichts sagen, hält nur mechanisch die Hände hin und die Bügel der metallenen Fesseln schlagen klirrend ineinander. Hände und Arme kann sie nun nicht mehr frei bewegen. Beide Hände sind mittig vor dem Bauch fixiert. Der Stahl schneidet in das Fleisch ihrer Arme, nicht so sehr, dass es wirklich weh tut aber doch genug, um es zu spüren. Beide Handgelenke aneinander gebunden, greift sie nach ihrer Tasche, hält sie vor dem Bauch fest. Anders ist es nicht möglich. Die Beamtinnen schieben sie fast sanft aus dem Zimmer und bedeuten ihr, ihnen zu folgen. Der kleine Leinenbeutel, den sie von einer Schwester bekommen hat, um ihre Habseligkeiten darin zu verstauen, schlägt bei jedem Schritt gegen ihre Beine, stolpernd versucht sie zwischen den Beamtinnen mit ihnen Schritt zu halten. Sie weiß, sie muss mit ihnen gehen. Und wo sollte sie auch sonst hin?

Die beiden Beamtinnen reden immer noch und sie beginnt allmählich zu verstehen, was sie sagen. Sie geben Anweisungen, was sie zu tun hat. „Wir nehmen Sie in die Mitte, Sie kommen bitte mit uns.“ Wortlos folgt sie ihren Befehlen. Rechts und links flankiert, führen die beiden blonden Frauen sie über die langen Gänge des Krankenhauses bis hinaus auf den Parkplatz. Sie spürt die Blicke der anderen Patienten auf sich gerichtet. Da wird eine in Handschellen abgeführt! So etwas sieht man nicht alle Tage. Sie schaut nach unten. Jetzt bloß keinem in die Augen sehen müssen! Wie auf dem Präsentierteller ist sie der Neugierde der Menschen ausgesetzt und weiß noch nicht, dass das erst der Anfang ist.

Die Beamtinnen fordern sie auf, sich in den hinteren Teil des Justizfahrzeuges, einen Kleinbus, zu setzen. Mit ihren gefesselten Händen plumpst sie auf den Rücksitz. Eine der Beamtinnen setzt sich ans Steuer, die andere zu ihr nach hinten. Der Kleinbus ist polizeigrün nur mit einem dicken Streifen bemalt, ansonsten schmutzig grau, und vergittert. „Ebenso vergittert wie mein Hirn“, denkt sie. Alles erscheint ihr so unwirklich. Ist das ein Film oder ein Traum? Das kann nicht die Realität sein. Auf dem Weg ins Gefängnis – sie! Das kann nicht sein. Aber doch, es ist so.

Die Fahrt führt über ihr bekannte Straßen, aber nie sah sie diese so wie heute, an diesem kalten Februartag. Diese Straßen sind für sie nicht mehr begehbar, sie darf dort nicht mehr sein. Ihr bleibt nur noch der Blick durch die Gitter des Transporters auf die Plätze über die sie vor ein paar Wochen noch so unbeschwert ging. Sie beginnt zu ahnen, dass die Eisengitter durch die sie blickt, die Welt in zwei Teile splitten. Für sie wird in Zukunft nur noch der eine Teil zugänglich sein.

Die Frau mit dem lockig blond umrahmten Gesicht redet auf sie ein. Die Beamtin scheint zu wissen, dass sie noch keine Erfahrung mit dem Leben hinter Gittern hat. Die Beamtin versucht schon jetzt, ihr diese noch so fremde Welt zu erklären. Es sei alles gar nicht so schlimm, sie würde sich schon eingewöhnen – oder irgendetwas Ähnliches sagt sie. Ihre Worte dringen nicht zu ihr durch. Sie spürt nur das immer stärker werdende Brennen in sich. Die Angst wächst ins Unermessliche, für nichts anderes als diese Angst ist mehr Platz in ihr.

Das Frauengefängnis zeigt sich zunächst in Gestalt eines großen schmutzig-grünen Eisentores, das sie passieren müssen. Die zwei Teile des Tores schieben sich wie von Geisterhand bewegt auseinander. Sie fahren hindurch. Sobald der letzte Zentimeter des Autos das Tor passiert hat, schieben sich die Tore wieder zusammen. Kein Mensch ist zu sehen. Dann erst öffnet sich ein weiteres Tor, durch das sie fahren. Sie ist im Knast! Eine Schleuse trennt die Menschen im Gefängnis von denen vor den Gittern. Immer noch erscheint ihr das alles wie ein Traum, wie ein böser Alptraum. Gleich wird sie aufwachen und wieder in ihrer Welt sein.

Aber statt aufzuwachen, vernimmt sie die Stimme der Beamtin: „Aussteigen!” Sie nehmen ihr die Handschellen ab und bringen sie vom Hof, auf dem sie nun stehen, in ein graues flaches Gebäude. Grau scheint hier die alles beherrschende Farbe zu sein. Sie wird durch, wie es ihr scheint, zahllose Räume geführt. Jedes Mal bevor sie einen neuen Raum betreten, zieht eine der Beamtinnen ein dickes Schlüsselbund aus der kleinen schwarzen Ledertasche an ihrer Hüfte und schließt die Tür mit einem großen Schlüssel auf. Dabei klirren alle Schlüssel aneinander. Sie passieren die Tür und die Beamtin schließt hinter ihnen wieder ab. Das wiederholt sich noch unzählige Male, kommt es ihr vor. Sie verliert die Orientierung. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Situation zu erfassen. In ihr ist nur noch diese gewaltige, ihr Innerstes einnehmende brennende Angst. Was kommt da auf sie zu?

Sie geht mit den beiden Frauen, ohne zu begreifen, wohin sie geht. Aber ihr ist klar, dass sie ihnen zu folgen hat. Nichts anderes, als den Weisungen anderer zu folgen wird mehr von ihr erwartet. Die heiße Angst in ihr wird immer größer. Der Feuerball in ihrem Bauch schiebt sich weiter nach oben, erreicht ihren Hals und droht sie zu ersticken. Das Geklirr der schweren Eisenschlüssel brennt sich in ihr Hirn. Später, sehr viel später, wird sie das gar nicht mehr wahrnehmen. Dann wird das Schlüsselgeklirr zu ihrem Alltag gehören, dann wird sie keine Angst mehr haben. Aber noch ist sie in ihr, diese entsetzliche, brennend heiße Angst vor dieser ihr so unbekannten Welt.

Sie gehen über einen langen Flur, mit grauen Wänden und grauem Bodenbelag. Rechts und links gehen verglaste Türen ab, die in der Verglasung ein dünnes aber sicher stabiles Gitter haben. Diese Türen führen in ebenfalls graue Räume. Eine sehr junge Frau mit dunklen Locken kommt ihnen entgegen. Diese weint und ruft irgendjemandem, den sie nicht sehen kann, noch etwas zu. Die Beamtin erklärt in recht munterer Art, dass hier der Besuchertrakt und gerade Besuchszeit sei. Für die Beamtin scheint das zu den positiven Dingen im Knast zu gehören. Sie aber sieht nur die Tränen in den Augen dieser anderen Frau. Und sie hat Angst!

Immer mehr Türen werden auf- und zugeschlossen, alles schwere Eisentüren, die in der Mitte ein großes Fenster aus dünn vergittertem Panzerglas haben. Die Zahl der Türen scheint endlos zu sein. Dann endlich betreten sie die Frauenstation. Von überall her hört sie Stimmen, mal schrill und alles übertönend, mal kreischend und mal dunkel dröhnend. Laut und hektisch geht es hier zu. In ihr wächst weiter diese brennende Angst vor dem Unbekannten.

Die Frauenstation ist zweistöckig, sie betreten sie durch eine Tür, die den Blick auf einen langen Flur und eine hohe Decke freigibt. Am Ende des Flures scheint es weiter zu gehen, aber der Blick reicht nur bis zu einer Balustrade am Ende des Ganges. Dort stehen nun über der jungen Frau einige andere Frauen und scheinen sie erwartet zu haben. Sie mustern sie, begutachten sie mit ihren Blicken oben von der Balustrade herab. Es fallen laute Sprüche. Sie ist nicht in der Lage, wirklich zu verstehen, was da gerufen wird, glaubt aber Worte wie „Achtung! Frischfleisch!” zu hören. In ihr ist die schiere Angst. Ganz eindeutig gehört die ganze Aufmerksamkeit dieser Frauen ihr. Die Frauen stehen da oben, fast wie auf einem Theaterrang, tragen sichtbar alte Leggins an den Beinen und Hausschuhe an den Füßen, fast alle halten eine Zigarette in den Händen oder stützen sich lässig auf das Gitter und sind offensichtlich gut aufgelegt. Was sind das für Frauen, die da oben stehen und auf sie herab sehen? Was haben die mit ihr vor? Erwartet sie jetzt so eine Art Spießrutenlaufen? Bilder aus irgendwelchen Filmen tauchen vor ihren Augen auf.

Sie weiß noch nicht, dass jede neue Frau mit großer Spannung erwartet wird, einfach deshalb, weil neue Frauen Abwechslung in den langweiligen Knastalltag bringen. Sie bringen Neuigkeiten von draußen, erzählen, wer gerade eine Therapie macht, wer mit wem ein Verhältnis angefangen hat und manchmal auch, wer gestorben ist. Die Frauen kennen sich eben fast alle auch von draußen. Später wird sie selbst auf der Balustrade stehen und beobachten, wenn eine Neue kommt, aus einer Neugierde heraus, die im Knast so selbstverständlich ist, wie sonst auch unter Nachbarn. Aber davon ahnt sie jetzt noch nichts. Noch erscheint ihr hier alles feindlich. In ihr wächst weiter diese alles verbrennende Angst. Sie hört nur die feixenden Stimmen, spürt die musternden Blicke. Es ist das reinste Spießrutenlaufen für sie.

Die Beamtinnen bleiben mit ihr vor einer weiteren Tür stehen. Sie führen sie in einen kleinen Raum. Das sei die Kammer der Frauenstation, wird ihr erklärt. Dass mit „Kammer” die Kleiderkammer gemeint ist, weiß sie auch noch nicht. Hier werden die Gefangenen eingekleidet, sofern sie nicht über genügend eigene Sachen verfügen. Hier werden sie mit allem ausgestattet, was sie in der Haft brauchen. Und hier werden auch die Dinge aufbewahrt, die nicht mit auf die Station genommen werden dürfen. Und außerdem werden in diesem Raum die Inhaftierten untersucht, die neu ankommen oder aus irgendwelchen Gründen die Station für eine Weile verlassen haben.

Eine der Beamtinnen streift sich Gummihandschuhe über und in ihr steigt wieder das Gefühl der Panik auf. Was hat das zu bedeuten? Die Frau, die sich die Handschuhe übergezogen hat, bedeutet ihr, dass sie sich jetzt auszuziehen habe. Sie müsse untersucht werden, das sei bei Neuzugängen so üblich. Ein Neuzugang ist sie also. Das klingt wieder so wenig menschlich. Gehorsam beginnt sie, sich zu entkleiden. Die graue Jogginghose, den alten Pullover und auch ihren inzwischen so unansehnlichen Slip soll sie auf den Hocker legen, der an der Wand steht. Sie schämt sich für die hässliche Unterwäsche. Sie spürt aber auch, dass sie keine Wahl hat und beginnt auch die inzwischen fast grau gewordene Unterhose auszuziehen, auch den BH legt sie ab. Ihre Brüste hängen bloß vor den Blicken der Beamtinnen. Sie spürt, wie ihre Wangen zu glühen beginnen und sie rot wird! Ihre Hoffnung, dass eine der Beamtinnen irgendwann sagen würde, dass es nun reiche, wird nicht Wirklichkeit. Brennende Scham erfüllt sie. Es ist so peinlich!

Sie kennt diese Frauen nicht, aber diese haben dennoch das Recht, ihren Körper zu betrachten, sie zu befühlen. Ist denn auch alles in Ordnung mit ihr? Die Scham weicht einer noch diffusen Wut. „Wieso dürfen die das mit mir machen?“, fragt sie sich. Das Recht auf Würde scheint sie verwirkt zu haben. Die Beamtinnen befehlen ihr sodann, sich zu bücken. Sie dreht sich zur Wand und muss ihnen den nackten Hintern hinhalten, indem sie sich mit dem Oberkörper nach vorne beugt. Krampfhaft starrt sie einen Fleck an der Wand an. Er mag schon vielen Frauen hier geholfen haben, nicht an das zu denken, was gerade geschieht.

Sie drücken ihr die Pobacken auseinander. Scham und auch Wut lassen ihr erneut das Blut in den Kopf schießen. Zufrieden meint eine der beiden Beamtinnen, dass alles in Ordnung sei. Sie könne sich jetzt wieder anziehen. Den beiden Frauen ins Gesicht zu schauen, wagt sie nicht. Sie will das alles nur noch möglichst schnell hinter sich bringen und fühlt sich bis ins Mark gedemütigt. Schnell wühlt sie sich wieder in ihre Sachen, den Blick immer fest auf den Boden geheftet.

Als sie ihre Schuhe wieder anziehen will, werden die ihr weggenommen. „Die Absätze sind zu hoch“, sagt die eine der beiden blonden Schließerinnen. Im Knast seien nur ganz flache Absätze erlaubt. Man würde sie zu ihren Effekten nehmen. Sie weiß gar nicht, was „Effekte” sind. „Es sind Dinge, die von der JVA einbehalten werden, die aber Eigentum der Gefangenen sind und bei der Entlassung wieder ausgehändigt werden”, erklärt die Beamtin, die jetzt ihre Schuhe in den Händen hält. Sie bekommt stattdessen ein Paar Hausschuhe, die ganz offenkundig vor ihr bereits andere getragen haben. Mit einem Gefühl leichten Ekels steigt sie in die muffigen, etwas ausgetretenen Schlappen. Die mit den blonden Locken meint: „Das Schläferpäckchen finden Sie in Ihren Haftraum.” Was ist ein Schläferpäckchen? Auch das ist ein Ausdruck, den sie nie zuvor gehört hat. Es handelt sich dabei um eine Grundversorgung für die Nacht, wie Bettzeug, Zahnbürste und solche Dinge, erfährt sie kurz darauf. Sie wird hier eine neue Sprache lernen müssen.

Während eine der Beamtinnen sie untersucht hat, hat die andere sich ihr spärliches Gepäck vorgenommen. Auch das ist einer genauesten Kontrolle unterzogen worden. Jedes einzelne Teil hat die Beamtin aus der Tasche genommen, betrachtet und geschüttelt, weil ja etwas hier Verbotenes darin verborgen sein könnte. Da sie nicht viel hat, wird auch nichts einbehalten, im Gegenteil, die Beamtin hat ihr noch eine Hose und einen Pullover dazu gepackt und auch zwei Garnituren Wäsche. „Damit Sie etwas zum Wechseln haben“, meint die Beamtin und lächelt die junge Frau an.

Was eine Gefangene in ihrem Besitz haben darf, ist strengstens reglementiert, die Anzahl der Kleidungsstücke, was und welche Kosmetika, die Anzahl der Bücher und auch welche Lebensmittel. Aber was sollte sie aus dem Krankenhaus schon an verbotenen Dingen mitgebracht haben?

Eine der Beamtinnen führt sie aus der Kleiderkammer heraus, wieder über den Flur, eine Treppe hoch, zu einem Raum, der von nun an ihre Zelle sein wird. Sie schließt eine schwere Eisentür auf und sie betritt einen nur karg ausgestatteten Raum von höchsten zwei mal vier Metern. Sie blickt sich um. Das Mobiliar besteht aus billig zusammen gezimmertem Holz. An der einen Längswand steht eine Pritsche, schmal wird ihr künftiges Lager sein, wohl kaum neunzig Zentimeter breit. An der gegenüberliegenden Wand befinden sich ein Tisch mit einem Stuhl davor und ein sehr kleiner Schrank. Zudem steht auf dem Boden noch ein Regal, das wohl eigentlich an die Wand gehört, aber niemand hat es offensichtlich für nötig gehalten, es dort festzuschrauben. Vor dem Fenster sind dicke Gitter angebracht, aber nicht aus Eisen, sondern aus Beton. Groß und schwer scheinen sie alles erdrücken zu wollen. Die Eisentür, das fällt ihr jetzt erst auf, hat in der Mitte ein Guckloch und eine Klappe, die allerdings nur von außen zu öffnen ist. Sie wird noch erfahren, wie es ist, wenn durch dieses kleine Loch das Essen gereicht wird. An der Wand, an der sich die Tür befindet, sind ein Waschbecken und ein Klo angebracht, durch keinen Sichtschutz vom übrigen Raum getrennt. Neben der Tür leuchtet rot ein Klingelknopf, den darf sie benutzen, wenn sie dringend einen Beamten sprechen muss während die Türen geschlossen sind. „Aber nur, wenn es wirklich dringend ist!“, hat die hübsche blonde Beamtin ihr noch eingeschärft, als diese sie in die Zelle brachte.

Auf dem Bett liegt das angekündigte Schläferpäckchen: zwei schäbige Wolldecken, zwei schon arg zerschlissene Handtücher, Seife, Kamm, Zahnbürste und ein Zahnputzbecher, natürlich auch Zahnpasta und eine Flasche Shampoo und ein Spiegel und zu guter Letzt auch noch ein altmodisches Nachthemd, das auch schon bessere Tage gesehen hat. Kleidung kann sie sich, wenn sie nicht genug hat, aus der Kammer geben lassen, erfährt sie nochmals von der Beamtin. Natürlich nur zu bestimmten, von den Beamten festgelegten Zeiten. Sie wird wohl erst einmal darauf angewiesen sein, denn ihr restliches Gepäck ist noch nicht da. Die Anwältin will ihr aber einiges aus ihrer Wohnung bringen.

Sie setzt sich auf das Bett und kann die Tränen nicht länger unterdrücken. Jetzt sterben zu dürfen, ist ihr einziger Wunsch. Ihr Blick gleitet durch die Zelle auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich aufzuhängen. An der Decke ist kein Haken, ein Seil um die Mauerstreben vor dem Fenster binden wäre möglich. Sie will nicht mehr leben. Was soll der Sinn dieses Lebens sein? Jammer und Selbstmitleid erfüllen sie.

Da geht die Tür auf. Es ist keine Beamtin, die da in der Tür steht. Eine junge, adrett gekleidete Frau kommt ohne zu fragen in ihre Zelle und stellt sich als Babsi, die Hausarbeiterin der Station, vor. Verständnislos starrt die junge Frau sie an. Diese lacht und erklärt: „Ich bin eine Gefangene, wie alle anderen auch. Mein Job ist es, die Station zu putzen und das Essen zu verteilen. Wenn du irgendetwas wissen willst, dann frage mich, es ist hier ja noch alles neu für dich.“ Erst jetzt bemerkt die junge Frau, dass die andere einen kleinen Blumentopf in den Händen hält. Etwas verlegen überreicht sie ihn. „Die Blumen sind für dich. Damit dir der Anfang hier nicht ganz so schwer fällt”, sagt sie und blickt ihr Gegenüber dabei mit großen offenen Augen an. Sie stellt die Blume auf den Tisch, kommt einen Schritt auf sie zu und nimmt die neue Gefangene in die Arme. „Nur der Anfang ist so schwer, da heult man leicht mal los, das ging uns allen so beim ersten Mal”, tröstet sie: „Danach wird es dann irgendwann ganz leicht. Pass mal auf, nachher willst du hier gar nicht mehr weg. Wir verstehen uns hier eigentlich alle ganz gut. So schlimm ist es wirklich nicht.”

Babsi kann wohl nachempfinden, wie schwer es der Neuen noch fällt, hier zu sein. Sanft streicht sie ihr über den Rücken und schenkt ihr noch ein Lächeln, bevor sie deren Zelle wieder verlässt. Und wirklich fühlt die junge Frau sich etwas beruhigt und die Angst ist erst mal wie unter einer dicken Decke begraben.

Soll ihr die Blume zeigen, dass sie in die Gemeinschaft der Frauen im Knast aufgenommen ist? Jedenfalls fühlt sie sich angenommen, auch weil die anderen Frauen auf dem Flur sie anlächelten, als sie in ihre Zelle gebracht wurde. Keine war mehr am Johlen oder Feixen, wie noch vor ihrem Gang in die Kammer. Es waren vom Leben gezeichnete Gesichter, aus denen sie ihr Lächeln erreichte. Allen Frauen hier geht es schlecht, alle haben vom Leben die Nase voll, viel zu viel erlebt und eigentlich nicht mehr sehr viel zu erwarten. Angesichts der Vielzahl der Schicksale hier sollte sie sich selbst nicht mehr ganz so wichtig nehmen, kommt es ihr Wochen später in den Sinn.

Erste Eindrücke

Die Neue nutzt den ruhigen Nachmittag, an dem alle anderen Frauen arbeiten und die Station leer ist. Ab morgen wird auch sie in den Werkbetrieb gehen müssen, aber heute will sie sich ansehen, wo sie die nächste Zeit verbringen muss. Sie ist nicht zum ersten Mal im Knast, ganz im Gegenteil, sie gilt als Wiedergängerin. Und es stimmt ja auch, immer wieder wird sie wegen meist nur geringer Delikte aufgegriffen und „fährt wieder ein“. Inzwischen ist es ihr zur Gewohnheit geworden, sich erst einmal einen Überblick über ihren künftigen Lebensraum zu verschaffen.

Wie ein großes doppelstöckiges List diese Station über zwei Etagen angelegt. Die Wände sind weiß gestrichen, aber der letzte Anstrich muss schon Jahre her sein. Alles ist schmutzig und fleckig. Die Türen sind in einem schmuddeligen Ockergelb gehalten, keine fröhliche Farbe, die gute Laune macht, aber das soll sie wohl auch nicht. Dennoch, sie kennt andere Knäste, in denen es vielleicht auch nicht besser ist, aber zumindest sieht es dort oft auf den ersten Blick gepflegter aus.

Am Ende des oberen Flures befinden sich die Gemeinschaftsräume, die Duschen und das Badezimmer. Das Bad ist wohl ursprünglich nur für Pflegefälle gedacht gewesen. Aber inzwischen benutzen die Frauen die Wanne gerne, um sich badend einmal so richtig entspannen zu können, so hat sie es von anderen bereits erfahren. Immerhin ist Baden ohne eine ärztliche Verordnung hier erlaubt. Allerdings sind auch die Sanitärräume dringend sanierungsbedürftig. Schimmel ziert die Decken, der Putz bröckelt ab, einige der ehemals weißen Kacheln sind zersprungen, andere drohen jeden Moment hinab zu fallen.

Auf beiden Etagen befindet sich jeweils eine Küche, in der sich die Insassinnen selbst Mahlzeiten zubereiten können, sofern sie nicht weggeschlossen sind. Aber auch die Küchen sind in einem erbarmungswürdigen Zustand. Zumindest gibt es welche, die offensichtlich auch fast jederzeit zugänglich sind. Aber auch hier bröckelt der Putz von den Wänden, der Bodenbelag ist an vielen Stellen zerrissen. Die Tische und Stühle scheinen ausrangierte Schulmöbel zu sein. Für die Knackis aber immer noch gut genug. An der Längswand steht eine Küchenzeile. Auch diese schmuddelig grau. Spaß am Kochen kann hier erst einmal nicht aufkommen. Ein paar alte Kochtöpfe stehen in den Schränken, sie gehören wohl der Allgemeinheit.

Vom unteren Flur aus gelangt man in einen Innenhof, der ringsum von einer Mauer umschlossen ist. Das ist der sogenannte Freistundenhof. Nach Arbeitsschluss können die Frauen sich dort aufhalten, sofern das Wetter dies zulässt. Eigentlich ist es kein Hof, sondern ein Garten, der sogar in dieser noch kalten Jahreszeit sehr grün und zumindest stellenweise sehr liebevoll angelegt ist. Sogar einen kleinen Teich gibt es. Drumherum wuchern Pflanzen. Sicher blühen die im Sommer. An den Mauern, die den Freistundenhof umschließen, ranken Gewächse hoch, die sie zwar nicht bestimmen kann, aber sie beschließt, sich dafür ein Buch aus der Bücherei zu besorgen. Im hinteren Teil des Gartens ragen weit ausladende Bäume in den Himmel. Sie wundert sich, dass die nicht gefällt wurden, man könnte hinaufklettern und in die Freiheit entkommen. Aber wahrscheinlich liegt hinter dem Zaun mit dem ihn krönenden Stacheldraht nur ein weiterer Gefängnishof einer anderen Station. Immerhin werden die Bäume im Sommer Schatten spenden. Man könnte dort an heißen Tagen sitzen und eine kalte Limo schlürfen. Auch das geht hier. Eine herrliche Vorstellung. Vielleicht sollte sie sich für einen Job im Garten bewerben, sie ist doch so gerne an der frischen Luft. In dieser kleinen Idylle zu arbeiten würde ihr sogar Spaß machen. Schon sieht sie sich in Gedanken bunte Blumen in die Beete pflanzen.

Von den Fluren unten und oben gehen die Zellen ab. Vor jeder Zelle hängt ein dickes Vorhängeschloss. Die Zellentür darf jede Frau selber abschließen, aber nur von außen und natürlich nur mit von der Anstalt ausgegebenen Schlüsseln. Wer die Türe von innen schließen will, besorgt sich ein festes Band, das außen um den Griff gespannt wird. Von innen kann man nun das Band fassen und die Tür heranziehen. Die Beamten haben einen zweiten Schlüssel und können den Raum jederzeit betreten. Zwar darf den Mitgefangenen der Zutritt zum kleinen eigenen Reich verwehrt werden, nicht aber den Beamten. So kennt sie es auch aus anderen Gefängnissen.

Sie kann beobachten, wie eine auch neue Frau in die Kammer geführt wird. Die Frau hat Tränen in den Augen. Ja, wer zum ersten Mal hier ist, braucht sicher viel Kraft für dieses neue Leben hinter Gittern. Hier wird eine eigene Sprache gesprochen, die beherrscht werden muss, um sich überhaupt verständigen zu können. Auch der Alltag ist nach ganz eigenen Strukturen geregelt, die von denen draußen sehr verschieden sind. Sie erinnert sich an ihre erste Inhaftierung und wie schwer es ihr damals gefallen ist, sich in den neuen Alltag zu integrieren. Aber das ist lange her.

Die Kontakte nach draußen, zu der Welt, die einmal ihre war, brechen ab. Wer will schon mit Knackis verkehren? Auch ihre Verbindungen zu den Menschen, die ihr früher einmal etwas bedeutet haben, sind abgebrochen. Sie hat längst neue Freunde im Knast gefunden, glaubt sie. Auch hier sollen einige Frauen sein, die sie kennt. Sie wird sie sicher nach Arbeitsschluss sehen können.

Im Knast hat nichts mehr Wert, was früher wertvoll war. Es ist nicht mehr wichtig, welche Berufsausbildung man hat oder welchen sozialen Hintergrund. Hier gelten andere Dinge. Sie weiß inzwischen, welche. Man muss sich die Dinge, die man meint zu brauchen, organisieren können, man muss den ständig drohenden Filzen ausweichen und man muss bei den Besuchen von draußen Dinge in den Knast schmuggeln können. Man muss wissen, an wen man sich hier zu halten hat, wer hier das Sagen hat. Aber für all das bekommt man mit der Zeit das richtige Gespür.

Am Anfang fühlt man nur, dass all das, was früher das Leben und den Alltag ausgemacht hat und worüber man sich definiert hat, nun keine Gültigkeit mehr hat. Was bleibt noch? Welche Dinge sind es, die nun die Identität ausmachen? Nicht nur, dass man sich selbst nicht mehr traut, sich einen Menschen zu nennen. Was ist man denn noch wert? Die Gedanken und die Tat und die Reue und Scham darüber überdecken alles andere. Den bisherigen Alltag hat man sich mit der Tat selbst genommen. Man steht neben sich und weiß nicht mehr, wer man ist? Es graust und ekelt einem vor sich selbst. Wer und was ist man denn jetzt eigentlich?

Aber das vergeht, und dann ist man eben eine Knacki.

Frieda

Mia, die Neue im Frauenknast, neigt zu Depressionen, aber da ist ja Frieda, diese unglaublich dicke Frau mit den kurzen, strubbeligen und feuerroten Haaren, die gute Seele der Frauenstation, die wird sich schon kümmern, so wie Frieda sich immer um alles kümmert, ob von anderen gewollt oder nicht. Mal ist das lästig, mal auch nützlich, denn woher sonst sollte man die schöne, dicke Bettdecke bekommen, die nur Frieda von draußen in den Knast hinein bekommt. Wer weiß, welche Verbindungen sie dazu nutzt? Es gibt Gerüchte, nach denen sie zu einigen Schließern durchaus geschäftlich zu nennende Verbindungen hat. Aber das will man als einfache Gefangene lieber gar nicht so genau wissen. Jedenfalls wird Frieda sich jetzt erst einmal um Mia kümmern. Vielleicht lassen sich da ein paar Geschäfte machen?

Und so öffnet Frieda leise die schwere Eisentür zu Mias Zelle, von dieser zunächst nicht bemerkt, da sie mal wieder, ganz in ihre trüben Gedanken versunken, den Kopf in die Hände gestützt, auf dem Stuhl, sitzt und auf die Gitter vor dem Fenster starrt. Frieda schiebt sich herein. Ende Vierzig mag sie sein, aber sie strahlt eine Lebensenergie aus, die selbst auf Mia ansteckend wirkt, zumindest schaut diese auf und lächelt Frieda an. Einen Teller mit Kuchen stellt die dicke Frau auf den Tisch und sagt: „Ich habe gehört, dass du hier bist. Du hast genug durchgemacht. Wir beide trinken jetzt erst mal schön zusammen Kaffee und dann erzählst du mir mal alles und ich erkläre dir, wie es hier so abläuft.” Natürlich hat Frieda keine Ahnung davon, was die junge Frau mit den dunklen Locken durchgemacht haben könnte, sie weiß lediglich, dass Mia wegen versuchten Totschlags verhaftet wurde. Es soll um eine Missbrauchsgeschichte gegangen sein. Mia soll wohl nach vielen Jahren ihrem Vater etwas heimgezahlt haben, was der ihr in jungen Jahren angetan hatte. Keiner weiß etwas Genaues, es sind alles nur Gerüchte, aber Frieda würde gerne mehr wissen.

Mia fühlt sich durch den warmen Ton in Friedas Stimme angenommen und vielleicht sogar verstanden. Hinter ihrem Rücken zaubert Frieda eine Thermoskanne hervor und stellt auch diese auf den Tisch. „Frieda heiße ich”, stellt sie sich vor. Sie sei schon lange hier und kümmere sich gerne ein bisschen um die Neuen, insbesondere wenn diese so offensichtlich unbeholfen seien wie Mia. Wie selbstverständlich lässt sie sich aufs Bett plumpsen, rückt ihre Massen zurecht und macht es sich gemütlich. Dann fordert sie Mia auf, doch endlich den Kaffee einzuschenken. Sie erzählt ihr, dass sie die Frau sei, die in der Bücherei arbeite. Nicht dass Frieda sich sonderlich für Literatur begeistert, aber der Job in der Bücherei ist körperlich nicht anstrengend und verspricht ein Höchstmaß an Informationen über alles und jeden, denn die Bücherei ist der Umschlagplatz für Nachrichten jedweder Art, also genau das Richtige für Frieda.

Sie würde aber erst später am Nachmittag zur Arbeit gehen müssen, meint Frieda. Sie hätten also noch viel Zeit, um zu reden. Und tatsächlich bewirkt ihre ebenso aufdringliche wie freundliche Art, dass sich die junge Frau gleich um einiges besser fühlt. Nur über sich reden mag Mia denn doch nicht und Frieda scheint das zu akzeptieren. Trotzdem verbringen sie die nächsten Stunden miteinander, bis Frieda dann doch zur Arbeit muss. Sie erzählt von den anderen Frauen und vom Tagesablauf im Frauenknast. Die Neue erfährt, dass die Welt hinter den Gittern auch Regeln und Werte kennt, man darf sich zum Beispiel auf keinen Fall gegenseitig bei den Schließern verpfeifen. Das sei zinken und das gehöre sich nicht. Sie hört, dass es Freundschaften und Anteilnahme gibt, dass sich umeinander gekümmert wird und man eigentlich nie alleine sein muss. Wenn Mia etwas nicht verstünde, so solle sie getrost Frieda um Rat fragen. Dankbar nimmt die Neue das Angebot an. Zudem bietet Frieda an, ihr Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen. Alles, was Mia meine zu brauchen, könne sie beschaffen, sei es eine anständige Bettdecke, Kosmetika und notfalls Schnaps. Es sind keine leeren Versprechungen.

Frieda ist das für alles zuständige Faktotum im Frauenvollzug, sie erleichtert den Frauen ihren Alltag. Im Knast lässt sich tatsächlich so gut wie alles beschaffen, wenn auch nicht immer ganz legal. Es gibt so eine Art schwarzen Markt, der so gut und sicher funktioniert wie schwarze Märkte wohl überall funktionieren und so lange es Menschen wie Frieda gibt, die über ein fast unglaubliches Organisationstalent verfügen. Der Mensch schlägt sich immer irgendwie durch. Mia wird sich das Leben im Knast also einigermaßen angenehm gestalten können, wenn sie das denn will.

Frieda hat ihr halbes Leben im Knast verbracht. Ihr Delikt war immer das gleiche: Betrug in jeder Art. Sie lebt in einer Traumwelt, sieht sich als tolle, erfolgreiche und von allen umschwärmte Frau, was sie in gewisser Weise auch ist, wenn sie wieder einmal umlagert wird von den Frauen mit ihren so vielen und so unterschiedlichen Wünschen. Sie glaubt an das Bild, das sie von sich entworfen hat und verwechselt manchmal Opportunismus mit Freundschaft. Wenn um ihre Gunst gebuhlt wird, um an einen kleinen Luxus zu kommen, so hält sie das für Freundschaftsbezeugungen. Um der Realität wenigstens annähernd nahe zu kommen und gleichzeitig die Wünsche der anderen bedienen zu können, begeht sie immer wieder neue Betrügereien. Sie bestellt bei Versandhäusern Dinge, die sie glaubt haben zu müssen, die sie aber nicht bezahlen kann. Sie fälscht Schecks und schreckt auch vor Diebstählen nicht zurück, allerdings würde sie niemals eine ihrer Mitgefangenen bestehlen. Sie pflegt halt auf großem Fuß zu leben, wie es sich für die Frau gehört, die sie gerne wäre. Und außerdem gibt sie ja auch gerne etwas an andere weiter, wenn sie sieht, dass irgendwo etwas gebraucht oder gewünscht wird. Sie beschenkt gerne die Menschen in ihrer Umgebung. Das alles will finanziert sein. Das geht nur mit Betrügereien. Und darin hat sie es zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Auch im Knast geht es ihr nicht schlecht. Sie findet immer Mittel und Wege, um sich, und auch anderen, das Leben angenehmer zu machen. Frauen wie sie werden in jedem Knast zurechtkommen, schon deshalb, weil sie in der Lage sind, sofort intuitiv die jeweilige Situation zu erfassen. Sie fährt ihre Antennen aus und erfühlt die Struktur eines menschlichen Gefüges. Sie weiß, wo sie etwas verlangen kann und wo sie etwas geben muss. Eine Kompetenz, mit der man im Knast weit kommt. Das ist hinter Gittern sicher mehr wert als jeder bürgerliche Schulabschluss. Sie spürt, welchen Schließer sie ansprechen darf und welchen besser nicht; sie fühlt, mit welchem Schließer sie sich gut stellen sollte und wo die Schwachstellen der Beamten liegen und diese damit vielleicht auch erpressbar sind.