Die Rückkehr des Märchenprinzen - Sabine Bomeier - E-Book

Die Rückkehr des Märchenprinzen E-Book

Sabine Bomeier

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Beschreibung

Sich noch einmal verlieben? Das kommt für die über 60-jährige Cosima nicht in Frage, schließlich sind ihre Erfahrungen mit Männern nicht die besten, dann schon lieber gemütliche Abende mit der Freundin Katharina verbringen, da weiß sie, was sie hat und ohnehin verbindet die beiden Frauen fast schon so etwas wie eine Lebensgemeinschaft. Zudem will Cosima immer noch Karriere machen. Ja, eigentlich findet Cosima das Leben als ältere Single-Frau gar nicht so schlecht: viel Freiheit und keine Verpflichtungen. Bis dann plötzlich eine Nachricht von ihrer Jugendliebe, dem allzu flatterhaften Stephan kommt. Er schickt nicht nur eine SMS, er will sie besuchen! Und was will er noch? Plötzlich sind die Dellen an den Oberschenkeln wieder wichtig, neue Klamotten braucht sie auch und im Bauch flattern die Schmetterlinge. Cosimas sichere Welt gerät in Unordnung. Katharina steht mit Rat und manchmal auch Tat zur Seite.

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Über das Buch:

Sich noch einmal verlieben? Das kommt für die über 60-jährige Cosima nicht in Frage, schließlich sind ihre Erfahrungen mit Männern nicht die besten, dann schon lieber gemütliche Abende mit der Freundin Katharina verbringen, da weiß sie, was sie hat und ohnehin verbindet die beiden Frauen fast schon so etwas wie eine Lebensgemeinschaft. Zudem will Cosima immer noch Karriere machen. Ja, eigentlich findet Cosima das Leben als ältere Single-Frau gar nicht so schlecht: viel Freiheit und keine Verpflichtungen.

Bis dann plötzlich eine Nachricht von ihrer Jugendliebe, dem allzu flatterhaften Stephan, kommt. Er schickt nicht nur eine SMS, er will sie besuchen! Und was will er noch? Plötzlich sind die Dellen an den Oberschenkeln wieder wichtig, neue Klamotten braucht sie auch und im Bauch flattern die Schmetterlinge. Cosimas sichere Welt gerät in Unordnung.

Katharina steht mit Rat und manchmal auch Tat zur Seite.

Über die Autorin:

Sabine Bomeier ist freie Autorin, nachdem sie für die Öffentlichkeitsarbeit in verschiedenen Politikbereichen tätig war. Die 66-Jährige fühlt sich nicht zu alt, um nach einem bewegten Leben immer noch viele Pläne zu haben.

Endlich Wochenende! Cosima hatte sich diese Woche bereits am Donnerstag ins Wochenende verabschiedet, wollte Überstunden abfeiern. Davon hatte sie noch reichlich, sie würde glatt drei Wochen zu Hause bleiben können, aber man würde sie in der Redaktion vermissen, das hoffte sie jedenfalls. Aber an ihren Überstunden war sie ja selbst schuld. Immer wenn es hieß, es müsse noch eben schnell ein Text geschrieben werden, war sie dazu bereit, es wartete ja zu Hause niemand auf sie. Warum sollte sie diese kleinen zusätzlichen Aufgaben dann nicht übernehmen? So war sie zumindest stets bestens über alles informiert, sowohl über die großen und kleinen privaten Probleme ihrer Kollegen als auch über das, was in der Chefetage besprochen wurde. Sie wusste, wie sehnlichst sich die Redaktionsassistentin ein Kind wünschte und ebenso war sie darüber unterrichtet, dass mal wieder gespart werden sollte – und das natürlich möglichst am Personal. Sie wusste diesen kleinen Vorteil des Wissens durchaus zu nutzen. Sie würde konstruktive Vorschläge machen, aber nicht auf Kosten ihrer Kollegen. Aber darüber wollte sie dieses Wochenende ganz bestimmt nicht nachdenken, sie wollte ausspannen, einmal etwas für sich tun. Vielleicht in den Fitnessclub gehen oder ins Schwimmbad oder auch gar nichts tun, was hieß, dass sie faul auf dem Sofa sitzen und ein gutes Buch in der Hand halten würde.

„Tschüss Cosy, bis nächste Woche“, kam es von der Kollegin.

„Tschüss und ich heiße immer noch Cosima, nicht Cosy, so niedlich bin ich nicht.“ Die Kollegin lachte gutmütig.

Cosima - was für ein Name! Ihre Mutter hatte wahrscheinlich gerade irgendeinen ihrer kitschigen Liebesromane gelesen, der sie dann auf die Idee brachte, das Kind in ihrem Bauch Cosima zu nennen. Die anderen Mädchen in der Klasse hatten ihren Spaß mit diesem Namen. Cosima erinnerte sich noch gut daran, wie sie stets gehänselt wurde wegen ihres Namens. „Cosima, die dicke Prinzessin in Lumpen“, rief man ihr nach. Zwar trug sie nie Lumpen, aber zu wirklich schicken Klamotten hatte das Geld zu Hause auch nicht gereicht und selbst wenn es da gewesen wäre, hätte ihre Mutter das Geld ganz bestimmt nicht für schöne Kleider ausgegeben. Als junge Frau konnte Cosima das verstehen, als kleines Mädchen nicht.

Heute wurde sie nicht mehr gehänselt wegen ihres ausgefallenen Namens, zwar gefiel Cosima ihr Name noch immer nicht, aber sie hatte sich damit abgefunden. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

Endlich zu Hause angekommen, die Bahn war mal wieder zu voll und sie hatte keinen Sitzplatz bekommen, schleuderte sie die eleganten roten Pumps mit den etwas zu hohen Absätzen mit einem kräftigen Schwung in die Ecke, rieb die schmerzenden Füße aneinander. Sie liebte dieses leicht knisternde Geräusch, von Perlonstrümpfen, die aneinander gerieben wurden. Nach dem anstrengenden Tag tat ihr die Hüfte wieder etwas weh. Sie war nicht mehr „so gut zu Fuß“, wie Katharina, ihre beste Freundin, es auszudrücken pflegte. Das rechte Bein zog sie leicht nach, die Hüfte wollte es so. Ein kleiner Unfall vor einigen Jahren war daran schuld. Es störte Cosima im Allgemeinen nicht, nur wenn die Hüfte schmerzte, so wie jetzt. Aber wenn sie sich nicht zu viel zumutete, dann kam sie ganz gut zurecht.

Sie legte die Post auf die Borte im Flur, hängte Mantel und Schal an die Garderobe, warf einen Blick in den Spiegel und ordnete die Haare, der Wind hatte ihre nun doch schon reichlich grauen Haare zerzaust. Der leichte Nieselregen hatte den Rest erledigt. Ihr hingen nur noch nasse Strähnen vom Kopf herab. Aber das würde heute Abend niemanden stören, sie war ja mit sich allein, eine schon in die Jahre gekommene Single- Frau. Allein leben hatte Vorteile, zum Beispiel den, dass sie nicht immer perfekt aussehen musste. Cosima wusste das durchaus zu schätzen.

Obwohl es erst Mitte Oktober war, kündigte der Herbst sich bereits mit ersten Stürmen an. Cosima mochte den Herbst, aber nur zu seiner Zeit. Im Oktober wollte sie golddurchwirktes Laub an den Bäumen und Spaziergänge in immer noch warmer Sonne, noch einmal im Straßencafé sitzen und vom Sommer Abschied nehmen.

Sie ging auf Strümpfen in die Küche, um sich eine Kanne Tee zu kochen. Sie schnupperte an der Teedose. Herrlich wie das duftete! Sie gönnte sich immer den teuren, guten Tee aus dem Geschäft mit dem dicken Buddha im Schaufenster. Earl Grey mit einer besonderen Note, nicht zu schwach, aber auch nicht zu stark. Dieser Laden hatte den besten Tee in der ganzen Stadt, bildete sie sich ein und genoss diesen kleinen Luxus. Schon wenn der blendend aussehende Verkäufer und wohl auch Inhaber des Geschäftes, mit seinen langen grauen Haare und dem markanten Gesicht und immer einen indischen Schal um den Hals gewickelt, auf sie zukam, sie anlächelte und wissend nach der richtigen Dose griff. „Wie immer?“, fragte er mit seiner sonoren Stimme und füllte den Tee ab. Cosima war hingerissen.

Bestimmt hatte der Typ früher einmal Soziologie studiert, war dann durch Asien gereist und wollte aussteigen aus der spießigen Gesellschaft und nun verkaufte er Tee. Naja, auch eine Option. Sie liebte es, sich Geschichten zu den Menschen auszudenken, die wahrscheinlich allesamt sehr weit von der Wahrheit entfernt waren. Der Teeverkäufer konnte ebenso ein gelernter Buchhalter sein, das Geschäft von seinen Eltern übernommen haben und sehr zufrieden abends zum Kegeln gehen. Aber so wollte sie ihn nicht sehen.

Mit dem dampfenden Tee in der Tasse ging sie ins Wohnzimmer, nahm abermals die Post und sah sie durch.

Wieder nur Reklame und eine Ankündigung des Schornsteinfegers, dass er nächste Woche vorbeikommen würde, um nach der Heizung zu sehen.

„Na toll“, dachte Cosima, das würde wieder einen Urlaubstag kosten, aber vielleicht konnte auch die Nachbarin ihn durch die Wohnung zur Heizung führen. Sie nahm ja auch immer deren Pakete an, wenn sie zu Hause war, immer dann, wenn sie Spätschicht in der Redaktion hatte. Der Paketbote kam grundsätzlich nur vormittags in ihre Straße. Warum das so war, hatte sie noch nicht ergründen können.

Nach der Post war das Handy dran, mal sehen, ob es neue Nachrichten gab. Im Büro hatte sie keine Zeit gehabt, die eigenen Mails zu checken. Vielleicht hatte Katharina, Cosimas beste Freundin, sich ja gemeldet und ging mit ihr heute Abend noch essen. Auf Chinesisch hätte sie Appetit. Allerdings müsste sie sich dann doch noch wiederherrichten. Vielleicht würde Katharina ja zu ihr kommen und etwas Leckeres mitbringen? Ihre Freundin durfte sie auch mit regennassen, strähnigen Haaren sehen. Sie war eitel, was in ihren Augen kein Widerspruch zu ihrem sonst eher intellektuellem Leben war. Diese Eitelkeit war erst mit dem Alter gekommen, als sie den Ansprüchen ihrer Mutter an gelebte Sparsamkeit endgültig entkommen war. Aber da verdiente Cosima auch schon selbst einigermaßen gut.

Ja, eitel war sie, aber bei Katharina machte sie eine Ausnahme. Diese Freundin durfte sie in jeder Situation sehen. Sie hatten sich vor Jahrzehnten in einem Englischkurs der Volkshochschule kennengelernt. Diese burschikose Maschinenbauingenieurin hatte es Cosima vom ersten Augenblick an angetan, aber es war Katharina, die einfach irgendwann ziemlich keck fragte, ob sie nicht mal zusammen einen Kaffee trinken gehen wollten. Das taten sie fortan nach Unterrichtsende und lernten sich immer besser kennen, bis eine tiefe Freundschaft daraus entstand, obwohl sie auf den ersten Blick doch so unterschiedlich waren, Cosima in Kostümchen und Highheels, Katharina in burschikosen Jeans und karierter Bluse. Dass sie Lesbe war, hatte Katharina ihr fast schamhaft gestanden, damals war das auch noch nicht selbstverständlich. Da hatte sich in den letzten Jahren zum Glück viel geändert. Es gab so viele Paare des gleichen Geschlechts, die Hand in Hand durch die Welt gingen, das fiel doch gar nicht mehr auf, auch wenn Katharina in schlechten Momenten immer noch darauf bestand, von mindestens der Hälfte aller Menschen diskriminiert zu werden.

Heute würde keine der beiden Frauen mehr auf die andere verzichten wollen und insbesondere Cosima legte Wert darauf, die wirklich wichtigen Dinge immer mit Katharina zu besprechen.

Cosima hatte immer noch keinen Blick auf das Handy getan, musste erst die Füße hochlegen, es war schließlich eine anstrengende, aber auch gute Woche gewesen. Cosima hatte in der Redaktion einige Texte gut platzieren können und kassierte sogar ein dickes Lob vom Chefredakteur. „Gut recherchiert und eine gute Argumentationskette hast du“, meinte er. Wenn alles gut lief, bekam sie zu guter Letzt doch noch seine Stelle, er ging ja schließlich bald in Rente. Sie würde einiges anders machen als er und vor allem mehr Geld als jetzt bekommen. Das könnte sie gut gebrauchen in ihren letzten Arbeitsjahren. Sie könnte vielleicht doch noch etwas Geld zur Seite legen, um dann als Rentnerin nur noch Bücher zu schreiben, und nur solche, deren Thematik sie auch interessierte. Sie malte sich ihr Alter in den schönsten Farben aus, weit weg von jeder Altersarmut. Wenigstens das hatte sie tatsächlich erreicht. Sie würde eine einigermaßen gute Rente bekommen, keine Reichtümer erwerben können, aber die eine oder andere Reise würde schon drin sein.

Eigentlich hätte sie die Stelle des Chefredakteurs schon vor Jahren haben sollen, fand sie, aber Frauen wurden eben nicht gerne auf den weichen Sesseln ganz oben gesehen. So gut gepolstert machten es sich hauptsächlich Männer bequem, das war auch in linken Redaktionen so. Das hatte sie schon früh feststellen müssen. Auch für die linksintellektuelle Elite, oder das, was sich dafür hielt, waren Frauen hauptsächlich nette Anhängsel und vor allem gut an der Kaffeemaschine. Zum Glück wurde das nun langsam anders. Die jungen Frauen waren längst nicht mehr so gefügig wie es in ihrer Generation der Fall war. Sie bewunderte diese neue Generation von Frauen für ihr großes Selbstbewusstsein und auch für ihr Durchsetzungsvermögen. Aber sie fühlte sich durch sie nicht bedroht.

So fit wie die Jungen in der Redaktion fühlte Cosima sich allemal, jedenfalls im Kopf, mit den Füßen vielleicht doch nicht ganz so, da machten sich die zweiundsechzig Jahre manchmal bemerkbar, sinnierte sie vor sich hin und massierte sich ein wenig die Füße. Sie sollte sich mal wieder einen Besuch bei der Pediküre gönnen und sich mit einer Massage von geübter Hand verwöhnen lassen, dachte sie und plante gleich für die nächste Woche einen solchen Termin in ihrem Terminkalender ein.

Cosima nahm endlich das Handy aus der Hülle und klickte ihre Mails an, sie hatte heute keine Lust mehr an den PC zu gehen.

Sie glaubte nicht richtig zu sehen, schaute noch einmal auf das kleine Display und tatsächlich, es war eine Mail von Stephan gekommen. Sie schaute noch einmal hin, aber die Mail war tatsächlich von Stephan.

Er würde sich freuen, wenn sie sich mal wieder treffen könnten. Aber natürlich nur, wenn sie das ebenfalls wolle. Er könne nach Bremen kommen, es sei doch bestimmt viel passiert und man wisse ja gar nichts mehr voneinander.

„Wohl wahr“, dachte Cosima. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte? Sie konnte sich kaum daran erinnern. Es waren wohl bereits etliche Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Erinnerungen kamen in ihr hoch, zogen bis hinein ins Herz. Oder war das nur der Muskelkater, weil sie es neulich bei der Gymnastik übertrieben hatte?

Aber schon spürte sie auch wieder das Kribbeln im Bauch, das immer da gewesen war, wenn sie sich mit Stephan getroffen hatte. Er war ihre ganz große Liebe gewesen, ihr Märchenprinz – jedenfalls hatte sie das früher geglaubt. Heute war sie da nicht mehr so sicher, es lebte sich auch ohne ihn ganz gut, wie es sich überhaupt ohne Mann ganz gut lebte. Und sie war nicht mehr die, die sie früher einmal gewesen war. Aber wieso meldete er sich denn überhaupt wieder? Was wollte er jetzt von ihr?

Sollte sie antworten, jetzt gleich oder nein, lieber noch eine Stunde warten und diese Überraschung sacken lassen? Nur nichts überstürzen! Jede Reaktion auf diesen Mann wollte gut überlegt sein. Aber der Regen hatte plötzlich aufgehört und die Sonne lugte durch die Wolken. „Als ob der Himmel mir ein Zeichen schickt“, dachte Cosima und lachte im selben Moment über sich. So lächerliche Gedanken haben nur junge Mädchen und nur die dürfen das auch.

Sie ging zu dem gemütlichen Ohrensessel, den sie bei einer Haushaltsauflösung erstanden hatte, ließ sich zurücksinken und erlaubte sich, diese Beziehung, oder was auch immer das gewesen war zwischen Stephan und ihr, Revue passieren zu lassen. Es waren aber nicht nur die guten Dinge, die ihr in den Sinn kamen, im Gegenteil: Da war auch so viel Trennendes. Ja, er war der Mann ihrer Jung-Mädchen-Träume gewesen, aber da waren auch so viele Unterschiede zwischen ihnen, und mit den Jahren wurden es immer mehr. Er hatte sich einen hochdotierten Posten in der Wirtschaft erarbeitet, was nichts anderes bedeutete, als dass er inzwischen über sehr viel Geld verfügte, zumindest aus ihrer Perspektive betrachtet. Dafür war sie immer politisch aktiv gewesen, er nur als Teenie, immerhin beide in der linken Szene. Das war eben damals schick, aber echte Überzeugungen hatte er nicht. Und gemeinsame Hobbies oder Interessen hatten sie nie. Er hatte schon früh mit dem Motorradfahren angefangen und daneben zählte kaum noch etwas anderes. Und er war immer so sportlich. Cosima wollte weder Motorrad fahren noch allzu sehr ins Schwitzen kommen, wenn sie in den Fitnessclub ging. Immerhin ging sie überhaupt hin! Aber auch nur, weil der Arzt ihr keine andere Wahl ließ. Dieser Mediziner war sicherlich ein heimlicher und verklemmter Sadist, genauso wie der Trainer im Fitnessclub. Undercover arbeiteten die Beiden sicher zusammen.

Cosima und Stephan hatten sich früh kennengelernt, er war siebzehn und sie fünfzehn, viel zu früh für eine ernsthafte Beziehung, aber eine solche hatten sie auch nicht im Sinn. Während einer Schulfeier standen sie zufällig nebeneinander am Saftstand. Er, zwei Klassen über ihr, war schon damals mit seinen fast hüftlangen dunklen Haaren, was zu der Zeit gerade sehr in Mode war, der schlanken Figur und schönen grau-grünen Augen der Schwarm aller Mädchen. Er wusste es und, noch wichtiger, er wusste es auch auszunutzen. Er war bekannt dafür, dass er ständig neue Freundinnen hatte, oder wie immer man seine Begleiterinnen nennen mochte.

Er bot ihr ein Glas Apfelschorle an und Cosima rutschte fast das Herz in die Hose. Ausgerechnet ihr, der kleinen Dicken, die nichts weiter aufzuweisen hatte als etwas Inhalt im Hirn und einen absolut lächerlichen Namen, wandte sich dieser Typ zu.

„Danke“, stotterte sie und wusste nicht, was sie sonst noch hätte sagen können. Für solche Momente hatte ihr Hirn keinen Inhalt parat.

„Gar nicht so schlecht hier, hatte ich nicht erwartet“, meinte er, „und dann noch so eine süße Maus wie du neben mir, da kann der Abend ja nur gut werden.“

Ziemlich plump war das, dachte Cosima, aber erst als sie bereits eine erwachsene Frau war. So gewandt und eloquent wie später war er damals eben noch nicht. Und was soll eine Frau, die sie damals ja auch noch nicht war, von einem Siebzehnjährigen denn auch erwarten? Sie jedenfalls fand ihn wundervoll.

Irgendwie kriegte Cosima es hin, sich weiter mit ihm zu unterhalten. Nicht nur das, sie verabredeten sich sogar für den nächsten Samstag im Jugendclub, in den Cosima neuerdings gehen durfte. Sie hatte es in harten Kämpfen den Eltern abgetrotzt, die genau das, was hier gerade geschah, befürchtet hatten, nämlich, dass ihre wohlbehütete Tochter in die Fänge eines schäbigen, sexhungrigen Jungen geriet und darüber Eltern, Schule und was sonst noch wichtig war im Leben, vergaß. Nun, schäbig war er nicht, aber sehr wohl ein Junge. Dass er geradezu sexhungrig gewesen sei, wäre eine böse Unterstellung. Zwar versuchte er schon damals bei den Mädchen gut anzukommen und er wollte auch seine Streicheleinheiten, aber er gierte nicht nach Sex. Da hatten Cosimas Eltern falsche Vorstellungen von dem Treiben der Jugend. Später fragte sich Cosima, woher diese ihre Vorstellungen hatten. Schlossen sie etwa von ihrer eigenen Jugend auf die Jungmädchenjahre ihrer Tochter? In dem Fall mochte sich Cosima lieber kein Bild von der Jugend ihrer Mutter machen. Stephan machte sich nicht über ihren Namen lustig und verniedlichte ihn auch nicht, sondern fand den Namen im Gegenteil sehr schön. Er fand, dieser Name sei etwas Besonderes. Das rechnete sie ihm hoch an, zudem fühlte Cosima sich geschmeichelt.

Stephan wurde schnell Cosimas Märchenprinz, den sie fortan stets samstags im Jugendclub schmachtend erwartete, was er gerne hörte, ihn aber keinesfalls davon abhielt, sich auch anderen Mädchen zuzuwenden. Insofern lagen ihre Eltern mit ihren Vermutungen dann doch wieder richtig. Sein Verhalten tat Cosima weh, aber sie wollte modern sein und propagierte die allgemeine Freiheit, was gerade sehr in war und was nichts anderes bedeutete, als dass die Frauen für jeden Mann allzeit bereit zu stehen, respektive zu liegen hatten. Wer dazu nicht bereit war, galt als spießig und prüde. Das Recht auf ein NEIN nahm sie sich erst Jahre später, genau wie so viele andere Frauen.

Ja, Stephan war ihr erklärter Märchenprinz, obwohl sie sich das selbst so, schon gar nicht mit diesem Wort, eingestanden hätte. Das hätte nicht zu ihrem feministischen Anspruch, oder dem, was sie als junges Mädchen und auch noch als junge Frau dafür hielt, gepasst. Die Frauenbewegung war damals gerade erst wiederbelebt worden und hatte noch Schwierigkeiten, Ziele zu definieren, die nicht unbedingt mit denen der ach so revolutionsfreudigen Männer kompatibel waren. Dazu fehlte den Frauen noch der nötige Mut. Also fügten die Frauen sich den Wünschen der Männer, waren nicht prüde und hielten sich für unglaublich emanzipiert.

Aber Stephan war schon ein verdammt hübscher Junge, erinnerte sie sich. Wenn er mit einem gekonnt lässigen Ruck seine langen Haare zurückwarf, um die ihn jedes Mädchen beneidete, dann sah das schon ziemlich cool aus. Dazu seine samtweiche Haut, die eigentlich so gar nicht männlich war und dann später auch lederner wurde, und damit männlicher – das alles hatte ihr als junges Mädchen schon sehr imponiert. Immerhin kam sie ihm so nahe, dass sie wusste, wie sich seine Haut anfühlte. Und dann fuhr er auch noch Motorrad! Oder zunächst mal Moped. Als sie sich kennenlernten, war er schließlich auch noch keine achtzehn und besaß nur den Führerschein für kleine Motorräder. Später wurden aus dem Moped dann schwere Maschinen. Sehr männlich! Noch später betrachtete sie dieses Hobby kritischer. So umweltfreundlich war es ja nun wirklich nicht, nur so zum Spaß verbranntes Benzin in die Luft zu blasen. Aber so weit hatte sie nicht immer gedacht. Was er tat, war gut und richtig, ja einfach geradezu wundervoll. Da war Kritik nicht angebracht.

Damals war er bei weitem der attraktivste Mann, den sie kannte. Und das sollte auch noch lange Zeit so bleiben, allerdings kannte sie auch nicht sehr viele Männer und die Jungs, die sie kannte, pulten abends noch an ihren Pickeln herum. Stephan hatte keine Pickel.

Na gut, Jahre später fand sie dann auch andere Männer ganz ansehnlich, schon deshalb, weil diese sich mehr für sie interessierten als Stephan das bis dato getan hatte. So glaubte sie zumindest. Er bevorzugte damals, vielleicht auch noch heute, mehr das Gegenteil von dem, was Cosima darstellte: langbeinige Blondinen, gerne auch etwas blöde. Die machten etwas her, wenn man mit ihnen durch die Kneipen zog und die Begrenzung des geistigen Horizonts garantierte ihm eine gewisse Bewunderung, denn eloquent war er, wenn auch häufig ohne tieferen Sinn. Auch das musste sie inzwischen zugeben, auch dass sie dieses Manko erst recht spät erkannt hatte.

Ja, wenn sie genau überlegte, dann war eigentlich auch früher nicht alles ganz so rosig gewesen, wie sie es in ihrem Gedächtnis abgespeichert hatte. Es waren immer auch ganz viele Ängste vorhanden. Wieso hatte sie die verdrängt? Wenn sie in den vergangenen Jahren an Stephan dachte und das war oft der Fall, dann waren ihr stets nur die schönen Momente in den Sinn gekommen. Aber kaum meldete er sich, waren da auch wieder ganz andere Erinnerungen und damit auch wieder die alten Ängste präsent. War sie schön genug? Welche Erwartungen hatte er? Erwartete er eine attraktive Frau und was war in seinen Augen überhaupt Attraktivität? Sie hatte ihm doch nie genügt, warum sollte das heute anders sein?

„Meine Frau muss im allgemeinen Sinne vorzeigbar sein“, hatte er einmal zu ihr gesagt. Was verstand er unter „im allgemeinen Sinne vorzeigbar“? Sie war es offenbar nicht, denn sie konnte sich kaum daran erinnern, dass sie etwas gemeinsam unternommen hätten und er sich damit in der Öffentlichkeit zu ihr bekannt hätte, das kam nur sehr selten vor und auch dann hatte kaum jemand gewusst, dass sie auch das Bett teilten und Cosima weit mehr als nur ein guter Kumpel war.