4,99 €
Es gibt viele Momente in deinem Leben, die dich verändern. Doch nur diesen einen Augenblick, in dem du dich dazu entschließt, einen anderen Menschen mehr zu lieben als dich selbst. Als Shelby Calder und Zach Watters ihr Baby zur Adoption freigeben, haben sie einzig und allein sein Glück im Sinn. Doch die Entscheidung lastet schwer auf ihnen, und Shelby beschließt, Alaska und all die damit verbundenen Erinnerungen hinter sich zu lassen. Erst Jahre später kehrt sie zurück, um einen Neustart zu wagen, der sich jedoch als schwieriger erweist als gedacht. Zach hat in seinem Leben viele Fehler gemacht. Als Shelby wieder in das Haus nebenan zieht, schwört er sich, sie nicht ein zweites Mal zu verlieren. Um ihr Herz zurückzugewinnen, muss er beweisen, dass er nicht der Mann ist, für den sie ihn hält. Und dass sie sich diesmal auf ihn verlassen kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aurora Rose Reynolds
© Die Originalausgabe wurde 2016 unter dem
Titel Wide open Spaces von Aurora Rose Reynolds veröffentlicht.
© 2022 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8700 Leoben, Austria
Aus dem Amerikanischen von Carina Egger
Covergestaltung: © Cornelia Pramendorfer
Titelabbildung: © G-Stock Studio
Redaktion: Romance Edition
ISBN-Taschenbuch: 978-3-903413-00-9
ISBN-EPUB:978-3-903413-01-6
www.romance-edition.com
An jene zwei Menschen, die eine der
schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens getroffen haben.
Dank euch gehen unsere Herzen über.
Dank euch sind unsere Tage wunderschön.
Adoption ist keine einseitige Sache. Es geht dabei nicht nur um das Paar, das adoptiert. Nur eine Person mit starkem Charakter kann sein Kind zur Adoption freigeben. Es ist schön, wenn sich jemand für das Geschenk des Lebens entscheidet, auch wenn es einem das Herz zerreißt. So etwas verdient nicht unsere Missbilligung. Es braucht viel Mut, um sagen zu können: Ich liebe mein Baby so sehr, dass ich mir mehr für es wünsche, als ich ihm derzeit bieten kann.
Das ist Liebe.
Das ist die Definition von Liebe.
Jemanden mehr zu lieben als sich selbst.
»Du musst ihn jetzt loslassen.« Kathleen legt sanft die Hand auf meine Schulter. Ich schüttle den Kopf und spüre, wie mir die Kehle eng wird, als Schmerz – quälender Schmerz – meine Brust durchfährt. »Ich weiß, es ist schwer«, sagt sie behutsam.
»Nein, weißt du nicht«, wispere ich. Ich lasse meine Lippen an der weichen Stirn meines Babys ruhen, während Tränen meine Wangen hinablaufen.
»Shel, Babe«, versucht es Zach und hält meinen Blick fest. Er umrundet das Bett und kommt zu mir. »Wir waren beide der Meinung, dass es so am besten für ihn ist.«
Ich schlucke schwer gegen meinen wachsenden Kummer an, schließe die Augen und nehme einen tiefen, zittrigen Atemzug.
»Ich hasse dich«, flüstere ich und begegne erneut seinem Blick. Keine Ahnung, wie ich jemanden so sehr lieben und gleichzeitig hassen kann, aber beide Emotionen schaukeln sich in mir hoch, während ich meinen Sohn in den Armen halte.
»Das meinst du nicht so.« Ich höre in Zachs Stimme, wie sehr ihn meine Worte treffen, wodurch mein Herz noch ein bisschen schwerer wird. Ich lege den Kopf zurück und senke die Lider, um ihn auszublenden.
»Shelby«, fordert Kathleen mich auf.
»Kann ich eine Minute mit ihm allein haben, bevor Sie ihn mitnehmen?«, flehe ich und schaue zu ihr auf.
»Natürlich«, willigt sie mit weichem Tonfall ein, legt erneut die Hand auf meine Schulter und drückt sacht zu, bevor sie den Raum verlässt.
»Ich will mit ihm allein sein, Zach«, flüstere ich, ohne ihn anzusehen. Er steht noch auf der anderen Seite des Bettes, und als er schweigend dort verharrt, frage ich mich, ob er mich gehört hat.
»Er ist auch mein Sohn«, wendet er ein und Bitterkeit steigt in mir auf.
»Du kannst dich nach mir von ihm verabschieden«, sage ich und höre, wie gleichgültig meine Stimme klingt.
»Ich liebe dich, Shel.« Das Gefühl seiner Lippen an meinem Scheitel beschwört eine weitere Tränenflut herauf, bevor sich Zach von mir entfernt. Er öffnet die Tür, schließt sie wieder und lässt uns endlich allein zurück.
Ich atme zittrig ein und langsam wieder aus. Dabei drücke ich den Finger auf das Kinn meines Jungen, wo ich ein Grübchen entdecke, das identisch mit dem seines Vaters ist. »Wenn die Dinge anders wären und ich wüsste, wie ich dir das Leben bieten kann, das du verdienst, würde ich dich niemals hergeben«, wimmere ich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Ich hebe seinen winzigen Körper an meine Brust und lehne mich zurück. Sein Gewicht drückt sich an mich, bis es Zeit ist, ihn loszulassen.
Als ich aufwache, ist mir warm. Ich habe den Arm und ein Bein über Zach geworfen. Das stetige Klopfen seines Herzens klingt wie Musik in meinem Ohr, wie mein Lieblingslied. Ich lasse die Hand von seinen Bauchmuskeln gleiten und lege sie auf meinen mittlerweile flachen Bauch. Tränen bilden einen Kloß in meiner Kehle und ich schlucke ihn hinunter.
»Es wird alles gut. Ich schwöre dir, alles kommt in Ordnung«, flüstert Zach an meinem Scheitel, während ich das Gesicht an seiner Brust vergrabe.
Ich weiß, er liegt falsch. Ein Teil von mir, meiner Seele, ist fort. Ich werde nie wieder in Ordnung sein.
Shelby
Ich stelle den Motor ab und starre das zweistöckige Gebäude an, das ich früher mein Zuhause genannt habe. Es sieht noch so aus wie an dem Tag, an dem ich es verlassen habe. Der dunkelblaue Anstrich wirkt mit dem grauen Himmel im Hintergrund sogar noch kräftiger. Blumen hängen vom weißen Geländer der Veranda und laden zum Verweilen ein.
Jeden Sommer verbrachten meine Grandma und ich Stunden hier draußen, um die Blumenkästen zu bepflanzen. Als sie in meinem zweiten Highschooljahr von uns ging, hielt ich diese Tradition zu ihren Ehren aufrecht. Offenbar hat diese Aufgabe während der letzten fünfzehn Jahre meiner Abwesenheit jemand für mich übernommen.
Ich betrachte die strahlend bunten Blüten, die sich über die Seiten der Kästen ranken, wie es ihnen beliebt. Ob Gandpa jemanden damit beauftragt hat, sie zu setzen, nachdem er nach Florida gezogen war? Ich erinnere mich nicht daran, dass er etwas in der Art erwähnt oder sich überhaupt je für diesen Gartenschmuck interessiert hat. Sind sie ihm in meiner Kindheit überhaupt mal aufgefallen? Vermutlich, denn so künstlerisch, wie die blühenden Knospen arrangiert wurden, müssen sie ihm etwas bedeutet haben.
»Mom?«
Ich drehe den Kopf und schaue meinen Sohn Hunter an. Ein ziehender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, und ich ringe mir ein Lächeln ab. »Sorry, Schatz. Ich bin weggedriftet. Willst du noch heute Abend auspacken oder lieber bis morgen warten?«
Über seine Schulter hinweg beäugt er die Kartons und Koffer, die sich hinten im Wagen stapeln, dann schaut er wieder zu mir. Traurigkeit steht in seinen Augen, und es tut weh, dafür verantwortlich zu sein. Ich weiß, er vermisst seinen Vater und versteht mit seinen zehn Jahren nicht, warum wir nicht länger zusammen sind, auch wenn unsere Scheidung bereits zwei Jahre her ist.
»Morgen«, grummelt er und alles in mir zieht sich leidvoll zusammen. Er hasst mich dafür, ihn ans andere Ende des Landes geschleppt zu haben, fort von seinen Freunden und allem, was er kannte. Ich verstehe ihn. Ich wollte meine Familie zusammenhalten und habe auf ganzer Strecke versagt. Hoffentlich kann dieser Umzug ein Neuanfang für uns sein.
»Morgen«, stimme ich sachte zu, öffne die Autotür und gehe hinaus in den Regen. Als ich die Motorhaube umrundet habe, steht Hunter bereits oben auf der Veranda und betrachtet die Stadt in meinem Rücken.
Ich kann nicht fassen, wie sehr sich dieser Ort verändert hat und gewachsen ist. Früher konnte man von der Veranda aus die Meerenge sehen, jetzt wird die Aussicht von einer Reihe Häuser blockiert, die auf der anderen Straßenseite errichtet wurden.
»Regnet es hier immer?«, durchbricht Hunters Stimme meine Gedanken. Vorsichtig gehe ich die Treppe zu ihm nach oben, deren Holzstufen an einigen Stellen bereits morsch sind. Das werde ich bald reparieren müssen.
»Nicht immer. Wir befinden uns allerdings in Alaskas Regenwaldgebiet, also irgendwie auch ja«, erkläre ich, als ich bei ihm ankomme.
Seine Brauen ziehen sich über den blauen Augen zusammen, wodurch er wie sein Vater aussieht. »Ein Regenwald?« Er schaut sich skeptisch um.
»So ist es.« Ich möchte die Hand nach ihm ausstrecken und mit dem Finger an seiner Wange hinabstreichen, halte mich jedoch zurück. Keine Ahnung, wann genau es passiert ist, aber seit einiger Zeit lässt er meine Zuneigung nicht mehr zu. Als hätte er aufgehört, mein kleiner Junge zu sein.
»Wirklich?«, fragt er mit großen Augen. »Es sieht nicht wie einer aus«, stellt er fest, womit er den Nagel auf den Kopf trifft. Unter dem typischen Regenwald verstehen die meisten etwas anderes.
»Auch wenn es nicht so wirkt, es ist einer.« Lächelnd beobachte ich, wie Hunters neugieriger Blick von mir zurück zur Aussicht wandert. Plötzlich verliert sich der interessierte Ausdruck in seinem Gesicht.
»Wie auch immer.«
Mir auf die Lippe beißend, greife ich in die vordere Tasche meiner Jeans und hole den Schlüssel hervor, den mir der Anwalt per Post geschickt hat. Ich schließe die Tür auf und sie öffnet sich mit einem lauten Knarren. Staub steigt von den Böden auf, dann ertönt ein Alarm und lässt uns beide zusammenzucken. Ins Haus rennend, halte ich nach einer Alarmanlage Ausschau, bis ich endlich eine kleine weiße Box neben der Küchentür entdecke. Dann starre ich die Nummern auf dem Zahlenfeld an.
»Wie lautet der Code?«, ruft Hunter über die Sirene hinweg, die Ohren mit den Händen bedeckt.
»Ich weiß nicht«, erwidere ich genauso laut und drücke jede einzelne Zahlenkombination, die mir einfällt, aber keine davon funktioniert.
»Steht er auf den Papieren im Auto?«
»Vielleicht?«, entgegne ich und laufe wieder nach draußen. Nachdem ich die Kofferraumtür meines Vans aufgeschwungen habe, schubse ich drei Kartons aus dem Weg, bevor ich den finde, nach dem ich suche. Ich reiße den Klebestreifen runter, wühle durch den Inhalt und überfliege die Papiere, die der Anwalt geschickt hat. Als der Alarm mit einem Mal verstummt, blicke ich auf. »Was war der Code?«, frage ich Hunter, als er auf die Veranda tritt.
»Keine Ahnung.« Er zuckt die Achseln und wirft einen Blick über seine Schulter ins Haus, als würde er darauf warten, dass jemand herauskommt.
Ich runzle die Stirn. »Hat es einfach aufgehört?«, hake ich nach und knalle die Heckklappe zu. Kopfschüttelnd schaut Hunter zu mir. Er öffnet den Mund, doch wird von einer tiefen Stimme unterbrochen.
»Ich habe ihn ausgeschaltet.«
Einen Atemzug, mehr brauche ich nicht, um zu begreifen, wer gerade aus dem Haus meiner Großeltern tritt. Einmal Luft holen, während jeder Moment, den ich mit dem Mann vor mir verbracht habe, an meinem geistigen Auge vorüberzieht. Zwei Sekunden und meine Welt steht still.
Der Zach Watters, den ich einst kannte, ist verschwunden. Nichts an ihm erinnert an den Jungen von früher. Sein Kinn ist kantig, der Bartschatten verleiht ihm etwas Raues und betont seine vollen Lippen. Sein dunkles Haar ist an den Schläfen leicht ergraut und lenkt den Blick auf seine ausdrucksstarken grünbraunen Augen, die tausende Geschichten zu verbergen scheinen. Ein rotschwarz kariertes Flanellhemd spannt sich um seine breiten Schultern und die Muskeln darunter. Er sieht noch genauso gut aus, wie er es immer schon war. Nur hat die Zeit den attraktiven Jungen in einen atemberaubenden Mann verwandelt.
Schluckend schaue ich zu meinem Sohn, dann wieder zu Zach. »Danke«, sage ich leise und Zachs Brauen ziehen sich zusammen, während er den Blick über mich schweifen lässt. Ich hege keinen Zweifel daran, dass auch ich mich verändert habe. Mit dem Unterschied, dass die Jahre nicht so nett zu mir waren wie zu ihm. Ich habe ein paar Kilo zugelegt, vor allem während der letzten Monate, in denen ich meine Gefühle buchstäblich weggegessen habe. Meine Haut hat ihren jugendlichen Glanz verloren und mein Haar ist am Ansatz ausgewachsen, seit ich meine Frisörtermine alle zwei Monate nicht mehr wahrnehme.
»Shelby?«, fragt Zach. Unfähig zu sprechen, kann ich zur Bestätigung nur nicken. »Gott.« Seine Augen weiten sich, als er runter zu Hunter, dann wieder zu mir blickt. »Was machst du hier?«
»Mein ... mein Sohn Hunter und ich ziehen hier ein«, stottere ich, überrumpelt von seiner Anwesenheit. Mir war klar, dass meine Rückkehr bedeuten würde, ihn wiederzusehen. Allerdings ging ich davon aus, ihn zu meinen Bedingungen über den Weg laufen zu können. Und höchstens sporadisch.
»Was?«, erwidert er, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
Seine Frage ignorierend, mache ich mich daran, zur Treppe zurückzukehren. »Würde es dich stören, mir den Code für die Alarmanlage zu geben? Ich bin sicher, er steht irgendwo in den Papieren, die mir mein Anwalt geschickt hat, aber ...« Ich halte inne, und als Zachs Name gerufen wird, schaue ich nach links.
Auf der Veranda am Haus nebenan steht eine Frau. Zach und sie sind ein paar Monate nach meinem Verschwinden zusammengekommen. Bald darauf hat er sie geheiratet und sie hat Zwillinge zur Welt gebracht. Ich weiß all das und kenne auch diese Frau, die ich früher eine Freundin nannte. Jetzt hasse ich sie.
Abwesend höre ich ihn etwas zu ihr sagen, während Übelkeit und Trauer in mir aufwallen und meine Sinne überwältigen. Ich laufe die Verandastufen hinauf, auf jeden Schritt bedacht, um nicht hinzufallen. Dann schiebe ich mich an Zach vorbei. »Vergiss den Code. Ich werde ihn schon finden. Danke, dass du den Alarm abgestellt hast«, murmle ich, während ich durch die Tür gehe.
»Mom.«
»Komm, Schatz. Sehen wir uns um, dann müssen wir zum Laden.«
»Mom«, wiederholt Hunter und klingt verwirrt.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. »In dem Pizzaladen, an dem wir vorbeigefahren sind, habe ich die beste Pizza meines Lebens gegessen. Wir könnten uns zum Abendessen eine von dort holen.«
»Mom.«
»Die bin ich, Schatz«, entgegne ich mit einem rauen Lachen, als würden sich Glasscherben einen Weg meine Luftröhre hinabbahnen.
Hunter mustert mich einen Moment, ehe er einlenkt. »Pizza klingt gut. Ich will vorher noch Dad anrufen und ihm Bescheid geben, dass wir angekommen sind.«
»Klar«, stimme ich zu und beobachte, wie er sein Handy hervorholt und in die Küche verschwindet. Ich finde nicht, dass er in seinem Alter bereits ein eigenes Telefon benötigt, aber wie sonst auch hat sich sein Dad in dieser Sache nicht mit mir abgesprochen. Ihm ist egal, was ich davon halte. Er tut einfach, was ihm gerade passt.
»Du bist zurück?«, meldet sich Zach hinter mir zu Wort. Sofort versteife ich mich und schließe kurz die Augen.
»Jepp.« Die Arme um meine Taille geschlungen, wende ich mich zu ihm um, während sich mein Magen verknotet.
Als ich die Stadt verlassen hatte, gingen wir nicht im Streit auseinander. Wir hatten uns nicht angeschrien oder Dinge an den Kopf geworfen, die wir heute bereuen könnten. Zwischen uns stand einfach zu viel Schmerz, um das, was wir früher miteinander geteilt hatten, wieder zum Laufen zu bringen. Zach wusste das genauso gut wie ich. Als ich ihm von meinen Plänen erzählte, hielt er mich nicht davon ab.
»Du bleibst hier?«, fragt er, und ich nicke. Während er sich mit der Hand durchs Haar fährt, wandert sein Blick nach rechts, wo Tina zuvor gestanden hat, bevor er wieder zu mir sieht. »Der Code für die Alarmanlage lautet eins, zwei, drei, vier. Ich habe Pat geraten, ihn zu ändern, aber du kennst Pat«, murmelt er und ich stimme wortlos zu, weil ich genau weiß, wie stur Gramps war. Die Hände in den Vordertaschen seiner Jeans vergraben senkt Zach die Stimme. »Es tut mir wirklich leid wegen Pat.«
»Danke.« Ich grabe die Finger fester in mein Oberteil. Zachs Blick fällt auf meine Arme, mit denen ich mich selbst festhalte, und wird sanfter, bevor er mir wieder in die Augen sieht.
»Wenn du irgendetwas brauchst, bin ich nebenan.« Er hebt das Kinn in die Richtung und meine Welt kommt erneut zum Stillstand.
»Wie bitte?«, hauche ich.
»Ich wohne nebenan.«
Okay, das hätte ich mir gleich denken können, nachdem ich Tina auf der Veranda dort entdeckte habe, nur tat ich das nicht. Dass die zwei dort leben, ist nicht gut ... ganz und gar nicht. Nicht, dass ich etwas dagegen tun könnte. Es sei denn, ich will Hunter wieder in den Van verfrachten und im nächsten Jahr oder länger mit ihm darin wohnen. Ich denke nicht, dass mir das Bonuspunkte bei meinem Sohn einbringen würde.
»Okay«, flüstere ich, weil ich sonst nichts zu sagen habe. Ein vertrauter, liebevoller Ausdruck tritt kurz in sein Gesicht und mein Magen schlägt einen Salto. Auf eine gute Art, wie ich es seit Langem nicht mehr empfunden habe. »Wie dem auch sei ...« Ich halte inne und überlege, wie ich diesen Satz und diese Begegnung beenden kann. »Danke noch mal, dass du die Alarmanlage deaktiviert hast. Ich wünschte, ich hätte Zeit für eine längere Unterhaltung«, lüge ich, »aber ich muss noch vor Ladenschluss in die Stadt und Hunter mit Essen versorgen. Heranwachsende Jungs kommen ohne Lebensmittelnachschub nicht so gut zurecht«, sage ich mit einer Hand auf der Klinke, weil ich die Tür am liebsten zuknallen würde.
»Klar.« Er nickt und sieht über meine Schulter hinweg ins Haus. Kurz darauf kommt Hunter neben mir zum Stehen, sein Telefon noch in der Hand. »Nett, dich kennenzulernen, Hunter.«
»Sie auch ...« Mein Sohn schaut zwischen Zach und mir hin und her.
»Mr Watters, Schatz«, murmle ich und beantworte damit seine unausgesprochene Frage.
»Sie auch, Mr Watters«, wiederholt er.
Zachs Blick trifft auf meinen und einmal mehr werden seine Züge milder. »Man sieht sich, Shelby.«
»Jepp«, stimme ich zu, auch wenn es geschwindelt ist, da ich vorhabe, von dieser Sekunde an zu tun, als würde er nicht existieren. Trotz des Drangs, die Tür zu schließen, warte ich damit, bis er gegangen ist. Anschließend verharre ich einen Moment im Eingang und versuche zu verarbeiten, was gerade passiert ist.
»Woher kennst du ihn, Mom?«, will Hunter wissen.
»Als ich jünger war«, beginne ich und wende mich ihm zu, »waren wir Freunde.« Achselzuckend deute ich zu der Treppe, die in den oberen Stock führt. »Mein Zimmer befand sich damals am Dachboden – das beste im ganzen Haus –, und wenn du es vor mir erreichst, überlasse ich es dir.« Ich hebe herausfordernd die Brauen, dann sprinte ich los und bringe meinen Sohn damit zum ersten Mal seit Wochen zum Lachen, während er hinter mir die Treppe hochläuft.
»Wow, das ist mega.«
Über meine Schulter hinweg lächle ich Hunter zu, als er mit weit aufgerissenen Augen ins Zimmer kommt. »Ich habe dir ja gesagt, es ist das coolste im Haus.« Als Jugendliche habe ich es geliebt, meine Zeit hier oben zu verbringen. Trotz der schrägen Wände bietet dieser Raum viel Platz und durch die vier großen Dachflächenfenster hat man einen tollen Ausblick. Was auch meinem Sohn aufzufallen scheint, der aufgeregt im Zimmer herumwandert.
»Meinst du, ich könnte hier ein Teleskop aufstellen?«, fragt er, als er hinauf zum wolkenverhangenen Himmel starrt.
»Auf jeden Fall.« Im Vorbeigehen stupse ich mit meiner Schulter gegen seine und steuere die Couch in der Ecke an, die mit einem Laken bedeckt ist. Ich ziehe es runter. »Wenn wir schon dabei sind, wollen wir für dieses Ding vielleicht einen neuen Bezug kaufen?«, schlage ich vor, als ich von dem Blumendruck der Polster zu Hunters entsetztem Gesicht blicke.
»Jepp.« Er wandert zum Bett und befreit auch die Matratze von einem Laken. »Ich kann es kaum erwarten, Dad hiervon zu erzählen. Er wird das so cool finden«, murmelt er, und ich beiße mir auf die Zunge. Nein, dein Dad wir es definitiv nicht cool finden.
Max, Hunters Vater, ist wohlhabend aufgewachsen. Er hat nie etwas besessen, das secondhand war. Nach unserer Hochzeit bestand er darauf, dass ich das viktorianische Haus verkaufte, in dem ich nach meinem Collegeabschluss gelebt hatte. Stattdessen zog er mit mir in einen Neubau in einer klischeehaften Vorstadt, wo all seine Freunde wohnten. Kurz danach drängte er mich, all meine alten Möbel herzugeben, die ich gebraucht gekauft und über die Jahre hinweg renoviert hatte. Ich tat, wie geheißen, geblendet von Liebe und Hoffnung. Ich ließ mich von ihm in eine Frau verwandeln, die ich nicht war; die perfekt in ein Musterhaus passte und die er problemlos herzeigen konnte. Zusammen waren wir ein Paar ohne jeden Charakter.
»Mom«, ruft Hunter und reißt mich aus meinen Gedanken. Er hält einen Stapel Fotos in der Hand. »Wer ist das?«
»Das ist meine Mom«, sage ich und setzte mich zu ihm aufs Bett. Auf dem Bild sind Mom und ich zu sehen, lächelnd auf der Veranda, die Arme umeinandergeschlungen.
»Du siehst wie sie aus«, meint er nachdenklich. »Du hast ihre Augen und ihre Haare.«
»Findest du?« Ich betrachte Mom in der Aufnahme. Sie muss damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein; wunderschön, mit langen blonden Haaren, großen blauen Augen und einem Lächeln, das die Welt zum Strahlen brachte.
»Finde ich.« Er nickt und senkt die Stimme. »Vermisst du sie?«
»Jeden Tag«, gestehe ich ihm und nehme das Foto an mich. »Sie konnte die besten Umarmungen geben.« Tränen steigen mir in die Augen und ich blinzle sie weg. Als ich fünfzehn war, starben Mom und Dad bei einem Flugzeugabsturz. Mein Vater war der Besitzer und Pilot einer örtlichen Abenteuerfirma. Er hatte meine Mom mitgenommen, um Vorräte für ein paar Männer zu liefern, die auf einer der Inseln Bären jagten. Auf ihrem Rückflug schlug das Wetter um und sie stürzten über einem der Berge ab. Keiner von beiden überlebte. Danach zog ich hierher zu Dads Eltern.
»Hast du irgendwelche Bilder von deinem Dad?«
Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob ich mit Hunter je über meine Eltern gesprochen habe oder ob Max einmal nach ihnen gefragt hat. Wenn ja, muss es mir entfallen sein. »Unten an einer Wand hängen ein paar. Ich zeige sie dir.« Ich lehne mich an ihn, und als er den Arm um meine Schultern legt, bin ich so überrascht, dass ich kurz erstarre. »Ich hab dich lieb, Schatz«, flüstere ich, und obwohl er es nicht erwidert, freue ich mich, als sich sein Griff um mich ein kleines bisschen verstärkt.
Als sein Magen laut knurrt und den Moment durchbricht, lacht er und lässt mich los. »Ich bin am Verhungern.«
»Das können wir nicht zulassen«, meine ich amüsiert und erhebe mich vom Bett. »Gehen wir zu Joe’s. Hoffentlich ist die Pizza immer noch so genial. Wenn nicht, wirst du dich trotzdem durchquälen müssen, weil der Lebensmittelladen mittlerweile wahrscheinlich zu hat.«
»Gibt es so was wie schlechte Pizza überhaupt?«
»Ich schätze, wir werden es herausfinden«, murmle ich und mache mich auf den Weg nach unten, wo ich meine Handtasche schnappe, damit wir gehen können.
Als wir bei Joe’s ankommen, erkenne ich, dass sich während meiner Abwesenheit nichts daran verändert hat. Der Besitzer, Joe, ein älterer koreanischer Herr, ist hinten immer noch am Pizzamachen, während seine Frau Kim vorn an der Kasse über alles und jeden informiert bleibt. Während wir auf unsere Pizza warten, bringt sie mich bezüglich der Einwohner auf den neuesten Stand der Dinge, Zach miteingeschlossen. Sie erzählt, dass er nicht bloß ein Cop ist, sondern der Sheriff. Außerdem ist er single. Offenbar haben sich er und Tina vor neun Jahren scheiden lassen und Zach besitzt seither das volle Sorgerecht für seine beiden Kinder. Ich rufe mir in Erinnerung, dass es mir egal sein kann, ob Zach noch mit Tina zusammen ist oder nicht. Trotzdem überkommt mich Erleichterung bei dem Wissen, dass ich sie nicht miteinander sehen muss.
»Kann ich heute Nacht in meinem Zimmer schlafen?«, fragt Hunter, als ich mir nach meinem dritten Stück Pizza den Mund mit einer Papierserviette abwische.
»Wenn du das möchtest. Allerdings müssen wir dafür deine Sachen aus dem Van räumen, weil wir die Dinge im Haus erst waschen sollten.«
»Ist gut, dann können wir auch gleich den Rest reintragen.«
»Du willst den Van ausräumen?«, frage ich, ganz und gar nicht begeistert davon, all unser Zeug drei Treppen hochschleppen zu müssen.
»Jepp.« Er trägt seine Hälfte des Pizzakartons, den wir als Teller verwendet haben, zum Mülleimer.
»Wenn es das ist, was du willst«, stimme ich zu. Worte, die ich Stunden später bereue, als ich mich aufmache, den letzten Karton aus dem Wagen zu holen. Mir tut alles weh; meine Arme und Beine sind müde von der ganzen Tragerei und ich spüre deutlich, dass mein letztes Workout schon ein Jahr her ist. Jeder Muskel in meinem Körper protestiert.
Als ich höre, wie sich eine Tür schließt, drücke ich den Karton in meinen Händen an mich und spähe zum Haus nebenan. Ein hübscher blonder Junge hüpft die Treppen runter; er sieht Zach sehr ähnlich. Tina folgt dicht hinter ihm. Geduckt beobachte ich, wie die beiden in einen alten Pickup steigen. Erst als sie fortfahren, komme ich aus meinem Versteck.
Nachdem ich fünfzehn Jahre Zeit hatte, um mich mit Samuels Adoption abzufinden, sollte es einfacher für mich sein, Zachs Kinder zu sehen, die er mit einer anderen Frau bekommen hat. Doch das ist es nicht. Ich bin wegen dieser Sache immer noch verbittert. Was daran liegt, dass Zachs Zwillinge nur etwas mehr als ein Jahr nach Samuel geboren wurden. Tina ist also nicht lange, nachdem ich die Stadt verlassen hatte, schwanger geworden. Zach und sie führten nicht nur eine Beziehung, er hat auch eine Familie mit ihr gegründet. Vor allem aber hat er ihre gemeinsamen Kinder behalten.
Mit dem letzten Karton begebe ich mich zurück ins Haus und frage mich, wie ich all die Gefühle, die ich mit Zach verbinde, weiterhin ignorieren soll. So wie ich es während der letzten fünfzehn Jahre getan habe. Was einfach war, da er nicht direkt nebenan wohnte. Jetzt sehe ich mich mit den Gedanken an ihn konfrontiert und weiß nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll.
Mit meinem Kindle und einem Glas Wein in der einen Hand – ein echter Balanceakt – schnappe ich mir mit der anderen den Quilt vom Bettende und gehe durch die Glasschiebetür hinaus auf die erhöhte Terrasse vor meinem Schlafzimmer. Heute hat es zum ersten Mal seit unserem Einzug nicht geregnet, was heißt, dass der Nachthimmel klar genug ist, um die Sterne zu sehen. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf, mich mit einem guten Buch nach draußen zu setzen. Ich nehme einen Schluck von dem Wein, und als der Klang von Rockmusik ertönt, schaue ich nach links. Ein Licht über der Hintertür nebenan flackert auf. Ob Zachs Schlafzimmer wie meines an die Terrasse grenzt?
Den Gedanken von mir schiebend, wende ich mich meinem Kindle zu und verliere mich in dem Happy End einer anderen.
»Shelby.«
Ich zucke so sehr zusammen, dass der Inhalt meines Glases über den Rand schwappt und an meinen Fingern hinabrinnt. Ich sehe auf und entdecke Zach, der sich an das Geländer seiner Terrasse lehnt. Sein Blick ruht auf mir. In der Hand hält er einen Drink; die dunkle Flüssigkeit schimmert in dem diffusen Licht, das ihn von hinten erleuchtet.
»Mist, du hast mich erschreckt.« Ich presse die Hand mit meinem Kindle über mein rapide klopfendes Herz.
»Ich stehe schon eine Weile hier«, murmelt er und nimmt einen Schluck von seinem Drink. »Ich dachte, es wäre dir aufgefallen.« Er dreht das Glas zwischen seinen Händen, betrachtet mich eingehend und weckt in mir den Drang, mich in meinem Stuhl zu winden.
»Wenn ich in einem guten Buch versunken bin, könnte die Welt um mich herum untergehen, ohne dass ich es bemerke.« Schulterzuckend nippe ich an meinem Wein; ein Vorwand, um den Blick abwenden zu können. Erst jetzt wird mir klar, dass ich den Mann mir gegenüber nicht kenne. Ja, er sieht ein bisschen wie der Highschooljunge aus, mit dem ich vor Jahren zusammen war, aber nicht mehr so unbekümmert wie damals. Mehr, als würde das Gewicht der Welt auf seinen Schultern lasten.
»Habt ihr euch schon eingewöhnt?«
Die Beine unter mir hervorziehend, lasse ich den Kindle auf meinem Schoß ruhen, um Zach meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Anschließend rücke ich die Decke um mich zurecht.
»Es wird etwas dauern, bis wir alles auf Vordermann gebracht haben. Ich wusste nicht, dass Gramps ein Sammler war. Ich glaube, ich habe zehntausend Ausgaben vom National Geographic weggeschmissen, zusammen mit einhundert leeren Kartons und so ziemlich jedem Gegenstand, den man übers Teleshopping bekommt«, antworte ich, was Zach ein tiefes Lachen entlockt und mir wiederum ein Lächeln.
Er beugt sich weiter über das Geländer zwischen uns, wodurch sein blau- und gelbkariertes Flanellhemd noch mehr um seine breite Brust spannt. »Du hast nichts davon aufbewahrt? Wer weiß, wann du einen automatischen Kartoffelschäler gebrauchen könntest?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Wenn ich den Kram jedoch behalten hätte, könnte ich meine Schuhe nirgendwo verstauen, weil er alles ungeöffnet auf dem Boden seines Einbauschrankes gehortet hatte.« Zachs Grinsen wird bei meinem Bericht breiter, bevor sein Blick an mir vorbei zum Wald wandert, der sich hinter dem Haus erstreckt. Der amüsierte Zug um seinen Mund verschwindet.
»Ich werde ihn vermissen. Ich weiß, er ist schon vor Jahren weggezogen, aber unsere Gespräche werden mir fehlen«, murmelt er und hebt den Kopf zum Himmel, ehe seine Aufmerksamkeit wieder mir zufällt. »Warum bist du zurückgekommen? Als ich zuletzt mit Pat geredet habe, meinte er, du hättest vor, ihm nach Florida zu folgen.«
Seine Worte treffen mich unerwartet. Gramps hatte nie erzählt, dass er noch mit Zach in Kontakt stand. Nicht, dass ich ihn je danach gefragt hätte. In Anbetracht der Tatsache, wie nahe sich die beiden früher standen, sollte es mich nicht weiter wundern, dass sie noch miteinander sprachen, als ich die Stadt längst verlassen hatte. Außerdem waren sie vor Gramps Umzug nach Florida Nachbarn. Zudem ist Zach der Sherriff dieser Stadt. Trotzdem fühlt es sich seltsam an, dass er über meine Angelegenheiten Bescheid weiß, während ich bei ihm völlig im Dunkeln tappe.
»Wollte ich auch.« Ich atme aus und rücke erneut die Decke um meine Schultern zurecht. »Ich musste allerdings warten, bis ...« Ich lasse den Satz in der Luft hängen, weil ich nicht über meine Scheidung sprechen möchte, schon gar nicht mit Zach. »Als Gramps gestorben ist, gab es für mich in Florida nichts mehr, also entschloss ich, stattdessen hierher zurückzukehren.«
»Du wolltest nicht in Seattle bleiben?«
»Nein, ich brauchte etwas anderes. Als ich herausfand, dass mir Gramps sein Haus hinterlassen hatte, wusste ich, ich musste hierher zurückkommen«, flüstere ich ehrlich. Nach der Testamentsverlesung, bei der sich herausstellte, dass dieses Haus nun mir gehörte und ich damit machen konnte, was ich wollte, beschlich mich dieses Gefühl. Etwas sagte mir, dass ich wieder herkommen musste.
»Es ist eine gute Stadt«, murmelt Zach mit einem Ausdruck in seinen Augen, den ich nicht ganz deuten kann.
»Wenn ich mich richtig erinnere, war das hier der letzte Ort, an dem ich mich wirklich glücklich fühlte. Ich hoffe, Hunter wird es ebenso gehen«, erkläre ich leise und Zachs Miene wird sanfter.
»Er sieht aus wie du«, merkt er an, was mich sehr überrascht. Nicht in einer Million Jahre hätte ich erwartet, mitten in der Nacht auf der Terrasse meines Grandpas zu sitzen und mich mit Zach zu unterhalten. Schon gar nicht über meinen Sohn.
Ich setze mich aufrechter hin. »Wenn du mal seinen Dad gesehen hättest, würdest du anders darüber denken. Als Baby sah er mir ähnlich, aber jetzt nicht mehr.«
»Er hat deine Augen und dein Lächeln.« Er hält inne, um einen Schluck von seinem Drink zu nehmen. »Er wirkt wie ein guter Junge.«
»Er ist der beste.« Ich nippe an meinem Wein und versuche, das Gefühlswirrwarr in meinem Innern zu bändigen. »Ich ... ich glaube, ich habe deinen Sohn gesehen. Ähm, vor ein paar Tagen. Er sieht dir ähnlich«, erzähle ich, und kaum dass ich diese Worte ausgesprochen habe, will ich sie wieder zurücknehmen. Zach soll nicht denken, ich würde ihm nachspionieren.
»Mehr seiner Mom, aber er hat meinen Charakter. Ich kann mich nicht entscheiden, ob das eine gute Sache ist oder nicht. Meine Tochter Aubrey sieht hingegen aus wie ich und ist ein Engel durch und durch. Keine Ahnung, woher sie das hat.«
»Oh.« Ich beiße mir auf die Lippe, unsicher, was ich dazu sagen soll. Der Zach von früher war ein guter Kerl. Was ich von Tina nicht behaupten kann. Sie konnte ein ziemliches Miststück sein. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum wir befreundet waren. Nicht, dass die Auswahl, wen man sich hier zur Freundin nahm, besonders groß ausfiel. Meine Abschlussklasse bestand aus fünf Mädchen; keines davon mochte Tina, weshalb auch mich keiner von ihnen leiden konnte.
»Ich gehe besser rein«, holt mich Zach aus meinen Gedanken und richtet sich auf. »Ich muss morgen früh ins Revier.«
»Klar ... äh, schlaf gut.« Der Drang, ihn irgendwie zum Bleiben zu bewegen, ist so stark, es kostet mich all meine Kraft, den Mund zu halten.
»Du auch, Shelby. Sei vorsichtig, wenn du um diese Zeit hier draußen liest. Louie streift dann gern umher und sucht nach etwas zum Essen.«
»Louie?«, hake ich nach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einer Gemeinschaft wie in Cordova Obdachlose gibt, da das auch früher nie der Fall war.
»Louie ist ein schwarzer Bär. Normalerweise bleibt er in den Wäldern, aber er ist bekannt dafür, hin und wieder auf den Verandas ein Schläfchen zu halten.«
»Oh, Mann.« Ich springe auf und blicke mich nach irgendeinem Zeichen von Louie um, nicht sicher, wie ich darauf vergessen konnte, dass es hier draußen Bären gibt. Immerhin ist das Alaska. Als ich Zachs tiefes Lachen höre, ziehe ich die Brauen zusammen und wirble zu ihm herum. »Was ist so witzig?«
»Du bist in Alaska, Babe. Du hast hier jahrelang gelebt. Wie konntest du vergessen, dass es in den Wäldern Bären gibt?« Er nickt zu den Bäumen.
Babe. Warum nur beginnt bei diesem Wort ein Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch zu tanzen?
»Ich weiß das alles, nur ist es mir einen Moment entfallen.« Kopfschüttelnd sehe ich, wie der Ausdruck in seinen Augen erneut sanfter wird.
»Immer noch zuckersüß«, meine ich, ihn sagen zu hören, auch wenn er seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt hat, das ein Prickeln über meine Haut jagt.
»Ich sollte auch reingehen«, platzt es aus mir heraus und ich schnappe mir den Kindle sowie mein Weinglas. »Schlaf gut.« Mit geducktem Kopf kehre ich in mein Schlafzimmer zurück. Ich schließe die Tür hinter mir und steige eilig ins Bett, wo ich einmal mehr versuche, Zach Watters zu vergessen.
»Hallo?«, sage ich schläfrig in den Lautsprecher meines Handys. Draußen ist es schon hell, doch ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gerade mal sechs Uhr morgens ist.
»Shelby, ich habe schon dreimal angerufen«, beschwert sich Max, mein Exmann.
Ein Stöhnen unterdrückend, ziehe ich mir das Kissen über den Kopf. Am liebsten würde ich mich damit ersticken, nur um nicht mit ihm reden zu müssen. »Es ist erst sechs, Max. Ich bin noch nicht aufgestanden«, grummle ich, schlage die Decke zurück und setze mich auf. »Was ist los?«
»Ich will dieses Wochenende zu euch fliegen«, meint er und ich kämpfe gegen den Drang an, mein Mobiltelefon quer durchs Zimmer zu werfen oder zumindest so laut wie möglich zu schreien.
»Dieses Wochenende?«, hake ich nach, während ich mir übers Gesicht reibe. »Wir sind noch nicht mal eine Woche hier.«
»Ich habe ein paar Tage frei und würde Hunter gern sehen.«
Seufzend denke ich über seine Bitte nach. »Unsere Sachen werden in zwei Tagen geliefert. Nächste Woche starte ich in meinen neuen Job und Hunter hat ge...«
»Du hältst mich nicht von meinem Jungen fern«, unterbricht er mich und an seinem aufgebrachten Tonfall erkenne ich, dass er wahrscheinlich gerade an seiner stets präsenten Krawatte zerrt. Eine Marotte, die ich oft bei ihm auslöse.
»Ich meine nicht, dass du ihn nicht sehen darfst, Max«, stelle ich klar und wünschte, vor diesem Gespräch schon einen Becher Kaffee getrunken zu haben. Mindestens. »Ich erkläre dir nur, dass wir versuchen, uns hier einzugewöhnen. Kannst du ein paar Wochen warten, bevor du herkommst?«
»Das ist Bullshit. Ich kann nicht fassen, dass du von all den verdammten Orten in diesem Land ausgerechnet nach Alaska ziehen musstest. Ein Junge sollte bei seinem Dad sein.« Mein Herz setzt einen Moment aus und mein Puls schießt in die Höhe. Max und ich hatten keinen Sorgerechtsstreit, aber ich würde es ihm zutrauen, mich dahingehend vor Gericht zu zerren, nur weil ich nicht nach seiner Pfeife tanze.
»Max«, sage ich leise, als ich in die Küche gehe, »wir haben darüber gesprochen. Du kannst ihn jederzeit besuchen und in ein paar Jahren kann er zu dir fliegen, wann immer er Ferien hat«, erkläre ich und senke meine Stimme noch ein wenig. »Wir waren uns einig, dass er bei mir leben soll. Zumindest, bis er sechzehn ist. Danach kann er selbst entscheiden, bei wem er wohnen möchte.«
»Ich vermisse euch«, entgegnet er mit einem Seufzen, das mich dazu bringt, die Augen zu verdrehen. Ich weiß, dass er mich nicht vermisst. Sonst würde er seit unserer Trennung nicht eine Frau nach der anderen mit zu sich nehmen. Soweit mir bekannt ist, hat er sich sogar schon davor mit anderen getroffen. Scheiße, während unseres letzten gemeinsamen Jahres hatte er kaum einen Blick für mich übrig. Auch Hunter hat sehr unter der fehlenden Aufmerksamkeit seines Dads gelitten, als wir nach unserer Trennung noch in derselben Stadt lebten. Bei Max geht es immer darum, seinen eigenen Kopf durchzusetzen.
»Max, bitte warte noch ein paar Wochen, dann kannst du herkommen und so lange bleiben, wie du willst.« Das Angebot hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Ich habe mir geschworen, alles zu tun, um meinen Sohn zu behalten. Dazu gehört auch, mich mit seinem Vater im Haus meiner Kindheit rumzuschlagen, und das für mehr als nur ein paar Tage.
»Schön, wann?«
Ich schließe die Augen. »Nächsten Monat. Wann immer du willst. Lass es mich nur im Vorhinein wissen, damit ich keine Pläne für Hunter mache. Es gibt ein paar Camps, für die er sich interessiert.«
»Gut. Wo ist er jetzt? Ich habe ihn auf dem Handy angerufen, aber er ist nicht rangegangen.«
»Er schläft. Wie gesagt, es ist erst sechs hier und er war lange auf, weil er mit seinen Freunden aus Seattle über Skype geredet hat.«
»Du solltest ihn nicht so lange aufbleiben lassen, Shelby«, nörgelt Max, doch die Missbilligung in seiner Stimme überrascht mich nicht.
»Es sind Sommerferien, Max. Und lange aufbleiben bedeutet für ihn zehn, nicht drei Uhr morgens«, murmle ich und frage mich, wie ich es so viele Jahre mit diesem Mann ausgehalten habe. »Wenn er aufwacht, sage ich ihm, dass er dich zurückrufen soll.«
»Erzähl ihm nicht, dass ich zu Besuch komme. Das will ich selbst tun.«
»Wird gemacht«, grummle ich mit Blick zur Kaffeemaschine, stumm flehend, dass sie sich mit der Zubereitung meines Morgentrunks etwas beeilt.
»Wir reden später.«
»Wir reden später«, stimme ich zu, beende den Anruf und lasse das Handy auf die Arbeitsfläche sinken. Ich schenke mir einen Becher Kaffee ein und gehe damit nach draußen auf die Terrasse, wo bereits die Morgensonne warm auf mich herunterscheint.
Shelby
Mit dem Rücken gegen den Küchenschrank gelehnt, notiere ich noch ein paar Dinge auf meiner Einkaufsliste. Ich halte im Schreiben inne, als Hunter in seinem zerknitterten T-Shirt und Sweathosen in die Küche stolpert.
»Hast du gut geschlafen?«, frage ich lächelnd, während er sich auf einem der Esszimmerstühle niederlässt und die Stirn gegen die Tischplatte drückt. Ich kann mir denken, wie müde er sein muss. Gestern kam unser ganzes Zeug an, also haben wir den Großteil des Tages damit verbracht, Kartons ins Haus zu schleppen und auszupacken. In den zwei Tagen davor haben wir jeden Winkel unseres neuen Zuhauses geputzt und Gramps alte Sachen zum örtlichen Secondhandladen gebracht.
»Ja«, murmelt er, ohne aufzusehen, und bringt mich zum Lächeln.
»Du hättest ausschlafen sollen, Schatz.«
»Ich schlafe nicht gern aus«, murrt er und richtet sich gähnend auf.
Ich bekämpfe den Drang, die Augen zu verdrehen. Er genießt seinen Schlaf genauso wie ich, nur hat ihm sein Dad von klein an eingetrichtert, dass nur faule Menschen lang schlafen.
Als ich frisch mit Max zusammengekommen war, lachte er oft darüber, wie gerne ich schlief. Nach einer Weile zählten meine Schlafgewohnheiten, sowie viele andere Kleinigkeiten, zu jenen Dingen, die ihn an mir nervten. Was er einst süß oder liebenswert fand, packte er auf eine Liste mit Angewohnheiten, die ihm am Ende nicht mehr gefielen. Eine sehr lange Liste.
»Soll ich dir Frühstück machen?«
»Ich esse nur ein paar Cornflakes«, meint er, steht vom Tisch auf und nimmt sich die Milchpackung aus dem Kühlschrank.
»Wenn du fertig bist, fahren wir in die Stadt und besorgen uns unsere Angelscheine und ein paar Angelruten. Unterwegs nehmen wir uns irgendwo Mittagessen mit, dann zeige ich dir, wohin Gramps mich immer zum Fischen gebracht hat.«
»Echt?«, fragt er und strahlt übers ganze Gesicht, während er eine absurde Menge zuckrige Cornflakes in seine Schüssel voll Milch kippt.
»Definitiv.« Ich lächle und ziehe eine Grimasse, als jemand die Türglocke betätigt, deren grauenhafter Klang durchs Haus schallt. »Ich glaube, wir müssen das reparieren lassen«, sage ich, und Hunter lacht so ausgelassen, dass ich einen Moment verblüfft bin. Anstatt mich vorzubeugen und ihn zu umarmen, wie ich es gern tun würde, oder ihn auf eine andere Weise zu berühren, schenke ich ihm ein kleines Lächeln und mache mich auf zur Tür.