Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen - Luise Link - E-Book

Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen E-Book

Luise Link

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Beschreibung

Im grenzenlosen Riesenstaat der Zukunft sind Erdteile und Nationen, Regionen und Religionen, Milliarden von Menschen vereint. Eine Elite von Gleichen führt unter dem Motto der Bewegung - Gleichheit und Gerechtigkeit - mit einem PRIMEQUI als Führer auf Zeit das gigantische System. Alle vier Jahre sind die Bürger, die Gleichen, zur System-Zustimmung aufgerufen. Dort, in Mondia, lebt Anne, eine junge Frau, die nach dem Aufwachsen bei mehreren Eltern und Ausbildung in der Allgemein-Akademie eine Anstellung in einem Verlag erhält. Ihre erste Aufgabe dort: Sie soll eine Artikelserie über die ehemals berühmte Pianistin und Autorin Nora Fichtner schreiben. Diese ist wegen ihrer politischen Überzeugungen vor vielen Jahren in Ungnade gefallen. Warum interessiert man sich für die ältere Frau? Arbeitet sie noch immer im Untergrund gegen das System? Ist Verlagsleiter Schneider dessen Agent? Der Weg in die Vergangenheit konfrontiert Anne auch mit ihrem eigenen Leben: der frühen Trennung von ihren leiblichen Eltern, konfliktreichen Liebschaften und dem Zwiespalt zwischen ihrer beruflichen Verpflichtung und ihrem Gewissen. Ein Zukunftsroman von Ideen, Politik und Macht - vom Überleben der Schönheit und von der Kraft der Liebe.

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Prolog

Wer im Sommer frühmorgens um sechs, halb sieben vom Westen her in gemächlichem Tempo auf die große Stadt zufährt, entdeckt ihr reizvolles Antlitz. Die Autobahn ist fast leer, die Sonne steht hinter der Skyline, bereit hinaufzusteigen und ihren Sonnenstrahlenregen über den Hochhäusern auszuschütten. Man hat ihnen goldene Kappen verpasst, spitze, flache, gewölbte. Die neuen Tempel. Ein kurzer Moment von blau, orange bis feuerrot, prächtig, aber bald so gleißend, dass man geblendet zur Sonnenbrille greift. Schon lange beeindruckt diese Stadt, die Mondäne, von ferne. Fast ein Menschengedenken. Manche Veränderungen entblößen sich nicht. Sie finden statt, in den Gebäuden. Die Menschen, die in ihnen arbeiten oder leben, hat sie ergriffen. Erinnerungen verblassen, eine neue Normalität etabliert sich. Diejenigen, die vergleichen, die Stirn runzeln, protestieren, schreien würden, haben geschwiegen, schweigen oder sind verschwunden. Bestimmt das Bewusstsein das Sein? Wer die Köpfe der Menschen besetzt, besitzt die Macht? Ein warmes Frühjahr mit Spargelverkaufsständen, süßen Erdbeeren und prallen Kirschen, und jetzt ein heißer Sommer. Die Bewohner der Stadt leben angenehm. Gutes und ausreichendes Essen, für jedermann eine anständige Wohnung, man wird in Ruhe gelassen.

Wer dabei noch unzufrieden ist, mit dem stimmt doch etwas nicht.

Inhaltsverzeichnis

1. Fantasietanz

2. Erinnerung

3. Wiegenliedchen

4. Kinderszenen

5. a-moll, allegro viavce

6. Kinderszenen

7. Kinderszenen

8. Coda

Epilog

1

Fantasietanz

„Das Einzige, was bleibt, ist die Schönheit.“

Nora

Das Einzige, was bleibt, ist die Schönheit, hat Eleonore Fichtner damals in einer Talkshow gesagt. Dass ich mich nach so langer Zeit daran und an ihren Namen erinnerte, lag wohl an der offensichtlichen Diskrepanz dieser Aussage zu ihrem Aussehen. Den anderen Teilnehmern der Gesprächsrunde ging es anscheinend ebenso. Einige grinsten, ein, zwei lachten. Ob der Moderator die entstandene Peinlichkeit ausnutzen wollte, weiß ich nicht. Jedenfalls forderte er sie auf, ihre Aussage doch mal zu erläutern. Zeitgleich flimmerte ihr Gesicht in unvorteilhafter Großaufnahme über die Mattscheibe.

„Was Schönheit besitzt“, antwortete sie, „schenkt uns für immer Freude, auch wenn nur die Erinnerung daran bleibt. John Keats, der englische Dichter, hat es unübertroffen formuliert:

A thing of beauty is

a joy for ever

Its loveliness increases;

it will never

Pass into nothingness;

but still will keep

A bower quiet for us,

and a sleep

Full of sweet dreams, and health,

and quiet breathing.”

Na gut, anders gemeint, trotzdem, auf welchem Planeten lebt die denn, dachte ich. So was von antiquiert! Deklamiert Gedichte! Und schön sieht anders aus. Ihre Haare waren grau, trocken, und sie hatte Falten. Überhaupt, jenseits von Gut und Böse. Ich hatte ihren Namen vorher nicht gekannt und ihn danach nie wieder gehört.

Und jetzt? Was denkt sich Edwin Schneider dabei? Wen interessieren so alte Leute? Zugegeben, bei ihm ist das ein bisschen anders. Der hat sich im Verlag breitgemacht, ist der große Zampano und S hat behauptet, dass er immer noch den jungen Weibern hinterher ist. Mich hat er nicht angemacht, aber dass er die Jüngeren bevorzugt, das glaube ich schon.

Zum Beispiel im Juni, beim Bewerbungsgespräch. Der Verlag hatte drei Leute, die in die engere Auswahl gekommen waren, in seinen Ehrfurcht-gebietenden Gebäudekomplex am Fluss eingeladen.

Wir waren wohl eine halbe Stunde zu früh bestellt worden. So lange warteten wir nämlich vor Schneiders Büro. Der Doktor der Philosophie, der wirkte weltfremd. Erzählte lang und erschöpfend von Sokrates und Platon und begründete seine Vorliebe für die Gedankenwelt des Ersterwähnten. Ach du liebe Scheiße! Die Ü-40-Akademikerin mit einschlägiger Berufserfahrung und besten Referenzen, wie sie kundtat, nahm ich schon ernster. Die sah gut aus, war stilsicher gekleidet, lange pechschwarze Haare, perfekter Teint, ein ziemlicher Knaller. Im Interview hatte die dann auch die Nase vorn, wusste so ziemlich auf alles eine Antwort, switchte zu Esperanto, als Schneider auf unsere Sprachkenntnisse zu sprechen kam. Piano spielen, das konnte sie allerdings nicht und der Doktor der Philosophie nur Geige, aber ich habe mich damals sowieso gefragt, warum das von Belang für eine journalistische Tätigkeit sein sollte.

Mir konnte das recht sein. Ich bin zwar ein ziemlicher Dilettant, aber immerhin habe ich drei Jahre Klavierunterricht gehabt, dabei allerdings durch Talentfreiheit meinen Lehrer genervt. Die Tatsache an sich kam aber offensichtlich gut an. Denn, wer wurde genommen? Eben. Ich.

„Wir brauchen die Jugend! Wir Verlage sind wohl gelegentlich etwas verstaubt, aber in Ihrem Alter, da hat man noch den Kopf am Puls der Zeit“, erklärte Schneider mir seine überraschende Entscheidung hinterher.

Häh?, den Kopf am Puls der Zeit? hab ich damals gedacht, aber nicht lange. Glück hinterfrage ich grundsätzlich nicht.

Wie Edwin der Große sich das vorstellt, von dieser Frau Fichtner schöne Fotos zu machen? Da ist doch mit Filter kaum noch was möglich.

„Ach, da bin ich aber gar nicht gut getroffen!“, wird sie ausrufen. Nein, nein, verehrte Frau, so genau sehen Sie aus. Aber natürlich werde ich das nicht sagen, eine Unmenge weiterer Fotos knipsen, bis endlich eines halbwegs zu gebrauchen sein wird und der Verlag zufrieden ist. Wer zahlt, bestimmt, hat meine Oma immer gesagt.

Ich sitze an diesem sonnenverwöhnten Augustnachmittag im verlagseigenen Kleinwagen vor ihrer Tür, es gab in der ganzen Straße nur diesen einzigen Parkplatz. Es ist verdammt heiß hier drin, der winzige Methusalem hat noch eine Klimaanlage, aber die im Stehen laufen zu lassen, das kann man sich bei den Umwelt-Wächtern an jeder Ecke nicht leisten. Wenn das einer mitkriegt, wird zumindest an die Scheibe geklopft. Dass dieser Benzin-Furzer überhaupt noch auf der Straße fahren kann, ist ein Wunder, bei den Werten. Aber Schneider hat eben gute Beziehungen, der kriegt so manches zustande. Manchmal nutzt er den Smartie selbst, wurde mir gesagt. Hat aber auch eine schöne Farbe, dunkelrot, genau wie die Smarties, die süßen kleinen Schokobonbons, die die Leute früher in rauen Mengen gefuttert haben sollen, als noch nicht bekannt war, wie schädlich Zucker ist. Die Türen kann ich auch nicht aufmachen, sonst sieht sie mich noch von ihrem Fenster aus und denkt, sie muss dieses junge Ding, das, aus welchen Gründen auch immer, eine halbe Stunde zu früh zum Termin erscheint, hereinbitten. Da schwitz ich schon lieber.

Mein erster bedeutender Auftrag mit so einen Promi als Zielobjekt. Bei solchen Leuten kann man nicht einfach vor der Zeit klingeln. Warum gerade ich so ein Glück habe, ist mir immer noch rätselhaft. Vielleicht hatte Schneider auch sofort einen Narren an mir gefressen. Soll ja vorkommen.

Eleonore Fichtner ist schon ziemlich alt. Meine zweite Mutter hat allerdings mal gesagt, wie alt jemand ist, kommt auf das eigene Alter an. Zum alten Eisen gehört sie anscheinend wirklich noch nicht. Jeder, dem ich erzählt hab, dass ich eine Artikelserie über sie verfassen soll, schien sie zu kennen, obwohl sie nach meinen Erkenntnissen schon lange nicht mehr konzertiert. Von neuen Buchveröffentlichungen ist mir auch nichts bekannt.

In Zukunft erzähl ich sowieso nichts mehr. Schneider hat mich gestern ins Büro gerufen und mich zur Verschwiegenheit verpflichtet.

„Ihnen ist wohl hoffentlich klar, dass Sie über Ihre beruflichen Aufträge nicht sprechen dürfen, nicht wahr? Sie sind zum absoluten Stillschweigen verpflichtet. Zuwiderhandlungen haben zumindest eine Abmahnung zur Folge, je nach Bedeutung allerdings auch Ihren Rauswurf mit einer kräftigen Konventionalstrafe. Halten Sie also Ihre Zunge im Zaun!“

Häh?, hab ich bei der neuerlichen Sprachverhunzung gedacht, ich musste mich ziemlich zusammenreißen, um nicht los zu prusten. Aber meine Angst vor seinem langen Arm hat mich gezügelt. Na ja, bei ihrem Zwei-Namen hat die Fichtner einen Bonus für Bekanntheit. Bei sechsundzwanzig Anfangsbuchstaben hält sich beim Normalbürger die Unverwechselbarkeit in Grenzen. Allein im Verlag gibt es dreizehn S. Und mich gibt es gleich fünfzehn Mal. Wenn es drauf ankommt, kann man zwar eine Zahl hinzufügen, die Straße, in der man wohnt, oder das Unternehmen, in dem man arbeitet, dann weiß man doch, wer gemeint ist. So ist das eben. Die Absicht dahinter ist erst einmal gut, bei Bewerbungen kann man jetzt weder Geschlecht noch Herkunft erkennen. Personen zu speichern, geht bestimmt auch effektiver damit, Zahlen sind schließlich unendlich. Was dabei letztlich herauskommt, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

An die Bücher von Eleonore Fichtner ranzukommen, das ist unmöglich. Ich habe es bei meiner Recherche natürlich versucht, aber überall hieß es „Auflage vergriffen, E-Book nicht mehr erhältlich.“ Und antiquarisch war auch nichts zu haben. Komischerweise kriegt man auch im Netz nichts über sie heraus, obwohl sie doch so vielen bekannt ist oder war. Mehr schlecht als recht bin ich vorbereitet, hoffentlich kann ich das eine Zeitlang verbergen, bis ich die Gründe für mein Halbwissen erklären kann.

Endlich, nachdem ich sicher schon zwanzig Mal draufgeschaut habe, zeigt mein Phone fünfzehn Uhr an. Ich steige aus, schließe die Tür, verriegele meinen kleinen Lebensabschnittsgefährten und gehe langsam zur Auffahrt ihres Hauses.

Mann, das nenn ich nobel. Als ich die Türklingel bediene, höre ich statt Gebimmel Klaviermusik. Was Altes aus der Romantik, an das ich mich dunkel erinnere. Das muss vom altehrwürdigen Robert Schumann sein, ein Stück, das mir mein Lehrer eintrichtern wollte, ich aber trotz wochenlanger Bemühung nie richtig spielen konnte. Ich fand es in meiner Bearbeitung absolut schrecklich, aber jetzt gefällt es mir recht gut.

Eine elegant gekleidete ältere Frau öffnet mir die Tür und lächelt. Das muss Nora Fichtner selbst sein. Sie ist groß und schlank, schlanker als damals im Fernsehen. Ihre Haare sind raspelkurz geschnitten und noch grauer geworden. Komisch, dass sie bei einem so riesigen Anwesen kein Hausmädchen hat. Sie lächelt.

„Ich habe Sie schon erwartet, Frau“, sie zögert etwas, „A“.

Ich halte meinen Medienausweis hin.

„Der guten Ordnung halber“, sage ich.

Sie nimmt meinen Ausweis, schaut einige Zeit darauf.

„Was ist denn Ihr richtiger Name? Ihre Mutter hat sie sicherlich nicht nur A genannt, oder?“

Oh, Mann, das läuft nicht rund. Wir stehen immer noch in ihrem großen Foyer mit den Marmorböden, dicken Teppichen, riesigen schwarzglänzenden Garderobenschränken, einem Leuchter mit mindestens zwanzig illuminierten Kugeln in der Mitte des Eingangsraumes, der geschätzt drei Mal so groß wie meine ganze Wohnung ist. Eine geschwungene, ebenfalls marmorne Treppe führt rechter Hand in das obere Stockwerk.

Ihre Frage ist geeignet, alle unangenehmen Bruchstellen meines Lebens gleich am Anfang und in Sekunden bloß zu legen.

„Anne“, sage ich und verschweige den ganzen vertrackten Rest.

Sie mustert mich, ihre Antwort lässt einen Moment auf sich warten.

„Prima, Anne, nennen Sie mich Nora“, sagt sie dann.

Sie geht voraus, bedeutet mir mit dem Arm, ihr zu folgen. Das ebenerdige Wohnzimmer, eher ein eleganter Salon, ist noch einmal deutlich größer als das Foyer. Wir nehmen auf einer beigen lederbezogenen Wohnlandschaft Platz. Nora nickt mir zu, sie lächelt ein wenig, ich soll wohl anfangen.

„Der Verlag hat mich für heute ja bereits angekündigt. Ich vermute, man hat Ihnen meine Aufgabe und die Zielsetzungen meiner Arbeit schon kurz erläutert?“

Statt einer Antwort lächelt Frau Fichtner wieder, wiegt ihren Kopf leicht hin und her.

„Mein Vorgesetzter, unser Chefredakteur, hat sie als eine Person des öffentlichen Interesses charakterisiert, die etwas in den Hintergrund getreten ist. Nun soll Ihnen mit einer Artikelserie, gegebenenfalls einer Biografie, der Weg in erneute Publizität, wieder mehr Aufmerksamkeit geebnet werden.“

„Schön“, entgegnet Nora. „Und der Chefredakteur heißt Edwin Schneider, nehme ich an?“

„Das ist richtig. Kennen Sie ihn?“

Nora wiegt wieder ihren Kopf, gibt aber keine Antwort.

Sie erhebt sich und holt, wohl aus der Küche, ein Tablett mit Geschirr, Kaffee und Gebäck.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

Ihre selbstverständliche Art überrascht mich. Als wäre ich zum Plausch bei einer Wohnungs-Nachbarin eingeladen, fast so fühle ich mich. Dabei ist es offensichtlich, dass sie eine Prominente ist oder war, zumindest ziemlich viel Kohle hat.

„Gern“, sage ich und halte meine Tasse hin.

Sie reicht mir die Gebäckschale.

Eine Weile trinken, essen und schweigen wir gemeinsam.

„Kann ich dann mit dem Interview beginnen, Nora?“

„Das – leider nein. Ich gebe keine spontanen Interviews, schon lange nicht mehr. Sie müssten mir die Fragen vorher hereinreichen, damit ich sie prüfen und mich ein wenig vorbereiten kann.“

Sie steht auf.

Die unerwartete und etwas schroffe Ablehnung trifft mich nach all der Liebenswürdigkeit unvorbereitet. Ist sie doch eine Diva, wenn man sie länger kennt?

Ich stehe auf, packe Notizblock und Notebook zusammen.

„Hat der Verlag Ihre Mailadresse, damit ich Ihnen meine Fragen elektronisch übermitteln kann?“, frage ich.

„Schreiben Sie sie auf und werfen Sie die Liste in meinen Briefkasten, bitte nicht später als übermorgen. Sie können nächste Woche zur gleichen Zeit vorbeikommen, wenn Ihnen die Zeit passt.“

Ich tue so, als müsse ich den Termin in meinem Smartphone prüfen. Ich weiß genau, dass ich nichts vorhabe, ich bin nur für diese Aufgabe abgestellt.

„Der Termin nächste Woche passt mir sehr gut. Vielen Dank, Frau Fichtner.“

Sie schaut für einen Augenblick ein wenig überrascht, dann lächelt sie und begleitet mich hinaus.

„Wie ist sie denn so?“, will S wissen.

S und ich haben unsere Schreibtische diesen Monat nebeneinander. Wir kommen gut aus, eigentlich wär es schöner, man könnte mal länger nebeneinander sitzen. Wird aber von oben nicht gewünscht, weiß der Teufel, warum. Unvorsichtigerweise habe ich vor einiger Zeit den Termin mit Nora Fichtner erwähnt. Da hatte mich Schneider noch nicht vergattert, dass ich niemandem ein Sterbenswörtchen erzählen dürfte. Und mit Rauswurf und Konventionalstrafe gedroht hatte er auch noch nicht. Sibel – so heißt S nämlich und so nenne ich sie, wenn wir allein im Büro sind – wird mich für komisch bis verrückt halten, wenn ich jetzt so heimlichtue. Ob ich sie ins Vertrauen ziehen soll? Dann werde ich aber erpressbar, und ganz genau weiß ich doch gar nicht, ob sie meine Freundin oder meine Feindin ist. Scheiß-Dilemma, hat meine Oma immer gesagt.

„Ich war nur ganz kurz dort, sie will die Interview-fragen vorher schriftlich haben“, erzähle ich einen Teil der Wahrheit. „Und sprich bitte nicht drüber, dass ich dir was erzählt habe. Es hat Gründe.“

Sibel hakt nicht weiter nach. Entweder hat sie das Interesse verloren oder sie hat mal wieder Angst vor der Sprachaufzeichnung oder Webcam-Aufnahme. Deshalb redet sie so wenig, was für mich, ehrlich gesagt, ziemlich übertrieben, fast paranoid, ist. Klar, es gibt einige, die vermuten, dass man gefilmt wird. Aber, wer hätte denn die Zeit, all den langweiligen Mist zu sichten? Und außerdem, wenn man nichts zu verbergen hat, kann einem das doch völlig egal sein.

Die letzten Tage haben sich hingezogen wie Kaugummi. Meine Fragen an Nora Fichtner hatte ich schnell formuliert, zumindest der Anfang ist ja kein Hexenwerk. Ich hänge im Büro herum, habe nichts zu tun. Von effektivem Potentialeinsatz ist unser Verlag weit entfernt. Das scheint aber niemanden zu jucken, den Schneider auch nicht. Die Mittel für alles kommen anscheinend immer irgendwo her. Als ich ihm die vorformulierten Interviewfragen zur Absegnung vorgelegt und ihn davon in Kenntnis gesetzt habe, dass ich erst in der nächsten Woche zu ihr gehen kann, hat er nur genickt. Von einer anderen Aufgabe bis dahin erwähnte er nichts.

„Soll ich in der Zwischenzeit eine andere Arbeit erledigen?“, habe ich ihn gefragt.

„Konzentrieren Sie sich, versuchen Sie, sich vorzubereiten. Nora Fichtner ist ein harter Brocken, da brauchen Sie schon einige Munition.“

Mit diesen Worten war ich entlassen.

Das rote Benzinerchen hat mich zu ihrem Haus gebracht. Die Scheibenwischer hatten Mühe, des Regens Herr zu werden, so tratscht es. Der Parkplatz in ihrer Straße ist wieder frei, so viele Autos gibt es ja auch nicht mehr. Ich verriegele die Türen, spanne meinen Regenschirm auf und stakse über die zahlreichen Pfützen zu ihrem Hauseingang. Ich läute. „Fantasietanz“, so heißt das Schumann-Stück, das statt Gebimmel ertönt. Ich musste meine ganzen alten Noten durchblättern, bis ich es endlich gefunden hatte. Sie öffnet wieder selbst die Tür, nirgendwo ein Laut im Haus, der Leben signalisieren würde. Sie wohnt wohl mutterseelenallein hier.

„Hallo, Anne, ich habe Sie schon ankommen sehen. Was für ein hübscher Oldtimer! Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie herein!“

Wenn man dem freundlich-fröhlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht glauben kann, freut sie sich wirklich. Sie deutet mit der Hand in Richtung des Salons, ich meine Kaffeeduft wahrzunehmen.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“, sagt sie im Wohnzimmer.

Auf dem Couchtisch steht eine hübsche Porzellankanne in schwarz-mint-gelb auf einem Stövchen. Bauhausangehaucht. Dazu Milchkännchen, Zuckerdose und Kaffeetassen in gleichem Dekor. Und Fotoalben. Attraktiv, sehr stylisch. Über hundert Jahre rückwärts.

Sie blickt mich fragend an, ich nicke. Sie gießt mir eine Tasse Kaffee ein. Ein vielversprechender Anfang, unsere Kommunikation ist erstaunlich vertraut, so, als ob man sich bereits ohne Worte versteht. Aber vielversprechend begonnen hat es ja auch beim letzten Mal.

Wir schweigen eine Weile zusammen, ich lasse die Eleganz des Raumes, aber auch die Stille auf mich wirken.

„Sie haben meine Fragen bekommen?“

Nora nickt.

„Sind Sie mit allen Fragen einverstanden?“

„Fangen wir doch mit meiner Kindheit an. Das wird einige Zeit dauern – wenn Sie die haben, Anne“, schlägt sie statt einer Antwort vor.

„Herr Schneider hat mich für die nächsten Wochen ganz allein für diese Aufgabe abgestellt. Wir haben alle Zeit der Welt“, antworte ich, etwas zu eilfertig und willfährig, wie ich sofort darauf selbst bemerke.

Nora quittiert meine Bemerkung mit einem kurzen Zusammenziehen der Brauen, dann lächelt sie wieder.

„Ich würde unser Gespräch gern aufzeichnen. Sind Sie damit einverstanden, Nora?“

„Doppelt genäht hält besser, nicht wahr“, antwortet sie.

Ihr Spruch erinnert mich an Schneider.

Sie öffnet eines der Fotoalben.

„Schauen Sie mal, Anne, die beiden jungen Leute hier sind meine Eltern, bei ihrer Hochzeit. Sehen Sie die hohen Backenknochen meiner Mutter? Sie war eine sehr aparte Frau, finden Sie nicht? Vater nannte sie Malika, was im Mongolischen so viel wie Engel und auch Königin heißt. Er hat sie bis zu ihrem Tod bewundert, verehrt und geliebt. Und zusammengehalten haben sie, wie Pech und Schwefel, und sich niemals betrogen. Wenigstens ist es das, was ich weiß.

Nora Fichtner nippt an ihrer Tasse, gießt sich neuen Kaffee nach.

„Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Mein Vater hatte ein kleines Handwerksunternehmen, meine Mutter war zuhause. Das war früher üblich, dass die Frauen nur für Haushalt und Familie da waren. Am besten hat mir als Kind gefallen, dass Mama jeden Mittag, wenn ich aus der Schule kam, ein leckeres Mittagessen für uns vorbereitet hatte, für mich und meinen Vater. Geschwister hatte ich keine, Mutter konnte nach meiner Geburt keine mehr bekommen, obwohl Vater sich so sehr einen Nachfolger für sein Geschäft gewünscht hatte. Und ich hatte von Anfang an zwei linke Hände, so dass ich für einen Handwerksberuf nicht in Frage kam. Aber fürs Klavierspielen, da waren diese beiden Hände geeignet und das stellte sich sehr früh heraus.

Sehen Sie hier“, sie deutet auf ein Foto auf der nächsten Seite, „das war mein erstes Instrument. Ein Harmonium, das mein Vater von seinem Großvater geerbt hatte. Ich versuchte ihm schon früh seine Töne zu entlocken. Musikinstrumente haben auf mich, seit ich denken kann, große Anziehung ausgeübt. Ich mag wohl fünf, sechs Jahre alt gewesen sein, da verbrachte ich meine Zeit gern auf dieser hölzernen Sitzbank, die vor unserem Harmonium stand. Ich zog an dessen Registern, drückte die Tasten. Aber meine Beine waren zu kurz, um die Schöpf-Pedalen, die die Luft ins Instrument befördern niederzutreten. Das Instrument blieb stumm. Irgendwann hatte mein Vater ein Einsehen und kaufte mir ein gebrauchtes Klavier. Nach Mama und Papa, meinem Fahrrad und Pudding-gefülltem Streuselkuchen war eine weitere große Liebe geboren. Und bis heute sind es die Tasteninstrumente geblieben.“

Nora steht auf und geht zum Flügel an der Fensterseite des Salons. Sie beginnt mit dem „Fantasietanz“ von Schumann.

„Das Stück kennen Sie ja schon von meiner Klingel, nicht wahr?“, lacht sie, als sie das erste Stück beendet hat.

Sie greift wieder in die Tasten, und je länger sie spielt, je länger die wunderbare Musik den Raum erfüllt, desto mehr scheint sie mich vergessen zu haben.

Ich lehne mich entspannt zurück. Es haben Leute schon schwerer ihr Geld verdient.

„Ich glaube nicht an Gott, aber wenn man sich Göttliches vorstellen sollte, käme mir zuerst die Musik in den Sinn. Oder die Schönheit, ganz allgemein. Und die Liebe, die vielleicht noch vor allem anderen.“

Sie lächelt nach diesen Worten, wie mir scheint, ein wenig verlegen. Wahrscheinlich schämt sie sich, dass sie einem eigentlich wildfremden Menschen gegenüber so offen gewesen ist. Dass sie sich dazu hat hinreißen lassen, verwundert mich etwas. Sie ist doch ein Profi, gegenüber Journalisten, die man erst ein, zwei Stunden kennt, sollte man etwas vorsichtiger sein. Sie setzt sich wieder auf die Couch und gießt sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

„Was für Ihre Leser vielleicht ganz interessant wäre, können Sie auf dem nächsten Foto sehen.“

Sie blättert einige Seiten um, dann hat sie es gefunden.

„Hier sitze ich in der Küche bei meiner Mutter. Das Foto hat mein Vater gemacht, weil es den Endpunkt einer Entwicklung in meiner Kindheit dokumentiert.“

Sie deutet auf den Teller, der vor dem kleinen Mädchen steht. Nora, acht, neun Jahre alt. Auf dem Teller liegt ein großes Stück Wurst, Fleischwurst, so wie es sie heute noch gibt, daneben etwas Undefinierbares, ich vermute, Senf oder irgendeine Sauce, die man damals dazu aß. Das Kind lacht.

„Papa hat den Augenblick festgehalten, an dem ich wieder Wurst und Fleisch gegessen habe. Das war lange Zeit nicht so gewesen.“

Ich frage nicht, warum. Ich unterbreche die eintretende Pause nicht, sie soll sich ohne Hast, ohne Druck zurückerinnern, dann sind ihre Äußerungen fast spruchreif und ich brauche nicht mehr allzu viel überarbeiten. Ich staune über mich selbst, dass ich die Grundsätze fürs Interviewen, die sie mir im Journalistenkurs an der Allgemein-Akademie beigebracht haben, in der Realsituation so eins zu eins umsetzen kann. Prima, Anne! Eigenlob motiviert, wenn fremdes Preisen deiner Leistung meistens unterbleibt.

„Sie wollen sicher wissen, warum das so ein großer Augenblick war, warum ich lange kein Fleisch mehr gegessen hatte.“

„Ja, das ist sicher außerordentlich interessant, gerne, unbedingt“, sage ich und nicke dazu.

Meine Antwort scheint ihr nicht gefallen zu haben. Sie schweigt mehr als einen Augenblick. Ob sie so verstimmt ist, dass sie gleich die Diva raushängen lassen, vielleicht unsere Sitzung sogar abbrechen wird?

„Ich erinnere mich noch ziemlich genau an jenen Tag, der das Ganze in Bewegung gesetzt hat“, setzt sie dann doch, einige Schrecksekunden später, ihre Erinnerungen fort. „Anfang Januar, Februar muss es gewesen sein. Ich war hinausgegangen ins Freie. Schon als kleines Mädchen liebte ich es, allein spazieren zu gehen, besonders bei rauem Wetter, wenn es stürmte, regnete oder schneite. Wenn der Wind mir das Haar zerzauste, wenn ich mal wieder ohne Regenschirm hinausgelaufen war und mir die Regentropfen ins Gesicht klatschten, wenn die Schneeflocken sich auf Stirn und Nase setzten, ich sie auf meinen Lippen schmecken konnte, fühlte ich mich der Natur so wunderbar nah. Dieses Entzücken, gepaart mit undefinierbarer Traurigkeit, ich glaube, man kann es nur auf dem Land empfinden, wo oft noch die Natur, nicht die Zivilisation regiert. Als ich nun auf meinem Gang am Nachbarhaus vorbeikam, hörte ich plötzlich laute Schreie. Ganz hoch, schrill, verzweifelt, Schreck-geplagt. Ich konnte nicht weitergehen, ich war wie erstarrt, schloss die Augen. Nur nichts sehen! Wieder diese Schreie, Todesschreie. Ich hielt mir die Ohren zu, wartete. Irgendwann – waren es Sekunden oder Minuten – nahm ich die Hände von meinen Ohren. Stille, dann Stimmengewirr. Ich öffnete die Augen, schaute in Richtung Nachbarhaus. Auf dem Hof, in einem langen Metall-Bottich, so lang wie zuhause unsere Badewanne, lag etwas. Wasserdampf stieg aus dem Bottich auf. Jetzt hoben sie einen Körper heraus, so groß wie ein Mensch. Ein Schwein. Ein totes Schwein. Sie hatten das Schwein ermordet, jetzt wollten sie es aufschneiden, ausweiden, aufhängen, zerteilen, damit sie seinen Rücken, seine Füße, seine Zunge, seinen ganzen Körper essen konnten – so empfand ich es damals.

Ich bin dann nachhause gerannt und habe zwei Jahre kein Fleisch mehr gegessen. Und nach den zwei Jahren, nachdem ich mein Horrorerlebnis schon etwas überwunden hatte, hat mir Papa dann Fleischwurst vorgesetzt. Aber verraten, dass da Fleisch drin war, das hat er mir erst Monate später. Zunächst haben sie mich noch belogen und sie Kartoffelwurst genannt, bis ich irgendwann ganz drüber weg war und sie mir die volle Wahrheit sagen konnten.“

Nora steht auf und geht zum Fenster.

„Damals war das Schwein das Opfer. Es geht auch andersherum, nicht wahr?“

Was meint sie?

Nora schweigt noch einen Moment, dann sagt sie:

„Ich glaube, für unsere erste Sitzung haben wir jetzt genug geleistet, finden Sie nicht auch, Anne?“

Ich erhebe mich sofort, packe meine Sachen.

„Sie finden den Weg allein hinaus, nicht wahr? Kommen Sie nächste Woche Freitag zur gleichen Zeit um fünfzehn Uhr wieder, ich freue mich darauf“, sagt sie und winkt mir, weiter am Fenster verweilend, mit der Hand zu.

Dieser Job verspricht interessant zu werden.

Um Sibel mache ich mir allmählich Sorgen. Den lieben langen Tag blickt sie verstohlen im Büro herum, als ob sie irgendetwas suchen würde. Sie spricht noch weniger als sonst, was mir allmählich auf die Nerven geht, weil ich meistens unbeschäftigt herumsitze und mir nichts übrigbleibt, als ebenfalls um mich herum zu gucken oder Fake-Recherchen im Computer vorzutäuschen. Inzwischen bin ich froh, dass wir beide nicht mehr lange nebeneinandersitzen werden. Ihre Nervosität, ihre Fahrigkeit ist nämlich ansteckend. Eigentlich habe ich von der Natur ein gewisses Phlegma geerbt, vielleicht habe ich es in dem unsteten Leben, das hinter mir liegt, auch erwerben müssen. Mich juckt so schnell nichts, deshalb schlafe ich meist wie ein Murmeltier, tief und lang. Meine letzte, meine einzige Oma hat oft zu mir gesagt:

„Kind, du hast ein Nervenkostüm wie ein Fleischerhund. Der liegt auf dem Boden der Metzgerei und interessiert sich nur für die Wurstzipfel, die er ab und an hingeworfen bekommt. Aber sonst hättest du das alles auch nicht ausgehalten, oder?“

Dann hat sie mir meistens die Hand auf die Schulter gelegt und mir über die Wange gestrichen. Wie habe ich ihre warmherzige Art und ihre putzige altmodische Sprache vermisst, als sie umgesiedelt worden ist! Na ja, und? Auf die Länge der Zeit ist das meiste eh egal, das ist meine Erfahrung.

Sibel schwitzt schon wieder, obwohl es im Büro gar nicht heiß ist. Mir jedenfalls ist nicht warm. Sie hat Schweißperlen auf der Stirn und ruckelt mit ihrem Schreibtischstuhl hin und her.

„Hast du Probleme, Sibel?“, frage ich irgendwann, weil man so einen Unruhegeist in seiner Nähe kaum ertragen kann.

Sie antwortet nicht, sondern legt nur kurz den Finger auf ihren Mund. Mein Gott, werde ich froh sein, wenn sie endlich von hier verschwindet.

Meine Wohnungsnachbarin rechter Hand quasselt gern über die Auswirkungen von Überforderung auf die Gesundheit.

„Hach, ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht“, lamentiert sie regelmäßig, wenn ich es nicht geschafft habe, der Geschwätzigen zu entkommen. Und dann folgt eine neue Variation von Ach-wie-belastet-binich oder Wie-schlecht-geht-es-mir-wieder. Ich warte zwar immer eine Weile hinter meiner Wohnungstür, ob sich nebenan etwas rührt und sie gleich herauskommen wird, sichere auch immer die Treppe ab, aber trotz meiner Vorsicht kommt es des Öfteren zu diesen unerquicklichen Begegnungen. So wie heute, Mittwochabend, achtzehn Uhr.

„Stellen Sie sich vor, meine neue Chefin erwartet von mir, dass ich samstags im Büro erscheine und arbeite. Als ob die Sechs-Tage-Woche nicht schon vor Urzeiten abgeschafft worden ist. Aber nein, sie kann sich am besten konzentrieren, wenn das Büro ausgestorben ist. Und ich darf dann alles in den Computer tippen. ‚Können Sie nicht Ihr Sprachprogramm benutzen? Ich könnte dann alles noch einmal auf Fehler durchgehen‘, habe ich daraufhin vorgeschlagen. ‚Sie wollen meine Fehler finden? Überschätzen Sie sich da nicht ein wenig, liebe Frau B?‘, hat sie geantwortet und acht Uhr als künftigen samstäglichen Arbeitsbeginn verordnet. Früher, da gab’s ja Betriebsräte, an die man sich wenden konnte, wenn einem die Arbeitsbedingungen nicht passten. Das habe ich irgendwo gelesen, ich weiß aber nicht mehr, wo. Ist doch gar nicht wahr, dass wir so was nicht mehr brauchen, weil jetzt alle gleich sind und alles gerecht, oder? Manche sind gleicher als andere, sieht man doch. Na ja, ich muss mich beeilen, meine Wohnung putzt sich auch nicht allein, die ist ja auch ein bisschen größer als Ihre, nicht wahr?“

Endlich hat sie ihren Monolog beendet. Unter zehn Minuten kommt man bei ihr nie weg. Mein Problem ist ein anderes, aber darüber redet man eigentlich nicht. Ich bin unterfordert. Die ganze Woche sitze ich im Büro herum und langweile mich. Es dauert nur wenige Stunden, bis ich die Aufzeichnungen der Gespräche mit Eleonore Fichtner in schriftliche Form gebracht habe. Die automatische Sprachaufzeichnung nutze ich nicht. Die würde zwar vielleicht etwas Zeit sparen, aber davon habe ich ja sowieso zu viel. Darüber hinaus ist die trotz der vielen Jahre, die sie existiert, immer noch sehr fehleranfällig. Warum die das nicht hinkriegen, ist mir schleierhaft. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag sitze ich demgemäß unbeschäftigt im Büro herum und starre Löcher in die Luft. Reden kann ich mit niemandem mehr. Sibel sitzt seit Montag nicht mehr auf ihrem Platz, ich habe sie die ganze Woche noch nicht gesehen, komisch. Vielleicht hat sie Urlaub, macht jetzt nur noch Home-Office – oder ob sie gekündigt wurde? Den Eindruck, dass ihr die Arbeit Spaß gemacht hat, vermittelte sie ja wirklich nicht. Da haben sie vielleicht die Konsequenzen gezogen. Drüber nachdenken, was Sibel ohne Arbeit erwartet, will ich nicht. Eigentlich mochte ich sie ganz gerne.

Endlich ist der Freitag da, endlich kann ich wieder etwas Sinnvolles tun. Ins Büro bin ich erst gar nicht gegangen, was soll ich da? Und um den Smartie habe ich mich dieses Mal nicht bemüht. Ich werde den Fußmarsch genießen, meine Laptoptasche mit Notebook und den paar sonstigen Materialien hängt über meiner Schulter.

Die goldenen Hauben, die man den Wolkenkratzern vor Jahrzehnten verpasst hat, haben viel von ihrem Glanz verloren. An jedem fünften, sechsten Hochhaus hängen oder laufen Banner mit dem derzeitigen PRIMEQUI und dem Motto seiner Gleichheitsbewegung: Gleichheit und Gerechtigkeit. In einem alten Buch, bei meinen letzten Eltern, hab ich mal was über die Französische Revolution gelesen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das war deren Leitspruch. Wie sich die Ziele und Zeiten ändern!

Zwischen den Hochhausschluchten ist es trotz Sonnenschein so dunkel wie in einem engen Alpental. Da war ich mal mit Omimi. So hab ich Beate, meine letzte und einzige Oma, genannt.

Früher sollen die Straßen immer voll gewesen sein, von Autos und Leuten. Na ja, Individualverkehr ist etwas Altmodisches, den braucht man kaum noch. Es gibt genug Bahnen, für Ziele in der näheren Umgebung kann man schließlich auch das Rad benutzen, bei dem bestens ausgebauten Radwegnetz. An E-Autos kommt man schwer ran, selbst, wenn man unbedingt eins haben will oder wegen seiner Arbeit dringend braucht. Es gibt wohl in den Autofabriken Probleme mit den Rohstoffen, die sie brauchen. Aber Genaues weiß man darüber nicht. Bleiben wenigstens nicht so viele Batterien für die Akku-Friedhöfe übrig, mit denen sie die Landschaft verschandeln. Die sollen auch oft Feuer fangen und die Brände kaum zu löschen sein. Kriegt man in der Stadt aber nicht so mit, liegen weitab auf dem Land.

Früher soll die Luft in den Großstädten verschmutzt gewesen sein. Das ist nicht mehr so. Man kann frei durchatmen, kein Problem. Zahlreiche Hochhäuser stehen leer, an manchen Fassaden bröckelt der Putz. Na ja, an vielen flimmern ja jetzt die Banner. Alle kaufen online, da braucht man keine Kaufhäuser oder kleine edle Geschäfte mehr. Und wohnen muss man in der Stadt auch nicht. Fast alle Leute, außer denen, die systemrelevant sind, so nennen sie das, arbeiten von zuhause aus. Da kann man immer in seinen Hausklamotten rumlaufen, braucht nichts mehr. Schick machen, das hat kaum noch eine Bedeutung. Das war vor ein paar Jahrzehnten anders. Ich habe im Fernsehen das Interview mit einem Stardesigner von damals gesehen. Der hatte so einen lustigen Pferdeschwanz, einen Mozart-Zopf, war rabenschwarz angezogen, aber mit einem eleganten weißen Hemd mit Rüschen. Der hat in dem Interview gesagt, wer ständig in Jogginghose rumläuft, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Den Spruch finde ich bemerkenswert.

Beate bedauerte die ganze Entwicklung.

„Kind, das sind nur noch Geisterstädte. Da werde ich vom Hinsehen richtig depressiv. Was glaubst du, wie das Leben früher hier gebrummt hat?“

Wir sind dann immer schnell wieder nachhause gefahren.

Allmählich machen die Hochhäuser Wohnblocks Platz. Riesenhafte Komplexe mit tausenden Wohnungen, die man vor zwanzig, dreißig Jahren gebaut hat. Da hatten sie wahrscheinlich noch andere Entwicklungen im Kopf. Ob die Leute gern hier leben? Ist zwar billiger als mitten in der Stadt, aber wenn man wie ich noch an seinen städtischen Arbeitsplatz gebunden ist, bringt es Vorteile, nicht zu weit rauszuziehen. Meine Wohnung ist zwar nicht groß, aber für mich als Single reicht’s.

Fantasietanz, ich habe geläutet. Die Tür wird geöffnet, Nora Fichtner lächelt, eher könnte man sagen, strahlt mich an.

„Hallo, Anne, ich freue mich, Sie zu sehen. Kommen Sie herein!“

Sie deutet mit der Hand in Richtung des Salons, ich meine Kaffeeduft wahrzunehmen.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“, sagt sie im Wohnzimmer.

Auf dem Couchtisch steht eine hübsche Porzellankanne in schwarz-mint-gelb auf einem Stövchen. Bauhausangehaucht. Dazu Milchkännchen, Zuckerdose und Kaffeetassen in gleichem Dekor. Und Fotoalben. Attraktiv, sehr stylisch.

Déjà-vu.

„Wie geht es Ihnen, Anne?“, erkundigt sie sich.

„Gut, vielen Dank. Wollen Sie einfach anfangen und erzählen, was Ihnen einfällt?“, erwidere ich. Dann füge ich hinzu: „Wir hatten mit dem Schweine-Erlebnis aufgehört, Sie erinnern sich noch?“

„Schweine-Erlebnis?“, wiederholt sie und lacht.

Die entstandene Peinlichkeit und kleine Verlegenheit bei mir überspielt sie sofort, öffnet das Fotoalbum und blättert.

„Schauen Sie mal hier, Anne! Das pummelige Kind, das bin ich. Da hatte man mir zum ersten Mal meine Haare kurz geschnitten. Als mein langer Pferdeschwanz, den ich von Kleinkindesbeinen an getragen hatte, ab war, habe ich zunächst fürchterlich geheult und den halben Friseurladen in Aufruhr versetzt. Aber dann habe ich mich sehr schnell daran gewöhnt und bis heute immer nur kurze Haare getragen. Obwohl mein Mann.“

Sie stoppt mitten im Satz, fährt sich durchs Haar, dann presst sie die Lippen zusammen. Für einen Augenblick schweigt sie.

Sie will etwas für sich behalten – ein Geheimnis? Soll ich nachfragen? Nein, ich werde nicht in sie dringen. Sie soll sich selbst öffnen, sonst macht sie am Ende ganz dicht, weil ich ihr zu nahegetreten bin.

„Nun, ja“, fährt sie fort, „bis auf die Tatsache, dass ich mit vier Jahren begonnen habe, Klavierunterricht zu nehmen, ist meine Kindheit völlig normal und unspektakulär verlaufen.“