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Eine Geschichte voller Geheimnisse. Leise wie Schneefall im Mondschein.
Der Auszug ihres Sohnes lässt die Allgäuerin Carola einsam zurück. In ihrem Leben gibt es nur noch die zermürbende Arbeit als Hotelmanagerin und daserlösende Glas Wein am Abend. Kurz vor Weihnachten reißt ein Vorfall unter den Kolleginnen eine alte Wunde in ihr auf. Bei einer Auszeit in den mallorquinischen Bergen hofft sie, Abstand von ihrem Kummer zu finden. Und trifft auf Patrick, den einzigen anderen Gast in der Finca. Wie das überraschende Schneegestöber draußen wirbelt er ihre Gefühle ordentlich durcheinander und lässt sie endlich wieder lachen – doch auch Patrick hat sein Päckchen zu tragen und ist außerdem verheiratet. Und dann ist da noch Lydia, mit deren Hilfe sie es schafft, sich dem dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit zu stellen. Allmählich kehren Carolas Lebensgeister zurück. Aber kann sie ihr Leben in der alten Heimat so einfach ändern?Dort müssten Dinge auf den Tisch, die sie viel zu lange für sich behalten hat …
Ein Roman, bittersüß wie spanischer Karamellpudding.
Dies ist der sechste Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden. Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln; Pancakes, Samt und Winterglanz. Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum
Über die Autorin
Wunsch-eBook
Die Winterknistern-Reihe
Das Buch
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Epilog
Nachwort
Eine persönliche Bitte
Alle Bücher von Stina Jensen
Rezept für acht Portionen Flan
Erstausgabe: Oktober 2022
© Stina Jensen
Robert-Bosch-Straße 48
61184 Karben
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Lektorat: Ricarda Oertel www.lektorat-oertel.de
Korrektorat: Ruth Pöß www.das-kleine-korrektorat.de
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Covermotiv © Africa Studio, DD Images und Civil shutterstock.com
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STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.
Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
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Bisher erschienen:
1. Plätzchen, Tee und Winterwünsche
2. Misteln, Schnee und Winterwunder
3. Sterne, Zimt und Winterträume
4. Muscheln, Gold und Winterglück
5. Vanille, Punsch und Winterzauber
6. Mondschein, Flan und Winterherzen
7. Engel, Blues und Winterfunkeln
8. Pancakes, Samt und Winterglanz
Alle Titel sind in sich abgeschlossene Romane und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Eine Geschichte voller Geheimnisse. Leise wie Schneefall im Mondschein.
Der Auszug ihres Sohnes lässt die Allgäuerin Carola einsam zurück. In ihrem Leben gibt es nur noch die zermürbende Arbeit als Hotelmanagerin und das erlösende Glas Wein am Abend.
Kurz vor Weihnachten reißt ein Vorfall unter den Kolleginnen eine alte Wunde in ihr auf. Bei einer Auszeit in den mallorquinischen Bergen hofft sie, Abstand von ihrem Kummer zu finden. Und trifft auf Patrick, den einzigen anderen Gast in der Finca. Wie das überraschende Schneegestöber draußen wirbelt er ihre Gefühle ordentlich durcheinander und lässt sie endlich wieder lachen – doch auch Patrick hat sein Päckchen zu tragen und ist außerdem verheiratet.
Und dann ist da noch Lydia, mit deren Hilfe sie es schafft, sich dem dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit zu stellen.
Allmählich kehren Carolas Lebensgeister zurück. Aber kann sie ihr Leben in der alten Heimat so einfach ändern? Dort müssten Dinge auf den Tisch, die sie viel zu lange für sich behalten hat…
Ein Roman, bittersüß wie spanischer Karamellpudding...
Mama?« Jemand rüttelte an meiner Schulter. »Hey! Mama! Wach auf!«
Mühsam öffnete ich die Lider. Die Augenbrauen meines bald zwanzigjährigen Sohnes, der sich auf dem Sofa über mich beugte, waren zu einer steilen Linie zusammengezogen. Um Jakobs Hals war ein Schal geschlungen, auf dem ein paar Schneeflocken schmolzen.
»Hey«, wiederholte er, leiser diesmal. »Was geht denn bei dir ab?« Er legte sich die Finger auf die Brust. »Ich hab einen riesigen Schrecken bekommen! Erst machst du nicht auf, dann find ich dich hier halb bewusstlos!«
Benommen murmelte ich einen Protest. Ich hatte bloß tief geschlafen. »Hilf mir mal auf«, bat ich und tastete nach seiner Hand.
Im Augenwinkel nahm ich seine Freundin Tala wahr, die im Türrahmen stand und mich mit offenem Mund anstarrte.
Mit dem Fuß stieß ich versehentlich gegen die Flasche Wein, die in der Nacht vom Couchtisch gefallen sein musste. Überrascht betrachtete ich die Misere auf dem Fußboden. Eine Lache Roter hatte sich auf dem Laminat gebildet. Eine Ecke von dem Brief, der gestern beim Betrachten des alten Fotoalbums herausgefallen war, hatte sich damit vollgesaugt. Auf dem Sofatisch waren außerdem ein paar Schlaftabletten aus dem offenen Döschen herausgekullert.
Verlegen bändigte ich die aus meinem geflochtenen Zopf gerutschten Haarsträhnen und glättete mit beiden Händen das zerknitterte Dirndl. Ich bückte mich nach dem befleckten Brief und faltete ihn eilig zusammen, presste ihn an mich. Ich wollte nicht, dass Jakob ihn sah.
Mein Sohn setzte sich neben mich, er lockerte seinen Schal. »Mensch, Mama. Ist irgendwas passiert?«
»Aber nein. Ich hab mir nur einen entspannten Abend gemacht.«
Er betrachtete mich skeptisch. Dann schweifte sein Blick über das Durcheinander. Außer der Weinflasche auf dem Boden und den Tabletten lagen auch noch die Engelskarten verstreut auf dem Tisch. Himmel. Was hatte ich eigentlich getrieben? Hatte ich etwa wieder versucht, in die Zukunft zu schauen? Dabei hatte ich diesen »Humbug«, wie mein gesamtes Umfeld dieses Hobby nannte, doch ein für alle Mal sein lassen wollen. Jemand wie ich würde bestimmt niemanden mehr finden, auch nicht mit Hilfe der Engel. Ich hing fest. In jeglicher Beziehung.
Jakob betrachtete mich weiterhin prüfend. »Hast du irgendwelche Sorgen?«, wiederholte er.
»I wo, es ist alles in Ordnung!« Ich lächelte seiner Freundin zu. »Holst mir rasch ein Glas Wasser aus der Küche?«
Tala begab sich sofort auf den Weg.
»Was macht ihr zwei überhaupt hier?«, flüsterte ich meinem Sohn zu.
»Oma und Opa haben uns heute zum Mittagessen eingeladen, weißt du das nicht mehr?«, fragte er. »Sie wollen doch endlich Tala kennenlernen.«
Natürlich. Deswegen hatte ich gestern Abend das Album hervorgekramt und nach einem Foto gesucht. Mein Vater und ich hatten zuletzt über die Marke des Wagens debattiert, den ich rund um Jakobs Geburt gefahren war. Und siehe da, der Schnappschuss hatte meine Vermutung bestätigt. Ich hatte das Beweisfoto vorsichtig von der Seite gelöst, es lag zwischen den Engelskarten auf dem Tisch.
Tala kehrte zurück und hielt mir das Wasserglas hin. Ich trank gierig, spülte das Schamgefühl, das in mir brannte, so gut es ging fort. Rückversichernd lächelte ich den beiden zu. »Gebt mir ein paar Minuten, ich mach mich rasch fertig.«
»Soll ich in der Zwischenzeit hier ein bisschen aufräumen?«, bot Tala an. Schon bückte sie sich nach der Weinflasche und fischte unterm Sofa eine zweite hervor. Jakobs Augen weiteten sich.
»Die war gestern schon fast alle«, erklärte ich ihm. »Außerdem ist Wochenende, das darf man ja wohl ein bisschen feiern.«
»Man feiert aber nicht allein, Mutter.« Jakob hob die Fernbedienung vom Boden auf und legte sie auf dem Sofatisch neben dem leeren Weinglas ab. Dann reichte er mir die Hand und zog mich auf die Füße. »Auf gehts. Du brauchst eine Dusche.«
»Ja, ja.« Ich fischte das Foto für meinen Vater vom Tisch und verstaute es im Flur zusammen mit dem zerknitterten Brief in meiner Handtasche. Auf unsicheren Beinen wankte ich ins Bad, schlüpfte aus Dirndl und Feinstrumpfhose, stieg aus der Unterwäsche und streifte mir die BH-Träger von den Schultern.
Es war nie eine gute Idee, in der Arbeitskluft zu schlafen. Erstens mussten die Kleider zu oft in die Reinigung. Zweitens war es unbequem. Zwar nahm ich mir ständig vor, in den Pyjama zu schlüpfen, bevor ich es mir am Abend auf dem Sofa gemütlich machte. Aber dann lag ich nach dem ersten Gläschen schon so entspannt da, dass ich mich manchmal nicht mehr aufraffen konnte. Als Jakob noch bei mir gelebt hatte, hätte ich das niemals getan, aber so ganz allein, wen störte es? Im Gegensatz zur Arbeit, wo jeder alle Nase lang etwas von mir wollte, krähte hier kein Hahn nach mir.
Ich löste das Haargummi aus dem Zopf und stellte die Dusche an, trat unters Wasser. Versuchte, die Gedanken an meine Arbeitsstelle zu verdrängen. An den bedrückenden Personalmangel und den Stapel Rechnungen, die ich gestern nicht mehr zu überprüfen geschafft hatte. Eigentlich hatte ich außerdem mit dem Inhaber der Metzgerei telefonieren wollen, der uns mit Biofleisch belieferte. Aber auch das hatte ich nicht mehr hinbekommen. Ich drückte einen Klecks Shampoo auf die Hand und seifte mein Haar ein. Jeder normale Mensch hatte zwei Tage in der Woche frei, ich schaffte meistens nur den Sonntag. Das war der einzige Tag, an dem im Hotel mal keiner etwas von mir wollte. Wenigstens blieb ich als Chefin vom Schichtdienst verschont.
Ich spülte das Shampoo aus und reckte das Gesicht unter den Wasserstrahl, spürte meinem Herzschlag nach, der aufgeregt vor sich hin stolperte, wie so oft in den letzten Monaten. Ich hätte mal zum Arzt gemusst, aber wann? Keine Zeit!
Das Haar flocht ich nach dem Föhnen gleich wieder zu einem Zopf und schlüpfte in das winterliche Dirndl, das Mama mir mal zu Weihnachten geschenkt hatte; sie würde sich darüber freuen. Meine Mutter war Schneiderin, sie hatte sich auf Trachtenkleidung spezialisiert. Eine geeignetere Modepuppe als mich mit meinen ausladenden Hüften konnte es gar nicht geben, sagte sie immer.
Nachdem ich Make-up aufgelegt hatte, fühlte ich mich wieder halbwegs vorzeigbar und konnte klarer denken. Der Tag durfte kommen. Selbst dass wir zu meinen Eltern fuhren, schien erträglich. Die Besuche bei ihnen waren mitunter anstrengend für mich, weil ich so tun musste, als ginge es mir hervorragend. Solche lächerlichen Streits darüber, wer wann welches Auto gefahren hatte, gehörten dazu. Hauptsache, wir sprachen nicht über meine Schwester Melanie, die auch auf den Fotos im Album zu sehen gewesen war. Genau wie meine Jugendliebe Alexander. Und wie Peter, der Juniorchef aus dem Allgäuer Adler, wo ich die Ausbildung zur Hotelfachfrau absolviert hatte. Insgesamt war es keine gute Idee gewesen, das Fotobuch hervorzukramen. Es gab zu viele Dinge, an die ich gar nicht so gerne erinnert werden wollte. Erst recht nicht an diesen vermaledeiten Brief.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, erntete ich fragende Blicke der beiden. Tala, die Gute, hatte inzwischen aufgeräumt, Jakob rubbelte mit einem Lappen über den eingetrockneten Weinfleck auf dem Fußboden.
»Nun macht mal nicht so ein Theater«, befahl ich lachend. »Ihr führt euch auf wie Bewährungshelfer.«
Jakob richtete sich auf und rückte mit dem Knie den Couchtisch an Ort und Stelle. Dann tippte er mit dem Lappen auf seine Armbanduhr. »Können wir dann? Ich hab Oma schon Bescheid gegeben, dass wir ein bisschen später kommen.«
Seitdem mein Sohn vor knapp einem Jahr ausgezogen war und Agrarwissenschaften in Kempten studierte, war er so viel ernsthafter geworden als früher. Ich hatte mich noch immer nicht an diesen neuen Jakob gewöhnt. Und dass er mich mit meinen neununddreißig Lenzen wie eine Greisin behandelte, gefiel mir auch nicht.
»Hört mal«, sagte ich fest, »kommt bloß nicht auf die Idee, das hier«, ich zeigte ins Wohnzimmer, »bei Oma und Opa zu erwähnen. Ich hab mich ein bisserl gehen lassen, nicht mehr und nicht weniger. Daraus müsst ihr keine Staatsaffäre machen.«
»Machen wir doch gar nicht.« Tala strich sich eine Locke aus der Stirn. »Wenn ich eine so erfolgreiche Hotelmanagerin wäre wie du, würde ich bestimmt auch mal einen, wie sagt man, über den Durst trinken.«
Jakob verdrehte die Augen. Trotz Tala, die aus Syrien stammte, verfiel er in Dialekt. »Nah, glaub mir, das würdst ned. Und jetzt packmers bitte.«
Vorm Haus schlug uns eisiger Wind ins Gesicht; einzelne Schneeflocken schwirrten durch die Luft. Tala stieg hinten ein, Jakob fuhr. Mein Elternhaus lag am Rand von Pfronten; es war Teil einer alten Hofreite, deren drei Bauernhäuser sich mein Vater mit seinen Geschwistern aufgeteilt hatte. Der ehemalige Landwirtschaftsbetrieb lag schon lange brach, doch noch immer war ein halb verrosteter Traktor auf dem Hof vorhanden, auf dem früher Melanie und ich, meine Cousins und Cousinen und später unsere Kinder gespielt hatten. Mein Vater befreite regelmäßig die Ritzen des alten Kopfsteinpflasters von Unkraut und fegte den Hof. Heute hatte er einen Weg durch den frisch gefallenen Schnee geschaufelt und mit Splitt bestreut. Meiner Mutter, die stets wie aus dem Ei gepellt war, gelang es selbst bei dieser Wetterlage, mit ihren Stöckelschuhen diesen Hof ohne Blessuren zu überqueren. Ich hatte mich heute lieber für Stiefeletten mit einem breiteren Absatz entschieden.
Mama hatte bereits den Tisch gedeckt, und kaum hatten wir einander begrüßt und uns auf unsere Plätze gesetzt, verteilte sie auch schon den Sonntagsbraten auf unseren Tellern. Es gab Rinderbraten, aus Rücksicht auf Tala, die kein Schweinefleisch aß. Dazu reichte Mama Knödel und Rotkohl.
Das Ticken der Standuhr in der guten Stube tönte heute besonders laut. Hoffentlich ging alles gut und mein Vater verlor nicht irgendwelche kritischen Bemerkungen über den Islam im Allgemeinen oder darüber, ob die ganzen allein reisenden jungen Männer aus Syrien wirklich in der Heimat um ihr Leben fürchten mussten.
Vor lauter Nervosität zeichneten sich rote Flecken auf dem Gesicht des Mädchens ab. Sie erinnerte mich an mich selbst, als ich bei meinem ersten Freund zu Gast war und Alexanders Vater mich gefragt hatte, ob ich auch noch Abi machen wollte, wie sein Sohn. Nein, hatte ich nicht gewollt. Mir machte die Schule nicht so viel Spaß, ich wollte in die Hotellerie, es bereitete mir Freude, wenn andere sich als Gast wohlfühlten. Rückblickend hatte diese Aussage wohl weder den Vater noch den Sohn gefreut.
Jedenfalls hielten Tala und Jakob einander gerade unter der Tischdecke an den Händen, wie Alexander und ich es damals noch getan hatten. Hoffentlich ging es mit den beiden nicht eines Tages so schmerzhaft zu Ende wie mit uns.
Mein Sohn, der nichts von diesen Gedanken ahnte, lächelte seiner Freundin aufmunternd zu. Sie sah heute mal wieder bezaubernd aus. Tala trug ein grünes Wollkleid, das ihre zarte Figur betonte. Ihre dunklen Locken und hellgrünen Augen faszinierten mich jedes Mal aufs Neue. Die beiden waren ein so hübsches Paar.
Meine Eltern lobten Tala eben für ihr gutes Deutsch, dabei war das absurd, man hörte nicht im Geringsten, dass sie nicht hier geboren war. Schon fragten sie weiter und erfuhren, dass sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin absolvierte, um die Wartesemester an der Uni für ein Studium der Tiermedizin zu überbrücken. Ich war schwer beeindruckt, und so anerkennend, wie Mama und Papa sie musterten, ging es ihnen nicht anders. Sie mochten sie, stellte ich erleichtert fest. Das war schon einmal ein guter Anfang.
Von der Wand lächelte Melanie auf uns herab, als würde die Situation sie köstlich amüsieren. Das Foto zeigte meine Schwester und mich an ihrem achtzehnten Geburtstag auf der Seeterrasse der Pizzeria am Weißensee. Jakob war schon geboren, auf meiner Bluse schimmerte ein Fleck, den seine allezeit klebrigen Fingerchen hinterlassen hatten. Melanies Augen strahlten. Sie trug knappe Shorts und ein ärmelloses Shirt, wirkte bubenhaft mit ihrem kurzen Haarschnitt und dem kleinen Busen. Mein offenes Haar fiel mir locker über die Schultern. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können, aber umso lieber hatten wir uns gehabt. Herzensschwestern waren wir. Wie stolz sie an diesem Tag gewesen war. Endlich volljährig. Papa hatte ihr einen gebrauchten VW-Polo geschenkt, an dessen Rückspiegel sie einen Glücksbringer befestigt hatte. Er hatte ihr sieben Jahre später leider nichts genutzt.
Unsere Familie hat sich von diesem Verlust nie ganz erholt. Von meiner chronischen Überarbeitung hätte ich meinen Eltern schon allein deshalb nichts erzählen können – sie hatten genug Kummer. Obendrein war ich am Leben, dafür sollte ich dankbar sein. Außerdem war mein Vater der Meinung, viel Arbeit hätte noch niemandem geschadet.
Keine zwanzig Minuten nach dem Mittagessen schleppte Mama die Buttercremetorte an. Mein Vater rührte in seinem Kaffee, der wie immer zu dünn war. Tala, die von Haus aus gewiss ein anderes Gebräu gewöhnt war, fragte sich wahrscheinlich, ob das hier eventuell Tee sein könnte.
»Und sonst?«, erkundigte ich mich betont gut gelaunt. »Irgendwelche Neuigkeiten in der Nachbarschaft?« Ich zwinkerte Tala zu. Auf der Hinfahrt hatte ich sie vorgewarnt, dass meine Mutter Klatsch und Tratsch liebte. In ihrer Schneiderei wurden immer die frischesten News ausgetauscht.
Prompt beugte Mama sich über den Tisch. »Ja, stell dir vor.« Sie sprach leiser. »Die Annabell hat den Peter angezeigt.«
Überrascht hob ich eine Augenbraue. Annabell Obermeier, die Nachbarstochter meiner Eltern, absolvierte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau im Allgäuer Adler, genauso wie ich es vor zwanzig Jahren getan hatte.
»Den Peter Vogl?«, hakte ich nach. Ich hatte aus gutem Grund nicht mehr viel mit dem Juniorchef zu tun. Mit seinem Vater allerdings schon. Alois Vogl gehörte auch das Bergglühen, das ich leitete.
Meine Mutter nickte, und mein Vater sagte: »Wegen Mietu.«
Verständnislos sah ich ihn an.
Jakob und Tala kicherten.
»MeToo, Mama«, klärte mein Sohn mich auf. »Was wirft sie ihm denn genau vor?«, wandte er sich an Papa.
Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. Ich betrachtete ihn ebenfalls gespannt, dabei konnte ich es mir leider denken. Mein Herz sank.
»Der kann die Finger nicht von den Madeln lassen, schon immer«, erklärte mein Vater lapidar und nahm einen Bissen Torte. Kauend sprach er weiter. »Aber der ist ganz harmlos.«
Mein Blick ging zu Melanies Foto an der Wand. Meine Schwester schien mich zu fragen, ob ich dazu etwa schweigen wollte.
»Aber weswegen hat sie ihn denn genau angezeigt?« Jakob ließ nicht locker. Dabei hätte ich mir gewünscht, sie würden das Thema wechseln. Ich wollte viel lieber über irgendetwas Belangloses reden.
»Angeblich hat er sie«, Vaters Blick ging zu Tala, er suchte nach Worten, »unsittlich berührt.«
Meine Mutter wiegte den Kopf. »Nach Feierabend. Behauptet jedenfalls die Annabell. Und jetzt steht natürlich Wort gegen Wort. Das Madel geht nicht mehr zur Arbeit, und die Daniela, ihre arme Mutter, macht die Nacht kein Auge zu.«
Unsittlich berührt. Ob bei Annabell auch jemand dazwischen gegangen war, ehe mehr geschehen konnte? Meine Kehle war trocken, ich trank einen Schluck von dem dünnen Kaffee. Insgeheim hatte ich in den letzten Jahren gehofft, der Kerl hätte sich inzwischen im Griff oder die Sache damals sei ihm eine Lehre gewesen. Aber offenbar nicht.
»Ist dir jemals etwas aufgefallen, wie du dort noch gearbeitet hast?«, fragte Mama mich prompt.
Melanies Augen von der Wand schienen mich durchbohren zu wollen. Nicht nur ich hatte dort gearbeitet. Meine Schwester hatte dort mal ein Praktikum durchlaufen. Aber nicht für lange.
Ich wischte einen Kuchenkrümel von der Tischdecke. »Ist doch schon so lange her, dass ich dort war.«
Jakob betrachtete mich mit schräggelegtem Kopf. Er kannte mich gut.
Entschlossen zog ich die Handtasche von der Stuhllehne. »Übrigens Papa«, sagte ich, »rate mal, wer von uns beiden recht hatte mit dem Auto damals?« Triumphierend überreichte ich ihm den Schnappschuss. »Hier siehst du es: Ich hatte noch den Ford Escort und nicht den Passat.«
Das Bild zeigte mich mit Jakob auf dem Arm vor besagtem Wagen; hinter mir mühten sich Papa und Hubert damit ab, einen neuen Kindersitz auf der Rückbank zu befestigen. Jakobs Vater war inzwischen mein Ex-Mann. Wie Alexander war er groß gewachsen – damit hörte die Ähnlichkeit zu meiner Jugendliebe allerdings auf. Hubert war ein eher grobschlächtiger, bäriger Typ. Ich hatte mich sicher gefühlt bei ihm. Doch leider hatte er auch anderen Frauen gefallen, und er konnte nicht besonders gut Nein sagen. So weh wie die Kränkung durch Alexander hatte das allerdings nie getan.
Mama spähte anerkennend auf das Bild. »Du hast aber auch immer das letzte Wort, Carola!«
Mein Vater schob sich zwinkernd ein Stück Kuchen in den Mund. »Na gut. Dann schulde ich dir wohl den versprochenen Schnaps.« Er sah in die Runde. »Möcht noch wer einen?«
Mein Sohn schüttelte den Kopf, er griff nach Talas Hand. »Wenn sie dabei ist, trink ich nichts.«
Papa schnalzte mit der Zunge. Von den Traditionen anderer Kulturen hielt er selten etwas.
»Gibst mir halt einen Doppelten«, sagte ich schnell. Der Schreck wegen der Neuigkeiten um Annabell steckte mir in den Gliedern.
Jakob schoss mir einen prüfenden Blick zu. Was hatte er jetzt wieder? Ein Verdauungsschnäpschen war unsere Tradition.
Mein Vater verteilte die Gläser an uns beide, wir stießen an. »Zum Wohl!«
Ich sah zur Standuhr. Wir waren jetzt seit zwei Stunden hier, das sollte eigentlich genügen. Mich zog es nach Hause aufs Sofa. Ein Gläschen Wein zur Belohnung für den Nachmittag bei meinen Eltern und als Motivation für die vor mir liegende Woche wartete auf mich. Die Sache mit Annabell würde ich darüber hoffentlich schnell wieder vergessen.
Früher trieb mich der Gedanke an die Arbeit aus dem Bett, ganz egal, wie kalt oder dunkel es draußen war. Die Aussicht auf das, was mich im Hotel erwarten würde – Geplantes wie Unvorhergesehenes –, war das Benzin für meinen Motor. Oft war ich wach, bevor der Wecker klingelte. Bis Jakob ausgezogen war, hatte ich ihn geweckt, anschließend das Radio in der Küche angedreht und den ersten Kaffee für mich und die Vesper für meinen Jungen zubereitet. Bis mein Sohn sich dann zur Schule verabschiedete, plauderte ich mit ihm, nahm danach eine Dusche und machte mich schick. Legte immer viel Wert darauf, gut auszusehen. Für die Hotelgäste, für die Kolleginnen und Kollegen, für die Kundschaft. Bereits am Küchentisch checkte ich geschäftliche E-Mails und To-do-Listen, spielte gedanklich bevorstehende Gespräche durch und lächelte beim Verlassen der Wohnung meinem Spiegelbild im Flur zu. Etwas angespannt vielleicht. Aber immerhin.
Heutzutage fiel mir das alles so viel schwerer. Seit Jakob ausgezogen war, kam ich nicht gut hoch. Der Gedanke an den vor mir liegenden Arbeitstag lähmte mich. Meine Knochen schienen bleischwer. Die Angst bohrte in mir, ob ich alles gut genug schaffen würde. Manchmal schälte ich mich buchstäblich auf allen Vieren aus den Federn. Wenn der erste Kaffee endlich seine Wirkung zeigte, verbrachte ich viel zu viel Zeit vorm Kleiderschrank und verzweifelte daran, das Dirndl für den Tag auszuwählen. Ich nahm eines heraus, zog es über den Kopf, betrachtete mich von allen Seiten, entschied mich dagegen und warf es aufs Bett. Das ging ein paarmal so, bis Eile geboten war und ich keine Zeit mehr hatte, die herumliegenden Kleider zurückzuhängen.
Später stand ich dann im Bad und inspizierte die dunklen Augenringe und die feinen Fältchen um den Mund. Dass ich älter wurde, war an sich nichts Schlimmes. Aber dass ich älter aussah als ich war, das schon. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, die meinem Gesicht einen angespannten Ausdruck verlieh. Andere Frauen in meinem Alter genossen nach dem Auszug ihrer Kinder ihre wiedergewonnene Freiheit. Blühten auf. Bei mir blühte nichts. Dabei hatte ich noch die zweite Hälfte meines Lebens vor mir. Doch dieser Gedanke schreckte mich mehr, als er mich freute. Was erwartete mich noch? Würde diese Sorge, beruflich zu versagen, immer größer werden? Und was mein Privatleben betraf: Würde ich wirklich für alle Zeit alleine bleiben?
Nach der Scheidung von Jakobs Vater hatte ich mich nur in einen einzigen Mann verliebt. Sebastian Liebermann war als Schulleiter an Jakobs damaliges Gymnasium gekommen, und allein sein Anblick hatte mir Schmetterlinge in den Bauch gezaubert. Ein verantwortungsvoller, alleinerziehender Vater mit so lieben Augen und schlanken Händen, dass ich ihn manchmal regelrecht angeschmachtet hatte. Groß, sportlich und zuverlässig. Doch nachdem ich ihn wegen eines Trauerfalls an meine Freundin Maja verwiesen hatte, die Grabreden verfasste, hatte er sich in sie verliebt. Und seither hatte ich gar keine Hoffnung mehr auf eine neue Liebe.
Für ein Frühstück daheim blieb oft keine Zeit; ich holte mir meist eine belegte Semmel an einer Tankstelle und biss während der Fahrt hinein. Früher hatte ich mich auf meinem Weg die Serpentinen hinauf an der Weite des Alpenvorlands erfreut. Am Schnee, der alles überzog, an den hohen Bergen. An den Eiskristallen, die von den Zweigen der Fichten hingen. Doch heutzutage dachte ich auf der Fahrt bergauf nur an die vor mir liegenden Aufgaben und wäre am liebsten umgekehrt, hätte mich zurück ins Bett verkrochen. Aber das kam natürlich nicht in Frage. Auf Carola Hübner war Verlass. Das gehörte sich so für eine Hotelchefin. Die zerbrach doch nicht einfach in zwei Teile.
Auf dem Bergplateau bog ich auf den Parkplatz ein und schaltete den Motor aus. Mein Handy signalisierte eine eingegangene Nachricht. Kauend legte ich die angebissene Semmel beiseite und griff nach dem Gerät. Meine Freundin Maja hatte mir einen Schnappschuss von sich und Levi geschickt. Ihr kleiner Sohn riss in einem entzückenden Lachen den zahnlosen Mund auf, dabei kamen die Grübchen zum Vorschein, die er von ihr geerbt hatte. Kein Wunder, dass Sebastian sich in sie verguckt hatte. Sie war ein so liebenswerter, natürlicher Mensch. Nicht so verkrampft wie ich. Ich schickte ein Herz und steckte das Smartphone wieder ein.
Für einen Moment blieb ich noch im Auto sitzen, nahm die weihnachtlich geschmückten Tannenbäumchen links und rechts des Hoteleingangs in Augenschein. Eine Lichterkette schlängelte sich am Flachdach entlang; nachts erstrahlte alles in romantischem Schein. Ringsherum gruppierten sich hohe, schneebedeckte Fichten, in denen der Wind rauschte.
Als Alois Vogl mich aus dem Allgäuer Adler hierher versetzte und mir die Leitung übertrug, hatte sich jeder gefragt, wie ausgerechnet ich, die einfache Hotelfachfrau und obendrein alleinerziehende Mutter, an diesen Job gekommen war. Nur Melanie hatte den wahren Grund gekannt.
Ich schnallte mich ab und stieg aus.
Als ich die Lobby betrat, überprüfte ich gewohnheitsmäßig, ob alles am rechten Platz war. Alois hatte sich einen Architekten ins Boot geholt, der das stylishe Interieur in Eichenholz gestaltet hatte. Hinter den Sitzgruppen zeigte eine Glasfront nach draußen zum Schwimmteich, der selbst im Winter die Gäste nach der Sauna zu einem kurzen Tauchgang einlud. Auf den Beistelltischchen und Sideboards stellte das Housekeeping täglich Schalen mit frischem Obst auf. Waren die samtenen senfgelben Sessel nur ein wenig verschoben, konnte es schon unordentlich wirken, und augenblicklich fühlten die Gäste sich nicht mehr wohl. Das musste unbedingt vermieden werden.
In der Mitte der Halle leuchtete heimelig der Weihnachtsbaum, den unsere Hausdame Erika mit den Azubis geschmückt hatte. In diesem Jahr hatte ich mich für verschiedene Violett- und Fliedertöne entschieden. Erika und die anderen hätten lieber eine buntere Variante gewählt und den Baum außerdem weiter nach rechts in Richtung der Rezeption verschoben, doch ich hatte mich nicht umstimmen lassen. Hier in der Mitte hatte er immer gestanden, und so sollte es auch bleiben. Allein der Anblick dieses schönen Baums hob meine Stimmung.
Kaum betrat ich mein Büro, das im hinteren Bereich des Hotels lag, sank sie allerdings wieder auf den Nullpunkt. Der Berg von Angeboten, Rechnungen und allgemeiner Post auf dem Schreibtisch wuchs ständig. Ehe ich alles in die Buchhaltung gab oder mit Erika durchsprach, ging jeder Vorgang durch meine Hände. Obendrein las ich täglich die Rezensionen im Internet und betreute unsere Social Media Seiten. Ich führte Mitarbeitergespräche, gab Stellenanzeigen auf, sprach mit Bewerbern. Manchmal wusste ich nicht, wo mir der Kopf stand.
Seufzend sank ich auf meinen Stuhl. Als erstes wartete der Anruf bei der örtlichen Metzgerei auf mich, deren Inhaber ohne jegliche Vorwarnung die Preise angehoben hatte. Das war äußerst ungünstig für unsere Kalkulation. Die Gäste bezahlten für die Vollpension einen Komplettpreis. Wenn der Einkauf sich verteuerte, machten wir Verlust. Sollte ich die Sache nicht regeln können, würde ich Alois einschalten müssen, der nicht das Geringste davon ahnte, dass ich mir die letzten Preisabsprachen mit dem Metzgermeister nicht hatte schriftlich bestätigen lassen. Es lag nun mal so viel anderes auf meinem Tisch!
Zögernd zog ich das Schreiben von Markus Sojer heran. Der Metzger verarbeitete bestes Biofleisch aus der Umgebung, mit dem wir auch auf unserer Webseite warben. Die Zusammenarbeit mit ihm zu verlieren, wäre ein herber Schlag.
Im selben Augenblick läutete der Apparat. Die Durchwahl der Rezeption leuchtete auf dem Display.
Ich nahm den Hörer ab. »Ja?«
Es war Erika, unsere Hausdame. »Könntest du eben am Empfang aushelfen, die Lara hat so arge Migräne. Ich muss sie nach Haus schicken, es geht nicht anders. Und hier sind gerade ein paar Leute, die einchecken wollen. Alles gleichzeitig kann ich nicht machen.«
»Natürlich, ich komme.« Schnell legte ich auf und schob den Stuhl zurück, war insgeheim erleichtert darüber, um den brenzligen Anruf herumgekommen zu sein. Außerdem war es gut, wenn die Hotelleitung sich ab und zu am Empfang zeigte. Die Gäste fühlten sich dann gut aufgehoben und wertgeschätzt, ebenso wie die Mitarbeiter.