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Eine tragische Liebesgeschichte vor der atemberaubenden Kulisse Maltas!
Einst waren Alessa, Viviane, Peter und Giovanni beste Freunde und schworen sich in den Katakomben von Malta ewige Treue. Zwei von ihnen, Alessa und Giovanni, wollten sich für immer lieben – bis Giovanni verschwand. Jahre später ist Alessa auf ihrer Heimatinsel zurück. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, aber sie hat Giovanni nie vergessen. Als er eines Morgens vor ihrer Tür steht, lodert die nie erloschene Leidenschaft wieder auf. Doch das Glück währt nur kurz, und die Schatten der Vergangenheit drohen, alles zu zerstören. Werden sie einen Weg finden, um für immer zusammenbleiben zu können?
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Seitenzahl: 727
Früher spielten Alessa, Viviane, Giovanni und Peter am liebsten in den Katakomben, die sich unter Valetta, Maltas Hauptstadt, befinden. Nach dem Vorbild des sagenumwobenen Malteser Ordens nannten sie sich »Ritter der Unterwelt« und schworen einander lebenslange Treue. Alessa, die am liebsten Pflanzen, Gewässer und Tiere beobachtet, möchte Naturwissenschaftlerin werden. Ihre Eltern schlagen ihr vor, in London zu studieren. Vorwiegend geht es ihnen darum, sie von Giovanni zu trennen, denn ihre Freundschaft war ihnen schon immer ein Dorn im Auge. Giovanni stammt aus einer armen Familie mit dubiosem Ruf – und außerdem ist aus der unschuldigen Freundschaft längst leidenschaftliche Liebe geworden. Doch ein Zwischenfall kommt den elterlichen Plänen zuvor, und Giovanni muss die Insel überstürzt verlassen.
Jahrelang hört Alessa nichts mehr von ihm, bis er eines Tages vor ihrer Tür steht. Sie fühlt, dass er sie wie am ersten Tag liebt, aber aus dem phantasievollen Jungen, ist ein harter, zynischer junger Mann geworden. Seit seiner Flucht ist ihm Schlimmes zugestoßen – und er verbirgt dunkle Geheimnisse über Machenschaften zu der Insel, Erpressung und Gewalt …
Federica de Cesco, geboren in der Nähe von Venedig, verbrachte ihre Kindheit in Italien, Eritrea, Deutschland und Belgien. Bereits mit sechzehn Jahren schrieb sie ihr erstes Jugendbuch, das sofort ein großer Erfolg wurde. Seitdem hat sie Millionen von Leserinnen begeistert. Wie keine Zweite versteht sie es, starke, selbstbewusste Figuren zu schaffen und großartige Panoramen fremder Kulturen zu entwerfen. Heute lebt sie mit ihrem Mann, einem japanischen Fotografen, in der Schweiz.
Für Alessa Panayiotou, die der Erzählerin dieser Geschichte ihren schönen Namen schenkte.
Für Geraldine Cauchi und Annalise Falzon, die mir auf Malta alle Wege öffneten,
und wie immer für Kazuyuki.
»Schicksal und Wille, Erde und Himmel, bringen das Korn miteinander zum Keimen; und wonach das Brot schmeckt, das weiß niemand.«
Mary Renault, Der Stier aus dem Meer
Noch lange Zeit nach der Tragödie kam mir immer wieder in den Sinn, wie ich mich fühlte, als ich in der Dunkelheit gefangen war. Träumte ich? Wachte ich? Ich weiß noch, wie ich atmete, schnell und kurz. Diese Dunkelheit, von der ich umgeben war, schien einer inneren Anspannung zu entspringen, einer Beklemmung, dicht an der Grenze zum Schmerz. Ich weiß noch, wie ich mir Fragen stellte: Wo, verdammt noch mal, war ich? Ich hatte geträumt, so viel war sicher. Der übliche Traum, der stets wiederkehrende Sturz in kaltes, grün funkelndes Unbekanntes. Ich hatte noch das aufgewühlte, schaumglitzernde Meer vor Augen. Kein Geräusch aber, an das ich mich erinnerte. Das Wasser schien sich zu heben, mit lebendigen Strudelarmen nach mir zu greifen. Dabei sah ich mich irgendwie von außen, eine Art Glasfigur, ausbalanciert zwischen Treiben und Herabsinken. Die dahinrasenden Strömungen, die vielleicht nur eine einzige waren, bildeten einen Trichter, einen flüssigen Kern. In der Mitte war eine Stelle fast vollkommen glatt, ein scheinbarer Stillstand ohne Glanz, ohne Schaum. Im Traum hob mich das Wasser hoch, wirbelte mich dieser Stelle entgegen, als ob ein Gewicht mich nach unten gezogen hätte. Ich schloss fest den Mund, hielt den Atem an, bis mir endgültig die Luft ausging und ich mich leblos dem Strudel überließ, der mich in einer Spirale dorthin trug, wo sich das Smaragdgrün in Dunkelheit verwandelte, alles zur Ruhe kam und ich dann erwachte. Ich hatte also geschlafen. Wie lange? Lange vermutlich, aber gleich würde es Tag werden. Ich hatte keine Uhr, aber durch die Holzritzen schienen winzige Pünktchen roten Lichts. Die Sonne ging auf. Eine Weile versuchte ich mich daran zu erinnern, was geschehen war, merkte aber bald, dass ich in der Erinnerung das Geschehene veränderte, ganz als legte ich Konturen und Farben über Vorgänge, die ich nicht wirklich erlebt hatte. Immerhin beschäftigte mich das Erinnern sehr, und dabei verhielt ich mich still wie ein Klotz, bevor ich mich endlich herumwälzte und mit dem Gesicht auf der Decke lag, die muffig roch. Im Aufruhr von Luftholen und Pulsschlag wartete ich darauf, dass es heller wurde. Nach einer Weile stemmte ich mich hoch und erschrak. Es war nicht so, wie ich gedacht hatte. In Wirklichkeit ging die Sonne nicht auf. Nein, sie ging unter! Die Lichtpünktchen wurden blasser, bevor sie endgültig erloschen. Das war ganz und gar falsch, ich hätte tagsüber nicht schlafen sollen. Die Nacht würde endlos sein. Was die Leute verrückt machen konnte, war der Mangel an Licht, und jetzt war es tintenschwarz. Ich hörte draußen, wie ein Käuzchen schrie, ein dumpfes, weiches Geräusch, das wie ein banges Fragen klang. Ich empfand eine tiefe Beklemmung dabei; es war, als liefe ich Gefahr, in den Abgrund dieser Dunkelheit hinabzustürzen, wie in meinem Traum. Mein ganzer Körper vom Kopf bis zu den Füßen roch schlecht und fühlte sich klamm an. Die Kenntnis der Dinge wurde mir jetzt nur durch die Finger zuteil, die über den Boden tasteten, zum Brot hin, zur Wasserflasche. Ich nahm einen Schluck, riss ein Stück Brot ab. Das Wasser war lauwarm, das trockene Brot schmeckte säuerlich. Da waren Funken, die vor meinen Augen in der Dunkelheit kreisten, phosphoreszierende Gebilde, die kamen und gingen. Halluzinationen?, hatte ich damals gedacht, schauen wir uns die mal an. Solange ich gefangen war, von der Welt abgeschnitten, mochte es gesünder sein, auf irgendeine Weise der Gegenwart zu entkommen. Viviane brachte solche Dinge ja auch fertig, hatte sogar ihren Spaß daran, warum nicht ich? Im Geist floh ich durch Raum und Zeit, wie einer anderen Hemisphäre entgegen, überließ mich der Schwerkraft, der Bewegung einer Erde, die rückwärts schwebte statt vorwärts. Ich weiß noch, mir war, als ob es dann heller wurde, als ob es heller wurde, als ob ich Kinder hörte, die meinen Namen riefen. »Al-essa, Al-essa!« Ich weiß noch, wie ich ihre Stimmen zu hören glaubte, diese besondere Betonung, und entsinne mich an die Schauer, die mir dabei über den Rücken liefen. Der Klang hatte etwas Unbeschwertes und Verzücktes an sich, auf- und abschwellend wie Musik. Ich trieb meinen Geist dieser Musik, diesen Kindern entgegen, die ein Teil von mir waren. Wenn die Vergangenheit der einzige Ort war, an dem ich dem Wahnsinn entfliehen konnte, musste ich die Vergangenheit suchen und an die Kinder am Strand denken, die sich halb nackt und selig den Wellen überließen. Bald mischten sich ihr Lachen und ihre vertrauten Stimmen in das Kreischen der Möwen, in das aufgeregte Flattern der Seeschwalben. Die Kinder schubsten sich gegenseitig ins Wasser, spielten ausgelassen im vollen Licht, während ich im Schatten stand. Ich stellte mir vor, wie ich meine Sandalen von den Füßen schleuderte, über hartes Gestein sprang und rutschte. Der Strand fiel steil ab, ich rannte immer schneller, spürte kaum etwas von Kälte, als prickelnder Schaum mich umfasste. Und schon kamen, überglitzert von Wassertropfen, die Kinder. Halb schwimmend, halb watend, ergriffen sie glückselig lachend meine Hände und zogen mich in ihr magisches Spiel.
Über Zeit im Allgemeinen können wir uns gut hinwegsetzen. Allerdings nicht immer. Die Mehrzahl der Menschen kennt von den Tagen nichts anderes als den Wechsel zwischen Aufgaben und Vergnügen, so vergeht ihr Leben, dem Pendelschlag einer Uhr ähnlich. Je älter wir werden, desto schneller scheint das Pendel zu schwingen. Das stimmt natürlich nicht, denn Minuten und Stunden sind die gleichen geblieben. Wir sind es, die einen anderen Takt spüren. Auch für mich sind diese Zeitfragmente immer da, unerbittlich, unerschütterlich, egal, ob ich sie wahrnehme oder nicht. Es sind diese Zeitfragmente, die mich fortgetragen haben. Fort von jener goldenen Zeit zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, die uns – wie mir heute scheint – auf unerträglich brutale Weise entzogen wurde. Einst bewegten wir uns in Küstenwäldern und Erdtiefen wie in einem magischen Raum, gefeit gegen jede Gefahr. Wunderbar hatten wir uns in diese wilde Landschaft eingefügt, waren ein Teil von ihr gewesen, unschuldig und gleichsam mit Wissen begabt, wie Kinder es eben sind. Die Veränderung kam plötzlicher, als wir es für möglich gehalten hatten, und sie war ungeheuer. Die Wirklichkeit holte uns ein, zerrte uns aus dem Paradies der Kindheit ins Unbekannte. Giovanni ging als Erster. Peter blickte ihm erschrocken nach, sein Herz war noch wie in Tücher eingewickelt. Und Viviane hatte ihre Welt, in der sie versinken konnte, wie eine Nixe auf dem Meeresgrund. Ich aber hatte von Giovanni gelernt, wie verwirrend die Wirklichkeit sein konnte, wie grausam und wie gefährlich. Vieles von dem, das uns gegeben wurde, war dabei verloren gegangen. Mit den Eltern war ich früher ganz gut zurechtgekommen. Jetzt war etwas Hartes, etwas wie ein Groll zwischen uns. Ich merkte es, als ich Mutter zum ersten Mal nach der Tragödie im Theater besuchte, und musste damit erst ins Reine kommen. Ich wusste, dass sie mich als ein unberechenbares – oder vielmehr gefährliches – Wesen betrachtete, bei dem man auf alles gefasst sein musste. Ich hatte die Familie ins Gerede gebracht. Vaters politische Laufbahn konnte Schaden nehmen. Das alte Lied. Auf Malta hatte bürgerliche Scheinheiligkeit noch Hochkonjunktur. Hätte ich dazu noch meinen Job verloren, wäre niemand übermäßig erstaunt gewesen. Aber Adriana hatte mich schon wissen lassen, dass sie mich auf keinen Fall entbehren wollte. Ein Trost immerhin, wenn auch nur für das Ego.
»Wie geht es dir?«, murmelte Mutter.
Sie nähte die Kostüme für eine Neuinszenierung der Traviata.
»Es geht schon.«
Eine Zeit lang hatten Peter und ich niemanden sehen wollen. Wir fühlten uns müde und schlapp, der Schock saß uns noch allzu tief in den Knochen. Jetzt war der Herbst vorbei, die Bäume im Wind vertrocknet. Auch Peter und ich waren gefangen im Kreislauf der Zeit, fühlten uns an einem Tag noch kräftig, am nächsten abgestumpft und zerbrochen. Die Bäume waren fremde Materie, fremde Substanz. Doch die Bäume lebten, und im Frühling trugen sie Grün. Wir begannen, uns wohler und befreiter zu fühlen. Und Peter hatte immerhin sein Examen bestanden, wenn auch mit schlechten Noten – in Anbetracht der Situation eine beachtliche Leistung. Wir wussten, dass es uns schwerfallen würde zu vergessen, was vorgefallen war. Und obwohl die Erinnerung Schatten auf unsere Zukunft warf, verhinderte ein hohes Maß an Vertrauen und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber, dass wir ihr sogar die Hoffnung opferten. Doch nie wieder würden wir so unbekümmert sein wie zuvor.
Mutter nickte mir zu.
»Setz dich doch.« Ich nahm einen Stapel alter Modezeitschriften von einem Stuhl und setzte mich. Ich hatte das Bedürfnis zu reden. Mutter war umgeben von Stoffballen in schönen Edelsteinfarben, Goldgelb, Korallenrot, Violett, alles wertloses Zeug, das sie bei einem Trödler erstanden hatte. Auf ihrem Arbeitstisch lagen bunte Garne, Schnüre, Fransen und Troddeln. Augenwischerei das Ganze, aber sobald es durch ihre Hände ging, machte sie etwas Glamouröses daraus, kaum eine Spur kitschig. Sie selbst hatte den Schrank voller Kleider, war aber immer gleich angezogen, Jeans und T-Shirt, ganz nach dem in Fleisch und Blut übergegangenen Motto »Lass es dir für etwas Besseres«. Jeder Mensch hat nun mal sein Trauma, dachte ich, bevor ich von Peter sprach.
»Stell dir vor, er verträgt sich jetzt wieder mit seinen Eltern. Er war es, der den ersten Anlauf nahm. Er brauchte das wahrscheinlich.«
»Peter ist sehr feinfühlig.«
»Ich würde eher sagen, konsequent. Er hat sich richtig verkracht und jetzt wieder richtig versöhnt.«
»Dr. Micalef ist ein angesehener Arzt.«
»Und sein Sohn wird Tierarzt. Stört dich das?«
Sie ging auf die Bemerkung nicht ein. Sie machte akkurat ihren Saum fertig, nahm ihren Fingerhut ab.
»Und wie geht es ihm?« Ich fühlte eine Schwere im Kopf, die mir Banalitäten eingab, Wörter ohne Sinn.
»Ich sehe ihn nicht oft, er hat sein Praktikum begonnen und ist viel unterwegs.« Ich lachte ein wenig. »Du ahnst nicht, wie viele kranke Tiere es auf Malta gibt.«
Mutter hob ihre Arbeit hoch, einen pflaumenblauen Umhang mit Kapuze, mohnrot gefüttert.
Sie hielt ihn an den gestreckten Armen vor sich hoch, prüfte den Ärmelschnitt, die Nähte.
»Was macht seine Wunde?«, fragte sie, betont beiläufig.
Ich war darauf gefasst, dass sie die Frage stellen würde.
»Die spürt er nicht mehr. Man sieht sie auch kaum noch.«
Mutter hielt den Blick konzentriert auf den Umhang gerichtet, den sie ein wenig schüttelte.
»Hübsch«, murmelte ich pflichtbewusst.
Sie entfernte mit spitzen Fingern einige Fäden.
»Blau und Rot machen sich gut auf der Bühne.«
Überall an den Wänden waren Entwürfe angeheftet. Bei Mutter war alles Maßarbeit, jedem Sänger akkurat an seinen – meist recht fülligen – Leib angepasst. Am liebsten kramte sie aus dem Fundus des Theaters alte, mottenzerfressene Kostüme hervor, trennte sie auf, fügte neue Teile hinzu oder verwendete geschickt die aufwendigen Bordüren und Stickereien. Mutter machte alles selbst, nur gelegentlich half eine junge Schneiderin. Der Umhang fiel knisternd auf eine Sofalehne. Mutter bückte sich etwas steif, las ein paar Stoffschnipsel vom Boden auf.
»Eigentlich solltest du Peter dankbar sein. Denk mal daran, was er alles für dich aufs Spiel gesetzt hat.«
Augenblicklich ging ich in die Defensive.
»Für mich? Wie kommst du darauf?«
»Die Sache hätte ein schreckliches Ende nehmen können.«
Sofortige Pulsbeschleunigung. Herzklopfen. Wut.
»Die Sache hat ein schreckliches Ende genommen!«
»Peter hat dabei sein Leben riskiert.«
»Peter?«, sagte ich, ein paar Töne lauter. »Nein, auf keinen Fall!«
Mutter steckte ein Bügeleisen an.
»Verstehe mich jetzt bitte nicht falsch, aber du konntest das doch gar nicht im Voraus wissen.«
Ich spürte, wie ich innerlich zitterte.
»Ich wusste es eben!«
Sie prüfte mit dem Finger die Wärme des Bügeleisens. Sie hatte gemerkt, dass sie gefährlichen Boden betrat.
»Komm, lass uns nicht mehr davon reden.«
Mutters Kopf hob sich dunkel von der gedämpften Helligkeit des Fensters ab. Die Jugend war fort, ihr Gesicht aber seltsam alterslos. Wie merkwürdig, dass es sie nach Malta verschlagen hatte – von Insel zu Insel sozusagen –, denn sie stammte von der Ostseeinsel Rügen. Mutter hatte ihre Kindheit »hinter der Mauer« verbracht. Diesen Ausdruck benutzte sie oft: »Ich lebte hinter der Mauer.« Was sie darunter verstand, begriff ich erst, als ich zum ersten Mal die Großeltern besuchte, die Buchhändler gewesen waren. Ingrid, die Tochter, war intelligent, nahm auf der höheren Schule Englisch als Wahlfach. Sie las viel. Die Großeltern erzählten, dass es Bücher gab, die erlaubt, und andere, die verboten waren. Immerhin wusste Ingrid, dass es eine andere Welt gab, die sie sich größer und schöner vorstellte, von pulsierendem Leben erfüllt. In ihrer Fantasie glitt Ingrid wie auf Flügeln dieser Welt entgegen. Und dabei stand ihr die Mauer im Weg. Als Kind hatte sie sich eine schlechte Haltung angewöhnt; die Eltern schickten sie zum Ballettunterricht. Ingrid entdeckte ihre Freude am Tanz und fiel ihrer Lehrerin positiv auf. Diese Lehrerin, Paula irgendwas (den Namen hatte ich vergessen), kam vom ungarischen Staatstheater, war in Fachkreisen bekannt und für ihren Drill berüchtigt. Allerdings erreichten die jungen Talente, die sie unter ihre Fuchtel nahm, ein hohes Niveau. Von Ingrid verlangte sie das Äußerste, und Ingrid machte mit, und zwar so gut, dass Paula sie für einen Wettbewerb für junge Tänzer anmeldete, der alljährlich in der Schweiz stattfand, in Lausanne. Geschäftsleute, Filmschaffende, Sportler und Künstler durften »ausreisen«: Sie wurden ja bevorzugt behandelt, und man ging davon aus, dass sie gerne in das Land »hinter der Mauer« zurückkehrten. Paula hatte bereits zwei Schülerinnen im Halbfinale gehabt und setzte große Hoffnungen in Ingrid, die mit fast achtzehn Jahren die oberste Altersgrenze erreichte. »Jetzt oder nie!«, entschied Paula.
In jenem Jahr hatten sich hundertundvierzig Kandidaten aus der ganzen Welt angemeldet. Und nur fünfzehn Auszeichnungen waren zu vergeben. Ingrid beherrschte ihr Tanzalphabet von A bis Z. Und sie blieb auch nicht auf der Strecke, sondern wurde Finalistin. Sie bekam vor Aufregung Schweißausbrüche, ihr hellblauer Polyesterdress war voller dunkler Flecken, bis ihr Name aufgerufen wurde und sie endlich Gewissheit hatte. Danach legte sie sich eine Strategie zurecht. Das Finale wurde jedes Jahr in einer anderen Stadt ausgetragen, diesmal in London. Gewann Ingrid einen »Profipreis« oder gar den Hauptpreis – die Goldmedaille –, würde sie sofort eine Karriere starten können. Paula triumphierte: Sie hatte im Sinn, ihren frischgebackenen Star beim Bolschoi unterzubringen. Ingrid war goldblond, hellhäutig, wohlgeformt, eine Märchenprinzessin. Klassische Rollen waren ihr wie auf den Leib geschrieben. Sie hatte aber auch etwas Wildes, Verwegenes an sich, von dem sie selbst nichts ahnte. Trat sie auf die Bühne, hielt das Publikum den Atem an.
Es kam, wie es kommen musste: Ingrid erhielt einen der begehrten »Profipreise«, verbeugte sich, zauberhaft lächelnd, im Licht der Scheinwerfer. Sie nahm ihren Preis in Empfang und genoss den Applaus, bis der Vorhang fiel. Hinter den Kulissen ließ sie sich von Paula beglückwünschen und umarmen, ging, um sich für das Galadiner zurechtzumachen … und wurde nicht mehr gesehen. Später überreichte eine Tänzerin Paula einen hastig hingekritzelten Zettel. Ingrid bedankte sich für die Ausbildung und wünschte ihrer Lehrerin alles Gute. Sie selbst wollte, wie sie schrieb, ihren eigenen Weg suchen.
Wie sie später erzählte, verbrachte sie viel Zeit in verschiedenen Pubs, wo sie Schwarztee trank und jede Zudringlichkeit abwies. Vor der Abreise hatten ihr die Eltern gesagt: »Wenn du gehen willst, nutze die Gelegenheit!« Sie hatten ihr auch gesagt, was sie zu tun hatte. Ingrid beantragte und erhielt politisches Asyl. Die Story machte Schlagzeilen, ihr Bild erschien in den Zeitungen und Zeitschriften. Ingrid wurde beim Sadler’s Wells aufgenommen, wo sie in Solorollen auftrat, bevor sie – ein paar Jahre später – das Ensemble wechselte. Sie tanzte auf den großen Bühnen dieser Welt, lernte die Städte ihrer Träume kennen: Paris, New York, Sydney, Madrid, Tokio. Wieder in London, traf sie Geoffrey Zammit, einen drei Jahre jüngeren Malteser, der mit wenig Überzeugung Rechtswissenschaft studierte. Es war Liebe auf den ersten Blick, und eine Zeit lang genossen beide das Leben in vollen Zügen.
Als Teenager wollte ich natürlich wissen, wie meine Eltern sich kennengelernt hatten. Mutter redete wenig darüber, tat immer so, als ob mich das Ganze nichts anging.
»Das habe ich dir doch längst gesagt. Wir hatten einen Workshop auf dem Campus gegeben, und abends wurde gefeiert.«
Merkwürdig, dass ihr Gesicht so ohne Konturen war, wie verwischt. Kein Ausdruck mehr, als ob sie versuchte, unsichtbar zu bleiben. Unsichtbar in der eigenen Vergangenheit. Mich ärgerte das. Ich hatte oft Fragen gestellt, wollte mehr über Vater und sie wissen, persönliche Dinge, ja, sogar intime. Ob Vater damals gut ausgesehen hatte? Warum sie sich denn in ihn verliebt habe? Mutter war mir stets ausgewichen, mit einer Art stiller Gerissenheit.
»Ach, die Malteser sind ein schöner Menschenschlag.«
Mit zunehmendem Alter war Vater füllig geworden. Er hatte starke Knochen, runde Glieder und breite Hüften. Seine Stirn war hoch und kahl, in der Mitte leicht abgeflacht. Ein Kranz bereits grauer Locken fiel von den Ohren rings auf seinen schweren Nacken. Er hatte große Pupillen, mit einer sehr dunklen Farbe der Iris. Er sprach mit weicher, ernster Stimme, zeigte ein feines Lächeln und ein eigentümliches Gesicht, bartlos und mit einem starken Flaum auf beiden Wangen, das vielleicht gerade deshalb anziehend wirkte.
»Aber früher sah er doch anders aus«, hatte ich eigensinnig nachgehakt, wohl wissend, dass ich sie mit meinen Fragen belästigte.
»Du hast doch die Bilder gesehen.«
»Er war dünner, das schon.«
Noch heute entsinne ich mich, dass sich bei diesem Gespräch für einen kurzen Augenblick ihr Gesichtsausdruck verändert hatte. Etwas funkelnd Lebendiges war in ihre Augen getreten.
»Er hatte rote Bänder in seine Locken geflochten, wie ein junger Gott sah er aus, wie Dionysos. Mit ihm war die Welt so offen, so farbig.«
»Habt ihr Drogen genommen?«
Der Glanz in ihren Augen erlosch. Ihre Stimme wurde hart. Die Frage hätte ich mir sparen können. Aber ich war damals dreizehn und aufdringlich.
»Es war eine andere Zeit. Ich sage nicht, eine bessere – jede Zeit hat ihre Atmosphäre. Aber jetzt ist nichts mehr, wie es war. Lass es dir gesagt sein: Ich dulde nicht, dass du kiffst.«
»Ich kiffe nicht. Ich sehe ja bei Vivi, wie das ist.«
»Viviane ist kein Umgang für dich.«
Auf solche Zurechtweisungen reagieren Pubertierende allergisch. Ich war sofort kratzbürstig geworden.
»Vivi ist clean. Was kann sie dafür, wenn ihre Eltern an der Spritze hängen?«
Mutters Antwort, das weiß ich noch gut, hatte sich beschwichtigend angehört. »Ja, wenn der Wunsch nach Zerstörung stärker wird als jedes andere Verlangen … Es ist wie eine Sehnsucht, sein Ich zu vernichten. Und wenn es keine Einsamkeit gibt, in die man sich zurückziehen kann …«
Es überraschte mich, dass sie das sagte. Woran hatte sie gedacht? An die Allgemeinheit? An sich selbst? Für gewöhnlich schwang in Mutters Antworten ein Unterton gelangweilter Besserwisserei mit. Hörte ich zu oder nicht, es schien ihr wenig auszumachen. Aber ich stupste sie immer wieder an wie ein junger Hund, bis ich mir allmählich ein deutlicheres Bild machen konnte. Es war in Brüssel gewesen, als sie die »Giselle« tanzte und bei einem Laufsprung stürzte. Mutters Stimme wurde leise und dumpf, wenn sie darüber sprach. Nein, an Brüssel wollte sie nicht mehr denken, Brüssel hatte ihr kein Glück gebracht. Ein Sehnenriss am Fuß, eine schlimme Verletzung. Sie musste einen Gips tragen. Damals war Geoffrey immer bei ihr, pflegte sie, machte die Einkäufe, kochte die leckeren, schweren maltesischen Gerichte. Ingrid musste viel liegen, hatte zugenommen. Doch als sie wieder auf der Bühne stand, merkte das Publikum nichts, Ingrids linker Fuß war wieder genauso gut wie der andere. Sie machte allerdings unbewusst den für das Tanzen verhängnisvollen Fehler, dass sie ihn schonte. Der zweite Fehler war, dass sie schwanger wurde. Ingrid fühlte sich scheußlich, kämpfte mit Übelkeit, Schwindel. »Wir heiraten«, sagte Geoffrey, und damit war die Sache entschieden.
Ich war ein freundliches, ausgeglichenes Kind, ein Kind, das wenig Mühe machte. Ein vernünftiges Kind, bis auf eine seltsame Angewohnheit: Ich hatte mir einen Bruder erfunden, den ich Tomaso nannte. Keiner sah Tomaso, nur ich. Kinder vermögen sehr wohl in der Welt der Täuschungen und inneren Überzeugungen zu leben. Sie verzerren die Wahrnehmungen, ziehen sie krumm und glauben daran. Ich spielte mit Tomaso, redete mit ihm, indem ich mir selbst Frage und Antwort gab, ließ ihn sogar von meinem Teller essen. Ein Löffel für Tomaso, ein Löffel für mich, das war normal für mich, befremdend für alle anderen. Schwach im Kopf? Wohl nicht, denn ich konnte ja schon mit vier das Einmaleins.
Ging ich mit den Eltern aus, nahm ich Tomaso an die Hand, führte einen imaginären kleinen Jungen spazieren. Natürlich teilten wir auch unser Kopfkissen, und vor dem Einschlafen erzählte ich Tomaso eine Geschichte. Von den Eltern wurde mein bizarres Verhalten nachsichtig geduldet, obwohl sie sich gelegentlich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. Dann, als ich acht Jahre alt war, fuhren wir im August für eine Woche nach Paris. Am Flughafen herrschte großes Gedränge, alle Flugzeuge hatten Verspätung. Tomaso und mir wurde die Zeit nicht lang, wir spielten selbstvergessen Fangen. Als unser Flug plötzlich aufgerufen wurde, war Tomaso, der kleine Schlingel, irgendwo in der Menge verschwunden. Ich machte mich auf die Suche nach ihm, rief aufgeregt seinen Namen. Endlich fand ich ihn und lief, meinen unsichtbaren kleinen Bruder an der Hand, zu den Eltern zurück. Ich entsinne mich gut an diesen Augenblick, weil mir zum ersten Mal auffiel, dass die Leute mich beobachteten und lachten. Mich störte das zwar nicht, aber meinen Eltern war die Sache peinlich. Im Flugzeug war für Tomaso kein Platz reserviert, aber ich sagte liebenswürdig, das mache nichts, und ich würde ihn auf den Schoß nehmen. Ich wollte für ihn einen Orangensaft haben, die belustigte Stewardess brachte mir zwei Plastikbecher, Mutter sah weg, während Vater zum ersten Mal Unmut zeigte.
»Alessa, benimm dich gefälligst anständig.«
Wir beide – Tomaso und ich – waren verblüfft und gekränkt. Warum schimpfte er jetzt mit uns, wo er doch zu Hause nie etwas sagte? Doch zwischen den Eltern und mir musste irgendetwas aufgeplatzt sein, aufgeplatzt wie ein vergessener Abszess. Am nächsten Tag im Jardin du Luxembourg, als Vater eine Zeitung holen ging, sah Mutter mit zunehmender Gereiztheit zu, wie ich mit Tomaso mein Eis teilte, und sagte plötzlich:
»Schluss jetzt, Alessa! Und, hör mal, du bist jetzt alt genug, dass ich es dir sage: Du hattest wirklich einen Bruder!«
Ich sah erschrocken zu ihr auf. In meinem Geist gingen unklare Dinge vor, die sonderbar und beunruhigend waren.
»Tomaso?«, fragte ich.
Sie schüttelte irritiert den Kopf.
»Er hatte keinen Namen. Er wurde tot geboren.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in einer Art Vakuum befand, in einer Luftblase.
»Tot?«, murmelte ich.
Sie presste die Lippen zusammen.
»Er wäre dein Zwillingsbruder geworden, aber aus irgendeinem Grund hatte er keine Kraft, in mir zu wachsen. Und im Ultraschall war er nicht sichtbar, weil er …« – sie schluckte – »… dicht hinter dir, an deiner Wirbelsäule klebte. Aber er wurde nie ein voll ausgebildetes Baby. Und als du geboren wurdest, sagte plötzlich der Arzt: ›Da ist ja noch ein Baby!‹ Er leitete die Geburt ein, und es ging eigentlich ganz schnell. Das Kind kam einige Minuten später zur Welt. Es war winzig klein, ich hätte es in beiden Händen halten können. Und es war eindeutig ein kleiner Junge.«
Sie stockte, holte tief Atem. Ihr Gesicht im Sonnenlicht war rot und verzerrt. »Aber es stimmt schon, dass ihr beide eine Zeit lang in mir gelebt habt. Dein Vater und ich nehmen an, dass du dich unbewusst erinnerst. Und solange du klein warst, wollten wir es dir nicht sagen und haben dir auch niemals Vorwürfe gemacht. Aber jetzt wird es Zeit, dass du weißt, warum du dir einen Bruder erfunden hast.«
Jeder Mensch ist ein Kosmos, und das Unbewusste ist der größte Teil von ihm. Mutter hatte versucht, mir mit kindgerechten Worten etwas sehr Kompliziertes zu erklären, etwas, das, wie ich später vermutete, sie selbst nicht im vollen Umfang verstand. Ich hatte meinen Zwillingsbruder nur in der Berührung im Mutterleib erlebt, eine Begegnung wie die Vorwegnahme eines Todeserlebnisses. Mein Bruder war nie zu einem für mich sichtbaren Wesen geworden, bewohnte jedoch meine Seele. Dem Verlust dieses Elementarwesens war ich nicht gewachsen gewesen. Erst nachdem ich von Mutter die Wahrheit erfahren hatte, konnte ich über mein Verhalten nachdenken und eine neue Stufe meines kindlichen Bewusstseins erreichen. Ja, es war eine besondere Geschichte. Und eine alte Geschichte. Ich lebte mit einem Phantom in einer Welt, die nicht natürlich war. Vermutlich war ich seelisch sehr stark, sodass es mir schließlich gelang, mich von diesem Phantom zu trennen. Nicht sofort natürlich, nicht auf einmal, sondern nach und nach. Mein Bruder existierte nicht wirklich, aber er hatte mal existiert. Ein Teil seines Blutes pulsierte in mir. Er gehörte zu meinem unmittelbaren, tiefsten Ursprung, es war die gleiche Materie, die uns beide erschaffen hatte. Und man weiß ja, dass Zwillinge im Mutterleib schon eine Symbiose entwickeln. Das war eine Sache, die selbst ein kleines Mädchen verstehen konnte. Und so befreite ich mich von Tomaso, indem ich im Geist eine Einheit mit ihm wurde und nie mehr ein Phantomkind an der Hand führte.
Wie war es damals gewesen, als Ingrid – noch ohne es zu wissen – Zwillinge trug? Sie wurde neunundzwanzig. Noch jung, aber nicht mehr die Jüngste. Noch strahlend, noch schön, aber bei Regen schmerzte ihr Fußgelenk, und auf Malta schien immer die Sonne. Ein Kind, ja, warum nicht? Eine Pause, dachte Ingrid, ich mache jetzt eine Pause. Also ging sie mit Geoffrey nach Valletta, lernte ihre Schwiegereltern kennen, die traditionell und bigott waren. Ingrid wurde katholisch, so, wie man eine Rolle spielt. Sie war ohne Religion aufgewachsen. Die Gottesdienste, die Prozessionen, die Krippen- und Passionsspiele, die vielen Feste zu Ehren diverser Schutzheiliger erlebte sie wie exotische Inszenierungen. Doch, doch, für sie war alles recht neu und hübsch. Sie heiratete in weißem Brautkleid und Spitzenschleier, wie es sich gehörte, obwohl ihr Kind sechs Monate später zur Welt kam, viel früher, als Brauch und gute Sitten es vorschrieben; die Leute konnten ja rechnen. Allerdings wurde es eine schwere Geburt, weil das Becken meiner Mutter zu eng war und die starken Sehnen sich nicht richtig streckten. Und da schlug das Unglück zu: Nicht nur, dass unmittelbar nach mir meine Mutter eine Totgeburt zur Welt brachte, Tomaso, sondern auch ihr nächstes Kind, wieder ein Junge, mit einem Herzfehler geboren wurde. Diesmal kostete sie die Entbindung fast das Leben. Im letzten Augenblick rettete sie ein Kaiserschnitt, aber das Kind lebte nur einige Tage. Daraufhin wurde Ingrid depressiv, und Geoffrey, der nie besonders fromm gewesen war, erlebte es als Strafe des Himmels, bis die Schwiegermutter unter Tränen zugab, dass es sich um eine erbliche Veranlagung handelte: Sie selbst hatte, bevor Geoffrey gesund auf die Welt kam, zwei Neugeborene auf ähnliche Weise verloren. In der Familie Zammit gab es schlechtes Blut: Man hatte zu viel untereinander geheiratet. Der kleine Inselstaat, der sich als Drehscheibe der Geschichte empfand, war in Wirklichkeit fern von allem, im Raum und noch mehr in der Zeit.
Der Arzt teilte Mutter mit, dass es wohl besser war, keine Kinder mehr zu haben. Sie erholte sich, wollte wieder tanzen, aber etwas in ihr war zerbrochen. Sie hatte zugenommen, fühlte sich kraftlos und verbraucht. Die Nachwuchstänzerinnen waren so stählern, so gelenkig, so ehrgeizig. Hartgeschliffene Diamanten. Mutter trainierte eine Zeit lang mit einem kleinen Ensemble, bevor sie aufgab. Sie ermüdete schnell, das Klima bekam ihr nicht. Der Sommer war unerträglich heiß, nasskalt der Winter. In einer Zeitspanne von fünf Monaten starben auch die Schwiegereltern, beide mit einem Priester neben sich. Vater hatte längst bemerkt, dass er mit Mutter über Religion nicht reden konnte. Er versuchte auch nicht, sie zu beeinflussen, aber fortan ging er sonntags zur Messe. Unfähig, in der Kirche irgendein Glückshormon aufzuspüren, haderte Mutter mit sich selbst, blieb aber stur. Einerlei, sie wollte aus dem Vorhandenen etwas machen. Glück war es keineswegs, aber mit dem, was es war, gab sie sich zufrieden. Valletta wurde für sie ein Abbild der Welt, nur alles auf engem Raum zusammengerückt.
Das Manoel Theater in der Old Theatre Street – das sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch »Royal Opera« nannte –, ist ein Schmuckstück, ganz in Holz ausgekleidet, die Galerien mit Goldstuck und Fresken geschmückt. In der Nachkriegszeit war kein Geld da, das Gebäude wurde vernachlässigt, zeitweise als Sozialstation für die Armen genutzt. Nach umfangreicher Renovierung wurde es 1960 wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Die Malteser lieben dramatische Aufführungen, gefühlvolle Musik. Da es nach wie vor an Geldmitteln fehlte, waren die meisten Darsteller Laien, sogar die Mitglieder des kleinen Orchesters, die überaus gut spielten. Mutter beobachtete das Ganze eine Zeit lang. War sie gut aufgelegt, erzählte sie recht witzig, wie sie einmal einer Generalprobe beiwohnte und die vollbusige »Madame Butterfly« in einer Art geblümtem Vorhangstoff auftreten sah, mit zwei Hibiskusblüten im Haar, während der amerikanische Marineoffizier Pinkerton mit tintenschwarzen Haarlocken in Schaftstiefeln auf die Bühne stapfte.
Eine junge Frau, die »hinter der Mauer« aufgewachsen ist, lernt schnell, mit Nadel, Faden und Nähmaschine umzugehen. Die Bühne mochte ein Schattenspiel sein, aber warum ein geschmackloses? Nach dieser Generalprobe nähte Mutter eine lange Nacht lang, passte der Sängerin zwei Kimonos mit schöner Gürtelschärpe an. Sie bat den Tenor, keine Schaftstiefel zu tragen, und überredete ihn zu einer blonden Perücke. Sie erzählte mit einem amüsierten Zucken um den Mund auch, wie bei der nächsten Aufführung der »Perlenfischer« Tenor und Bariton in eine Art Badehose schamhaft auf der Bühne standen. Mutter nähte ihnen stilechte indische Beinkleider, knüpfte ihre Turbane so, dass sie gut aussahen und gut hielten. Die mollige Tempeltänzerin hüllte sie in einen Sari. Bei gedämpfter Beleuchtung brauchte sie nur die Hüften zu bewegen und mit den Armbändern zu klingeln, während Mädchen aus der Ballettschule sie elegant umtanzten. Mutter hatte viel Erfahrung, ihre Vorschläge wurden beachtet. Man bot ihr an, für das Theater Kostüme anzufertigen und Inszenierungen zu überwachen. Ihr Gehalt war symbolisch, aber das machte ihr nichts aus.
Besuchte ich gelegentlich – ihr zuliebe – eine Aufführung, überkam mich stets das gleiche Gefühl: Das Theater war irgendwo in der Vergangenheit gefangen, wie ein Insekt in einem Klumpen Bernstein. Die kleingewachsenen, provinziell gekleideten Zuschauer, die schreienden oder schlafenden Kinder, der gewaltige Lüster, die mit grün gestrichenem Holz verkleidete Bühne, der weichdunkle Himmel über der Glaskuppe, in dem ein paar Sterne funkelten – mein Gott, in welchem Zeitalter befand ich mich bloß? Die Lüftung war schlecht. Alle, Frauen und Männer, bewegten ihre Fächer; wurde es dunkel im Saal, schien der Raum mit glitzerndhellen Faltern gefüllt. Ich musste an die Kameliendame denken, an George Sand und Alfred de Musset. Und auch an Nellie Melba und Caruso, die ja hier gesungen hatten. Theater sind Orte der Erinnerung und der Gespenster. Wer ein Gefühl dafür hat, spürt solche Dinge. Ob meine Mutter davon wusste? Ich nehme an, ihre Sachlichkeit stand ihr im Weg. Eine Kühle ging von ihr aus, die womöglich nur gut gehütete Einsamkeit war.
Das Wort »einsam« wird oft mit Traurigkeit in Verbindung gebracht, und das mag ja stimmen. Aber Traurigkeit nützte weder Mutter noch mir. Als erwachsene Frau fand ich es mühsam und suspekt, dass ich nach allem, was geschehen war, noch immer an meine Kindheit dachte, den Kopf voller Erinnerungen an unwiderruflich Vergangenes trug. Erinnerungen, die ich mit ganz feinen Webfäden verknüpfte, die ich mit dem Empfinden meines Lebendigseins belebte. Möglicherweise ließ sich der Schmerz eines Tages in Trost verwandeln. Denn mit dem Trost kann man machen, was man will, man kann wieder leben. An jenem Morgen, als ich zu Mutter ins Theater kam, die Bilder des Schreckens noch im Kopf, war mir zumute gewesen, als ob ich mich bei ihr verkriechen wollte. Fast leidenschaftlich hatte ich mir gewünscht, dass sie mich in ihre Arme nahm, mich streichelte und bedauerte, wie es sich gehörte. Aber daraus wurde nichts. Ich begriff, dass diese Art von Trost ein sehr bequemer war, dass ich es allein durchstehen musste. Nicht viel anders als meine Mutter im Grunde, die Vater nie richtig klarmachen konnte, was der Verzicht auf ihre Berufung – den Tanz – für sie bedeutet hatte. Sie hatte gekämpft, aber nicht konsequent genug, und sich am Ende doch in ihr Schicksal gefügt. Mir würde so etwas nicht passieren können, weil ich einen stärkeren Willen hatte. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass ich mich unterkriegen ließ. Ich würde mich auch nie ausweinen können. Nicht bei meiner Mutter, und auch bei Peter noch nicht. Mein Stolz ließ es nicht zu. Ich rief mir Giovanni in Erinnerung, der für die Zurschaustellung seines Elends nie etwas übrig gehabt hatte, der Prügel einsteckte, während er den Stolz in sich barg wie seinen einzig sicheren Schatz. Giovannis warme Haut, sein Atem, seine Stimme mochten fern und verloren sein, aber auf diese Weise, kam mir plötzlich in den Sinn, ließ sich etwas von ihm in mir bewahren.
Inzwischen knöpfte Mutter ein Männerjackett auf, einen nachtblauen Smoking, der bereits an einen Drahtbügel hing, und legte ihn auf das Ärmelbrett. Sie schwieg dabei, wie es ihrem Wesen entsprach. Ihr Schweigen dauerte zu lange für meinen Geschmack. Sie sagte nicht: »Geh jetzt bitte«, aber mir war klar, dass sie allein sein wollte. Sie dachte natürlich an Giovanni, aber der Skandal, der ihm folgte wie ein Fliegenschwarm, erschütterte sie zu sehr, als dass sie jetzt schon darüber hätte reden können. Später vielleicht, wenn sie Abstand gewonnen hatte. Dann aber unsentimental und ohne gefühlsmäßig überladene Aufregung, ganz einfach nur sachlich, was eindeutig gesünder war. Sie hatte ihre Methode, die vielleicht sogar die bessere war. Sie ließ keinen Schmerz mehr zu, der leidenschaftlich und zerstörerisch wütete. Und so schwebte Giovannis Name ungenannt zwischen uns. Schwamm drüber, fertig. Aber ich brauchte jetzt dringend einen Kaffee, und der aus der Cafeteria war schlecht. Ich schob meinen Stuhl zurück.
»Mach’s gut«, sagte ich. »Vielleicht komme ich mit Peter zur Premiere. Hast du noch zwei Freikarten?«
»Ja, aber kommt nicht zu spät. Viel Vergnügen«, setzte sie nichtssagend hinzu.
Als ich ihr noch einmal zunickte, stand sie in schlechter Haltung vor dem Bügelbrett. Ihr Rücken sah krumm aus, aber das störte nur mich. Tänzerinnen sind wie Sterne, im Laufe ihrer Karriere ziehen sie alle einmal vorbei. Und dann sind sie weg, und andere Sterne gehen am Bühnenhimmel auf. Im Untergeschoss des Theaters, wo es still und wohltuend kühl war, wollte Mutter nicht mehr daran denken und ganz für sich sein. Eine Art gefesselte Andromeda, mit umwölkter Stirn. Einige Atemzüge lang stand ich unschlüssig da, doch ich fand nichts, was noch hätte gesagt werden müssen, drehte mich um und ging. Mit vagem Erschrecken stellte ich mir vor, dass ich eines Tages so werden könnte wie sie. Aber nein – ich war anders. Eine andere Generation auch, das kam hinzu. Ich ging scharfen und eckigen Schatten nicht aus dem Weg, sondern zerschlug sie mit bloßer Hand, auch wenn die Finger dabei bluteten. Ich trug die Scherben einer Utopie in mir, aber aus den Trümmern ließ sich ein Leben aufbauen, das sinnvoll war. Es reichte, fand ich, wenn ich meine Gedanken, Zweifel und Erkenntnisse mit Peter teilte, dass ich gut zu ihm war, dass wir Seite an Seite gingen, umfangen von Empfindungen, die ganz verschmolzen waren mit frühen Erinnerungen und Träumen. Ja, es gab nur eine einzige Geschichte, die erzählt werden musste. Und sie handelte von vier Kindern, die am Strand spielten und sich in Grabkammern verloren. Die anderen mochten in dieser Geschichte ein fantastisches Durcheinander sehen, wir aber sahen in ihr die unverfälschten Elemente unseres Lebens. Und es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass Giovanni dieses Leben gekannt hatte, dass es Teil seiner selbst geworden war. Er hatte das Schicksal auf sich herabgerufen, jeder andere wäre daran zerbrochen. Weil Giovanni aber das Gleichgewicht zwischen Wirklichkeit und Schein bewahren konnte, hatte er sich diesem Schicksal nie blind unterworfen. Bis zu jenem Ende, das eigentlich ein Anfang war, hatte er es zu halten und zu lenken gewusst, mit fester, sicherer Hand.
Die Kinder also. Am Anfang waren wir nur zu dritt. Als ich Giovanni zum ersten Mal sah, kauerte er auf einem Stein, in den Ruinen von Tarxien. Es war Frühling, die Luft roch nach Minze, der Stechginster öffnete seine ersten gelben Blüten. Hitzedunst fiel senkrecht vom Himmel. Das Rund hoher Steine war einst unter Erdschichten verborgen gewesen; man hatte die Steine ausgegraben, wieder aufgestellt. Auf den Ruinen waren noch Spuren von Feuersbrünsten sichtbar und Reste von Farben. Unter dem wuchernden Unkraut erzählte jeder Stein eine andere Geschichte. Der Junge, den ich plötzlich erblickte, glich einem zu Fleisch und Blut gewordenen Bild aus der Vorzeit, einem jugendlichen Gespenst des Ortes. Wie eine Katze kauerte er auf einem Stein, trug eine schreckliche Hose und ausgetretene Sandalen. Er war mit irgendetwas beschäftigt, das seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Doch irgendetwas – vielleicht ein Geräusch oder auch nur mein stummes Ihn-Anstarren – machte, dass er meine Anwesenheit bemerkte. Jedenfalls hob er den Kopf und lächelte mich an. Und da wurde es in mir ganz still. Ich stand unbeweglich, mit angehaltenem Atem, bis die Grenze zwischen mir und dem anderen fiel, und endlich kam Bewegung in mich. Wie verzückt, und gleichsam in tiefer Unruhe, ging ich auf den fremden Jungen zu, während die Umrisse seiner Gestalt sich füllten, leuchtende Körperlichkeit erkennen ließen, sein Lächeln deutlicher hervortrat und die Festigkeit der ihn umgebenen Dinge annahm. »Was machst du da?«, fragte ich.
»Ich rette Ameisen«, sagte er. »Sie geben sich so viel Mühe, klettern den Stein hinauf. Und hier oben hat sich Wasser angesammelt, und fast alle ertrinken, das ist ungerecht!«
»Ach, das sind ja nur Ameisen«, sagte ich geringschätzig.
»Ja, aber sie sind klug. Sie bauen Gänge in der Erde, nach oben, nach unten, ganze Burgen haben die Ameisen gebaut. Drüben, bei den Korkeichen, da gibt es einige. Hast du die nie gesehen?«
Ich verneinte, wobei ich mich an dem Stein hochzog. Er rückte ein wenig zur Seite, sodass ich neben ihn klettern konnte. Ich zitterte vor Aufregung. Hinter einer Wegbiegung der Zeit hatten wir uns endlich gefunden. Natürlich sah auch er mich zum ersten Mal, aber ich fühlte mit jedem Atemzug deutlicher, wie sich mir aus seiner Wirklichkeit ein festes Band entgegenstreckte, an dem ich mich mit klopfendem Herzen entlangtastete.
In der Nacht hatte es geregnet, in einer Vertiefung auf dem Stein hatte sich Wasser angesammelt. Eine Kolonne von Ameisen erklomm den Stein und kletterte hinüber, doch das Wasser versperrte ihnen den Weg, und eine fiel hinein. Der Junge hatte ganz schwarze Haare, die ihm strubbelig über die Stirn fielen, und mandelförmige Augen, schwarz mit einem violetten Schimmer.
»Ameisen sind älter als Menschen«, sagte er. »Hast du das gewusst?«
»Du meinst, hundert Jahre alt?«
Er schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen.
»Nein, sie waren schon da, als es überhaupt noch keine Menschen gab. Und sie denken fast wie wir.«
Der Junge machte einen vernachlässigten Eindruck, drückte sich aber nicht wie ein gewöhnliches Bauernkind aus. Obwohl wir beide Malti sprachen, die Sprache des einfachen Volkes, formte er seine Sätze ebenso gut wie ich. Vielleicht sogar besser.
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
Er antwortete schlicht.
»Von Onkel Antonino.«
»Was ist er denn? Lehrer?«
»Nein, er ist der Priester der St. Gilian’s Church.«
Der Junge deutete vage auf das hügelige Häusermeer. Jeder Hügel trug eine Kirche, und alle Kirchen sahen gleich aus. Ich wandte uninteressiert die Augen ab. Meine Aufmerksamkeit war auf den Jungen gerichtet, auf ein eigentümliches Merkmal in seinem Gesicht. Die Brauen über den Wangenknochen waren schwarz und hochgeschwungen, und senkrecht durch die rechte zog sich ein Streifen weißen Flaums. Wie ein kleiner Schwalbenflügel sah das aus. Ich starrte ihn an, neugierig und ziemlich vermessen, was der Junge nicht zu bemerken schien. Er hielt einen Grashalm in der Hand, fischte die Ameisen aus dem Wasser und hob sie behutsam auf trockenen Boden.
»Es ist sehr schwierig, Ameisen mit den Fingern aufzuheben, ohne sie zu zerquetschen.«
»Einige sind schon so gut wie tot«, meinte ich.
»Fast«, sagte er, »aber noch nicht ganz.«
Nach einer Weile geschah etwas Merkwürdiges: Die sich vorantastenden Ameisen schien, irgendwie erfahren zu haben, dass das Wasser für sie gefährlich war. Sie tapsten nicht mehr blindlings hinein, sondern machten einen Bogen, sobald sie über den Steinrand kamen, und krabbelten an dem Hindernis vorbei.
Der Junge nickte mir zu.
»Da, siehst du, wie schlau sie sind? Sie wissen jetzt, dass sie hier oben ertrinken können, und sagen es den anderen.«
»Reden sie denn auch?«
»Ja, aber anders als wir. Sie geben sich irgendwelche Signale. Unter der Erde gibt es ja viele Tausende. Und sie kennen sich alle.«
Ich bezweifelte keinen Augenblick, was der Junge sagte. Seine Stimme war kehlig, erstickt, als ob er zu mir durch eine Muschel sprach. Auch später, in der Pubertät, sollte er diesen tiefen Ton behalten, der seine Stimme so fesselnd machte. Es war schon gegen Mittag, das Licht fiel senkrecht vom Himmel. Nur dann und wann knackte ein Zweig, eine Eidechse huschte vorbei, und manchmal warf eine ziehende Wolke einen Schatten. Noch heute, wenn ich an diesen Augenblick denke, überläuft mich am ganzen Körper eine Gänsehaut. Denn zum ersten Mal empfand ich mit wachem Bewusstsein den tiefen, körperlichen Eindruck meines Lebendigseins. Ich spürte den fließenden Übergang der Momente, das Gleiten der Jetztzeit, das Kinder für gewöhnlich nicht wahrnehmen. Dieser Augenblick, der alle anderen einschließt, kehrt ewig wieder. Wir fangen diesen Zeitmoment ein, in all seinen Farben und Empfindungen; er ist ein Geschenk, das wir im Herzen tragen, ein Leben lang.
»Wie heißt du?«, fragte ich den fremden Jungen.
»Giovanni.«
Es war mir von vornherein klar gewesen, dass er nicht Tomaso heißen konnte. Ich hatte meinen Phantombruder auch nur so genannt, weil er ja namenlos geblieben war. Aber Kinder glauben an Wunder. Hätte Giovanni gesagt, er hieße Tomaso, wäre ich nicht im Geringsten überrascht gewesen.
»Ich bin Alessa«, sagte ich zu ihm, und nach kindlicher Art fügte ich gleich eine Herausforderung hinzu. »Mein Vater ist Professor, Mitglied der Alternattiva Demokratika.« Zwischen den beiden traditionellen Regierungsparteien Maltas war die neue AD-Partei zunehmend in der Lage, sich als dritte politische Kraft im Land zu behaupten. Die AD sah ihr Wählerpotenzial hauptsächlich in der intellektuellen Jugend. Meine Eltern redeten fast täglich darüber. Altklug, wie ich war, bekam ich alles mit.
Doch Giovanni zog nur die glatten Schultern hoch. Es war ihm gleich. Er war ein Wesen, das strahlte und gleichzeitig fern war. Und das sollte immer so bleiben.
»Wo wohnst du?«, fragte er.
»In Hal Saflieni, beim Paola Square.«
Das Viertel Hal Saflieni befand sich eigentlich nur einige Straßen von dem Ruinenfeld entfernt. Damals war alles ruhig und sehr provinziell.
Mein Vater war in dem Haus aufgewachsen, das seine Eltern nach dem Namen seiner Mutter »Villa Teresa« genannt hatten. Der Name war in geschnörkelter Schrift auf einem kleinen Keramikplättchen neben der kleinen gewundenen Treppe zur Eingangstür angebracht. Daneben standen zwei Hibisken in großen Blumentöpfen. Zu Anfang hatte Mutter das Haus gemocht, hatte sich geborgen gefühlt. Sie mochte auch die Gegend, weil alles nah und praktisch war und sie gleich um die Ecke einkaufen konnte. Das Café mit den imposanten Glastüren, den großen Spiegeln und den Sesseln aus rotem Plüsch fand sie entzückend und malerisch, bis sie bemerkte, dass dort nur Männer verkehrten. Abends trafen sich die Alten auf dem Platz vor der Kirche, die Männer spielten Boccia, die Frauen hüteten Kleinkinder und tratschten. Mutter forderte ständig Kritik heraus durch Handlungen, die man ihrer fremdländischen Erziehung zuschrieb. Sie merkte es gerade noch rechtzeitig, bevor sie zu viele Tabletten schluckte. Ihre Herkunft befähigte sie nicht, die überlieferten Ansichten der Maltesen, ihre kleinlichen Vorurteile, zu verstehen. Mutter erkannte sie lediglich und wurde unglücklich. Am schwierigsten für sie waren die Tage im Jahr, an denen Sandstürme aus Afrika einfielen. Sie kamen aus der libyschen Wüste oder aus Syrien, die Luft war von gelblichem Nebel erfüllt; es war aber nur Staub, feinster Staub. Mutter hatte dann Kopfschmerzen und Schweißausbrüche, ihr Herz raste. Sie zog alle Läden fast zu, aber der Staub drang durch die Ritzen, legte sich auf die Möbel. Vater machte dieses Klima nichts aus; der »Chamsin« oder der »Schirokko« wehten ja nur ein paar Tage, und dann war die Luft wieder sauber.
»Und du? Wohnst du hier?«, fragte ich Giovanni.
»Mein Vater hat da unten ein Haus.« Er wies in unbestimmter Richtung auf die fernen baumlosen Höhenzüge, wo in niedrigen Häusern, von ungepflegten Gärten umgeben, Bauern wohnten, die ihre kargen Felder bestellten. An die Oleanderbüsche längs der Wege hatte der Wind Abfall geweht, und es stank nach Kloake. Auch Zementfabriken und Lagerhäuser befanden sich dort. Es sei keine gute Gegend, sagten die Leute.
Ich fragte Giovanni:
»Hast du Geschwister?«
Ich war ein Einzelkind, ein Unglück, das ich mit Vivi teilte. Die Eltern befassten sich ausschließlich mit mir. Hätte ich Geschwister, würde ich nicht für jede Dummheit allein die Suppe auslöffeln müssen.
»Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern!«, sagte Giovanni, wobei er leicht das Gesicht verzog.
Ich war beeindruckt.
»Könnt ihr zusammen zur Schule gehen?«
Allmorgendlich sah ich mich allein den Weg zur Schule gehen, was ich sehr langweilig fand.
Doch er schüttelte den Kopf.
»Meine Brüder arbeiten auf dem Feld. Und meine Schwestern sind verlobt.«
Ich war ein wenig verunsichert.
»Gehst du auch nicht zur Schule?«
»Doch, ich schon.«
Was ich nach und nach über Giovannis Familie erfuhr, stank wie ein fauler Fisch in der Sonne. Seine Vorfahren waren von auswärts – sie sollten, wie man sagte, Sizilianer gewesen sein, manche vermuteten in ihnen sogar Araber – und hatten zunächst in Grotten gehaust. Der Großvater, ein notorischer Bandit und Trunkenbold, wurde Aufseher eines Lehnsgutes, das einer Abtei gehörte. Als dieses Kirchengut zum Verkauf kam, zahlte er bar und nahm das Land in Besitz. Er heiratete die junge Tochter eines Pächters, die sanftmütig war und an nichts anderes als nur an die Liebe dachte, und starb im folgenden Winter, als er stockbetrunken überfahren wurde. Sein Vetter Emilio Russo, schön von Gesicht und äußerst arglistig, schmeichelte sich bei der jungen Witwe ein und brachte es fertig, dass Santuzza seine Frau wurde. Somit ging das Gut in Emilios Besitz über. Nach sechs Schwangerschaften und etlichen Fehlgeburten konnte Santuzza nicht mehr. Unterleibsschwäche, Senkung der Gebärmutter. Fortan schenkte Emilio ihr keine größere Beachtung mehr als den Steinen am Wegesrand. Das Land lag in der Küstenzone, gewann jährlich an Wert, aber nach außen hin lebte die Familie am Rande der Armut. Emilio Russo war ein Geizkragen, drehte jede Münze um, ein Despot, ungebildet, schmutzig, anmaßend, der Frau und Kinder, auch Giovanni, seinen Jüngsten, erbarmungslos quälte. In der Umgebung wohnten noch andere Verwandte mit zahlreichen ungepflegten Kindern. Es war eine Art Großfamilie, unzivilisiert und verrufen. Die Töchter machten den Männern Glutaugen. Die Söhne, Rebellen gegen jede soziale Ordnung, kamen in regelmäßigen Abständen hinter Gitter. Mario, der Älteste, hatte sich bereits seine eigene Lebensregel geschaffen und schickte afrikanische Huren auf den Strich.
Clantreue, Rachedurst und Ehrbegriffe aus dem Mittelalter hielten die Familien zusammen oder ließen sie in Fehden zerplatzen, die Jahrzehnte überdauerten und gelegentlich Tote forderten. Ein Netz von Mitwissern schützte die Übeltäter, und Geldgier war stets die antreibende Kraft. Schlimme Verhältnisse also. Bemerkenswert war, dass Giovanni ganz ruhig davon sprach. Wer die Schwere seines Unglücks ermessen wollte, musste zunächst das böswillige und unversöhnliche Umfeld erkennen, in dem sich seine Kindheit abspielte. Jung, wie er war, hatte er die seltsame Gabe, die Dinge zwar so zu sehen, wie sie waren, sich jedoch von ihnen nicht berühren zu lassen, sie einfach zum Absoluten des Sonderbaren zu machen. Es war, als betrachtete er eine Fata Morgana, an deren Wirklichkeit er nicht einen Augenblick lang glaubte. Der Vater schlug ihn, die Brüder schlugen ihn, ja, sogar die Schwestern. Giovanni ertrug die Schläge, als ob er gar nichts verstand. Grausamkeiten schienen ihn begriffsstutzig zu machen, er fasste nur vereinzelte Tatsachen auf, war unschuldig und melancholisch. Seine besondere Art der Unangreifbarkeit bewirkte, dass er für Gemeinheiten schlecht ausgestattet war. Er wehrte sich nicht – noch nicht. Erst viele Jahre später würde er fähig sein, seine blinde Unschuld, seine lähmende Frustration, zu zerschlagen.
»Gehst du gerne zur Schule?«, hatte ich ihn an diesem Tag gefragt. Er hatte sein schnelles, leuchtendes Lachen gezeigt, ein Lächeln, das sich tief in meinem Augenhintergrund einprägte.
»Onkel Antonino sagt, wenn ich weiter so gut bin, darf ich auf die Höhere Schule.«
Er erzählte mir, dass er die zweite Schulklasse überspringen konnte und gleich in die dritte Klasse aufgenommen worden war. Auch wollte sein priesterlicher Onkel, dass er die Schule wechselte; er sollte mit »besserer Leute Kinder« auch bessere Möglichkeiten im Unterricht haben. Wir sind die Geschöpfe unserer Herkunft; die Herkunft diktiert unser Verhalten und Denken in dem Maße, in dem wir für sie empfänglich sind. Man muss viel Selbstbewusstsein haben, um sich von seiner Herkunft zu lösen. In seinem primitiven, abgeschlossenen Familienkreis hatte Giovanni eine ungewöhnliche Ehrfurcht vor dem Lernen entwickelt. Das geschriebene Wort war für ihn von nahezu magischer Bedeutung. Als er dann tatsächlich zu uns in die Klasse kam, fiel das auf. Giovanni war immer höflich zu den Lehren, widersprach nie, gab mit fester Stimme klare Antworten. Er war klug, und das war in den Augen seiner Mitschüler ein schlimmes Übel. Es war etwas an ihm, das sie reizte und ihnen den Wunsch einflößte, ihn zu erniedrigen. Selbst wenn er still an seinem Platz saß, spürten sie seine Andersartigkeit und hassten sie. Giovannis Gesicht war leer und steinern, und er hatte einen fernen, stolzen Blick, der ihn unzugänglich machte. Er hatte eine kindliche Geradheit, etwas von der Einfalt und Unberechenbarkeit eines Naturwesens. Die Schüler prügelten sich oft, auch wenn sie sich innerhalb des häuslichen Bezirkes recht wohlerzogen benahmen, aber an Giovanni wagten sie sich nicht zu vergreifen. Er weckte den Sadismus, den sie in sich trugen, und sie hätten ihn gerne gequält, aber sie fürchteten sich vor ihm. Es hatte sich schnell herumgesprochen, wer er war.
Noch heute sehe ich die helle, gewölbte Treppe, die blank geputzten Gänge, an denen die Schulzimmer lagen; schlichte Zimmer mit vergitterten Fenstern, die an frühere Klöster erinnerten. Über der Tafel hing ein großes Kruzifix. Durch die Fenster sah man das Grün eines Gartens und einen tiefblauen Himmel, an dem im Oktober die Zugvögel ihre wandernden Dreiecke zogen. Giovanni verharrte unbeweglich und steif auf seinem Platz neben diesem Fenster. Die Stimme des Lehrers – wir hatten nur eine einzige Lehrerin, die Malunterricht gab – hallte in der Stille wider. Giovannis Schuluniform war immer sauber, sein Hemd gebügelt, seine Schuhe blank geputzt. Seine Mutter sorgte dafür, dass er immer tadellos gekleidet war. Sein Haar war akkurat gekämmt. Mir gestand er, dass er die Uniform nicht mochte, dass ihm die Schuhe an den Füßen schmerzten. Gleich nach dem Unterricht zog er sie immer aus, sobald er aus der Sichtweite der anderen war. Er band die Schuhe an den Schnürsenkeln zusammen und warf sie über den Arm, bevor er barfuß und befreit losrannte.
Sein Onkel wollte einen Priester aus ihm machen.
Die Geschichte, die ich erzählen will, ist auch Vivianes und Peters Geschichte. Die Geschichte von Giovanni und mir steht auf einem anderen Blatt. Und trotzdem ist es die gleiche Geschichte, die lange davor bereits begonnen hatte. Und es ist eine ganz besondere Geschichte, in der alles zutiefst miteinander verwoben war, in der es nichts gab, das uns nicht völlig natürlich schien. Vivianes Platz in dieser Geschichte war strategischer Natur, sie war das entscheidende Verbindungsglied zwischen Peter, Giovanni und mir. Tatsächlich war es Viviane, die unser Verwobensein bewirkte und festigte. Sie trug in sich eine größere Überlagerung von Erfahrungen, sie kannte ihre Rolle, so absonderlich und unbegreiflich sie auch sein mochte, und sie spielte diese Rolle gut. Später erzählte sie mir, sie habe dabei stets das Gefühl gehabt, Buch zu führen. Diese Sachlichkeit war typisch für sie.
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