Tochter des Windes - Federica Cesco - E-Book

Tochter des Windes E-Book

Federica Cesco

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Beschreibung

Im Land der aufgehenden Sonne wartet ihr Schicksal auf sie ...

Die japanische Architektin Mia stammt von den Windmenschen ab – Ninjas, die nicht nur gefährliche Kämpfer waren, sondern auch begabte Baumeister, die uneinnehmbare Festungen entwarfen. Auf einer Reise in Europa begegnet sie dem deutschen Historiker Rainer – es ist Liebe auf den ersten Blick. Bereits nach einigen Tagen muss Mia jedoch nach Japan zurück, und Rainer trifft zum ersten Mal eine spontane Entscheidung: Er kündigt seine Stelle und folgt ihr nach Tokyo – im Gepäck nur eines: den Wunsch auf ein neues Leben. Im Land der aufgehenden Sonne erwartet ihn aber nicht nur eine völlig fremde Welt, sondern auch die ruhmreiche Vergangenheit von Mias Familie – sowie ein unglaubliches Geheimnis ...

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Inhaltsverzeichnis

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelCopyright

Für Chanel, Ninja und wie immer für Kazuyuki

1. Kapitel

Ich werde oft gefragt, warum ich denn eigentlich in Japan lebe. Was soll ich antworten? Die Wahrheit sagen? Dass meine Frau mich verlassen und eine andere mir Wein über die Hose geschüttet hatte? »Ein Trankopfer für die Götter« lässt sich dann noch in galantem Ton hinzufügen, was bei jedem Small Talk Amüsement auslöst. Ich vereinfache natürlich. Was wirklich geschah, kann ich leider nicht in ein paar Worten zusammenfassen, und ich bin auch heute noch nicht imstande, die Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Der Brocken war einfach zu hart für mich. Eigentlich fing alles ganz harmlos an, und der erste Anblick Japans war mir freundlich erschienen. Diesem Land hatte ich mich sogleich nahe gefühlt. Ich glitt sozusagen wie auf Flügeln in mein neues Leben. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir jemals vorstellen können, in eine derart verrückte Geschichte zu geraten. Eine Geschichte mit einem Spukhaus, einem Gespenst, das sich in mich verguckte, und Katastrophen jeglicher Art, bei denen die Erdachse geradezu ins Wackeln geriet. Und das meine ich nicht nur als rhetorische Floskel.

Aber zunächst stand ich, Rainer Wilhelm Steckborn, Kunsthistoriker (oder -hysteriker?), Dozent an der Universität Hamburg, Spezialist für italienische Renaissance, wie ein begossener Pudel da und schwelgte in Selbstmitleid. Den großen Crash hatte ich nicht kommen sehen. SOS, Bauchlandung. Amalia – meine Mutter hatte mich vorgewarnt; ich aber hatte Stöpsel in den Ohren und hörte Mozart. Mutter hat ziemlich viel Lebenserfahrung. Sie hatte im Laufe der Jahre genug Munition für ihre Misanthropie gesammelt. Meinem Vater  – um ihn kurz zu erwähnen  – war die Welt wurscht gewesen, für ihn zählte nur die Musik. Er war freundlich, unpünktlich, total geistesabwesend. »Macht, was ihr wollt, aber lasst mich in Frieden«  – so ungefähr lautete sein Motto. Die Familie nannte er sein emotionales Umfeld, was auch immer er darunter verstand. Als er starb  – Herzinfarkt  –, war ich vierzehn. Worauf Mutter sich ihre längst fällige Depression mit Schlafmitteln und Alkohol leistete  – auf meinen Vater, den sie sehr liebte, war ja nie Verlass gewesen  –, und ich prompt durchs Examen fiel. Daraufhin färbte ich mir die Haare grün, soff, rauchte und schluckte alles Mögliche und Unmögliche. No future  – weder für mich noch für Amalia, und für die Schule schon gar nicht. Die ganze Welt war eine Mülldeponie, und ich hockte obendrauf, in bewährter Fötusposition, wobei mir kotzübel war.

Tja, und dann fuhren Mutter und ich nach Italien, sie mit ihren Schlaftabletten, ich mit Sicherheitsnadeln in den Ohren. Eine trug ich sogar im Nasenloch, was sich als reichlich unpraktisch erwies, als ich Schnupfen bekam. Ich zog die Nadel unter Schmerzen heraus und konnte mir endlich die Nase putzen. Danach fühlte ich mich besser.

Der Grund dafür, dass wir, um es mal hochtrabend auszudrücken, in Goethes Fußstapfen wanderten, hieß Liselotte, die Amalia Lilo nannte, eine ihrer zahlreichen glücklich geschiedenen Freundinnen. Lilo hatte ein Haus in der Toskana und fuhr für zwei Wochen nach Amalfi, mit jemandem, den sie eben nur als »jemand« bezeichnete. Wir sollten ihre Katzen und ihre Salate hüten. Mich bat sie freundlich, nichts kaputt zu schlagen. Sie sah ja ein, dass wir vor dem dritten Weltkrieg standen, dass im Golf von Mexiko gerade vierhunderttausend Tonnen Öl ins Meer gelaufen waren  – höchst bedauerlich das Ganze, aber ob ich inzwischen wohl so nett wäre, ihren Kräutergarten zu begießen? Am besten frühmorgens oder abends, wenn die Hitze nachließ. Sie zeigte mir, wo der Gartenschlauch war und wo die Gießkannen standen. Und weg war sie, tschüss. Es war August, der Garten duftete nach Jasmin und Myrte. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit dem Sommer. Der italienische Sommer war eben anders. Mutter kochte Tagliatelle und Rigatoni, ich pflückte die reifen Tomaten, und sie schmeckten sonnenwarm. Die drei schwarz-weißen Katzen sahen wir nicht oft. Sie kamen nur, wenn sie gefüttert werden wollten, starrten uns gebieterisch an und ließen sich bedienen. Gelegentlich strichen sie uns distanziert um die Beine. Das war alles.

Lilo kam zurück, quietschvergnügt und mit prachtvollem Sonnenbrand. Sie sah aus, als hätte sie Honig geschleckt. Und kaum war sie da, lagen plötzlich die Katzen auf dem Sofa, nahmen mir den Platz vor dem Fernseher weg und schnurrten verzückt. Ihren »jemand« hatte Lilo vorläufig zurückgelassen, er würde aber bald nachkommen. Mutter verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Ja, ja, sie hatte sowieso mal im Sinn, mit Rainer einige Kulturstätten zu besichtigen. Ich hatte null Bock auf Kulturstätten  – was hieß das überhaupt? Obendrein war ich beleidigt. Ich mochte Katzen, die drei da mochten Lilo lieber als mich, ich kam mir wie ein abgewiesener Liebhaber vor. In mieser Laune warf ich meinen Rucksack in den Toyota, knallte den Kofferraum zu, und Amalia drehte den Zündschlüssel. Wir fuhren unter Schirmakazien die staubige Straße hinauf, Lilo stand vor dem Gartentor, trug weiße Shorts und ein Tuch um die Brust geknotet und winkte munter mit rot gekochten Armen. Als sie unserer Sicht entschwand, begann ich das zu erleben, was ich später in meiner komplizierten Art meine »wunderbar verstrickte« Lebensphase nennen würde. Was ich eigentlich damit sagen will: Ich hatte plötzlich eine Energie in mir, die im Unterbewusstsein arbeitete und das psychische Räderwerk antrieb. Und somit begann ich, aus den Sackgassen, Winkeln und Abzweigungen meines inneren Labyrinths, aus den Gängen und Fallen, die da Kindheit, Schule, Familie, Religion und Weltanschauung hießen, zu entkommen und erwachsen zu werden.

Ende August ließen die Touristenströme nach. Schulanfang in ganz Europa. Wir nahmen uns noch ein paar Tage. Am Anfang also Florenz. Spaziergänge zunächst. Ist diese Stadt nicht schön?, fragte Mutter. Ich zog die Schultern hoch. Na ja … Auf ganz besondere Weise, das musste ich schon zugeben. Zu jeder Stunde wechselte das Licht, die Stimmung gefiel mir. Auf den Piazzas, unter Kastanienbäumen, kamen und gingen die Mädchen. Ihr Haar funkelte, ihre Busen hüpften, ihre Hüften schwangen. Ich glotzte mir die Augen nach ihnen aus. Leider zeigten mir ihre Seitenblicke unmissverständlich, dass ich nicht genug Bart hatte. Und grüne Haare? Anzügliches Kichern in jeder Gelateria. Ich nahm kummervoll wahr, dass man mich unsexy fand. Das war bitter für meine junge Männlichkeit.

Mutter forderte mich auf, sie ins Museum zu begleiten. Ich sträubte mich vergeblich. Einmal in deinem Leben, ja? Wenn wir schon mal hier sind! Ich trabte hinter ihr her, ohne mir die geringste Mühe zu geben, mich in Schwung zu halten. Zu viele Ragazze auf der Piazza Duomo, aber keine, die mich beachtete. Ich sah ihnen kummervoll nach und knallte gegen Marmorsäulen. Amalia drehte sich von Zeit zu Zeit zu mir um, um zu sehen, ob ich ihr immer noch folgte. Dabei redete sie wie eine Lehrerin, erklärte mir die Statuen, die anatomisch perfekt alles zeigten, was man sonst verbarg, setzte sich auf kalte Steinbänke, um mit mir die Bilder zu betrachten, die da hingen. Ich gab dann und wann einen Grunzlaut von mir, aber erstaunlicherweise sah ich mir die Bilder an und hörte auch zu. Ein starkes Interesse fesselte mich, aber ich wollte nicht, dass sie es merkte. So redete Mutter unbefangen mit jemandem, der finster Kaugummi fletschte und nie Antwort gab, was ihr offenbar nichts ausmachte. Auf diese Weise erfuhr ich, dass Filippo Brunelleschi (1377–1446) nicht nur Goldschmied war, sondern gleichzeitig auch Bildhauer und Architekt, und  – so ganz nebenbei  – auch noch die Perspektive in der Malerei erfand. Ein Multitalent, würde man heute sagen. Dass Michelangelo sich nicht wie ein Engel benahm, obwohl er so hieß und ständig welche malte, und dass Caravaggio einer meiner punkigen Vorläufer war, sozusagen ein Prototyp. Mit der Bemerkung, er habe in meinem Alter schon im Knast gesessen, vermittelte mir Mutter wichtiges Bildungsmaterial.

»Was würdest du dazu sagen«, geruhte ich zu fragen, »wenn ich auch mal verhaftet würde, he?«

Mutter nahm keinen Anstoß daran.

»Ich würde dich nicht bedauern. Könnte dir sogar guttun, unbedingt.«

Das fand ich nicht nett von Amalia, aber ich fragte mich bereits, ob solcherlei Know-how überhaupt noch Sinn für mich hatte. Nur ein Genie macht sich gut im Knast, und mit meiner Malerei war es nicht so weit her.

Ich sah die italienische Renaissance mit den Augen eines Halbwüchsigen, dem allmählich klar wurde, dass schon andere vor ihm Zähneknirschen, Wut und Frust erlebt und trotzdem irgendwas Großartiges zustande gebracht hatten. Dabei beschränkte ich den Erkenntnisbegriff von vornherein auf den Bereich der seelischen Innerlichkeit, auch wenn Mutter wenig Sinn für neurologische Störungen bei Teenagern hatte und mir bei Gelegenheit gerne lustvoll eine geklebt hätte. Sie nahm sich zusammen. Man war antiautoritär.

Egal. Das Unbewusste ist nicht nur Abfallkübel für verdrängte Probleme, sondern bietet auch wertvollen Energien Platz. Die Kirchen und Museen, die wir besichtigten, waren Räume für alle guten und vielfältigen menschlichen Möglichkeiten. So schien es mir zumindest. Und danach wusste ich, was ich studieren wollte. Heute bin ich Dozent, und bisher gab es noch immer, trotz privater und allgemeiner Katastrophen, ein Future. So leicht geht die Welt nicht unter.

Allerdings gab es Nachwirkungen. Ich kam in meine Wohnung, und niemand war da. Tanja hatte ihre Koffer gepackt, die Katze Mafalda mit einer Scheibe Salami in ihren Korb gelockt, den Deckel drauf, und ab und davon. Ein paar Abende saß ich auf dem Sofa (weiß, niedrig und aus Büffelleder), starrte in die Glotze und blies Trübsal. Schuld? Wer hatte eigentlich Schuld? Tanja natürlich, Mafalda auch, diese dreimal verwünschte treulose Katze, und ich selbst, Rainer, nicht minder. Ach ja, ach ja! Und so weiter, stundenlang. Ich spürte allmählich, wie ich zum Griesgram verkam, zum ekelerregenden Jammerlappen. Als mir das klar wurde, rief ich Mutter an. An diesem Abend erschien mir das als die einzige Alternative.

»Wo bist du?«, fragte ich.

»Ich sitze auf meinem Stuhl, vor dem Bildschirm.«

Neuerdings verdiente sie etwas Geld, indem sie mit dem Computer Muster für eine Stofffabrik entwarf: Vorhänge und Bettwäsche. Sie war schon in Rente, aber es machte ihr Spaß; ihre schönen, leuchtenden Farben zeigten das Vitale, das in ihr war. Kürzlich sagte mein Freund Christian von ihr: »Herrgott, deine Mutter mag Männer! Ich habe immer das Gefühl, dass sie mich anmacht.«

Ich fand das schmeichelhaft. Mutter war längst über siebzig, hatte aber immer noch dieses gewisse Funkeln in den Augen. Das erlischt nie.

»Kann ich dich besuchen?«

»Heute Abend noch?«

»Wenn ich dir nicht zur Last falle.«

»Du fällst mir ständig zur Last. Aber das ist wohl mein Los auf Erden. Hast du schon gegessen?«

Ich hatte nicht.

»Soll ich dir ›Himmel und Erde‹ machen?«, fragte sie.

Das altbewährte »Himmel und Erde« aus der Zeit, in der die Leute noch eine Kartoffelkiste im Keller hatten, war besser als Valium, auf alle Fälle. Ich hätte vor Rührung fast geheult.

»Ja, gerne, wenn du Zeit hast.«

»Mein Design wird nicht fertig werden. Aber ich muss wohl in meinem Herzen noch ein Krümelchen Mitleid für dich aufbewahren.«

Ich fuhr den Wagen aus der Garage. Ich hatte jetzt viel Platz, weil Tanjas Wagen nicht mehr dastand. Ein paar Ölflecken waren alles, was noch da war. Und ein Frostschutzmittel für die Scheibenwaschanlage. Heute Abend goss es in Strömen, das Sauwetter war ganz meiner Stimmung angepasst. Aber sobald ich Mutters erleuchtete Erkerfenster sah, fühlte ich mich schon wohler. Ach ja, ach ja.

Das Haus meiner Eltern stand im Nobelviertel Harvestehude. Sie hatten es vor vierzig Jahren erworben, lange bevor die Immobilienpreise senkrecht in Richtung Stratosphäre zu steigen begannen. Ein kleiner Garten gehörte dazu. Mutter pflanzte Biogemüse, Himbeeren und Stachelbeeren an; sie kochte Holundermarmelade, und ihr Apfelkompott schmeckte himmlisch.

»Ich habe auch rote Grütze da«, sagte Mutter, während ich meinen nassen Parka in der Diele auszog. »Magst du die noch?«

Ich schnappte fast nach Luft.

»Selbst gemacht? Wie früher?«

Sie sah mich ungehalten an.

»Ich mache nur ganz natürliche rote Grütze. Ohne E-320 und das ganze Pharmazeug. Ich lebe gesundheitsbewusst. Das solltest du auch.«

»Und wo ist der Schnuller?«, stöhnte ich.

»In der Drogerie, gleich um die Ecke. Sie schließen erst um acht.«

Sie ging in die Küche, wo es nach Kartoffelkrapfen duftete. Sie lagen schon bereit, auf einem weißem Küchenpapier, das Fett aufsaugte. Das Wasser lief mir im Mund zusammen.

»Ob es mir wohl schmeckt?«, murmelte ich.

»Herrgott!«, zischte sie. »Wie oft muss ich mir noch diesen blöden Spruch von dir anhören?«

»Ich wollte nur wissen, wie weit du belastbar bist.«

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Zweiundvierzig, das solltest du eigentlich wissen.«

»Ich habe ein schlechtes Gedächtnis für Zahlen. Ich weiß nur noch, dass Tobias gekotzt hat.«

»Ach, welch schöne Erinnerung!«

Sie holte zwei Teller aus dem Schrank.

»Hör bitte mit diesem sarkastischen Ton auf. Wir essen in der Küche, wenn es dir nichts ausmacht.«

Ich gab ihr einen kleinen Klaps auf den Hintern.

»Ja, Mutter.«

Sie kicherte.

»Deine Geste ist deplatziert, mein Sohn. Tanja wäre entsetzt.«

»Sie hatte wenig Sinn für Humor.«

»Vermisst du sie?«

»Ich vermisse meine Katze.«

»Sie war nicht deine Katze. Tanja hat Mafalda in die Ehe mitgebracht. Würdest du deine Katze dalassen, wenn du gehst?«

»Auf keinen Fall!«

Mutter holte Besteck aus der Anrichte.

»Na bitte. Worüber beklagst du dich?«

»Mein Zuhause ist kein Zuhause mehr. Das stört meine Konzentration und meine Leistungsfähigkeit im Beruf.«

»Das Problem ist, dass du immer nur an dich denkst.«

»An wen sollte ich denn sonst denken?«

»An Tanja zum Beispiel.«

»Sie ist weg.«

»Ihr wart ein schönes Paar. Aber kein Zusammenpassendes. Das sah man auf den ersten Blick.«

»Ich habe das nie gesehen.«

»Liebe macht blind.«

Amalia, die Hände in den Hüften, sah sich in der Küche um.

»Was trinken wir dazu? Rotwein?«

»Aber nur ein Glas. Nach dem zweiten kriege ich Nesselfieber.«

Sie starrte mich an.

»Seit wann?«

»Seit unserem letzten Urlaub in der Provence. Eine Allergie, meint der Hautarzt.«

Sie schüttelte ungehalten den Kopf.

»Bei euch muss es ja drunter und drüber gegangen sein. In unserer Familie hat keiner Allergien.«

»Doch, ich.«

»Geh zum Ernährungsberater.«

»Das bringt nichts.«

»Dann zum Analytiker! Mach Akupunktur, lass dich hypnotisieren! Aber jammere mir nicht ständig die Ohren voll.«

Ich öffnete kleinlaut die Flasche, die sie mir reichte, füllte unsere Gläser.

»Ich benehme mich erbärmlich, zweifellos eine Frage der Veranlagung.«

»Man kann sich an alles gewöhnen. Ich sage das für mich, wohlgemerkt.«

Sie legte mir vier Krapfen auf den Teller, einen nach dem anderen. Das Apfelkompott duftete herrlich nach Zimt und Zitronenschale. Schweigend verspeiste ich einen Krapfen nach dem anderen. Soweit ich schielend erkennen konnte, hatte Mutter ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln.

»Du bist dünn geworden. Du musst ein bisschen zulegen.«

»Das kann ich nur bei dir.«

»Warum sollte ich dich mästen?«

»Weil du meine Mutter bist.«

»Ich sehe noch immer nicht den Grund.«

»Trostsuche«, sagte ich kauend. »Zutiefst regressiv.«

»Womöglich auch noch inzestuös?«

»Ja, zurück in die Mutterlauge.«

»Nein, danke. Ich will dich nicht haben.«

Sie schob mir noch zwei Krapfen auf den Teller.

»Iss! Es sind noch genug da.«

Ich verschlang auch noch diese beiden Krapfen, bevor ich den Teller zurückschob. Ich überlegte, ob ich mir nicht doch ein zweites Glas einschenken sollte. Ich ließ es bleiben, die Pickel juckten wie verrückt. Und sorgten obendrein noch für ein ungepflegtes Äußeres.

»Sie will sich scheiden lassen«, sagte ich weinerlich. »Ich glaube, den Gedanken hatte sie schon seit Monaten.«

»Dann hat sie auch bereits einen Anwalt.«

»Damit muss ich rechnen. Ob ich ihr auch Alimente zahlen muss?«

»Die Erwartung, dass sie nichts von dir verlangen wird, ist utopisch. Zum Glück habt ihr keine Kinder.«

»Tanja wollte keine. Später, sagte sie. Zuerst die Karriere.«

»Dann kommst du mit einem blauen Auge davon.«

»Ich sei unzuverlässig, meint sie.«

»Das mag wohl sein. Aber du kannst nichts dafür.«

»Nein? Man kann doch was tun, damit sich das ändert. Ich habe es ehrlich versucht.«

»Das bezweifle ich nicht. Aber Männer sind eben so. Das ist eine Frage der Genetik.«

Das gab mir doch zu denken.

»Mein Vater auch?«

»Tobias?«

Sie nippte an ihrem Glas und lachte. Sie hatte ein schmales Gesicht, das im Alter etwas pferdehaft auszusehen begann, aber noch immer sehr klare, verschmitzte Augen. Eine Mischung zwischen Troll und Fee, so kam sie mir vor.

»Tobias war ein Künstler. Die haben Narrenfreiheit. Eine Frau, die sich in einen Künstler verliebt, weiß im Prinzip, was ihr blüht.«

»Ich finde das deprimierend.«

»Hör mal«, sagte sie, »ich habe die männliche Gattung nicht programmiert. Mit diesem stupiden Hormon, du weißt schon …«

Sie schnippte suchend mit den Fingern.

»Du meinst Testosteron?«

»Richtig. Vielleicht hast du zu wenig davon.«

»Da widersprichst du dir aber.«

Ich fand Mutter nicht immer lustig.

»Tja«, sagte sie, »Männer sind komplizierter als Frauen, haben zu viel oder zu wenig von dem Zeug. Tanja hat allmählich dein ganzes Leben beherrscht. Und wenn es einmal so war, brauchst du Zeit, um dich davon zu erholen.«

Ich dachte über die Bemerkung nach. Sie hatte mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. In letzter Zeit hatte sich Tanja mit ihrem eigenen Mysterium umgeben; jetzt wurde ich mündig, es war allmählich an der Zeit. Klar war am Anfang alles anders gewesen. Tanja war  – immer noch  – eine sehr schöne, sehr feminine Frau; ich war sehr verliebt gewesen. Verliebt in ihr blondes Kinderhaar, in die Biegung ihres Halses, in die aufrechte Haltung ihrer Schultern  – sie hatte ein paar Jahre Ballett gemacht. Und auch in ihre schönen Zähne, in die Art, wie sie lachte, mit zurückgeworfenem Kopf. Nichts an ihr entging mir, ihre einfachsten Bewegungen entzückten mich.

»Sie hat etwas so Elegisches an sich.«

»Wie bitte?«, brummte Amalia. »Hör endlich mit deinen Fremdwörtern auf!«

»Sie war einfach wunderschön anzusehen. Und wenn sie zu mir sagte: ›Bitte reiche mir doch die Mayonnaise‹, dann war ich vor Entzücken geblendet.«

»Armer Kerl!«, sagte Mutter schulterzuckend.

Tanja arbeitete als Assistentin in der Redaktion einer Hochglanzzeitschrift. Mode und Lifestyle, Glamour und Hype. Allerdings nur drei Tage in der Woche, sodass ihr viel Zeit blieb, auch anderswo hip sein zu wollen und es nicht ausleben zu können. Ihr Job war schlecht bezahlt und nicht zeitintensiv genug. Sie ging gerne auf Partys, wollte ihre Freunde einladen und hinreißend gekleidet sein. Mein Geld  – und das ihre  – reichten einfach nicht.

Ich sei nur gut im Bett, sagte sie, nur darum halte sie es mit mir aus. Aber  – so leid es mir tat  – wir lagen eben nicht die ganze Zeit im Bett, und ich hatte auch andere wesentliche Körperteile, die sie offenbar nur beachtete, um an mir herumzunörgeln. Es störte sie, wenn ich schlecht rasiert war, sie störte sich an den Tränensäcken unter meinen Augen. »Tu was dagegen, Schatz!« Sie störte sich an meinen abgenagten Fingernägeln, an den verbeulten Cordhosen, die ich so gerne trug, an den Knötchen in meinen Pullovern.

»Heutzutage schlafe ich manchmal ganz angezogen«, sagte ich zu Amalia. »Und manchmal wasche ich mich nicht einmal. Ich vergesse es ganz einfach, wenn ich zu Bett gehe.«

Mutter quittierte es mit einem Achselzucken.

»Solange deine Unterhose sauber bleibt und deine Socken nicht riechen, ist das doch in Ordnung.«

»Socken trage ich nur, wenn es kalt ist. Und ich rasiere mich nicht täglich, weil ich empfindliche Haut habe und es mir unter der Nase wehtut. Soll ich denn ständig mit einem Pflaster herumlaufen?«

»Nein, nur wenn es blutet«, sagte Mutter.

Kurzum, Tanja wollte, dass ich Gesichtscreme auftrug und mich bei Boss mit Klamotten eindeckte, die für jüngere, ambitiöse Manager gemacht waren und nicht für Dozenten mit knappem Gehalt. Sie wollte mit mir shoppen, ich wollte nicht und konnte auch nicht und kam mir vor wie ein bockiger Esel.

Amalia schob mir eine Schale rote Grütze unter die Nase. Ich tauchte kummervoll den Löffel hinein.

»Im Kühlschrank steht noch eine ganze Schüssel voll.« Amalia gab mir einen dicken Klecks Sahne obendrauf. »Die Wahrheit ist, dass Tanja einfach zu jung für dich war. Ich habe es ja gleich gesagt, du kommst nach Tobias, der ein Eigenbrötler war. Und Tobias konnte ich nur ertragen, weil ich meinen eigenen Kram machte. Und wenn wir uns dann trafen  – am Tisch oder im Bett  –, hatten wir unseren Spaß. Und schließlich hatte ich die Welt bereist, als sie noch ungefährlich war. Ich war in Karachi und Kabul, und keiner hat mir ein Haar gekrümmt. Was hat Tanja  – abgesehen von Europa  – bisher von der Welt gesehen?«

»Wir waren zwei Wochen auf den Malediven.«

»Die werden jetzt auch islamisiert, und  – warte nur ab  – bald gehen dort die Bomben hoch. Nein, die Welt ist nicht mehr schön, ganz und gar nicht, du kannst jetzt getrost viele Teile davon ignorieren. Tanja  – das ist ihr Problem  – wurde einfach eine Generation zu spät geboren.«

»Sie ist einfach gegangen«, sagte ich, »ohne Ankündigung, ohne Erklärung, wir hatten nicht einmal Streit. Einfach so.«

»Sie hatte dich satt, und ich für meinen Teil glaube, dass sie einen anderen hat. Einen, der besser zu ihr passt. Mach nicht so ein Gesicht, Rainer, da kriegst du Falten.«

Mutter nahm nie ein Blatt vor den Mund. Ich erinnere mich, dass ich mich in der letzten Zeit des Öfteren gefragt hatte, ob Tanja sich wohl mit einem anderen traf. In ihrem Handy herumzuspionieren fand ich unter meiner Würde. Mir Tanja mit einem anderen Kerl im Bett vorzustellen erforderte Heroismus, und ich spielte lieber Vogel Strauß. Dafür sah ich  – im Traum  – oft ein anderes Bild: Tanja und ich standen im Meer auf zwei Eisschollen, die sich unwiderruflich voneinander entfernten. Tanja winkte mit ihrem Tuch von Hermès, ich sah sie immer kleiner werden und dann verschwinden. Ich litt gewaltig, aber ohne Wut, das war nicht normal. Wut wäre besser gewesen, da hätte ich dem Nebenbuhler ein blaues Auge schlagen können. Das Dumme war nur, dass ich nicht einmal wusste, ob es ihn wirklich gab oder ob Tanja zu ihrer Mutter oder zu einer Schulfreundin gezogen war. Jedenfalls ging alles in die Brüche, und ich konnte mich nicht einmal stilvoll betrinken.

Unversehens wurde mir klar, dass ich mein Leben so hingekriegt hatte, dass ich nun niemanden mehr hatte, keinen Spielkameraden aus der Kindheit  – die waren in alle Winde zerstreut  – und nicht einmal eine Katze, die merkte, was mit mir los war, und sich teilnahmsvoll zu mir ins Bett kuschelte. Ich hatte nur Amalia, die mich mit »Himmel und Erde« und roter Grütze fütterte; ihre besserwisserischen Sprüche führten dazu, dass ich mich noch erbärmlicher fühlte.

»Im Grunde hast du Tanja nie gemocht«, sagte ich.

Sie zog die Schultern hoch.

»Ach, wieso nicht? Aber es stimmt schon, für Weibchen habe ich nie viel übriggehabt.«

»Du redest nicht von einer Katze, du redest von meiner Frau«, sagte ich etwas eingeschnappt.

»Von deiner Exfrau.« Sie stand auf. »Soll ich uns einen Tee machen?«

»Ich hätte lieber einen Kaffee.«

»Abends trinke ich nur Tee«, sagte sie und setzte Wasser auf. Ich ergab mich ins Unvermeidliche. Mutters Vorlieben hatten stets Priorität.

»Wenn eine Frau sich zu wichtig fühlt …«, begann sie, aber das hätte sie nicht sagen sollen. Ich schnitt ihr das Wort ab.

»Wie du?«

Sie parierte souverän. »Ich bin sechsundsiebzig, und wenn ich jetzt nicht meine Wünsche anmelde, trampeln später im Altersheim alle auf mir herum. Wie alt war deine Tanja? Neunundzwanzig, glaube ich, oder? Was hast du eigentlich mit ihr gemacht? Aber das geht mich ja eigentlich gar nichts an«, setzte sie hinzu, eine Floskel, mit der sie sich elegant aus der Affäre zog. (Das ist deine Sache, mein Sohn, sieh zu, wie du zurechtkommst).

»Sie gab meinem Leben Glamour«, sagte ich kläglich.

Sie hängte einen Teebeutel in eine froschgrüne Tasse.

»Das war bestimmt teuer.«

»Gucci«, gab ich finster zu. »Gucci kam immer wieder, wie Migräne.«

»Zweimal im Jahr? Ach je.«

»Gucci stand ihr fantastisch, sie hatte die richtige Figur dafür. Und jetzt ist sie weg, und alle Schränke sind leer. Mir kommt es so vor, als hätte sie die ganze Welt mitgenommen.«

»Sie konnte dich ja nicht nackig verlassen, nur um dir eine Freude zu machen. Und Gucci-Kreationen stehen dir nur, wenn du einiges an dir herumschnippeln lässt.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich finde das überhaupt nicht lustig.«

»Ich habe auch Marken getragen, die fast genauso teuer waren. Das geht vorbei.« Sie sprang elastisch auf. Noch nie hatte sie lange still sitzen können. »Du erlaubst, dass ich mir eine Zigarette genehmige?«

Ich nickte matt. Sie zündete sich eine an, setzte sich wieder und inhalierte mit Genuss.

»Und jetzt hör zu: Ich will keinen Hypochonder als Sohn. Und wenn du mit der Introspektion fertig bist und endlich wieder die Unterhose wechselst, wirst du sehen, wie viele gut aussehende, gescheite, liebesbedürftige Frauen auf dich warten. Sex ist für keinen verlassenen Mann ein Problem. Glaube mir, das dämpft den Schmerz über die eine, die dich sitzen gelassen hat, erheblich. Und dann kannst du dich rächen. Eine Frau, die du zappeln lässt, hängt später um so fester an der Angelschnur.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Und das sagt mir meine Mutter?«

»Muss es denn gleich wieder Liebe sein?«

Ich war einigermaßen schockiert.

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Mich bei einer Online-Partnerbörse anmelden?«

»Heutzutage scheint das ja üblich zu sein. Ich weiß nicht, ob das etwas bringt. Aber versuchen könntest du es ja mal …«

Sie rührte ihren Tee um, wobei sie die Zigarette im Mundwinkel hielt. Der Rauch zog an mir vorbei, weckte Assoziationen an meinen Vater. Ich grübelte weiter an mir herum.

»Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass ich so bin. Dass ich kein Erfolgsmensch sein kann, will ich sagen. Wer weiß, woher ich das habe?«

Sie verstand sofort, was ich meinte.

»Von Tobias, von wem denn sonst?«

»Es ist einfach hoffnungslos.«

»Soll ich dir mal was sagen? Als Punk hast du mir besser gefallen. No future, mit grünem Hahnenkamm, das hatte zumindest Stil. Wenn ich dich auch nicht ganz verstand.«

»Wie sähe das heute aus?«

»Entsetzlich. Du hast nicht mehr genug Haar, tut mir leid.«

Schlimmer konnte es nicht werden. Mir blieb noch ein Schluck Wein. Ich trank ihn aus, und prompt juckte es mir im Nacken, als ob ich gleich sechs Flohstiche gehabt hätte, alle auf einmal und drei auf jeder Seite. Ich unterdrückte das heftige Bedürfnis, mich zu kratzen, und fragte grimmig:

»Was würdest du an meiner Stelle tun?«

»Eine Dusche nehmen. Dir neue Wäsche kaufen. Charmant zu Frauen sein und gut im Bett. Das kann ich dir ja wohl noch zutrauen, oder? Und wenn der Brief vom Anwalt kommt, dir sagen, dass alles zwischen euch zu Ende ist. Aber dass es noch lange nicht das Ende der Welt ist. Finanziell wirst du die Sache schon verkraften. Nur vier Jahre Ehe, keine Kinder  – so dramatisch kann es nicht sein. Du wirst dich schon erholen von der Schmach. Wann hast du Urlaub?«

»Mir steht noch eine Woche zu. Im September.«

»Dann buche ein Hotel, irgendwo. Gehe ins Konzert oder ins Bordell. Du kannst dich auch besaufen, wenn dir danach ist. Hör auf, immer so entsetzlich vernünftig zu sein! Du musst wieder Lust empfinden.«

»Lust auf was?«

»Meinetwegen auf Fesselspiele. Oder auf ein Drei-Sterne-Menü. Ich kann dir nicht täglich ›Himmel und Erde‹ vorsetzen. Sei geduldig. Warte auf bessere Zeiten. Man weiß ja doch nie, was auf Reisen alles passieren kann.«

»Was redest du mir nicht alles ein?«, sagte ich. »Ich werde mich überall langweilen, das weiß ich. Auch im Bordell.«

»Hör mal«, sagte sie, »wenn du so weit kommst, dass du dich in der eigenen Scheiße wohlfühlst …«

»Ich brauche Zeit. Du musst mehr Nachsicht mit mir haben.«

»Nachsicht liegt nicht in meiner Natur.«

Sie hatte mich mundtot geschlagen, ich gab es auf. Ich tastete nach der grünen Tasse, schlürfte den Kräutertee und verbrannte mir die Zunge.

»Zu heiß?«, fragte sie harmlos. »Dann lass ihn noch etwas stehen.«

Als ich mich auf den Weg nach Hause machte, wo mich nichts als deprimierende Stille erwartete, dachte ich, dass es nie wieder gut werden konnte. Immerhin war die Finsternis nicht mehr so dicht. Der Regen hatte nachgelassen, da und dort zeigten sich sogar einige Sterne. Ich war mit nichts von dem, was Amalia gesagt hatte, einverstanden, aber ihr Mutterhormon und mein Testosteron pulsierten mehr oder weniger auf einer einheitlichen Frequenz. (Waren wir alle nur Primaten?) Dass ich am Ende in Japan landen würde, konnte allerdings weder das eine noch das andere Hormon voraussehen.

2. Kapitel

Amalia hatte recht, es ging nicht so weiter, konnte nicht so weitergehen. Mir stand noch eine Woche Urlaub zu. Ich hielt mich an meine beruflichen Verpflichtungen, zog meine Kurse durch, bis der Freitag kam. Ich fand meine Studenten samt und sonders doof. Zwar waren alle ganz Ohr und Auge, machten sich emsig Notizen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich ebenso wenig für die Darstellung des Welteneis und den Samen der Menschheitsgeschichte in den Bildern von Giotto di Bondone (1267–1337) interessierten wie ich. Abgesehen davon war diese Generation von Studenten, deren Geburtsdaten in den Neunzigerjahren lagen, zu selbstsicher für meinen Geschmack, zu cool, zu vernetzt, zu alles. Während ich mit Anfang zwanzig je nach Beleuchtung entweder wie zehn oder wie vierzig ausgesehen hatte, zeigten diese jungen Leute kaum einen Ausdruck auf den faltenlosen Gesichtern. Blickte ich in ihre arglosen Augen, sah ich mich im Geiste vor einem Teich stehen, Brot im Wasser zerkrümelnd, ein angesammeltes Fischknäuel mir zu Füßen. Mit dem Unterschied, dass die Fische zappelten und die Studenten brav in einer Reihe saßen. Eigentlich hätte es mir Genugtuung bereiten sollen, dass ich Jüngere belehren und sie von meiner Weisheit profitieren lassen konnte. Stattdessen verglich ich sie mit Forellen, was unfair war, befanden sich doch unter ihnen einige gescheite Köpfe. Gescheiter als ich allemal, der pausenlos damit beschäftigt war, mit dem eigenen Ich zurechtzukommen. So wie ich veranlagt war, musste ich für Tanja wohl ein Mann gewesen sein, den sie leichter zum Narren halten konnte als andere. Aber wer war ich eigentlich? Ich erlebte einen Moment, in dem diese Frage plötzlich da war, die nach dem eigenen Ich, nach dem eigenen Wesen, nach dem, was mich unverwechselbar machte. Oder auch nicht, dachte ich grimmig. Auf die Dauer ist wahrscheinlich jeder Mann wie der andere.

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