MONSTROSA - Rhea Krčmářová - E-Book

MONSTROSA E-Book

Rhea Krčmářová

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Beschreibung

"Das Monster bin ich." Schauerroman meets Body Horror: Eine Opernsängerin nimmt im Kampf mit fragwürdigen Idealmaßen und ihren eigenen Dämonen monströse Züge an – mit ungeahnten Folgen. Isabella Vlcek, eine übergewichtige, essgestörte Opernsängerin ohne Engagements, sucht in einer psychiatrischen Klinik Heilung für sich und ihre Stimme. Als sie auf eine Clique eng verschworener Mitpatient:innen trifft, die sie ablehnen und seltsame Rituale abhalten, brechen alte Traumata auf. Von Albträumen gequält, muss Isa mitansehen, wie ihr Körper sich verwandelt. Während sie mit ihrem neuen, monströsen Selbst kämpft, beginnt auch beim Rest der Gruppe die Verwandlung … Rhea Krčmářová schafft eine packende Reflexion über die Entfremdung vom eigenen Körper und den Preis virtueller Schönheitsnormen.

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Rhea Krčmářová

MONSTROSA

Roman

Kremayr & Scheriau

Triggerwarnung: In diesem Buch geht es sehr explizit um Essstörungen, Selbstverletzung, Mobbing, Suizid.

Inhalt

Ouvertüre

AKT 1

AKT 2

AKT 3

Anas Gesang:

Schöne Mädchen essen nicht.

Setze dir ein Lächeln auf und tanze durch den Tag.

Sei pur. Sei frei. Sei du selbst.

Ouvertüre

Das Monster, flüstern sie.

Es kommt.

Es holt euch.

Versteckt euch.

Knochige Füßchen klatschen auf dem brüchigen Linoleumboden auf, leicht wie Kirschen, die auf Beton prallen. Fast verhungerte Fingerchen greifen nach dem Ständer mit eingetrocknetem Magensondenbrei, klammern sich daran fest. Echozarte Stimmchen flüstern sich Warnungen zu wie Gebete.

Nur die Glastüre vor dem Therapieraum trennt mich noch von ihnen. Zwei fast durchsichtige Gestalten kauern auf dem Boden, haben keine Kraft mehr, aufzustehen. Jemand steht vor dem Tisch, dahinter eine stille Gestalt, starr, aufgebahrt. Wer liegt da? Solveig? Caroline? Elif?

Ich warte, bis die Wolken weitergezogen sind und ich das monderleuchtete Szenario besser überblicken kann. Die Lichtschalter klicken in leere Dunkelheit, die uralten Heizkörper hängen still und kalt unter beschlagenen Fenstern, Spätwinterkälte hat sich in jedem Winkel eingenistet. Wurde der Pavillon gänzlich im Stich gelassen, oder hat sich jemand aus der Gruppe an den Sicherungen zu schaffen gemacht? Alle haben es in ihre Anabibeln geschrieben: Die Kälte ist dein Heil. Die Kälte verbrennt Kalorien.

Ich komme näher. Drücke mein Gesicht, oder was davon übrig ist, an die Glastüre. Höre fünf kleine schwache Lungen nach Luft schnappen.

Verschwinde, Ungeheuer, flüstern die Schatten.

Lass uns in Frieden sterben.

Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet im Glas der Trenntüren zwischen Krankenstation und Stiegenhaus; in den Überresten des zersplitterten Spiegels im Therapieraum oder im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war.

Das Monster bin ich.

AKT 1

1. Szene

»Würden Sie sich bitte auf die Waage stellen, Frau Vlcek?«, sagt die Krankenschwester.

Ich versuche, unter ihrer professionellen Freundlichkeit etwas herauszuhören, einen Hauch Vorbehalt vielleicht, oder ein kleines bisschen Verachtung, kann aber nichts entdecken, so sehr ich mich auch anstrenge. Die Schwester weist mit ihrer Hand, auf der erste zarte Altersflecken blühen, auf die Waage, das weiße Metallungetüm, das in der Ecke des Untersuchungszimmers lauert. Das Unding, das meine Wirklichkeit und meinen Wert bestimmen wird.

»Ist das wirklich notwendig?«, frage ich.

Die Schwester nickt. »Wir brauchen die Daten für unsere Patientenakte.«

»Dann werde ich wohl draufhüpfen. Oder vielleicht lieber nicht.«

Die Schwester schmunzelt, ist wohl froh darüber, dass ich die Situation anscheinend mit Humor nehme. Bei den Aufnahmegesprächen hat sie vermutlich genug Dramen erlebt, gegen die sich die gesamte Operngeschichte trocken wie eine Steuererklärung anhört.

Es ist nicht Frau Professor Pirchner, die mich in Empfang genommen hat, es hätte mich auch überrascht, wenn die Abteilungsleiterin höchstpersönlich am Sonntagnachmittag ihren Dienst versehen würde. Stattdessen sitzt eine zierliche ostasiatische Krankenschwester, die sich mir als »Oberschwester Corazon, das Herz der Essstörungsabteilung« vorgestellt hat, im trockenfleischbraunen Leder-Bürostuhl hinter einem Achtzigerjahre-Schreibtisch.

Die Schwester nimmt meine Akte in die Hand und schenkt mir einen Blick, in dem mehr Verständnis liegt, als ich mir erwartet, als ich mir erhofft habe. »Ich kann die Zahl aufschreiben, ohne sie Ihnen zu sagen, wenn Sie möchten.«

»Würden Sie mich für eine Primadonna von Callas-Ausmaßen halten, wenn ich Sie darum bitte? Also Callas in der Prä-Bandwurm-Ära?« Was wird sie sonst noch in die neu angelegte Akte schreiben? Patientin verhält sich unkooperativ? Verweigert sich der Wirklichkeit?

Die Schwester lächelt. »Es wäre nicht das erste Mal, Frau Vlcek.«

Schwester Corazon scheint Mitte, Ende fünfzig zu sein. Wie lange schlägt sie sich schon mit Menschen wie mir herum?

»Wissen Sie ungefähr, wie viel Sie wiegen?«

»Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht so sicher.« Über 100 Kilo werden es sein, vielleicht 110 oder mehr.

»Haben Sie keine Waage zu Hause?«

Ich schüttle den Kopf, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Meine so zierlichen wie figurbewussten Mitbewohnerinnen, Cellistin Sophie und Tänzerin Susa, haben natürlich je eine Waage in ihren Zimmern, und um ganz sicherzugehen, dass sie sich ausreichend kasteien, steht noch eine Waage an prominenter Stelle im Badezimmer. Nachdem ich vor knapp drei Jahren in die WG eingezogen war, hatte ich mich einige Male auf die Waage gewagt. Da ich danach aus lauter Entsetzen über die steigenden Zahlen Opferfeste an den Kloschüsseldämon veranstaltet hatte, hatte ich seit mehr als einem Jahr keinen Fuß mehr auf so ein Gerät gestellt.

»Ich weiß, dass es für unsere Patientinnen und Patienten nicht immer einfach ist, sich ihrem tatsächlichen Gewicht zu stellen«, sagt Schwester Corazon. »Auch für die ganz, nun, schlanken. Aber auf die Waage zu steigen, kann der erste Schritt in Richtung Besserung sein.«

Oder der erste Schritt dorthin, wo die Ungeheuer lauern. Für einen Moment bin ich nicht mehr 32, sondern knapp zwölf, sitze nicht im Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald, sondern mit meinen Eltern in einem Ambulatorium in Wien-Donaustadt. Wir warten vor einem Untersuchungszimmer der Krankenkasse, die mein erstes Diätcamp zahlen soll. Durch die offene Türe sehen wir den Arzt, der mit einer Schwester spricht. Ist der aber hager, flüstert meine Mutter. Hager. Irgendwie mag ich das Wort. Ich muss mich bis auf die Unterhose ausziehen, mich messen und wiegen lassen. Der Arzt sieht mich kaum an, als er die Haut auf meinem Bauch und Rücken zwischen zwei Fingern einklemmt, als er sein kaltes Stethoskop auf mein Kinderherz drückt. Er nennt eine Zahl, an seiner Stimme merke ich, dass sie nicht gut ist. Was, wenn sie noch rauswächst?, fragt meine Mutter. Das ist ihr letzter Versuch, mich in Schutz zu nehmen. Nehmen Mädchen denn nicht zu, wenn sie ihre Tage bekommen? Jetzt sieht der Arzt mich an. Kann auch ein Blick hager sein? Wann hattest du denn zum ersten Mal deine Tage?, fragt er. Na, du musst jetzt aber nicht rot werden! Vor zwei Monaten, sagt meine Mutter. Siehst du, sagt der Arzt, dann brauchst du diese Speckröllchen ja nicht mehr. Ich sehe an meinem Bauch und meinen Hüften hinunter. Speckröllchen. Die gute Nachricht ist, noch ist sie nicht einmal zwölf, höre ich den Arzt sagen, noch kann man das Allerschlimmste verhindern. Was ist dieses … Schlimmste denn? Jetzt flüstert meine Mutter. Fortgeschrittene Fettleibigkeit. Wollen Sie, dass das Kind mit zwanzig Diabetes hat?, fragt der Arzt. Dass es mit vierzig an einem Herzinfarkt krepiert? Wollen Sie, dass das Kind endet wie …? Am Heimweg hängt Schuldbewusstsein in Mutter- und Vaterblicken.

»Dann sehen wir doch mal.« Schwester Corazons Stimme bringt mich von Wien-Donaustadt wieder ins Klinikum im Wienerwald. Ich lege meinen Mantel auf den Stuhl, ziehe meine schwarzen Stiefel aus, die warmen, die ich sonst nur am Friedhof trage, und die ich für gesundheitsfördernde und Kalorien verbrennende Winterspaziergänge mitgenommen habe. Unter der »hautfarbenen« Strumpfhose, die drei Nuancen zu dunkel ist, schimmern die weinrot lackierten Nägel meiner sorgsam pedikürten Zehen. Zögernd setze ich einen Fuß auf das Metallpodest der Waage, lasse mein Gewicht sinken, höre ein Knarzen, ein Ächzen. Verlagere langsam, vorsichtig mein Gewicht, die Waage protestiert weiter.

»Zumindest ist die Waage nicht türkis. Ich bin ja dankbar für kleine Dinge«, sage ich, der Ton meiner Stimme nahezu heiter.

»Spielt die Farbe eine Rolle?« Die Schwester klingt leicht verwirrt, während sie den Regler der Waage händisch einstellt.

»Nein … oder doch?« Ich wende meinen Kopf ab, als Schwester Corazon die Gewichtseinstellungen adjustiert und die Zahlen dann in meine Akte schreibt. Wieder versuche ich, aus ihrem Gesicht etwas herauszulesen, aber das freundliche Lächeln der Schwester bleibt professionell.

»Danke. Sie können sich die Schuhe anziehen und wieder setzen, Frau Vlcek.«

Das Telefon läutet, unerwartet laut in der Stille des Untersuchungsraums. Die Schwester hebt ab, sagt einige Male Ja, und einmal Jetzt gleich. Dann dreht sie sich zu mir. »Entschuldigen Sie bitte, ich muss kurz nach oben. Gleich bin ich wieder da, ja?«

»Natürlich.«

Die Schwester nickt mir zu, verlässt den Raum. Ich beuge mich über die Akte. Einhundertachtzehn Kilo bei einem Meter achtundsechzig … BMI über 40 … krankhaft fettleibig … Sechs Kilo mehr als beim letzten Wiegen vor einem Jahr. Bei der Untersuchung vor zwanzig Jahren habe ich zumindest das Wort »krankhaft« nicht gehört.

Während ich meinen zweiten Stiefel schnüre, gellt ein Schreien durch das Klinikgebäude, dringt in meine Muskeln, zwingt mich zu einem schnellen, harten Einatmen. War das ein Mensch, der geschrien hat, oder habe ich mich verhört, das Hochpfeifen des Windes mit einer gequälten Stimme verwechselt? Mein Blick fällt aus dem Fenster in den Hof, auf andere Backstein-Pavillons und die kleine Kirche in der Mitte der Anlage. Das Klinikum Gertraudshöhe, »die Gerti«, steht auf einer Anhöhe mitten im Wienerwald, einige Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Mag sein, dass man in den 1890ern an die therapeutische Wirkung von frischer Luft und Vogelgesang geglaubt hat. Vielleicht haben die Erbauer aber einfach nur eine Möglichkeit gesucht, psychisch angeschlagene Menschen dekorativ hinter Bäumen zu verstecken, und – wenn man den Gerüchten im Internet Glauben schenken mag – die irdischen Hüllen mancher verlorenen Seelen auch diskret unter besagten Bäumen zu beerdigen, zumindest in den Anfangsjahren der Institution. In Wien und Umgebung sagte man früher über jemanden, der den Verstand verloren hatte: Den hat sich die Gerti geholt, der kommt nimmer mehr heim. Wenn ich mich nicht irre, gibt es darüber auch ein Wienerlied.

In der Mitte des Klinikgebäudes lauert ein neugotisches Kirchlein, und es hätte mich geradezu überrascht, würden an den Enden der Dachrinnen keine Wasserspeierungeheuer prangen. Die braun gefleckten Backsteinbauten – neun Pavillons, ein Verwaltungsgebäude, das Portiershaus mit Kiosk (und laut Wikipedia auch eine kleine frei stehende Leichenhalle, versteckt unter Bäumen hinter Pavillon F) erinnern mich an die Kulissen einer Hänsel-und-Gretel-Inszenierung am Konservatorium, in der ich als Gretel mitgesungen hatte. Dieses eine Mal hatte ich die Hauptrolle ohne Zögern bekommen, war keine Zweit- oder Drittbesetzung gewesen. War gecastet worden, da ich mit meinen runden Formen und Wangen kindlich aussah, und in meinem Kostüm an eine überdimensionierte Stoffpuppe aus dem neunzehnten Jahrhundert erinnerte, die singend durch ein viktorianisches Waisenhaus läuft, in das unser ebenfalls studentischer Regisseur die Oper mangels sonstiger origineller Einfälle verlegt hatte.

Zwischen den Gebäuden des Klinikums Gertraudshöhe wuchert beschneites Gestrüpp. Die Hälfte der Pavillons scheint leer zu stehen, die anderen sind wohl auch nur mehr spärlich belegt. Laut Internet gibt es Pläne, das Klinikum zu einem Privatsanatorium umzubauen, weshalb die Patientinnen und Patienten nach und nach in andere Kliniken umgesiedelt werden. Was klingt weniger einladend: eine volle psychiatrische Klinik oder eine halb leere?

Ich sehe die Wasserspeier, halb versteckt zwischen kahlen Ästen und Nadelbaumzweigen. Sie scheinen Grimassen zu ziehen, mich auszulachen.

Als Schwester Corazon wieder zurück im Zimmer ist, greift sie nach dem Blutdruckmessgerät auf dem Tisch, erlaubt sich ein kleines Seufzen. »Entschuldigen Sie, wir hatten einen klitzekleinen Notfall im ersten Stock. Eine der Patientinnen war leider stark unterzuckert. Aber keine Sorge, wir haben alles im Griff.«

Sie legt eine Manschette um meinen Arm, pumpt sie auf. Das Stethoskop, das sie in meine Ellenbeuge drückt, fühlt sich noch kälter an als das des Krankenkassenarztes. »Ihr Blutdruck ist definitiv zu hoch, Frau Vlcek – darf ich Sie Frau Isabella nennen? Gerade jüngere Patientinnen und Patienten nennen wir beim Vornamen.«

Wird sie mir jetzt das erzählen, was mir bis jetzt jeder Arzt und jede Ärztin erzählt hat? Mir eine Predigt darüber halten, wie gefährlich mein Gewicht doch nicht sei, und mich fragen, warum ich denn bis jetzt nichts unternommen hätte? Die Stimme des hageren Arztes klingt in meinem Kopf, verzerrt wie eine Wachsschallplatte, seine Warnungen schrill wie das Gekreische des Kastraten Alessandro Moreschi.

»Der erhöhte Blutdruck kann natürlich auch durch die Aufregung entstehen«, sagt Schwester Corazon und lächelt mich an. »Morgen Früh werden wir noch einmal nachsehen. Dann nehmen wir vor dem Frühstück auch gleich Blut ab. Bitte bleiben Sie nüchtern, ja?«

Ich nicke.

Die Schwester öffnet eine Schublade, in der bunte Papierbändchen liegen, Bändchen von der Art, wie man sie bei Festivals und All-inclusive-Urlauben ums Handgelenk bekommt. Die nächsten zwei Monate werde ich auch All-inclusive-Verpflegung und Animation in Form von Kochkursen und Seelenstöbern und therapeutischem Töpfern haben.

»Hatten Sie eine gute Anreise, Frau Isabella? Der Bus fährt ja gerade am Sonntag nicht so oft.«

»Ich habe mir ein Taxi vom Bahnhof genommen.« Bereut hatte ich meine Entscheidung keine zwei Minuten, nachdem ich ins Auto gestiegen war und der Taxifahrer nicht aufhören wollte, vor irgendeinem neuen Virus zu warnen, das im Moment irgendwo in Afrika oder Asien grassierte und ganz sicher, aber jetzt ganz, ganz sicher nach Europa kommen würde. Meine Situation deprimiert mich ausreichend, das Letzte, was ich brauche, sind VW Jetta fahrende und SK Rapid-Schals tragende Weltuntergangspropheten.

»Sie haben großes Glück, dass Sie in den bestehenden Therapiezyklus einsteigen können, Frau Isabella. Wir haben ja an sich schon vor drei Wochen begonnen.«

»Professor Pirchner hat mir das bei unserem Telefonat am Freitag auch gesagt.« Die »Gerti« war definitiv nicht meine erste Wahl. Nach Frau McWhorters Ultimatum hatte ich sämtliche Kliniken in Österreich gegoogelt und einige fast schon hotelartige Privateinrichtungen in den Bundesländern gefunden, allerdings hätte ich die Kostenübernahme von der Krankenkasse bewilligen lassen müssen, und so eine Prozedur kann mehrere Wochen bis Monate dauern. In zwei Kliniken hätte es sogar freie Plätze gegeben, aber nur Zwei- und Einbettzimmer für Privatversicherte. So vielen Verstorbenen kann ich gar nicht Ave Maria und I Will Always Love You hinterher singen, dass ich mir damit so einen Aufenthalt leisten könnte.

»Sie kennen die Frau Professor?«, fragt Schwester Corazon.

»Nicht persönlich. Aber sie ist mit meiner Gesangslehrerin befreundet, Shirleye McWhorter. Vielleicht haben Sie schon von ihr gehört?«

Das Lächeln der Schwester ist jetzt nicht mehr professionell, sondern von genuiner Wärme. »Natürlich. Was für eine großartige Sängerin. Wann habe ich sie das letzte Mal singen gehört? Bei dem Weihnachtskonzert im Fernsehen, glaube ich. Ist aber auch schon zehn Jahre her, glaube ich.«

»Frau McWhorter unterrichtet nur noch, leider.« Ich senke den Kopf, will der Schwester nicht zeigen, wie sehr mich das schmerzt. Ich hatte Shirleye McWhorter das erste Mal mit siebzehn gehört, am Balkonstehplatz der Staatsoper (Halbmitte links). Ihre Stimme war so kraftvoll gewesen und dennoch so weich, Klangwellen, die mich in eine ganz besondere Tiefe gelockt hatten, la McWhorter in ihrem üppig vierzierten Kostüm wie eine gigantische Fruchtbarkeitsgöttin, wie die Weiblichkeit in Person. In diesem Moment verstand ich, dass ich mich auch zu Frauen hingezogen fühlte. Nach der Vorstellung hatte ich meine Schüchternheit überwunden und mir ein Autogramm geholt. Das Foto hing über meinem Bett im Gemeindebaukinderzimmer, bis meine Geschwister es von der Wand rissen. Jetzt steht es – mit Klebefilm gerettet – in einen Silberrahmen gebettet auf meinem Klavier im WG-Zimmer.

»Schade, dass Frau McWhorter nicht mehr singt«, sagt Schwester Corazon. »Aber Sie haben großes Glück, dass Sie so eine Lehrerin haben.«

»Absolut.« In den drei Monaten, seit ich mit Frau McWhorter arbeite, hat meine Stimme begonnen, sich zu verändern, weicher zu werden. Größer. Fraulicher.

»Für eine Schülerin der großen McWhorter macht Frau Professor natürlich gerne eine Ausnahme«, sagt die Schwester. »Aber hätten Sie nicht lieber nach Ostern einsteigen wollen?«

»Im Frühsommer ist ein großer Gesangswettbewerb. Je früher ich die Therapie beende, desto mehr Zeit habe ich, mich vorzubereiten.« Ich werde der Schwester nicht erzählen, dass meine Lehrerin damit gedroht hat, mich nicht mehr zu unterrichten, wenn ich mich nicht in Behandlung begebe.

»Können Sie an dem Wettbewerb nicht auch nächstes Jahr teilnehmen?«

»Das lässt mein fortgeschrittenes Alter leider nicht zu.«

»Sie sind doch gerade mal 32.«

»Das ist für Frauen auch die absolute Obergrenze, um bei solchen Wettbewerben anzutreten. Meist ist mit 30 Schluss. Die Herren der Schöpfung können sich zum Teil bis 35 Zeit lassen.«

»Das klingt nicht fair.«

»Warum sollte die Opernwelt besser sein als der Rest der Gesellschaft?«

Die Schwester nickt. »Mussten Sie viele Engagements absagen, um hierherkommen zu können?«

Ich schüttle den Kopf, versuche, nicht an den leeren Auftrittskalender in meinem WG-Zimmer zu denken.

»Ich hatte bis vor zwei Wochen ein fixes Engagement, habe bei Sonntagsmessen Sopransoli gesungen. Der neue musikalische Leiter hat sich aber … leider für jemand anderen entschieden. Im Moment habe ich nur … freie Auftritte, die sich recht spontan ergeben.« Statt von Opernhäusern werde ich nur noch von Beerdigungsinstituten gebucht. Mein Zwerchfell zieht sich zusammen, ich atme gegen die Enge in meiner Brust an. Versuche, nicht an vorgestern zu denken, an das Begräbnis einer jungen Frau am Meidlinger Friedhof. Der Sarg war so leicht gewesen, dass nur drei Männer ihn trugen, die Mutter hatte vor Trauer kaum gehen können, hatte mich umarmt und fast nicht mehr losgelassen. Hatte geschluchzt, dass ihre Tochter – Milena, Milica? – verhungert war. Zum Glück war niemandem aufgefallen, dass ich nur mit halber Stimme sang, weil nach meiner Entlassung aus dem Kirchenjob meine Monster in Bauch und Kehle getobt hatten.

»Sehen Sie es positiv«, sagt Schwester Corazon. »So haben Sie jetzt mehr Zeit, sich um Ihre Gesundheit zu kümmern.«

Zumindest muss ich mir keine Sorgen um die Miete machen. Eine deutsche Freundin von Susa wird für die nächsten zweieinhalb Monate in meinem WG-Zimmer wohnen. Ute ist Sopran wie ich, sie kommt nächste Woche nach Wien, um die Fiordiligi in der neuen Così-Inszenierung an der Volksoper zu singen, und freut sich über die Unterkunft nahe der Probebühne. Sophie und Susa waren sprachlos gewesen, als ich ihnen von meinem Einrücken in die »Gerti« erzählte. Überrascht, dass ich die Erste von uns dreien bin, die sich im Kampf mit dem und gegen das Essen Hilfe sucht, wenn auch nicht unbedingt aus freien Stücken. Zumindest hatte Sophie mir ihren alten mp3-Player geliehen, damit ich neue Arien für den Wettbewerb einstudieren und ein bisschen Musik hören kann. Laut Professor Pirchner herrscht in ihrer Abteilung für die Patientinnen und Patienten strenges Telefonverbot, nur unmittelbar nach den Mahlzeiten ist ein Benutzen des Handys – natürlich nur unter Aufsicht – erlaubt.

Schwester Corazon nimmt ein pinkes Klebearmband aus der Schublade, auf dem Pav. E steht. »Eigentlich sollten Sie ein lila Band bekommen, aber wir haben keine mehr. Das rosa sollte es auch tun.« Sie klebt das Band um mein linkes Handgelenk, eng genug, dass ich es nicht abstreifen kann.

»Ich habe schon glamouröseren Armschmuck getragen … Haben Sie nicht eines mit wenigstens einem kleinen bisschen Strass?«

»Leider nein, das wäre sicher hübscher.«

Schwester Corazon lässt einige nicht-klebende Papierschnipsel in einen Mülleimer schweben. »Solange Sie in der Klinik sind, dürfen Sie dieses Band nicht entfernen, Frau Isabella.«

»Warum?« Meine Finger gleiten an dem Band entlang, dessen Farbe mich an mein erstes Konzertkleid erinnert, einen violett glitzernden Sack, den ich mit achtzehn in der hintersten Ecke einer Übergrößenboutique gefunden hatte.

»So wissen die Angestellten im Kiosk und in den anderen Abteilungen, dass Sie Patientin in unserem Pavillon sind. Es gibt ein striktes Verbot, an Patientinnen und Patienten mit pinken und lila Bändern Essen zu verkaufen.« Schwester Corazon bemerkt meinen skeptischen Blick. »Die Erfahrung lehrt einen so manches, Frau Isabella. So, und jetzt gehen wir nach oben.«

Mein Rollkoffer und ich folgen der Schwester aus dem Untersuchungszimmer auf den Gang. Ich bin wohl angekommen.

2. Szene

Wir werden uns heute Abend wieder in unserem Kreis versammeln. Unseren Reigen brauchen wir noch mehr als sonst, unsere Stimmungen sind zerfranst, seit unsere Ana-Schwester erkaltet ist über Nacht. Die Erinnerungen an das Mutterschreien und Vaterwimmern hatte uns die Ruhe zerrissen, uns aus dem Schlaffetzen gezerrt, das Blei aus unseren Augen gerieben. Die Erinnerung an eine Kontur unter dem Leintuch, das zum Leichentuch geworden war.

Unsere Schwester war der Ewigkeit entgegengedämmert. Wir hatten sie im Nachtlichtschatten vorgefunden, steifer als steif, grauer als grau, mit Flecken, die sich unter papierzarter Haut ausbreiteten. Keine normalen Blutergüsse, wie sie unsere Körper verzieren. Ihr Blut hatte begonnen, sich aufzulösen. Der Mund war offen, der Fütterungsschlauch hatte immer noch durch die Nase geführt, Brei war aus dem Nasenloch getropft. Hatte sich mit Blut vermischt; war auf der Wange eingetrocknet.

Wir hatten um das Bett unserer kälter werdenden Schwester gesessen, während der Morgen auf sich warten ließ. Ist das unser endgültiges Ziel? Wir wussten, wir wissen es nicht. Hätten wir sie retten können? Hätten wir versuchen sollen, sie zu wecken, als wir uns zu unserem Ritual in die Leichenhalle geschlichen hatten? War das ein Ausblick auf unser Ende?

Wir lassen die Wochen verstreichen, die Monate. Was haben wir denn sonst zu tun? Das Draußen ist angehalten, eingefroren für uns. Ab und an entkommt jemand von uns. Nimmt das Taxi oder den Leichenwagen. In die Freiheit. So oder so.

Wir gedenken der Schwester, die wir verloren haben. Sehen uns ihre Fotos an, ihre Profile im Netz, die zu virtuellen Grabmalen wurden. Ihre Eltern haben sie nicht gelöscht. Wissen vermutlich nichts von ihnen.

Wir lesen die Kommentare, die wir geschrieben haben. RIP Anasister. Goodbye, du Engel. #ultimategoal #weightlossjourney

Jetzt steht ihr Bett leer, wartet auf die nächste Fee oder Elfe, Mia oder Ana. Wir werden sie aufnehmen, sie ermuntern. Werden sie mit Worten nähren.

3. Szene

Auf dem Weg nach oben umfängt mich Klinikgeruch von Desinfektions- und Putzmittel, in den sich die Ausdünstungen eines uralten Linoleumbodens mischen, und etwas, das ich nicht identifizieren kann. Vielleicht Moder, oder Staub, der seit Langem in Winkeln lauert, in die der vermutlich immer spärlicher werdende Putztrupp nicht herankommt.

Ich spüre, wie das Loch in meinem Magen sich zu öffnen beginnt, das Loch, das sich in den Jahren seit meinem Opernschulabschluss nie mehr gänzlich schließen lässt.

Das Loch, das gestopft werden muss, in immer kürzeren Abständen.

Das Loch, in dem die Monster lauern.

Es dehnt sich über den Magen hinaus aus, gähnt dort, wo mein Zwerchfell sein sollte, meine weiblichen Organe, meine Lunge, meine Stimmbänder. Wenn ich könnte, würde ich in etwas hineinbeißen, versuchen, mein Unbehagen zu zerkauen, hinunterzuschlucken.

Es gibt kein Entrinnen mehr. Für mich. Für das, was in mir lauert.

Werde ich die Monster austreiben können? Oder zumindest anfangen, sie zu zähmen? Werden sie hier wachsen, überhandnehmen, erst mich fressen und dann alles um mich herum?

Das wird sich weisen, flüstern die Monster in meinem Loch, und dann kichern sie.

Das Mädchen, das sich die breiten Steintreppen hinaufplagt, übersehe ich fast. Sie ist winzig, kaum mehr als ein Häufchen Knochen, eingewickelt in einen dicken Pullover, unter dem ein Sweatshirt hervorschaut. Die Kleine klammert sich am Geländer fest, als würde es sie vor einem Höllenschlund bewahren, der sich unter ihr geöffnet hat und sie verschlingen will. Oder vor einem Sturz und sehr vielen blauen Flecken.

»Elif, was machst du hier unten?«, fragt die Schwester.

Elif dreht sich um. Ihre Augen liegen wie erloschene Bühnenscheinwerfer in ihrem Gesicht, ihre Wangenknochen schneiden durch die Luft wie die Ränder eines ausgefransten Notenblattes. Sie kann nicht älter als zehn oder elf Jahre sein. Gibt es hier im Pavillon auch eine Kinderstation?

»Hallo, Elif«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. »Ich bin Isabella. Die Neue.«

Die Kleine antwortet nicht. Sie sieht mich an, als hätte ich einen zwei Meter breiten Mund, mit Zähnen spitz wie Grillspieße.

»Warum bist du nicht oben?«, fragt die Schwester.

Die Kleine schweigt.

»Komm, Elif«, sagt die Schwester. Sie geht die paar Treppen hinauf, nimmt Elif an der Hand, führt sie vorsichtig hinunter und uns beide zum Aufzug, der irgendwann in den letzten fünfzig Jahren relativ brutal in den Pavillon eingebaut wurde.

»Im Keller ist der Kunsttherapieraum und ein kleines Schwimmbecken«, sagt Schwester Corazon. Elif seufzt auf, ein Geräusch wie ein Piccoloflötchen, gespielt von einer Schwindsüchtigen, und lässt sich gegen die Rückwand sinken.

»Frau Professor hat sich sehr dafür eingesetzt, dass die Patientinnen und Patienten diese Möglichkeit haben«, sagt die Schwester. »Sie wollen das Becken sicher einmal ausprobieren.«

Nicht, wenn mich Menschen sehen können, die ein Drittel von mir wiegen, wenn überhaupt.

Die Aufzugstüre öffnet sich, Elif strauchelt, die Schwester fängt sie auf.

»Im Erdgeschoss liegen die Büros, Einzeltherapieräume und die Lehrküche. Hier im ersten Stock befinden sich der Speisesaal, ein Therapie- und ein Gymnastikraum, ein Gruppenraum und die Patientenzimmer. Ihre Einzeltherapeutin wird Frau Doktor Wertheim sein, Sie bekommen die Stunden zugewiesen, je nachdem, wie Frau Doktor Zeit hat.«

»Und im zweiten Stock?«

»Der ist zurzeit leider gesperrt, aber an sich sind da noch Patientenzimmer und Therapieräume. Im Vollbetrieb hatten … haben wir drei Therapiegruppen.«

Die Schwester öffnet die Türe zu einem Dreibettzimmer im hinteren Teil des Ganges. Ich folge ihr hinein, vergleiche den Raum mit den offensichtlich digital verschönerten Bildern, die ich im Internet gefunden habe. Die Wände sehen fleckiger aus als auf den Fotos der Klinikwebsite, die Krankenbetten in durchschnittsbrauner Holzoptik haben Kratzer in der Furnierbeschichtung, und das wintergraue Linoleum mit Kieselmuster wirkt, als wäre es schon zu Zeiten von Kaiserin Sisi verlegt worden. Gegenüber von den Betten stehen Spinde, deren Braun sich mit dem der Betten beißt, daneben ein kleiner Tisch, auf dem ein Strauß pinker Lilien in einer Siebzigerjahre-Plastikvase vor sich hinwelkt. Zumindest wirken die Lampen mit den Neonröhren vergleichsweise frisch.

Die Schwester führt Elif zum Bett neben der Türe, hilft ihr, sich hinzulegen. Auf die Wand über ihrer Schlafstelle hat Elif mit pinkem Washi-Tape Bilder niedlicher japanischer Comic-Tierchen und asiatischer Bubenbands gehängt. Ich lese das Namensschild auf ihrem Bett, Elif Zarife Ince.

»Sie haben das Bett ganz hinten, Frau Isabella«, sagt Schwester Corazon.

Ich schiebe meinen Koffer in Richtung Zimmerende, trete an das Fenster. Das Krankenzimmer liegt auf der Rückseite des Pavillons, und das Panorama bietet hauptsächlich Nadelbäume, deren Zweige gegen das Gebäude schlagen.

»Ausgesprochen einladende Aussicht«, sage ich, bekomme aber keine Antwort.

Zwischen den Bäumen sehe ich in einiger Entfernung die Umrisse eines niedrigen Ziegelgebäudes. Ist das die ehemalige Leichenhalle, von der ich gelesen habe?

Ich setze mich auf die Matratze, erwarte fast, Staubwölkchen aufsteigen zu sehen. Bemerke, dass auf dem Bett zwischen Elifs und meinem eine junge Frau liegt, die zu dösen scheint. Sie ist sehr, sehr blond und sehr, sehr dünn; das ahnt man auch durch die dicke Strickjacke, die Kuschel-Leggings, die Wollsocken. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, sie könnte siebzehn sein oder auch Ende zwanzig. Auf ihrer linken Wange klebt ein Plastikschlauch, der in ihrer Nase beginnt und in einem mit einer dicken braunen Flüssigkeit gefüllten Sack endet, der an einem Ständer mit Rollen hängt. Oder beginnt der Schlauch im Sack und endet in ihrer Nase? Ich lese ihren Namen, Caroline Walentin. Die junge Frau bewegt sich ein wenig, ihre Augen öffnen sich, schließen sich, öffnen sich wieder. Sie dreht den Kopf in meine Richtung, und ihr Erschreckensseufzer erfüllt das Zimmer. Die Augen in ihrem ausgehungerten Gesicht wachsen, bis sie fast so groß wie in den Comiczeichnungen über Elifs Bett erscheinen. Sie steht auf, so gut sie kann, packt den Ständer mit dem Essensbrei und läuft aus dem Zimmer.

Elif ruft »Caro, warte« und strauchelt ihr nach.

»Caroline, das war aber nicht sehr nett. Bleib da und begrüß Frau Magister Vlcek … Isabella«, ruft die Schwester ihr nach. »Sie müssen ihr verzeihen, die Patientinnen und Patienten hier sind oft sehr sensibel, wenn es um ihren geordneten Tagesablauf geht. Außerdem ist … hat … vor einigen Tagen … eine Patientin … die Therapie vorzeitig abgebrochen.«

Die Schwester scheint etwas sagen zu wollen, unterbricht sich. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Isabella. Sie werden sich noch einleben.«

»Ich bin ganz sicher, wir werden noch ganz dicke Freundinnen.«

Das Lächeln der Schwester wirkt jetzt eindeutig gequält. »Ganz bestimmt«, sagt sie, dann lässt sie mich allein.

4. Szene

Sie haben es tatsächlich getan, haben einen Berg aus Fleisch und Fett in unsere Mitte gezwungen, haben diesem Ungeheuer das Bett unserer erkalteten Schwester gegeben.

Die Neue. Ein Zerrbild. Ein Monster.

Speckfalten, die sich in ihr Kleid, ihr Zelt fressen.

Beine, die schwer auf dem Boden aufschlagen.

Das Bett wird unter ihr zusammenbrechen.

Die Nähte ihres Kliniknachthemds werden platzen.

Die Oberschwester hat die Neue Frau Magister genannt, aber sie muss sich irren. So einem Ungeheuer fehlt doch jegliche Disziplin, sein Fressloch geschlossen zu halten. Wie soll so jemand ein Studium fertig machen? Wir stellen uns Chipstütenrascheln in der Universitätsbibliothek vor, auch wenn niemand von uns diesen Ort je betreten hat. Sehen die Fette, eingeklemmt im Vorlesungssaal, auf einer der Holzbänke.

Wie sollen wir umgehen mit diesem Frevel, dieser Provokation?

Wir müssen sie spüren lassen, dass sie nicht willkommen ist.

Vielleicht verschwindet sie von allein.

5. Szene

Ich lasse mir mit dem Auspacken viel Zeit, auch, weil ich nicht wirklich weiß, was ich sonst mit mir anfangen soll. Laut der Oberschwester wird das Abendessen erst in gut zwei Stunden serviert, und in mir prallen Gedanken und Gefühle aufeinander, knäueln sich ineinander in wilder Dissonanz, untergraben meine Versuche, mich auf das Einstudieren einer neuen Arie zu konzentrieren. Mit der Erlaubnis von Schwester Corazon gehe ich in den Garten, wandle zwischen den Pavillons umher, gut eingepackt, wobei mir ohnehin nie so leicht kalt wird wie dünneren Menschen. Das Papierbändchen bleibt einige Male am Ärmelsaum meiner Jacke und an den Handschuhen hängen, am liebsten würde ich es herunterreißen und eine Spur aus violetten Konfetti in den Wind werfen. Während ich durch die Spätjännerdämmerung laufe, an den Pavillons vorbei, kämpfe ich gegen das Unbehagen an, das sich an mich klammert, seit ich das Kliniktor durchschritten habe. Ich versuche, die Wasserspeierungeheuer genauso zu ignorieren wie die wenigen Patienten, die zwischen den halb toten Büschen herumirren. Die meisten scheinen ohnehin in ihrer ganz eigenen Welt zu sein, der Wind trägt ihr Murmeln zu mir, ihr Schweigen, ihr Fluchen.

Morgen werde ich also beginnen, mit Gesprächen und Therapien, mit Malrunden und Kochnachmittagen. Kann ich das Loch schließen, die Monster zähmen, meinen Hunger unterwerfen?

Ich kann. Werde. Muss. Vielleicht gelingt es mir, wegschmelzen zu lassen, was nicht zu mir gehört. Mich leichter zu machen. Ich möchte nicht so zart sein, so durchsichtig wie Elif oder Caroline, mir genügt es, zum gesellschaftlich geforderten Durchschnitt zu gelangen.

Damit ich endlich schlank sein kann. Schön.

Oder zumindest schlanker, schöner.

Oder zumindest annehmbarer.

Wenn ich es schaffe, die Ungeheuer zumindest soweit zum Schweigen zu bringen, dass ich zwei Kleidergrößen kleiner bin, werde ich mich viel sicherer fühlen. Werde mir beim Wettbewerb einen der Hauptpreise ersingen können oder zumindest die Endrunde erreichen. Opernimpressarios und Agenten werden mich nicht mehr überhören und übersehen. Werden mir Engagements anbieten, vielleicht sogar eine fixe Anstellung an einem mittelgroßen Opernhaus, wo ich mir einen Ruf erarbeiten kann, ein Repertoire. Dann kann ich zu Festspielen eingeladen werden, vielleicht sogar Engagements im Ausland bekommen.

Ich kann es schaffen. Werde es schaffen. Werde wieder vor einem Opernpublikum singen, all das bekommen, wovon ich geträumt habe, seit ich zwölf Jahre alt war. Alles, wofür ich in den letzten 15 Jahren gearbeitet habe.

Ich sehe zu den Wasserspeiermonstern hoch. Kommt es mir nur so vor, oder lachen sie mich aus?

ANAS PSALM

Sei zart wie eine Schneeflocke.

Magenknurren ist der Todesschrei der Fettpölster.

Führe dich selbst nicht in Versuchung.

Nüchtern ist dein Magen am glücklichsten.

Genieße jeden Augenblick des Neids, den du auslöst. Du hast ihn dir verdient.

Deine schlanke Figur ist wichtiger als deine Gesundheit.

Nur wenn du wirklich schlank bist, bist du schön.

Nur wenn du schlank bist, wirst du geliebt.

Nur wenn du schlank bist, darfst du dich lieben.

Sei dankbar für deine Schuldgefühle. Sie hindern dich am Essen.

Nein, du bist noch nicht dünn genug. Mach weiter.

Liebe deine Waage, die im Bad und die in der Küche.

Nicht zu essen, trainiert deine Willensstärke. Sei stark. Sei schlank.

Ana ist dein Ein und dein Alles.

Ana ist deine beste Freundin.

Du bist Ana. Du bist frei.

6. Szene

Das Erste, was mir beim Betreten des Speisesaals auffällt, ist der süße und puderige Geruch, nach einem dieser englischen Landhauspotpourris, die man in Touristenshops neben dem Opernhaus in Covent Garden kaufen kann. Auf einem Kästchen an der Wand neben der Fensterfront sehe ich tatsächlich zwei Glasschüsselchen mit pink, altrosa und lavendellila eingefärbten Blättern. Hat Schwester Corazon versucht, den Raum ein bisschen weniger steril wirken zu lassen? Auf der Wand über den Potpourris hängen große Packpapierrechtecke, auf denen in bunter Wachskreideschrift Essensregeln geschrieben stehen, Sätze wie:

Wir tauschen keine Portionen mit den anderen Patientinnen und Patienten.

Wir verstecken unser Essen nicht unter der Serviette.

Wir sprechen bei den Mahlzeiten nicht über das Essen.

Zwischen den Postern mit Essensregeln kleben betont bunte Fotoplakate mit lachenden Menschen – ein Grüppchen steht grinsend um einen Gasherd in einer skandinavisch hellen Küche, ein kleiner Junge beißt in einem Vergnügungspark von einer türkisen Zuckerwattewolke ab, drei junge Frauen sitzen auf einer Picknickdecke im Park und stecken einander Weintrauben und Maki in den Mund.

Im Raum stehen fünf Zehn-Personen-Tische. Vier davon liegen brach, um den Fenstertisch scharen sich meine Mit-Essgestörten, gekleidet in Trainingsanzüge, Schichten über Schichten an Pullis und Jogginghosen. Wie auf Kommando drehen sie sich um. Ich erkenne die kleine Elif (offensichtlich ist sie doch ein Teil der Erwachsenengruppe) und die junge blonde Frau, die bei meinem Anblick aus dem Zimmer gelaufen ist. Neben ihnen sitzen zwei brünette Spät-Teenager, nicht sehr viel fülliger als Caroline und Elif, die aussehen, als wären sie Schwestern. Ihre auffälligen Frisuren und Make-ups scheinen im Klinikspeisesaal fehl am Platz, würden besser zu einer dieser Realityshows passen, die meine Mitbewohnerinnen Susa und Sophie sich in probefreier Zeit obsessiv ansehen. An die andere Tischseite haben sich zwei junge Männer gesetzt. Der rotblonde Mittzwanziger sieht aufgepumpt muskulös aus, warum er wohl in der Klinik gelandet ist? Neben ihm sinkt ein leicht mediterran und vor allem ausgesprochen fragil aussehender Mann – oder fast noch Bub (der mir vage bekannt vorkommt) – in sich zusammen, angehängt an einen Infusionsständer. Daneben haben eine Frau, die vielleicht drei, vier Jahre jünger ist als ich, mit durchschnittlichem Gewicht, eingefallenem Gesicht und einem Goldkettchen am Hals – was steht drauf? Gucci, Guggi? –, und eine Mittvierzigerin, die mich an eine hagere Version von Susan Boyle (vor ihrem Talentshow-Makeover) erinnert, Platz genommen.

Mit einem in mein Gesicht gezwungenen Lächeln gehe ich auf die Gruppe zu.

»Hallo, ich bin Isabella. Der Neuzugang sozusagen.

«Niemand grüßt. Alle starren.

»Man hat euch ja sicher vorgewarnt, dass ich komme.«

Immer noch keine Reaktion seitens der Gruppe. Ein schwieriges Publikum.

»Kann ich mich zu euch setzen?«

»Nein«, sagt die junge Frau, die Schwester Corazon Caroline genannt hat. »Hier ist alles schon besetzt.«

»Wohin soll ich mich setzen?«

»Weiß ich doch nicht.«

Wortlos stehe ich im Raum, fühle mich wie vor fast zwei Jahrzehnten im Gymnasium, als sich niemand mehr neben mich setzen wollte, weil meine Mutter die in meiner Clique üblichen Wurstsemmeln und Kekse gegen Grapefruits, Hüttenkäse und Knäckebrote getauscht hatte.

»Da sind aber noch zwei Plätze frei«, sage ich.

»An den Tischenden sitzen die Krankenschwestern oder eine Therapeutin«, sagt der ausgemergelte junge Mann. »Sie achten darauf, dass wir genug essen.«

»Dich werden sie also nicht so genau beobachten müssen«, zischt Susan Boyle.

Bevor mir eine intelligente Antwort einfällt, öffnen sich die Türen. Schwester Corazon, eine junge Krankenschwester und ein Mann in meinem Alter kommen in den Saal. Die Schwestern schieben Rollwagen mit Essenstabletts in den Raum, die Teller abgedeckt mit beigen Plastikglocken, auf der unteren Etage Thermoskannen und Obstkörbe. Der Mann, der mich mit seiner Franz-Schubert-Gedächtnisbrille und dem Wollpullover mit sorgsam geflickten Ellbogen an einen Assistenz-Dirigenten im Probengewand erinnert, stellt sich als Herr Magister Neundlinger, Co-Gruppentherapeut vor. Er lässt sich am Kopfende des Tisches nieder, ohne mein Sitzplatzdilemma zu bemerken.

»Frau Isabella, Sie können sich hierhersetzen«, sagt Schwester Corazon und zeigt auf einen der leeren Tische. Dann lässt sie sich am anderen Kopfende des Gruppentisches nieder.

Die jüngere Schwester bringt die Tabletts zu uns, ich hebe die Glocke an, ohne wirklich zu wissen, was mich erwartet. Auf meinem Teller liegen zwei Scheiben Brot, eine kleine Portion Butter, ein Leberaufstrich, dazu reicht die Schwester mir eine ziemlich winzige Birne. Ich esse schweigend – notgedrungen – und versuche, die Konversation am Nebentisch so gut es geht zu belauschen. Der junge Mann mit der Bodybuilder-Figur (Elif nennt ihn Kevin und dem Dialekt nach scheint er aus der Steiermark zu kommen) erzählt von Trainerwechseln in der deutschen Bundesliga, dann vom Schispringen. Schwester Corazon und der Therapeut weisen ihn darauf hin, dass er Goran nicht triggern solle. Ist Goran ein Schispringer? Kommt er mir deshalb bekannt vor? Susan Boyle, die offenbar Brigitte heißt, hat ein neues Ultraschallbild ihres ersten Enkels bekommen und scheint sich nicht zu freuen. Ist sie nicht auch sehr jung für eine Großmutter? Elif redet über Geschichte-Hausaufgaben, die ihr eine Mitschülerin mitgebracht hat, Caroline lässt durchblicken, dass sie letztes Jahr im noblen Gymnasium Sacré Coeur ein Referat über Gotik gehalten hat. Niemand aus der Gruppe versucht, mich in das Gespräch einzubinden, aber ihre Blicke entgehen mir nicht, gleichen jenen, die mich in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren messen, wiegen, aburteilen. Wann habe ich das letzte Mal entspannt in der Gesellschaft anderer gegessen? War ich zehn Jahre alt, elf, als mir noch nicht bewusst war, dass ich einen Körper habe und dieser Körper ein einziges wandelndes, waberndes, unzähmbares Problem ist? Wäre die Situation einfacher, befänden sich in der Gruppe noch andere üppige Patientinnen und Patienten? Vielleicht würde ich mich dann nicht fühlen wie eine Wagner-Heroine mit gehörntem Helm und eiserner Brünne unter Ballettelevinnen in zarten Tüllröckchen.

Langsam, zu langsam esse ich die letzten Bissen, versuche zu ignorieren, dass mein Magen sich anfühlt, als hätte ich versucht, mit den zwei Scheiben Aufstrichbrot und einer Birne den Goldenen Saal des Wiener Musikvereins zu füllen. Die Reaktion der Gruppe nagt an mir, an dem fragilen bisschen Vertrauen, das ich in den Klinikaufenthalt habe. Warum weigern sich meine Mitgefangenen, sich mit mir zu unterhalten? Meiden sie mich, weil ich anders bin, üppiger? Oder nehmen sie es mir übel, dass ich als Neuzugang ihre kleine Routine durcheinanderbringe? Ein Neuankömmling ändere die Dynamik einer Gruppe, hatte Professor Pirchner mich telefonisch gewarnt. Er verunsichere. Breche das Gefüge auf. Haben Sie Geduld. Die Gruppe wird sich Ihnen gegenüber öffnen, früher oder später.

REGELN SPEISESAAL TEIL 1

Wir tauschen kein Essen, auch kein Obst.

Jeder nimmt sich sein Körbchen mit Salz, Pfeffer und Besteck.

Wir essen unsere Mahlzeiten nicht mit einem kleinen Löffel, der ist nur für Kaffee und Tee da.

Wir drücken das Essen nicht zusammen.

Wir essen nicht nur den Belag vom Brötchen.

Wir kletzeln die Panier nicht vom Schnitzel.

Wir beißen ordentlich ab und machen keine Mini-Bissen.

Wir versehen die Zwischenmahlzeiten mit unserem Namen.

Wir füllen die Speisezettel aus und geben sie ab.

Wir bleiben sitzen, bis alle fertig gegessen haben.

Wir verlassen den Raum nicht ohne die Erlaubnis des medizinischen Personals.

Wir essen alles auf unseren Tellern auf.

7. Szene

Nachdem die Schwestern die Essenstabletts voller angenagter Brote und zu einem Viertel gegessener Birnen wieder aus dem Raum rollen, ermahnt Schwester Corazon, dass wir noch eine halbe Stunde im Raum verbringen müssen. Guggi fragt, ob sie auf die Toilette gehen darf. Herr Magister Neundlinger fragt Guggi, welche Krankenschwester sie begleiten soll, Guggi schüttelt den Kopf, murmelt leise Flüche vor sich hin, die der Therapeut lächelnd ignoriert. Schwester Claudia bringt eine Schachtel an den Tisch, die Gruppe nimmt ihre Handys heraus, vertieft sich in neue Nachrichten. Die Zwillinge stehen auf, legen die Ärmchen umeinander, formen Schmollmundlippen, rund wie ganze Noten. Eine der beiden holt einen Selfiestick aus der Tasche ihrer Trainingsjacke, klappt ihn auf und montiert ihr Telefon daran. Erst ein Selfie vor den halb leeren Teetassen, dann noch eines vor den Regelplakaten. Die Schwester schüttelt den Kopf, lässt sie aber gewähren.

Ich nehme mein Handy aus der Strickjackentasche, sehe nach, ob ich neue Nachrichten habe. Meiner Mutter und meinen Geschwistern hatte ich gestern getextet, dass ich in die Klinik einrücke. Die kleinen blauen Häkchen belegen, dass alle drei die Nachricht gelesen haben, aber bis jetzt tönt nur Schweigen aus St. Pölten und Umgebung. Dafür fragt Susa mich, wohin ich meinen Reserveschlüssel für die neue Zwischendurch-Mitbewohnerin gelegt habe (auf mein Klavier). Ihre Freundin Fiordiligi ist offenbar einen Tag früher in Wien angekommen. Während ich mich hier mitten im Wald mit meinen Monstern herumschlagen werde, darf sie die Probebühne für sich erobern, sich Kostüme anpassen lassen, neue Anmerkungen in ihren Klavierauszug schreiben. Sie wird sich an meinem Piano warm singen, in meinem Bett den Proben entgegenträumen.

Die zweite Nachricht auf meinem Mobiltelefon ist von Frau McWhorter. Ich zögere kurz, frage mich, ob ich sie lesen soll. Was, wenn sie es sich anders überlegt hat, nicht mehr mit mir arbeiten will?

Best of luck, Isabella, schreibt Frau Kammersängerin. Tun Sie es für Ihre Stimme.

»Warum lächelst du so?«, fragt Kevin.

Ich sehe von meinem Telefon auf. Der Steirerbursch hat sich auf der anderen Seite des Tisches quer über zwei Sessel gesetzt und sieht fast provozierend zu mir herüber.

»Meine Gesangslehrerin hat mir eine nette Nachricht geschrieben.«

»Asso«, sagt er, und beschäftigt sich wieder mit seinem Telefon.

Zumindest Frau McWhorter will, dass ich meine Ungeheuer zähme. Sie hatte es bei unserem letzten Gespräch mehr als klar gemacht. Eigentlich hatte ich letzten Dienstag meine Gesangsstunde absagen wollen, da ich meinen wunderbrochenen Stimmbändern ohnehin keinen einzigen annehmbaren Ton hätte entlocken können. Frau Kammersängerin hatte mich trotzdem zu sich zitiert, mich mit einem majestätischen Kopfnicken in ihre Wohnung gelassen, mich in ihr Klavierzimmer geführt. Seit ich bei ihr Unterricht nehme, frage ich mich, warum jemand, die zu ihren besten Zeiten angeblich Abendgagen von 15 000 Euro und mehr kassiert hatte, in einer doch etwas abgewohnten Wohnung in Hernals mit Blick auf den Wiener Gürtel residierte, und nicht zumindest die Beletage einer Villa in Hietzing oder einem anderen Nobelviertel bewohnte.

Frau McWhorter hatte sich an ihren angestammten Platz hinter dem Klavier gesetzt, mich neben dem etwas angelaufenen und verbogenen Notenständer stehen lassen, der aussah, als wäre er aus dem Fundus einer Blockflötenklasse an der Volkshochschule entwendet worden. Meine Gesangslehrerin hatte den Samtturban aus kupferfarbenem Brokat zurechtgezupft, der ihre taillenlangen schwarzgrauen Dreadlocks verhüllte, hatte ihre kleine Halbmondbrille vom Klavierauszugstapel genommen und sich auf die Nase gesetzt. Dann hatte sie zu mir aufgeschaut, und ihr melodiöser Seufzer hatte mich leicht zusammenzucken lassen.

»Well, Isabella … Wann gedenken Sie, etwas gegen Ihre issues zu unternehmen?«

»Meine …«

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Kind. Das, was Sie sich antun. Ihrem armen Körper. Ihrer Stimme.«

»Woher wissen Sie …« Ich hatte immer sorgsam vermieden, ihr (oder jemandem anderen) meine Arm- und Beinhaut zu zeigen.

»Ich habe Augen im Kopf, child. Und Ohren. Die Art, wie Sie sich manchmal beim Singen auf die Oberarme greifen, als wäre da eine Wunde, die Sie zuhalten müssten. Außerdem haben Sie Ihre Gesangsstunden dreimal wegen eines verdorbenen Magens abgesagt.«

Mein Blick hatte sich zu Boden gesenkt, war einen Orientteppich entlang geglitten, der schon entschieden bessere Tage gesehen hatte.

»Als dicker lyrischer Sopran haben Sie ohnehin schlechtere Karten, und Sie ruinieren sich die Stimme und Ihren Körper und somit die letzten Chancen, professionell zu singen. Das ist dumm von Ihnen, Isabella. Really dumb.«

»Das können Sie nicht …«

Shirleye McWhorter hatte einen Ärmel ihres schwarzen Kaftankleids hochgezogen. Über ihrem Ellbogen war ein Irrwald aus Strichen, als hätte man Notenlinien auseinandergebrochen und die Fragmente achtlos auf ihren Oberarm fallen lassen. Ich hatte Linien gesehen wie meine, nur dass sie nicht rötlich bis weiß in heller Haut eingebettet waren, sondern schwarzbraun in dunkler.

»Ich habe mich zumindest nie übergeben, Isabella.«

Ich hatte meinen Blick gesenkt, mir gewünscht, Frau McWhorter hätte einen interessanteren Teppich.

»Ich gebe Ihnen eine Chance, Isabella. Nicht aus Mitleid oder wegen Ihrer sob story. Ihre Stimme interessiert mich. Warum glauben Sie, dass ich mich entschieden habe, mit Ihnen zu arbeiten?«

Ich hatte meinen Blick von der Stelle gehoben, an der meine Fußspitzen den ehemals prachtvollen Teppich berührten. Hatte in Frau McWhorters Gesicht gesehen, war überrascht gewesen von der Andeutung eines Lächelns.

»Weil ich glaube, dass da mehr in Ihrer Stimme steckt. In Ihnen. Ich glaube, dass Sie tief in Ihrem Inneren nicht so mousey sind.«

Mausig. Ich hatte meine Augen von ihr abgewandt, meine Unterlippe zwischen meine Schneidezähne gepresst.

»Sie könnten stärker sein, Isabella. Dramatischer. Beweisen Sie es. Nicht mir. Sich.«

»Ich will ja abnehmen. Habe schon recherchiert. Nächste Woche gehe ich zu meinem Hausarzt und rede mit ihm über einen Magenbypass.« Nach dem Desaster mit dem neuen musikalischen Leiter der St.-Patricius-Kirche hatte ich einen ganzen Nachmittag damit verbracht, Magenverkleinerungen zu googeln. Hatte von Roux-Y-Magenbypässen gelesen, von Omega-loop-Magenbypässen, Sleeve-Resektionen. Hatte nachgegrübelt, was mir helfen würde, nicht nur wie eine Susanna oder Zerlina zu singen, sondern auch wie eine auszusehen. Hatte zwar auch über Malabsorption gelesen, über Haarausfall, Komplikationen, Vitaminmangel, Embolien, Narben- und Magendurchbrüche, Verlust an Muskelmasse, der meine Stütze schwächen konnte. Allzu lange hatte ich darüber aber nicht nachdenken wollen. »Der Magenbypass scheint die wirksamste Lösung zu sein. Restriktion und Malabsorption gleichzeitig, die radikale Lösung muss es sein, für einen hoffnungslosen Fall wie mich.« Vielleicht konnte ein Skalpell, das sich in meinen Bauch schnitt – durch meine Magenwände, durch meinen Dünndarm – ein Schwert sein, das meine Monster tötete?

»Glauben Sie wirklich, dass eine solche OP magischerweise etwas ändert?«

Ich hatte bis jetzt nie diese dunkle Bitterkeit in Shirleye McWhorters Lachen gehört.

»Don’t be naive, girl. Sehen Sie sich hier um, Isabella. Ist das hier das Refugium einer Primadonna Assoluta?«

Ich schüttelte den Kopf. Hatte Frau McWhorter in Interviews nicht immer gesagt, nach ihrem Karriereende würde sie zurück nach Upstate New York ziehen, sich eine Farm kaufen und Vollblüter züchten?

»Ich war dick wie Sie, bis ich Mitte vierzig war. Even bigger, to be honest. Nun, als dramatischer Sopran hat das damals niemanden gestört, zumindest dachte ich das. Bis zu der Salome-Inszenierung an der Met. Der Regisseur wollte offiziell wegen ›ästhetischer Differenzen‹ nicht mit mir zusammenarbeiten. Hinter meinem Rücken hat er gesagt, für diese fat cow brauchen wir keine sieben Schleier, sondern die ganze Vorhangabteilung von IKEA.«

Ich hatte nie gedacht, die Silben AY-KI-AH mit so viel Schmerz und Verachtung ausgesprochen zu hören.

»Was für ein Idiot. Ich habe Sie als Salome in Covent Garden gehört, Frau McWhorter. Sie waren … überirdisch.« Gut, McWhorter hatte den Schleiertanz mehr angedeutet – und wenn schon. »Wäre ich Jochanaan gewesen, ich hätte mir selbst den Kopf abgeschnitten und ihn für Sie auf das Tablett gelegt.« Ich wusste, dass ich in Frau McWhorters Augen wie ein Fangirl der enthusiastischsten Art erschien, aber das war mir egal. Immerhin lag ein, zwei Takte lang ein kleines Lächeln auf ihrem Mund.

»Das ist charmant von Ihnen, Isabella. Leider denken nicht alle so. Die Hater, die Claqueure hatten Blut geleckt, und ihren Spott in diese Internetforen geschrieben. Den ersten Intendanten ist es zu Ohren gekommen. Mir erst, als ich die ersten Absagen erhielt. Sie können sich nicht vorstellen, wie das geschmerzt hat.«

»Herr Abraham hat …« Ich brach ab. Konnte ihr nicht sagen, was mir passiert war, was seit Tagen in meinen Eingeweiden gärte, meine Stimmbänder verknotete, meine Monster fütterte.

»Bernhard Abraham? Der neue musikalische Leiter der St.-Patricius-Kirche? Unguter Kerl, hört man.«

»Er … hat mich gefeuert. Am Sonntag. Nach der Mozartmesse. Vor dem ganzen Orchester und Chor und der netten Frau Soo, die den Chor leitet.«

»Warum das? Das Sopransolo sollten Sie gut gemeistert haben.«

»Herrn Abraham war das egal, er … hat mir gesagt, dass … er die Sänger von der Orgelempore holen will, und ich ihm nicht in die Ästhetik passe. Dass Völlerei eine Sünde sei. Und dass man mich in Wien die fette kleine Soubrette nennt, was den Namen seines Ensembles beschmutze.«

Frau McWhorter sog die Luft ein. Ich wartete, bis sie etwas sagte, aber sie schwieg.

»Was nutzt mir der stimmliche Fortschritt, wenn ich nirgendwo singen kann? Ich habe kein einziges Engagement für kommenden Sommer. Die Bad Klosterbacher Festspiele haben mir nicht mal abgesagt. Stattdessen haben sie zwei Sopranistinnen engagiert, die viel dünner sind als ich. Mein Kalender ist leer, keine Opern- und Konzertengagements, keine Soli bei Messen. Jetzt sitze ich zu Hause rum und warte, dass die Begräbnisinstitute anrufen.« Tränen, die ich ihr nicht hatte zeigen wollen, waren über meine Wangen geronnen, meine vollen, feisten Wangen.

»Deswegen der Binge, wegen dem Sie heute keine Stimme mehr haben?«, hatte Frau McWhorter gefragt.

»Leider.« Am Heimweg von der Kirche hatte ich einen Zwischenstopp im Fast-Food-Lokal eingelegt, zwei volle Menüs, Limonade inklusive, zwei Liter oder mehr, in diesem Moment hatte es mich nicht gekümmert, ob die Kohlensäure meine Stimmbänder reizte. An das, was danach passiert war, hatte ich mich nur in Bruchstücken erinnern können: zusammengekauert am Fliesenboden im Bad sitzen, sich das Leid aus dem Leib würgen, hoffen, dass der grobe Brei aus Essen, Trauer und Magensäure die Stimme nicht allzu sehr angreift. Danach den Kühlschrank plündern wollen, leer vorfinden, spüren, wie das Loch sich bis ins Unendliche ausdehnt. Aufstehen, in mein Zimmer gehen, den Klavierdeckel öffnen, wo alles in der WG Verbotene versteckt war. Chips in meinen Mund schieben, zwei Tüten, nicht schmecken, ob das Paprikaaroma war oder Zwiebel oder Sauerrahm, dann noch eine Packung Kekse, halb gekaut im zitternden, schmerzenden Magen, gegen das Loch ankämpfen, für einige Minuten zumindest. Dann wieder würgen, alles entleeren. Die Monster blubbern und lachen hören.

»Sehen Sie, dann können Sie nachvollziehen, was mir passiert ist, Isabella«, hatte Shirleye McWhorter gesagt. »Nur on a grander scale. Die ersten Monate nach der OP dachte ich mir, den heiligen Gral gefunden zu haben. Gut, die Stimme war nicht mehr so weich, sagte man, und wenn man so viel Gewicht verliert, muss man den ganzen Stimmapparat neu ausrichten. Aber ich dachte, ich hätte meine Karriere gerettet.«

»Sie haben ja danach noch gesungen …«

»Aber nie wieder auf meinem alten Niveau.«