Monströse Versprechen - Donna Haraway - E-Book

Monströse Versprechen E-Book

Haraway Donna

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Beschreibung

Donna Haraways interdisziplinär wirkmächtige Arbeiten bilden ein Schnittfeld aus feministischer Erkenntnis­kritik, Cultural Studies, politischer Theorie und Biowissenschaften. So genial wie subversiv sägt sie an Forschung und Praxis prägenden Gewissheiten. Kühn und mit viel Spielwitz empfiehlt sie, die »Grenzlinien des Alltags neu zu ziehen« und die Verantwortung für Wissenschafts- und Technologieverhältnisse zu übernehmen. »Medizin, Geschlecht und multinationales Kapital verschmelzen zu einem einzigen Alptraum«: Haraway plädierte schon 1984 dafür, die »Gentechnologie sozialistisch-feministisch zu unterwandern« und sich in den »Grenzkrieg« um das Verhältnis von Organismus und Maschine einzumischen. Konsequent kämpft sie gegen die Geschichtslosigkeit der Technologiekultur. In Umbrüchen wird es möglich, die Restaurierung von Herrschaft zu unterbrechen, die stützenden Strukturen anzugreifen und als veränderbare Praxen zu fassen, statt von fertigen Einheiten auszugehen. Haraway ruft dazu auf, das der kapitalistischen Inbetriebnahme geschuldete Ausmaß an Unterdrückung und die darin steckende Gewalt gegen Frauen offensiv zu beantworten. Das Einreißen der Grenzen zwischen Natürlichem und Technisch/Künstlichem kann Erleichterung bringen, wo in den alten Grenzen Herrschaft befestigt ist. Die Lust am Spiel und wie sie Veränderbarkeit als Resultat und Voraussetzung allen Erkennens auffasst, macht Haraway einzigartig. Denkrichtungen, die das ›Post‹ als ihr Markenzeichen ausgeben, suchen sie als Ahnfrau zu vereinnahmen, fokussieren jedoch nur auf das Symbolische oder die Sprache, Wissenschaft oder Geschlecht usw. und verpassen damit die kulturrevolutionäre Dynamik der marxistischen Feministin. Haraway selbst schreibt: »Verspieltheit, Beweglichkeit, mehr sein, als wir zu sein glauben, diskursive Konstitutionen, die Unerwartetheit von Sprache und Körper, das sind Dinge, um die es mir in meiner Arbeit geht. Aber ich will nicht, dass die Aneignung meiner Arbeit in verantwortungsloses Freispiel, in Postmodernismus im groben und vulgären Sinn abdriftet. Da sind mir die kontaminierten ethischen Kategorien wesentlich lieber als diese Rezeption.« Mehr denn je brauchen wir Denkerinnen wie Donna Haraway. Darum erscheint jetzt diese erweiterte Neuausgabe unseres Klassikers »Monströse Versprechen«. Die Texte sind neu durchgesehen und ergänzt um drei aktuellere Essays – zu Genfetischismus (2001), zu Geschlecht/Gender/Genre und zu ›Making Kin‹ (2016) – sowie eine neue Einführung von Frigga Haug.

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Die Gender- und Technologie-Essays

Donna Haraway

Monströse Versprechen

Die Gender- und Technologie-Essays

Mit einem Vorwort von Frigga Haug

© Donna Haraway

Übersetzungen von Michael Haupt, Ursula Frübis, Frigga Haug, Jana Korb, Thomas Laugstien, Gabi Mischkowski, Diete Oudesluijs, Nora Räthzel, Tina Reis

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Erstausgabe unter Verwendung des Buches Monströse Versprechen (1995) sowie weiterer Texte von Donna Haraway

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 2017/2019

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg

Lektorat und Satz: Iris Konopik

Inhaltsverzeichnis
Frigga Haug:Riskante Verbindungen
Donna Haraways Dynamisierung der Standpunkte
Das Cyborg-Manifest
Geschlechterverhältnisse
Leben in der Technowissenschaft nach der Implosion
Vorwort zur deutschen Erstausgabe
Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chthuluzän: Making kin, sich Verwandte machen
Monströse Versprechen
Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere
I. Eine Biopolitik der artefaktischen Reproduktion
II. Das quadratische Cyborg: Durch den Artefaktizismus nach Anderswo
A. Wirklicher Raum: Erde
B. Weltraum: Das Außerirdische
Nicht-B. Binnenraum: Der biomedizinische Körper
Nicht-A. Virtueller Raum: Science-Fiction
»Wenn du mehr wissen willst, drücke ENTER«
Von Affen und Müttern
Eine Allegorie für das Atomzeitalter
Kommunikation
Primaten im Weltraum
Träume(n) von einer gemeinsamen Sprache
Aus/Gelesene Geschichte
Eine dreifache Codierung
Zusammenfassung und Schluss
Andersweltliche Konversationen; irdische Themen; lokale Begriffe
Drei Geschichten
Digesting Discourses
Andersweltliche Konversationen
Reisegespräche
Drei Milliarden Jahre
Genfetischismus
Schöpfungswissenschaft
Das Leben selbst
Fetischismus der Abbildung
Verkörperlichung
Wertsubstanz
Zwischen Wissen und Glauben
Pseudokonkretion
Geschlecht, Gender, Genre
Sexualpolitik eines Wortes
Die Herausbildung des Problemfeldes bei Marx und Engels
Das Paradigma der Geschlechtsidentität
Das »Sex-Gender-System«
Man wird nicht als Frau geboren: Positionen sexuell bestimmter Subjektivität nach dem »Mai ’68«
Ecce homo, Ain’t (Ar’n’t) I a Woman und un/an/geeignete Andere
Das Humane in einer posthumanistischen Landschaft
Ecce homo! Der leidende Knecht als eine Gestalt der Humanität
Aber: »Bin ich nicht eine Frau?«
Das Abnehme-Spiel
Ein Spiel mit Fäden für Wissenschaft, Kultur, Feminismus
Das Abnehme-Spiel: Ein Fadenspiel
Zwei farbige Fasern ziehen sich durch mein Werk:
Klasse, Rasse, Geschlecht als Objekte der Wissenschaft
Eine marxistisch-feministische Darstellung der sozialen Konstruktion des Begriffs der produktiven Natur und einige politische Konsequenzen
Sind Geschlecht und Arbeit veraltete Begriffe?
Produktive Natur: ein historischer Überblick
Von biologischen Organismen zu Biobestandteilen
Kosmologien/Technologien
Für eine sozialistisch-feministische Politik in Wissenschaft und Technologie
Menü mit Mensch™
Lieber Cyborg als Göttin!
Für eine sozialistisch-feministische Unterwanderung der Gentechnologie
Gentechnologie – ein Schöpfungsmythos
Geschlecht, Reproduktion und Gentechnologie
Natur als Produktionssystem – Gentechnologie bei der Umstrukturierung von Landwirtschaft und Industrie
Ambivalenzen, Politik und die Rekonstruktion von Teilganzen
Literaturverzeichnis

Frigga Haug

Riskante Verbindungen

Donna Haraways Dynamisierung der Standpunkte

Haraways »Cyborg-Manifest« beginnt mit der Losung »Lieber Cyborg als Göttin!«, eine Aufforderung, die ganz offensichtlich ans Denken gerichtet ist, nicht ans Tun; gut 30 Jahre später folgt »Make kin, not babies!«, eine Losung, die zum Handeln auffordert bzw. zum Unterlassen, jedenfalls an Menschen gerichtet ist, angesichts die Erde zerstörender Entwicklungen Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Haraway hat Barad gelesen, deren Studien aus der Kernphysik sie für so bahnbrechend hält, dass wir die Folgen noch keineswegs absehen könnten, und macht ihr begriffliche Vorschläge für die Zusammenfügung von Sozialtheorie und Naturphilosophie. Wo Barad von Reflexion (Widerspiegelung) spricht, sei Diffraktion (Beugung) passender, weil anders immer noch die Auffassung transportiert werde, es sei dort etwas Festes, das nur widergespiegelt werde, während die Prozesse weit gemäßer als Beugung/Ablenkung zu fassen seien. Barad nimmt den Vorschlag auf: »Donna Haraway proposes diffraction as an alternative to the well-worn metaphor of reflection. As Haraway suggests, diffraction can serve as a useful counterpoint to reflection: both are optical phenomena, but whereas reflection is about mirroring and sameness, diffraction attends to patterns of difference. One of her concerns is the way reflexivity has played itself out as a methodology, especially as it has been taken up and discussed by mainstream scholars in science studies. Haraway notes that ›reflexity or reflection invites the illusion of essential, fixed position, while diffraction trains us to more subtle vision‹ (1992). Diffraction entails ›the processing of small but consequential differences, and the processing of differences […] is about ways of life‹« (Barad 2007, 29f.). Lesen wir die Vorschläge immer auch als Aufforderung, Verantwortung für unsere Taten, auch als Gattung in der Welt zu übernehmen, bleibt die Frage, von welchem Standpunkt und in welcher Perspektive wir uns eingreifend bewegen wollen und können, wenn wir mit dialektischem Vergnügen erkannt haben, dass ein Standpunkt ja selbst als Metapher etwas Stillstehendes bedeutet, wir aber zugleich alles in Bewegung wissen.

Auch Züge, die in die richtige Richtung fahren, können entgleisen. Einer solchen Entgleisung entgegenzuwirken, soll meine folgende Relektüre Haraways dienen. Sie geht historisch vor und beginnt mit der ersten Begegnung 1981 beim Kongress »Socialism in the World« im damals noch jugoslawischen Cavtat, wo Sozialisten und Kommunisten aus aller Welt sich über Theorie und Politik austauschten: fast nur Männer – einige von ihren Frauen begleitet, für die es ein Extraprogramm mit Ausflügen, Modeschauen, Kaffee und Kuchen gab. Wir aber wollten über den Hauptweg mitbefinden. Wir erkannten einander sogleich und steckten unsere Köpfe zusammen, um die Möglichkeiten eines feministischen Einspruchs in den offiziellen Marxismus zu beraten. Donna stellte Thesen zu Klasse, Rasse und Geschlecht vor (die ich alsbald für unsere Berliner sozialistische Frauengruppe übersetzte) und begann, den Boden zu bereiten für die später weit verbreitete Vorstellung, dass Geschlecht selbst eine Konstruktion sei. Ich legte zum Entsetzen der wohlwollenden Kongressleitung erste Thesen zu Marxismus-Feminismus vor, die auch gedruckt wurden, nachdem ich versichert hatte, dass es nicht um Sexualität ging. Aber in diesem Forum konnte es keine wirkliche Diskussion geben. Wir trafen uns noch zwei Mal, einmal in Hamburg, einmal in Santa Cruz in Kalifornien, und vereinbarten andere Arten intensiver Kooperation. Donna schickte uns ihr Cyborg-Manifest (1984), das wir in unserer sozialistischen Frauengruppe in Berlin übersetzten1; später brachten wir (Frauen um die Zeitschrift Das Argument) unter dem Titel Monströse Verspechen eine Sammlung ihrer Aufsätze zu Technowissenschaft heraus (sie enthält auch jenen Aufsatz zu Klasse, Rasse, Geschlecht und die erste Fassung des Cyborg-Manifests erneut; wiederabgedruckt in diesem Buch) und eröffneten in den 90er Jahren, als gesellschaftskritischer Feminismus schon nicht mehr en vogue war, eine Schriftenreihe mit marxistisch-feministischen Texten aus den Anfängen der zweiten Frauenbewegung und neueren Arbeiten, die wir auf Donnas Rat Coyote, Feminismus als Gesellschaftskritik nannten2. Sie besorgte eine Sammlung von Coyote-Fabeln, von denen wir den Büchern jeweils eine beigaben. Dies um zu signalisieren, dass wir aus der Position der historisch Unterlegenen List und Tricks, Ironie und Satire brauchten, um unsere Vorhaben von Gesellschaftsveränderung unter die Leute zu bringen.3

Wir haben das Cyborg-Manifest in sozialistischen Frauengruppen in Berlin und Hamburg wieder und wieder gelesen und über die Zumutung, auch unsere Vorstellung von uns und unserer Natur zu hinterfragen, so gestritten, dass es fast zur Spaltung gekommen wäre. Aber schließlich waren wir entschlossen, den im Cyborg-Manifest gegebenen Auftrag der Aneignung der nötigen Kompetenz in Naturwissenschaften und Politik, die Technik nicht zu vergessen, mit dem Mut seiner Umsetzung in gesellschaftsveränderndes Handeln anzunehmen. Wir begannen die Arbeit an vielen Enden. Sie dauert an.4 Aber mit der Selbstaufgabe des staatssozialistischen Projekts und dem Abflauen der Frauenbewegungen in der Welt verlief sich irgendwann auch der Grundimpuls wie bei aller sozialen Bewegung, was noch kein Beweis seines Erlöschens ist.

Nachdem Donna Haraway im Jahr 2000 für ihr Lebenswerk der J. D. Bernal-Preis5 verliehen wurde und nachdem diese Marxistin-Feministin vielfach aufgenommen wird, aber zumeist als Zeugin für Postmarxismus, gar für Posthumanismus, jedenfalls für das Ende sozialistischen Denkens und Wollens herhalten muss, ist es an der Zeit, ihr Manifest noch einmal zu lesen und seine Herausforderungen neu zu prüfen.

Das Cyborg-Manifest

1984, im Entstehungsjahr des Cyborg-Manifests, ging es darum, Bilanz zu ziehen und einzugreifen. In schwarzer Utopie fochten die einen gegen die Entwicklung der Hochtechnologie, welche die Herrschaft des Menschen über die Natur bis zum bitteren Ende angetreten zu haben schien; utopistisch frohlockend fochten derweil die anderen dafür, da sie glaubten, dass sich die Menschen der Natur in einem Ausmaß bemeistert hätten, dass die Utopie langen Lebens in Gesundheit Wirklichkeit werden könne. Zwischen diesen Positionen lavierte die Frauenbewegung: die technologische Bemeisterung als männlich verdammend die einen, die zugleich zunehmend esoterisch eine vom technologischen Fortschritt ganz unberührte, reine Weiblichkeit bis hin zur Besetzung des Göttlichen für sich reklamierten; von der Technologie eine Befreiung durch Entkopplung der Frauen von der biologischen Fortpflanzung erwartend die anderen. Shulamith Firestone (1975) etwa hielt Retortengeburten für eine unerlässliche Revolution, da sie Frauenunterdrückung als biologisch determiniert begriff, worunter sie die funktionelle Unterwerfung unter die Fortpflanzung verstand. In dieses Szenario also griff Donna Haraway mit ihrem Manifest »Lieber Cyborg als Göttin« (1984) ein. Sie zeigt die Politik der Grenzziehung in der Konstruktion der Biologie und schlägt vor, die »Gentechnologie sozialistisch-feministisch zu unterwandern«. Sie plädiert dafür, sich in die Grenzziehungen einzumischen, zumal in den »Grenzkrieg« um das Verhältnis von Organismus und Maschine. »Dem Neuentwurf von Cyborgs, d. h. der Gentechnologie […] müssen sozialistische Feministinnen besondere Aufmerksamkeit widmen.« (in diesem Buch) Da Frauen in den bisherigen Grenzbefestigungen mehr verloren als gewannen, rät sie, sich nicht auf die Fähigkeit zur Mutterschaft und ähnlich »unschuldige« Positionen zurückzuziehen, sondern nach vorn in die Aneignung von Maschine-Organismus-Beziehungen zu schreiten, sich einzumischen in die »Informatik der Herrschaft« – so nennt sie die »Übersetzung der Welt in ein Codierungsproblem, in einer Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem Universalschlüssel, der alles einer instrumentellen Kontrolle unterwirft« (ebd.). Sie ruft dazu auf, das der kapitalistischen Inbetriebnahme geschuldete Ausmaß an Herrschaft und die darin steckende Gewalt gegen Frauen offensiv zu beantworten. Sie nimmt den feministischen Zorn gegen männliche Herrschaft auf: »›Genetic engineering‹ […] ist ein Science-Fiction-Ausdruck, der den Triumph phallozentrischer Begierde suggeriert, den Triumph, die Welt neu zu erschaffen ohne die Vermittlung fleischlicher Frauenkörper. Er deutet auf das Ende zwischenmenschlicher Sexualität, auf die Herrschaft masturbatorischer Rationalität in ihrer entwurzelten, permanent pornografischen Form.« (ebd.) Sie lenkt solchen Zorn in die notwendige Energie zur eigenen Qualifizierung sozialistischer Feministinnen. Gegen die Experten in Naturwissenschaft und Ärztestand ruft sie zum Erwerb von Kompetenzen auf, um überhaupt in den »gesellschaftliche[n] Wissenschafts- und Technologieverhältnisse[n]« (ebd.) sich bewegen zu können, und dazu, eine »eigene biotechnologische Politik zu entwickeln« (ebd.). Dafür ermutigt sie dazu, neue Wissensarten in Arbeit, Sexualität und Reproduktion als Herausforderung anzunehmen und das Einreißen der Grenzen zwischen Natürlichem und Technisch/Künstlichem als Erleichterung zu leben, eben weil in den alten Grenzen Herrschaft befestigt sei. Dabei geht es ihr nicht darum, alle Grenzen zwischen Mensch-Maschine, Natur und Kultur, Geist und Körper und viele andere, die als gewohnte Gegensätze Tradition haben in der westlichen Kultur, einzureißen und dies als Politik zu empfehlen. Sie beobachtet vielmehr, dass in der Entwicklung der Bio- und Technowissenschaften diese Grenzen mehr und mehr verschwimmen, und schlägt den sozialistischen Feministinnen vor, mit Vergnügen die zum Herrschaftsgebäude kapitalistischer Gesellschaften und ihrer Reproduktion gebrauchten Dimensionen anzugreifen, die für Frauen zum Gefängnis wurden, und vor allem, sich an der neuen Grenzziehung zu beteiligen (ebd.). So würde sie am Robotereinsatz in der Pflege vermutlich der Zusammenbruch der Vorstellung von der liebevollen, umsonst arbeitenden mütterlichen Schwesterfigur als Naturgabe vergnüglich stimmen; und bei den Diskussionen um die In-vitro-Fertilisation würde sie die Beunruhigung des Jungfrauenkultes freuen, mit dem Frauen in vielen Kulturen gefesselt sind.

Der Impuls, Grenzen zwischen Mensch-Maschine, Natur und Kultur einzureißen, wird 30 Jahre später (von Latour, von Barad u. a.) aufgenommen ohne den politisch-eingreifenden Stachel, die Bewegung feministisch-sozialistisch zu fassen. Haraway plädiert dafür, in den Umbrüchen die Restaurierung von Herrschaft zu unterbrechen und daher nicht von fertigen Einheiten auszugehen (wie Klasse, Rasse, Geschlecht), sondern diese selbst als Praxen zu fassen, als »bodies in the making and contingent spaciotemporalities« (1997, 294). Dabei geht ihre Bejahung der Fortschritte in der Gentechnologie mit den Möglichkeiten genetisch beförderter Heilungsprozesse einher mit einer Kritik etwa an der Nutzung von Unterschichtsfrauen in Puerto Rico als Experimentierfelder für neue Medikamente. Sie fordert dazu auf, kapitalistische Politik offenzulegen. Zu dieser gehören in diesem Kontext die Extraprofite der Pharma-Konzerne und die staatlichen Institutionen, die diese absichern. Feministinnen sollten Listen erstellen, auf denen ihre Probleme mit der Gentechnologie aufgeführt und öffentlich diskutiert werden, etwa Arbeits- und Ernährungsprobleme, Armut, Gesundheit, wirtschaftliche Macht.

Politisch geht es auch darum, die stützenden Strukturen anzugreifen: das trotz aller Künstlichkeit gefestigte heterosexuelle Schema und die Indienstnahme von Träumen vom Ende aller »Ursprungsmängel«, fehlerlose Kinder »als Spezialanfertigung« (in diesem Buch). »Medizin, Geschlecht und multinationales Kapital verschmelzen zu einem einzigen Albtraum« (ebd.). Die Gegenwehr habe zugleich den Kampf um Bedeutungen und Metaphern zu führen, in denen das Biologische gedacht wird, wie den um Forschungsstrukturen, die auch ein Puffer gegen die Marktanforderungen sein können. Auch hier plädiert Haraway für Einmischung, ermutigt zu »feministischen Ethnografien wissenschaftlicher Praxis, eine[r] Kulturtheorie entwickelter Technologien, Entwürfe[n] möglicher feministischer Wissenschaft, kulturelle[n] Produktionen wie Science-Fiction und feministische[r] Filmerkundung über Hightech-Phantasien« (ebd.). Als Akteure werden aufgerufen: »Gewerkschaften, Wissenschaftsläden, Arbeitsschutzaktivist*innen, Lehrer*innen, Forschungsgruppen zum Antimilitarismus, Umweltinitiativen« (ebd.). Sie schlägt Bündnisse vor mit Kräften, die bereits in »Kämpfe um die Wissenschafts- und Technologieverhältnisse verwickelt sind, […] Weltkirchenrat, Konversionsprojekte, […] Hightech-Benutzergruppen, einschließlich diverser Gruppen technologisch versierter Frauen, […] mit denen wir Bündnismöglichkeiten erkunden sollten und von denen wir einiges lernen können« (ebd.). Bündnisse sozialistischer Feministinnen mit allen fortschrittlichen Organisationen und Gruppen seien notwendig. Schließlich fordert sie dazu auf, die »Grenzlinien des Alltags neu zu ziehen« und dabei die Verantwortung für die Wissenschafts- und Technologieverhältnisse zu übernehmen, was jegliche Metaphysik und so auch eine Dämonisierung der Technik zurückweise (ebd.).

Haraway zeichnet ihre Skizze mit Ironie. Sie bedient sich dieser, um die Standpunkte in Bewegung zu bringen. Der Cyborg ist »eine ironische Utopie politischer Identität« (ebd.), ein Projekt, in dem probeweise mit Menschen und Maschinen kommuniziert und so ein Ausgangspunkt dafür gewonnen wird, die in den bisherigen Trennungen verschanzte Herrschaft bloßzulegen: »In der westlichen Tradition haben sich bestimmte Dualismen hartnäckig gehalten; sie stehen alle in einem systematischen Zusammenhang zur Logik und Praxis der Herrschaft über Frauen, Farbige, Natur, Arbeiter, Tiere, kurz: der Herrschaft über alles Andere.« (ebd.) Als Dualismen besonderer Tragweite für Unterordnung und Herrschaftssicherung, die von der Hightech-Kultur herausgefordert würden, nennt sie »selbst/andere, Geist/Körper, Kultur/Natur, männlich/weiblich, zivilisiert/primitiv, Wesen/Erscheinung, Ganzes/Teil, Schöpfer/Rohstoff, Macher/Gemachtes, aktiv/passiv, richtig/falsch, Wahrheit/Illusion, Totalität/Partialität, Gott/Mensch« (ebd.). Hier finden sich alle möglichen polaren Unterscheidungen, die der Handlungsorientierung dienen, neben solchen, die im Laufe der Geschichte aufgeladen sind zu herrschaftssichernden Ordnungen. Ihre Nennung belässt es bei bloßer Andeutung, ohne jede dieser Oppositionen auf Spuren von Unterwerfung und Hierarchisierung zu untersuchen, so dass die freie Luft spürbar wird, die eine andere Geschichtsschreibung ermöglicht. In der vorliegenden Form ist dies als Aufforderung zum Verzicht auf binäre Codes als politisch korrektes Denken in den Universitäten angekommen. Es bleibt bloße Beschwörung, die wiederum zur Sprachlosigkeit verdammt und als solche in Erzählungen von anderer Herrschaft eingebaut werden kann, solange die Geschichte dieser Gegensätze und deren Kontext nicht genau erforscht wird. Die Historisierung macht klar, warum es Feministinnen sein müssen, die gegen die herrschenden Diskurse einschreiten müssen, weil Frauen in den Traditionen von Wissenschaften tatsächlich nur unwesentlich repräsentiert sind, also die strategische Stelle von Akteurinnen besetzen, die die Welt erst noch aneignen müssen; auch warum es Sozialistinnen sein müssen, weil zugleich gegen Kapitalherrschaft gestritten werden muss; und schließlich wie »illusionär« die Herrschaft des Einen ist, das schließlich nicht wirklich autonom, sondern mit dem Anderen in »dialektische[r] Apokalypse« (ebd.) verwickelt ist. Darunter versteht sie, dass das Eine mächtig ist und darum weiß, weil das Andere ihm dient. Die Zukunft aber gehöre dem Anderen mit der langen Erfahrung der Unterdrückung, »die die Autonomie des Selbst Lügen straft« (ebd.). Für die Analyse der Unterdrückungserfahrungen schlägt Haraway den Begriff »situated knowledges« vor, ein Begriff, der zumeist als Aufforderung, milieutheoretisch die soziale Herkunft einzubeziehen, verflacht wird.

Die Unbestimmtheit, die Lust am Spiel, mit der die Veränderbarkeit als Resultat und Voraussetzung allen Erkennens gesprochen wird, macht Haraway nicht nur anschlussfähig für die Postmoderne und für Postmarxismus, sondern sie wird geradezu in Besitz genommen als Ahnfrau für Denkrichtungen, die das »Post« als ihr Markenzeichen ausgeben. Wo nichts mehr feststeht, kann bedenkenlos auf Bestimmtes verzichtet werden. Zudem schreibt Haraway selbst die verschiedenen Ebenen des komplizierten Theoriegebäudes zumeist jeweils getrennt, so dass es im Anschluss möglich wird, auch nur eine Wohnung des Gebäudes zu beziehen. Ihr Projekt, in dem sie das Zusammenwirken von Bedeutungsproduktion als eigene Macht, von Wissenschaften, von ökonomischen Strukturen, in denen kapitalistische Gewinnmaximierung regelndes Prinzip ist, von Verwandlungen und von Geschlecht zu entziffern sucht, wird von ihr in der Darstellung selbst in Teilprojekte zerlegt, so dass es also möglich wird, sich auf sie berufend, jeweils ausschließlich das Symbolische, Sprache, Wissenschaft, Grenzdurchquerungen, Geschlecht usw. zum Gegenstand zu machen und damit die kulturrevolutionäre Dynamik zu verpassen. Zudem hält Haraway viele Gedanken im Unbestimmten bloßer Andeutung, so dass man sich die Freiheit nehmen kann, die Sätze in eigener Entscheidung zu vervollständigen. Beides hat dazu geführt, ihr den Platz einer auch rätselhaften, für gegensätzliche Positionen vereinnahmbaren Künderin zuzuweisen. Sie selbst schreibt dazu: »Verspieltheit, Beweglichkeit, mehr zu sein, als wir zu sein glauben, diskursive Konstitutionen, die Unerwartetheit von Sprache und Körper, das sind Dinge, […] um die es mir in meiner Arbeit geht. Aber ich will nicht, dass die Aneignung meiner Arbeit in verantwortungsloses Freispiel, in Postmodernismus im groben und vulgären Sinn abdriftet. Da sind mir die kontaminierten ethischen Kategorien weitaus lieber als diese Rezeption.« (1995, 115)

Geschlechterverhältnisse

Die Entwicklung der Gentechnologie trifft dort, wo sie in die menschliche Reproduktion eingreift, die Geschlechterverhältnisse so entscheidend, dass der Zusammenhang der Produktionsverhältnisse neu gedacht werden muss. Konnte bislang davon ausgegangen werden, dass Kapitalismus sich zu seiner Verbreitung andere Produktionsweisen einverleibt und dass die nicht nach kapitalistischen Profitgesichtspunkten organisierte Herstellung und Erziehung von Kindern dazugehört, tauchte Frauenschutz und -unterdrückung als zwieschlächtige Dimension in den gesellschaftlichen Regelungsverhältnissen auf, notwendig fürs Überleben und zugleich ein Hindernis für jeden weiblichen Berufsweg und vor allem für die Einnahme von Leitungspositionen in Politik und Wirtschaft. Der Frauenkörper wurde kontrolliert, war aber zunächst nicht selbst Rohstoff in der Produktionsweise. Um Haraways Herangehensweise besser zu verstehen, empfiehlt es sich (etwa als Lockerungsübung in den festgefahrenen Debatten für und gegen die Stammzellforschung), die Science-Fiction-Romane u. a. von Ursula K. LeGuin, Joanna Russ oder Marge Piercy zu lesen, die in der Richtung von Haraway von Welten erzählen, in denen Gentechnologie schon vervollkommnet ist und eingesetzt wird, um das Leben zu erleichtern und zu bereichern.

Seit Donna Haraway ihr Manifest schrieb, wurde die Gentechnologie rasant vorangetrieben. Weiter werden die wesentlichen Fragen auf Expertenebene diskutiert, wobei die Öffentlichkeit zum Schein dabei ist und sich vertreten fühlen darf durch eine Ethikkommission. Ab und an treten Frauenteile in die Debatte, als Uterus, als Eizelle, dazu Männerteile in Gestalt von Spermien, und trotz solcher Zerlegung bleibt in verschiedenen Ländern staatlicher Anspruch, den Frauenkörper unter Kontrolle zu behalten: z. B. ein Gesetz gegen Leihmutterschaft in Deutschland, die Beschränkung der Technologie auf heterosexuelle Paare in Australien, umfassende Kontrolle bei gleichzeitiger Freigabe der Leihmutterschaft als eigene »Berufstätigkeit« in Indien.

»Frauen« als anrufbares kollektives Subjekt scheinen selbst eine »Grenze« zu sein, die gentechnologisch zerstört wird; aber feministische Einmischung kann weder der Bewahrung des Alten gelten, noch sich auf Ethikdebatten von Experten beschränken oder jedem eine Meinung zugestehen, während über die tatsächliche Politik im Dienste der Bereicherung der Mantel des Schweigens geworfen wird.

Die Reaktion von Feministinnen blieb zunächst peripher. So führt etwa Verena Stolcke (2001) vor, dass Frauen aus der Gentechnologie nichts gewinnen können, dass vielmehr die Kontrolle über ihre Körper noch zunimmt und männliche Geldbesitzer in der Hoffnung auf ewiges Leben oder darauf, sich wenigstens zu kopieren, die eigentlichen Nutznießer seien. Barbara Duden entziffert das ins Alltagsbewusstsein eingedrungene Gen bzw. den Diskurs darüber als Verhaltensanweisung an das Selbstbewusstsein: »jede Frau […] ist in Gefahr, statistische Konzepte in ihrem Fleisch zu verankern und ihnen dadurch Wirklichkeit zu verleihen. Sie hält sich – buchstäblich – für eine Expression eines genetischen Programms« (2001, 635). In Geschlechterverhältnissen, in denen Frauen mit der Fähigkeit zur Mutterschaft und den entsprechenden Schutz- und Blockierungsstrategien die gesellschaftliche Einmischung im Großen abgemarktet war, scheint die Bedrohung durch die Gentechnologie ebendiese Mutterschaft zu treffen, statt wahrzunehmen, dass es um weitere Ausdehnung des Kapitalismus geht. Die in Geschlechterverhältnissen eingefangenen Spannungsknoten von Ungelebtem, noch nicht Verabschiedetem, von Hoffnung und von Unpassendem können nicht in Gänze ins Profitbringende eingeholt werden. Da bleibt ein Rest, der immer größer wird. Eine Welt, in der alles dem Profitprinzip unterworfen wird, lässt sich nicht lange aufrechterhalten. Schließlich ist mit der technologisch gelösten, als Ware kaufbaren Schaffung von Leben dieses noch keineswegs humanspezifisch angeeignet. So bleibt unerledigt, was vielleicht als ›Würde‹ zu diskutieren wäre, auch die Aneignung des menschlich-gesellschaftlichen Lebens je individuell und gesellschaftlich, kurz, auch das Aufziehen der Kinder auf eine Weise, die Herrschaft zurückdrängt und Möglichkeiten entfaltet. Vorläufig geht es auch darum, Forschung und Entwicklung aus privaten Händen, aus Patenten, aus privater Bereicherung ins Gesellschaftliche zu überführen. Solange das nicht gelingt, ist die Ebene der Ethikkommissionen und sind Verbote eine transitorische Lösung, die im Übrigen weltweit längst unterlaufen ist. In Wahrheit muss es um die Grundlagen kapitalistischer Bereicherung gehen und wie ihre Grenzen gestaltet werden müssen.

Stefanie Schäfer-Bossert (2005) hat das Schicksal der Cyborg-Metapher in der Kulturindustrie und ihre neuerliche Verwandlung in einen Teil des Stützwerks der alten Geschlechterordnung und seiner Integrationsfähigkeit nachgezeichnet. Sie zeigt, dass es im Manifest wesentlich um die Durchquerung der Grenze Mensch-Maschine ging und erst 20 Jahre später die Implosion der Grenze Mensch-Tier erfolgte. Haraway kündigte damals an: »Ich riskiere die Entfremdung von meiner alten Doppelgängerin, der Cyborg, mit der Absicht […], Leserinnen davon zu überzeugen, dass Hunde die besseren Führer durch die Dickichte der Technobiopolitik im Dritten Millennium der derzeitigen Ära sein könnten« (2003, 9f.). Zum Cyborg-Konzept schreibt sie darin abschließend: »Ich habe versucht, mich mit den Cyborgs kritisch zu identifizieren, d. h. sie weder zu verherrlichen noch zu verdammen, sondern im Geist einer ironischen Aneignung von Zielen, die von den Sternenkriegern nie ins Auge gefasst worden waren.« (4) »Cyborgs können Figuren für das Leben in Widersprüchen sein.« (11)

Und die Hunde? Donna hatte uns das Manuskript zur Übersetzung und Veröffentlichung geschickt. Ich habe es sogleich voller Vorfreude gelesen; später ein zweites Mal mit schlechtem Gewissen. Es gelingt mir nicht, den Erkenntnisschub, den das Schreiben ihr brachte, für mich zu gewinnen. So harrt es noch in der Schublade. – Ich lud sie 2014 zum Marxismus-Feminismus-Kongress (2015) ein, den sie als dringlich begrüßte. Beim Schreiben des vorliegenden Textes stellte ich ihr die Frage nach ihrem Verhältnis als Feministin zum Marxismus und zum Sozialistischen, weil mich die Berufung auf sie in den vielen Absagen an beides verwirrte. Ihre Antwort lautet klipp und klar: » I am a thinker in the socialist and Marxist tradition, and happy to be named in that proud lineage!« (18.7.2015)6 Auf die Frage nach der Aktualität des Cyborg-Manifests schrieb sie, dass es (zusammen mit dem »Companion Species Manifesto« und einer Diskussion mit Cary Wolfe) 2016 in einem Buch Manifestly Haraway neu aufgelegt werde, und schickte ihren Beitrag »Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chthuluzän: Making kin, sich Verwandte machen« (2015, in diesem Buch) als ihre jüngste Intervention.

Der kurze Text ist zugleich melancholisch und aufmunternd. Mit ihren Mitteln der gelassenen Ironie reiht sie die Effekte menschlichen Handelns auf die Erde sogleich ein in die viel älteren und umwälzenden Formierungen durch Bakterien und dergleichen; sie erinnert an die Ausbreitung von Pflanzen durch Samen Millionen Jahre vor menschlicher Agrikultur und an viele andere revolutionäre und evolutionäre ökologische Entwicklungen als ernüchternder Ausgangspunkt für die neuen Umbrüche. Die entscheidende Frage sei die nach den Wechselwirkungen mit anderen biotischen Gattungen und abiotischen Formen. Denn unsere arrogante Gattung handle nicht allein; auch andere Arten (assemblages) machten Geschichte. Sie fragt: Gibt es einen Wendepunkt, der das Leben auf der Erde für alle und alles ändert? Wir haben Klimawandel, toxische Chemie, Bergbau, Austrocknung von Seen und Flüssen, Verarmung von Ökosystemen, Genozid ganzer Völker und Aussterben von Tierarten – größere Systemzusammenbrüche einer nach dem anderen. Sie schlägt vor, das Anthropozän nicht als Epoche zu denken, sondern als Grenzereignis. Was danach komme, werde anders sein. Als Begriff schlägt sie Chthuluzän7 vor – um Vergangenheit, Gegenwart und das Kommende zu umgreifen. Mit Begeisterung liest sie Barad, deren inter/intra-agenzieller Realismus von den Effekten her denke und also auch die herkömmlichen Grenzen der Wissenschaften nicht mehr einhalte. Der Beitrag liest sich zugleich nüchtern klar und träumend andeutend, schwankend zwischen den Fragen: Wie kann man erkennen? Und was kann man tun? Eine Bestandsaufnahme macht klar, dass der Wendepunkt, besser der Bruch schon geschehen, der Planet Erde für alle Lebewesen verbraucht ist. Die Rückzugsgebiete, in denen Wiederherstellung möglich war, gibt es nicht mehr. Die »Flüchtlinge« können nicht mehr aufgenommen werden. Es könne nur mehr darum gehen, eine teilweise biologisch-kulturell-politisch-technologische Rückgewinnung zu erlangen, die die Trauer um das unwiederholbar Verlorene einschließt. In den empfohlenen Losungen für sozialistische Aktivistinnen im Erkennen und Handeln nimmt sie die Fäden wieder auf. In Lieber Cyborg als Göttin war es nicht nur um das Einreißen der Grenzen zwischen Mensch und Maschine gegangen, sondern vor allem auch darum, die Fortschritte in den Naturwissenschaften für eine Stärkung der feministisch-sozialistischen Kämpfe als antikapitalistische und als solche um Frauenbefreiung zu nutzen. Die neue Losung »Make kin, not babies« nimmt aus ihren vorhergehenden Arbeiten die Kritik an einer Sichtweise auf, welche die Fruchtbarkeit als bestimmendes Kriterium ausgibt. Sie bezeichnet sich als »promiskuöse Spekulantin«, der das Einreißen von Grenzen um Heterosexualität und entsprechender Normen Vergnügen bereite. Spielerisch prüft sie, was aus der Geschichte von Sprachen, Symbolen, Literatur aufzunehmen wäre. Kin und gens kämen in indogermanischen Sprachen aus dem gleichen Wurf; kin und kind sei bei Shakespeare verwandt. Es ließe sich als Losung für das zukünftige Verhalten lesen. Aber sie prüft nicht, ob die Vorschläge, jeweils in ihren Konsequenzen weitergedacht, ein für alle Mögliches und Befreiendes ergeben könnten. Insofern liest sich das Zusammengestellte auch wie ein Angebot friedlicher Koexistenz in Zeiten der Ruhe nach dem Sturm. Aber die Indienstnahme des Tatbestandes von zu großem Bevölkerungswachstum für rechtsradikale Positionen fordert sie heraus zu dem Vorschlag, bei der katastrophalen Übervölkerung des Planeten Erde mit Menschen sei nicht auf die Fruchtbarkeit der Gattung Mensch zu setzen, sondern auf die Fähigkeit, auch andere Ziele setzen zu können, eben nicht auf eignen Kindern zu bestehen, sondern andere an Kindes statt anzunehmen. Es braucht sehr niedrige Geburtenraten. Rückblickend erkennt sie, dass der frühe feministische Versuch, nicht in Blutsverwandtschaft und entsprechenden Genealogien zu denken, genau richtig war. Neben »Run Fast, Bite Hard«, »Shut up and Train« (in diesem Buch) schlägt sie »Kin-making« als praktisches Handeln vor: Sich-Verwandte-Machen, die nicht zum gleichen Blut gehören, jenseits der alten Familienbande und -geschichten in Mehrgenerationenfamilien, mit mehr als nur zwei »Eltern« als Verantwortlichen. Die Entscheidung gegen eigene Kinder sei zu feiern. Auch die Losung »Make kin, not babies« bleibt ironisch. Letztere wären die Ausnahme, kostbar zwar und zu pflegen, aber kin gibt es in Überfülle und kostbar auch diese.

Sie schreibt gegen die »vermeintlichen Marxist*innen [would-be Marxists] oder andere Theoretiker*innen […], die sich gegen den Feminismus sträuben und sich daher nicht mit der Heterogenität realer Lebenswelten auseinandersetzen, sondern innerhalb von Kategorien wie Märkte, Ökonomie und Finanzialisierung verbleiben (oder, wie ich ergänzen würde, Reproduktion, Produktion und Population – kurz, den vermutlich angemessenen Kategorien für die standardmäßige liberale und nicht-feministische sozialistische politische Ökonomie)« (ebd.). Die Weltproblematik verlange, dass auch die Linke sich nicht wie eine Sekte verhalte und den Klimawandel leugne oder einfach dem »Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus, der Modernisierung oder einem anderen ›Nicht-Wir‹ die Schuld an der fortschreitenden, mit der schieren Anzahl an Menschen verwobenen Zerstörung« gebe (ebd.). Für die Linke sei eine Politik nötig, die die Gefühle ebenso wie das Verhalten und Denken in Bezug auf »eigene Kinder« umstürze, »kinnovating without making more babies«. Heiterkeit, Spiel und Verantwortlichkeit auch für die Neuankömmlinge, die »Anderen«, die fliehen mussten aus dem Elend.8

* * *

Nachdenkend darüber, wie die sozialistisch-feministische Radikalität ihren gesellschaftlichen Stachel ins heiter-melancholische Intellektuellendasein überführt, komme ich zu dem Schluss, dass Haraways Projekt von Anfang an eine Anknüpfung und Weiterarbeit mit Marx fehlt, wie sie von Rosa Luxemburg aufgenommen, aber besonders von Antonio Gramsci und von Brecht literarisch vorgeschlagen wird und die es erlaubt, die historisch gewordenen Subjekte in den gesellschaftlichen Verhältnissen so zu fassen, dass sie selber sich aus Subalternität herausarbeiten können. Kurz, zuweilen lassen die methodischen Ratschläge den Abschied aus der Metaphysik und seinen praktischen Folgen vermissen. So verzichtet doch der Vorschlag, etwa Kategorien wie »Produktion, Reproduktion, Ökonomie« zu meiden, auf das Ringen um die in den Begriffen fixierten und in bestimmten Gegensätzen gefesselten Dimensionen. Wenn Marx in den Feuerbachthesen schreibt, dass das »menschliche Wesen kein dem Einzelnen innewohnendes Abstraktum ist«, es sei in »seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, so ist in dieser Bestimmung nicht gefordert, die Kategorie menschliches Wesen aufzugeben, sondern er nimmt eine Problemverschiebung vor, die eine andere Forschungs- und Politikpraxis und eine andere Perspektive verlangt, in der die Menschen in ihrer sinnlich-praktischen Tätigkeit in bestimmten Verhältnissen aufgerufen sind. Auch fehlt Rosa Luxemburgs Auftrag, den Stand der Kräfteverhältnisse unabdingbar in die Kunst der Transformation einzubeziehen und darin revolutionäre Realpolitik zu entwickeln. Haraway setzt Bewegung voraus, aber sie kämpft nicht um Hegemonie, nicht in Bewegung, sondern schreibt über sie und gibt Ratschläge an sie. Diese aber bleiben als Erbe, für das die Zeit heute reifer ist als vor 30 Jahren.9

Literatur

Barad, Karen, 2007: Meeting the Universe Halfway. Durham

Duden, Barbara, 2001: »Mein Genom und ich«, in: Das Argument 242, 634–639

Firestone, Shulamith, 1975: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. Frankfurt/Main

Haraway, Donna, 1984: »Lieber Kyborg als Göttin! Für eine sozialistisch-feministische Unterwanderung der Gentechnologie«, in: »1984«, hg. v. B.-P. Lange u. A. M. Stuby, Berlin (in diesem Buch)

Haraway, Donna, 1988: »Situated knowledges: The science question in feminism as a site of discourse on the privilege of partial perspective«, in: Feminist Studies, 14, S. 575–599

Haraway, Donna, 1991: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. New York (deutsche Ausgabe: Haraway 1995)

Haraway, Donna, 1992: »The promises of monsters: A regenerative politics for inappropriate/d others«, in: Cultural Studies, hg. v. Lawrence Grossberg, Cary Nelson u. Paula Treichler. New York, S. 295–337 (dt. in diesem Buch)

Haraway, Donna, 1995: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/Main

Haraway, Donna, 1997: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan Meets_OncoMouse. Feminism and Technoscience. New York

Haraway, Donna, 2003: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago

Haraway, Donna, 2015: »Anthropocene, Capitolocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin«, in: Environmental Humanities, 6, S. 159–165 (dt. in diesem Buch)

Haug, Frigga, 2015: Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus. Hamburg

Reuschling, Felicita, 2015: »Kapitalistischer Realismus, Postutopie und die heilige Familie«, in: M. Cooper, C. Waldby, F. Reuschling u. S. Schultz: Sie nennen es Leben, wir nennen es Arbeit. Biotechnologie, Reproduktion und Familie im 21. Jahrhundert. Münster

Schäfer-Bossert, Stefanie, 2005: »Haraways Cyborgs: Figuren für das Leben in Widersprüchen«, in: Das Argument, 259, S. 69–82

Stolcke, Verena, 2001: »Das Geschlecht der Biotechnologie«, in: Das Argument, 242, S. 645–655

Westermann, Bianca, 2012: Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert. München

Leben in der Technowissenschaft nach der Implosion

Vorwort zur deutschen Erstausgabe

Gewollt oder ungewollt leben ich und viele Millionen (wenn nicht gar Milliarden) andere menschliche und nichtmenschliche Wesen auf diesem der Sonne drittnächsten Planeten in den zugleich materiellen und imaginären Zonen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Technowissenschaft eruptiv entstanden sind. Ich bin jenen fabrizierten natürlich-technischen Wesenheiten – wie Plutonium und transgene Organismen – verwandt, die mit dem Verlangen nach und der Angst vor einer Trennung zwischen Natur und Kultur gleichermaßen ihren Spott treiben. Meine Familie, meine Herkunft, mein Körper werden von den materiell-semiotischen Praxen gebildet, die zeugungsfähige Atome zu einem transnationalen Molekül zusammenfügen. Diese Atome haben einfache Namen: Fötus, Gen, Chip, Samen, Datenbank, Gehirn, Bombe. Diese elementaren Bausteine, diese Cyborg-Atome der technowissenschaftlichen Welt sind wie Plutonium – d. h. sie erlangen ihre Lebens- oder Halbwertzeit durch die technowissenschaftliche Praxis, die menschliche und nichtmenschliche Wesen aller Arten zusammenbindet. Und genau in diesen Praxen – in der Cyborg-Chemie dieser Verbindungen – liegt, so denke ich, meine größte Verantwortung. Meine Ursprungsgeschichte erzählt nicht von Ödipus’ Schwester oder von der Tochter der Erde, sondern von der fortzeugenden, weltweiten Laichspur der elterlichen, nuklearen Bombe namens Little Boy.

Ich lebe in den Verwerfungsfeldern, die die implodierenden Massen der Technowissenschaft hervorgebracht haben, und teile mit Frigga Haug ein Projekt und ein Dilemma: Wie können wir in diesen, in unseren Zeiten mit unserer Arbeit dazu beitragen, politische Hoffnung – nicht Optimismus, sondern praktische und lebendige Hoffnung – materiell und perspektivisch am Leben zu halten? Diese Hoffnung und Genossinnenschaft suche ich in Trickstergestalten und Fadenfiguren, in Hybriden und all den anderen unmöglichen Bündnissen, die im Bauch des Ungeheuers, das manche die Neue Weltordnung AG nennen, geschmiedet werden müssen. Überall um mich her und in jeder Faser meines Körpers spüre ich die Implosion analytischer Kategorien und ganzer Welten. In den lebenden und virtuellen Körpern, die in den vereinigten Netzwerken von Informatik und Biologie bezeichnet und materialisiert sind, erfahre ich die schmelzenden Kollisionen technischer, textueller, politischer, organischer, traumähnlicher, psychologischer, formaler, ökonomischer und mythischer Dimensionen von Wesenheiten und Ideen. Alle möglichen Grenzen werden aufgelöst und neu gezogen, und die Zwischenzonen, die Zonen von Vermittlungsformen und im Prozess befindlichen Reaktionen, bergen zugleich die größten Gefahren und die größten Versprechen – und es sind ganz sicher jene Orte, wo wir uns im höchsten Maße engagiert und verlässlich zeigen sollten.

In diesen Reaktionszonen zeigen sich Geschlechter, Rassen, Klassen, Nationen und viele andere Kategorien deutlich als das, was sie immer schon gewesen sind – als Sedimentationen von Beziehungen, als Körper, die keine Dinge-an-sich sind, keine bereits festgelegten, im stabilen Raum sich bewegenden Subjekte und Objekte, sondern fortwährend und ihrem Wesen nach im Entstehen begriffen. In Zeiten der Implosion werden Wesenheiten, die einstmals undurchdringlich und gegeneinander abgegrenzt schienen, mit Macht ineinander geworfen. Erstarrte, mutierte Wesen entstehen – als Nationen, Artefakte, Identitäten, Maschinen, Praxen, Krankheiten, Körper sowie Lebens- und Todesarten. Wenn – wie ich annehme – die Technowissenschaft tatsächlich eine konkrete, weltliche Praxis ist, die Implosionen bezeichnet, verkörpert und hervorbringt, in denen Raum und Zeit für uns neu gestaltet werden, dann leben wir nicht in einem Zustand der Fragmentierung, sondern in dem einer intensivierten, gefährlichen und fruchtbaren Fusion. Und wenn – wie ich annehme – die Technowissenschaft ein Gewebe von Praxen ist, nicht aber ein bereits festgelegtes historisches Drehbuch, dann werden wir unser eigenes Handlungsfeld und unsere Hoffnung auf lebenswertere Welten genau darin finden, diese Praxen zu formen, statt uns vor ihnen zu verstecken.

Unsere moralische, emotionale und analytische Aufgabe besteht also weniger darin, Spaltungen und Auflösungen nachzuspüren; vielmehr müssen wir hart daran arbeiten, die Gewebe, Netze, Netzwerke und klebrigen Fasern zu formen, die für uns die Wirklichkeit bilden und mittels deren wir die Wirklichkeit füreinander und miteinander neu gestalten. Wie die natürlich-technischen Akteur*innen in Marge Piercys Roman Er, Sie und Es weben wir die Netze von Schmerz, Lebenskraft und Versprechen, die sich der Einschränkung von Freiheit auf Marktfreiheit, von Natur auf Patente und Warenzeichen und von Kultur auf die Neue Weltordnung AGwidersetzen. Die in diesem Buch versammelten Essays sollen wieder von dem Slogan geleitet sein, den ich für die implodierten Welten, in denen ich geboren wurde, gewählt habe: »Cyborgs für irdisches Überleben«.

August 1995, Donna Haraway

Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chthuluzän: Making kin, sich Verwandte machen

Es steht außer Frage, dass von Menschen verursachte Prozesse planetare Auswirkungen hatten – in Inter/Intra-Aktion mit anderen Prozessen und Spezies –, solange sich unsere Spezies zurückverfolgen lässt (ein paar zehntausend Jahre) und Landwirtschaft in gewaltigem Umfang betrieben wurde (ein paar tausend Jahre). Selbstverständlich waren Bakterien und ihre Verwandten von Anfang an die größten planetarischen Terraformer (und -reformer) von allen und sind es noch immer, auch sie in Inter/Intra-Aktionen unzähliger Art (unter anderem mit Menschen und deren technologischen und sonstigen Praktiken).10 Die Ausbreitung von selbstaussäenden Pflanzen Millionen Jahre vor dem Beginn menschlicher Landwirtschaft war eine Entwicklung, die den Planeten veränderte, so wie viele andere revolutionäre evolutionäre ökologische entwicklungsorientierte historische Ereignisse.

Menschen stürzten sich früh und dynamisch in dieses wichtigtuerische Getümmel, sogar noch bevor sie/wir jene Kreaturen waren, die später Homo sapiens genannt wurden. Aber ich denke, dass die für die Benennung von Anthropozän, Plantagozän oder Kapitalozän ausschlaggebenden Punkte mit Umfang, Frequenz/Geschwindigkeit, Synchronizität und Komplexität zu tun haben. Beim Nachdenken über systemische Phänomene muss die Frage stets lauten: Wann werden quantitative Veränderungen zu qualitativen Veränderungen, und welche Effekte bewirken biokulturell, biotechnisch, biopolitisch und historisch situierte Menschen (nicht der Mensch) im Verhältnis zu und in Kombination mit den Effekten anderer Spezies-Assemblagen und anderer biotischer/abiotischer Kräfte? Keine Spezies agiert allein, nicht einmal unsere arrogante eigene, die vorgibt, gute Individuen im Sinne sogenannter moderner westlicher Handlungsschemata zu sein. Assemblagen aus organischen Spezies und abiotischen Akteuren machen Geschichte, die Evolutionsgeschichte ebenso wie alle anderen.

Gibt es jedoch einen bedeutsamen Wendepunkt, dessen Konsequenzen das Wesen des »Spiels« des Lebens auf der Erde für alle und alles verändern? Es geht um mehr als Klimawandel; es geht auch um enorme Belastungen durch toxische Chemie, Bergbau, den Schwund von unter- und überirdischen Seen und Flüssen, die Verarmung von Ökosystemen, gewaltige Genozide an Menschen und anderen Kreaturen etc. pp. in systemisch gekoppelten Mustern, die einen großen Systemzusammenbruch nach dem anderen auszulösen drohen. Rekursivität kann lästig sein.

In einem neueren Aufsatz mit dem Titel »Feral Biologies« schlägt Anna Tsing vor, der Wendepunkt vom Holozän zum Anthropozän sei möglicherweise die Zerstörung der meisten Refugialräume, von denen aus sich vielgestaltige Spezies-Assemblagen (mit oder ohne Menschen) nach einschneidenden Ereignissen (wie fortschreitende Wüstenbildung, Kahlschlag oder, oder …) regenerieren können.11 Dies ähnelt der Argumentation von Jason Moore, Koordinator des World-Ecology Research Network, wonach es mit der billigen Natur vorbei ist; es kann nicht mehr lange funktionieren, die Natur immer weiter zu verbilligen, um Ausbeutung und Produktion in und von der heutigen Welt aufrechtzuerhalten, weil die meisten Ressourcenvorräte der Erde bereits ausgetrocknet, verbrannt, ausgezehrt, vergiftet, ausgerottet oder anderweitig erschöpft sind.12 Durch gewaltige Investitionen sowie höchst kreative und destruktive Technologien lässt sich der Tag der Abrechnung lediglich hinausschieben, aber mit der billigen Natur ist es wirklich vorbei. Anna Tsing argumentiert, das Holozän sei die lange Periode gewesen, in der Refugialräume, Orte der Zuflucht, noch existierten, sogar im Überfluss, womit gewährleistet war, dass die Welt in kulturell und biologisch reicher Vielfalt neu entstehen konnte. Vielleicht geht es bei dem Verbrechen, das einen Namen wie Anthropozän verdient, im Kern um die Zerstörung von Orten und Zeiten der Zuflucht für Menschen und andere Kreaturen. Ich denke, und damit stehe ich nicht allein, dass das Anthropozän viel eher ein Grenzereignis ist als eine Epoche, so wie die K-Pg-Grenze zwischen der Kreidezeit und dem Paläogen.13 Das Anthropozän markiert einschneidende Diskontinuitäten; das, was danach kommt, wird nicht dem gleichen, was davor war. Ich halte es für unsere Aufgabe, das Anthropozän so kurz/gering wie irgend möglich zu halten und gemeinsam auf jede erdenkliche Weise zukünftige Epochen zu entwickeln, die die Zufluchtsräume wieder aufstocken können.

Im Augenblick ist die Welt voller Flüchtender, menschlich und nicht, ohne jede Zuflucht.

Ich denke also, ein neuer großer Name ist angesagt, eigentlich mehr als ein einziger Name. Daher Anthropozän, Plantagozän14 und Kapitalozän (dieser Begriff wurde von Andreas Malm und Jason Moore geprägt, bevor ich ihn mir zu eigen machte).15 Ich beharre zudem darauf, dass wir einen Namen für die dynamischen fortwährenden syn-chthonischen Energien und Kräfte brauchen, von denen Menschen ein Teil sind und innerhalb deren jegliches Fortwähren bedroht ist. Vielleicht, aber nur vielleicht, und nur bei nachdrücklichem Einsatz sowie gemeinschaftlicher Arbeit und gemeinsamem Spiel mit anderen Erdbewohnenden wird für Multispezies-Assemblagen, die auch Menschen umfassen, ein Gedeihen möglich sein. Ich nenne all dies Chthuluzän und umgreife damit Vergangenes, Gegenwärtiges und Kommendes.16 Diese realen und möglichen Zeit-Räume verdanken ihren Namen nicht dem misogynen rassistischen Albtraum-Monster Cthulhu (beachte die unterschiedliche Schreibung!) des Science-Fiction-Autors H. P. Lovecraft, sondern vielmehr den mannigfaltigen erdumspannenden, tentakelartigen Kräften und Energien und Konglomeraten mit Namen wie Naga, Gaia, Tangaroa (geboren durch das Bersten des wassergefüllten Körpers von Papa), Terra, Haniyasu-hime, Spider Woman, Pachamama, Oya, Gorgo, Raven, A’akuluujjusi und vielen, vielen anderen. »Mein« Chthuluzän umschlingt, obgleich belastet durch seine problematischen griechisch angehauchten Ranken, unzählige Zeit- und Räumlichkeiten und unzählige intra-aktive Entitäten-in-Assemblagen – einschließlich aller mehr-als-menschlichen, etwas-anderes-als-menschlichen und unmenschlichen sowie Menschen-als-Humus. Selbst im Rahmen eines amerikanisch-englischen Textes wie diesem sind Naga, Gaia, Tangaroa, Medusa, Spider Woman und all ihre Verwandten einige der vielen tausend Namen, die einer Sorte Science-Fiction entstammen, die sich Lovecraft nicht hätte vorstellen oder zu eigen machen können – nämlich dem Gewebe aus spekulativem Fabulieren, spekulativem Feminismus, Science-Fiction und wissenschaftlichen Fakten.17 Es macht einen Unterschied, welche Geschichten Geschichten erzählen und welche Konzepte Konzepte erdenken. Mathematisch, visuell und narrativ macht es einen Unterschied, welche Zahlen Zahlen errechnen, welche Systeme Systeme systematisieren.

All die tausend Namen sind zu groß und zu klein; alle Geschichten sind zu groß und zu klein. Jim Clifford lehrte mich, dass wir Geschichten (und Theorien) brauchen, die gerade groß genug sind, um Komplexität zu erfassen und die Ränder offen zu halten, begierig nach überraschenden neuen und alten Verbindungen.18

Eine Möglichkeit, als sterbliche Kreaturen im Chthuluzän gut zu leben und zu sterben, ist es, die Kräfte zu bündeln, um Zufluchtsräume wiederherzustellen, um eine partielle und stabile biologisch-kulturell-politisch-technologische Genesung und Neugestaltung zu ermöglichen, was auch das Trauern um irreversible Verluste einschließen muss. Thom van Dooren und Vinciane Despret lehrten mich das.19 Schon jetzt gibt es so viele Verluste, und es wird noch viele mehr geben. Neuerliches fruchtbares Gedeihen kann nicht aus Unsterblichkeitsmythen erwachsen, oder aus dem Unvermögen, mit den Toten und Ausgestorbenen gemein-zu-werden (become-with20). Es gibt eine Menge Arbeit für Orson Scott Cards Speaker for the Dead.21 Und noch viel mehr für Ursula LeGuins Praxis des Welterschaffens in Always Coming Home.

Ich bin Kompost-istin, nicht Posthuman-istin: Wir sind alle Kompost, nicht posthuman. Die Grenze, die das Anthropozän/Kapitalozän darstellt, bedeutet vieles, auch dass wahrhaftig eine ungeheure und unumkehrbare Zerstörung im Gange ist, die nicht nur die etwa 11 Milliarden Menschen betrifft, die gegen Ende des 21. Jahrhunderts auf der Erde sein werden, sondern auch eine Vielzahl anderer Kreaturen. (Die unbegreifliche, aber nüchterne Zahl von um die 11 Milliarden wird nur zutreffen, sofern die Geburtenraten menschlicher Babys weltweit niedrig bleiben; wenn sie wieder steigen, ist alles möglich.) Der Rand der Vernichtung ist nicht nur eine Metapher; der Systemzusammenbruch ist kein Thriller. Frag jedes beliebige Wesen, das auf der Flucht ist, egal welcher Spezies.

Das Chthuluzän braucht mindestens einen Slogan (mit Sicherheit mehr als einen); weiterhin »Cyborgs for Earthly Survival«, »Run Fast, Bite Hard« und »Shut Up and Train« skandierend, schlage ich vor: »Make Kin Not Babies!«. Making kin, Sich-Verwandte-Machen, ist vielleicht der schwierigste und dringlichste Teil von beiden. Feminist*innen unserer Zeit sind stets vorangegangen bei der Auftrennung der vermeintlich naturnotwendigen Verbindungen zwischen sex und Gender, race und sex, race und Nation, Klasse und race, Gender und Morphologie, sex und Reproduktion sowie zwischen Reproduktion und dem Prozess, durch den Menschen zu Personen gemacht werden (unser Dank gilt hier besonders den Melanesier*innen, im Bündnis mit Marilyn Strathern und ihrer Ethnograf*innen-Sippe).22 Wenn es eine artübergreifende Ökogerechtigkeit geben soll, die auch verschiedenartige menschliche Personen umfassen kann, dann ist es höchste Zeit, dass Feminist*innen in Sachen Phantasie, Theorie und Handeln die Führung übernehmen, um die Verbindungen zwischen Abstammung und Verwandtschaft wie zwischen Verwandtschaft und Spezies aufzutrennen.

Es wimmelt nur so vor Bakterien und Pilzen, die uns Metaphern an die Hand geben können; aber Metaphern beiseite (viel Glück dabei!): Wir haben eine mammalische Aufgabe zu bewältigen, zusammen mit unseren biotischen und abiotischen sym-poietischen Kollaborateur*innen, unseren Mit-Arbeiter*innen. Wenn wir uns Verwandte machen, müssen wir das auf sym-chthonische, sym-poetische Weise tun. Wer und was immer wir sind, wir müssen uns unbedingt gemein-machen – gemein-werden, gemein-schaffen – mit den Erdgebundenen23.

Wir, Menschen überall auf der Welt, haben uns mit akuten Dringlichkeiten auf systemischer Ebene zu befassen; doch bis jetzt leben wir im Zeitalter des »Herumeierns« (The Dithering), wie es Kim Stanley Robinson in 2312 formulierte, einem »Zustand unentschlossener Erregung«24 (der in dieser Science-Fiction-Erzählung von 2005 bis 2060 dauert – womöglich zu optimistisch?). Vielleicht ist »Herumeiern« als Bezeichnung sogar treffender als Anthropozän oder Kapitalozän! Das Herumeiern wird sich in die Gesteinsschichten der Erde einschreiben; tatsächlich hat es sich bereits in die Mineralschichten der Erde eingeschrieben. Sym-chthonische Wesen eiern nicht herum; sie bilden und zersetzen, beides ebenso gefährliche wie vielversprechende Praktiken. Um es milde auszudrücken: Menschliche Hegemonie ist keine sym-chthonische Angelegenheit. Wie die ökosexuellen Künstler*innen Beth Stephens und Annie Sprinkle zu sagen pflegen: Kompostieren ist so heiß!

Ich möchte erreichen, dass Verwandtschaft (»kin«) etwas anderes/mehr bedeutet als durch Genealogie oder Familienstammbaum verbundene Entitäten. Der sanft verfremdende Schritt mag eine Zeitlang wie ein schlichter Irrtum wirken, aber (mit etwas Glück) irgendwann als von jeher richtig erscheinen. Sich Verwandte machen bedeutet, andere zu Personen zu machen, aber nicht unbedingt im Sinne von Individuen oder Menschen. Auf dem College berührte mich Shakespeares Wortspiel mit »kin« und »kind«25 – die Freundlichsten (the kindest) waren nicht unbedingt Verwandte (kin) im Sinne von Familie; making kin und making kind (als Kategorie, Fürsorgebeziehungen, Verwandte ohne Geburtsbande, Lateral-Verwandte, also Verwandte in der Seitenlinie, viele andere Echos) regen die Vorstellungskraft an und können die Geschichte verändern. Marilyn Strathern lehrte mich, dass »relatives« im britischen Sprachgebrauch ursprünglich »logische Verbindungen« waren und erst im 17. Jahrhundert zu »Verwandten« wurden – definitiv eins der nebensächlichen Details, wie ich sie liebe.26 Das wilde Treiben multipliziert sich, wenn man das Englische verlässt.

Ich denke, dass alle Erdlinge im tiefsten Wortsinn verwandt sind und dass diese Tatsache es ermöglicht, Verwandtschaft auszuweiten und neu zu arrangieren. Es ist allerhöchste Zeit, sich besser um Arten-als-Assemblagen zu kümmern (nicht um jeweils eine Spezies für sich). »Kin« ist ein assemblierendes, vereinigendes Wort. Alle Kreaturen teilen ein gemeinsames »Fleisch«, lateral, semiotisch und genealogisch. Vorfahren entpuppen sich als hochinteressante Fremde; kin sind uns unvertraut (außerhalb dessen, was wir für Familie oder gens hielten), sie sind verblüffend, unheimlich, aktiv.27

Zu viel für einen winzigen Slogan, ich weiß! Probiert es trotzdem. In ein paar hundert Jahren können die menschlichen Bewohner*innen dieses Planeten vielleicht wieder zwei oder drei Milliarden zählen und dabei zu einem wachsenden Wohlergehen beitragen für unterschiedliche menschliche und andere Kreaturen, die Mittel sind, nicht bloß Zweck.

Also: Make kin, not babies! Es macht einen Unterschied, wie Verwandte Verwandte erzeugen.28

Übersetzt von Tina Reis

Monströse Versprechen

Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere

Wenn Primaten Sinn für Humor haben, gibt es keinen

Grund, warum Intellektuelle nicht daran teilhaben sollten.

William Plank, »Ape and Écriture:

The Chimpanzee as Post-Structuralist«

I. Eine Biopolitik der artefaktischen Reproduktion

»Monströse Versprechen« ist Kartenkunde und Reisebericht von Geist-Reichen und Landschaften, die zu dem gehören, was in bestimmten lokalen/globalen Kämpfen als Natur gelten könnte. Diese Kontroversen sind in einer seltsamen, anderwärtigen Zeit angesiedelt – der Zeit meiner Leser*innen und meiner selbst im letzten Jahrzehnt des zweiten christlichen Jahrtausends – und an einem fremden, anderwärtigen Ort – dem Schoß eines schwangeren Monsters, hier, wo wir lesend und schreibend tätig sind. Das Ziel dieser Exkursion besteht darin, Theorie zu schreiben, d. h. eine gestaltete Vision davon zu entwerfen, wie man sich in der Topografie einer unmöglichen, doch nur allzu realen Gegenwart bewegt und was man zu befürchten hat, wenn man eine abwesende, aber vielleicht mögliche andere Gegenwart finden will. Ich suche nicht die Adresse irgendeiner vollen Präsenz; schweren Herzens weiß ich, dass es sie nicht gibt. Wie der Pilger mit Namen Christian in Bunyans Roman Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit muss ich den miry slough, den Morast der Verzweiflung und die parasitenverseuchten Sumpfgebiete des Nirgendwo umgehen, um Lebensräume zu erreichen, die der Gesundheit zuträglicher sind.29 Die Theorie dient der Orientierung, zeichnet eine grobe Übersichtskarte für die Reise, indem sie in einem unnachgiebigen Artefaktizismus und durch diesen hindurch sich bewegt, der keine direkten Ortsbesichtigungen von Natur zulässt, hin zu einem szientifisch-fiktionalen, spekulativ-faktischen Science-Fiction-Ort, der einfach Anderswo genannt wird. Zumindest für diejenigen, an die dieser Essay sich richtet, ist »Natur« außerhalb des Artefaktizismus eher nirgend- als anderswo zu finden und überhaupt ein ganz anderes Ding. Tatsächlich weckt ein reflexiver Artefaktizismus in politischer wie analytischer Hinsicht ernstzunehmende Hoffnungen. Die in diesem Essay vertretene Theorie ist bescheiden. Sie bietet keinen systematischen Überblick, sondern ist ein kleiner Verortungsplan (siting device) in einer langen Tradition solcher Handwerkszeuge. Solche Sehhilfen (sighting devices) haben bekanntlich für ihre Anhänger*innen ganze Welten neu positioniert – und ebenso für ihre Gegner*innen. Optische Instrumente verschieben die Gegenstände. Die aber sind – als Themen wie als Subjekte – im späten 20. Jahrhundert fortwährend gewechselt worden.

Ich habe die Optik meiner Verkleinerungstheorie so eingestellt, dass keine Distanzeffekte produziert werden. Mir geht es um Verbindung und Verkörperung und um die Verantwortung für ein in der Phantasie vorgestelltes Anderswo, das wir hier zu sehen und zu erbauen erst noch lernen müssen. Ich bin sehr daran interessiert, das Sehen und die Vision von den Technopornografen zurückzufordern – also von jenen Theoretikern des Geistes, des Körpers und der Planeten, die höchst wirkungsvoll – das heißt in der Praxis – darauf bestehen, dass der Sehsinn dazu dient, die Phantasien der Phallokraten wahrzunehmen.30 Ich denke, der Sehsinn kann neu gestaltet und von denen in Dienst genommen werden, die (sich für) politische Filter einsetzen, mit deren Hilfe die Welt in den Schattierungen von Rot, Grün und Ultraviolett wahrgenommen werden kann – also aus der Perspektive einer immer noch möglichen sozialistischen, feministischen und antirassistischen Umweltbewegung und einer Wissenschaft für die Menschen. Für mich stellt die Behauptung »Wissenschaft ist Kultur« eine selbstverständliche Prämisse dar.31Aus dieser Prämisse erwächst der Essay als Beitrag zu dem vielstimmigen und äußerst lebhaften zeitgenössischen Diskurs, für den »Science Studies« »Cultural Studies« sind. Was aber unter Wissenschaft, Kultur oder Natur und ihren jeweiligen »studies« zu verstehen sei, ist weitaus weniger offenkundig.

»Natur« ist für mich – und ich wage zu sagen, für viele von uns planetarischen Föten, die in den abgasgesättigten Fruchtwassern des endzeitlichen Industrialismus32 heranreifen – eines jener unmöglichen Dinge, die wir – Gayatri Spivak zufolge – nicht nicht begehren können. Zwar sind wir uns qualvoll bewusst, dass die Natur in den Geschichten des Kolonialismus, Rassismus, Sexismus und der vielgestaltigen Klassenherrschaft diskursiv konstituiert wurde als »das Andere«. Dennoch finden wir in diesem problematischen, ethnospezifischen, langlebigen und beweglichen Begriff etwas, das wir zwar nicht »haben«, ohne das wir aber auch nicht auskommen können. Jenseits von Verdinglichung und Besitzergreifung müssen wir zur Natur ein anderes Verhältnis finden. Vielleicht um das Vertrauen in ihre wesenhafte Wirklichkeit zu stärken, hat man gewaltige Summen ausgegeben, um die Natur zu stabilisieren und sinnlich wahrnehmbar zu machen, um ihre Grenzen polizeilicher Aufsicht zu unterwerfen. Derlei Aufwendungen zeitigten zumeist enttäuschende Ergebnisse. Reisen in die »Natur« werden zu touristischen Ausflügen, die die Reisenden an den Preis solcher Ortswechsel erinnern – man zahlt für Zerrspiegelbilder des eigenen Selbst. Anstrengungen, die »Natur« in Parks oder Schutzgebieten zu bewahren, werden nachhaltig und auf fatale Weise gestört durch das unauslöschliche Zeichen der ursprünglichen Vertreibung jener Menschen, die dort lebten – nicht als unschuldige Bewohner*innen eines Gartens, sondern als Menschen, für die die Kategorien »Natur« und »Kultur« nicht die entscheidenden waren. Kostenträchtige Projekte, die Vielfalt der »Natur« zu sammeln und gleichsam auf Bankkonten zu horten, scheinen minderwertige Münzen, schlechtes Saatgut und verstaubte Altertümer hervorzubringen. In dem Maße, wie die Konten wuchern, »verschwindet« die Natur, die die Warenhäuser versorgt. In dieser Hinsicht ist der Bericht der Weltbank über die Umweltzerstörung beispielhaft. Und schließlich sind die Projekte, mit deren Hilfe die menschliche »Natur« dargestellt und durchgesetzt werden soll, berühmt für ihre imperialisierenden Eigenschaften, die jüngst im Humane Genome Project Gestalt gewonnen haben.

Mithin ist Natur kein physikalischer Ort, den man besuchen kann, ebenso kein Schatz, der sich einzäunen oder horten lässt, auch keine Wesenheit, die man retten oder der man Gewalt antun kann. Die Natur ist nicht verborgen und muss mithin nicht entschleiert werden. Die Natur ist kein Text, der mit Hilfe mathematischer oder biomedizinischer Codes lesbar ist. Sie ist nicht das »Andere«, das Ursprung, Ergänzung und Dienstleistung verspricht. Die Natur ist weder Mutter noch Amme oder Sklavin und insofern weder Matrix noch Ressource oder Werkzeug für die Reproduktion des Menschen/Mannes.

Jedoch ist Natur ein topos, ein Ort in dem Sinne, wie der Rhetor für die Erörterung allgemeiner Themen einen Ort, eine Topik benötigt; im strengen Sinn ist die Natur ein Gemeinplatz, dem wir uns (als Thema oder Topik) zuwenden, um unseren Diskurs zu ordnen, unser Gedächtnis zu sortieren. Wenn wir Natur in diesem Sinn als Topik verstehen, erinnern wir uns auch daran, dass die englische Sprache im 17. Jahrhundert als topick gods die lokalen Hausgötter bezeichnete. Wir brauchen diese Geister, zumindest rhetorisch, wenn sie anders nicht zu haben sind. Wir brauchen sie, gerade um Gemein-Plätze – also Orte, die vielen zugänglich, unvermeidlich lokal, weltlich, be-geistert, mit einem Wort: topisch sind – wieder bewohnbar zu machen. In diesem Sinne ist die Natur der Ort, wo die öffentliche Kultur neu zu errichten ist.33

Die Natur ist auch ein trópos, eine Trope. Sie ist Figur, Konstruktion, Artefakt, Bewegung, Verschiebung. Die Natur kann nicht vor ihrer Konstruktion existieren. Diese Konstruktion beruht auf einer bestimmten Art von Bewegung – auf einem trópos, einer Wendung. Getreu dem griechischen Wortsinn geht es bei der als trópos verstandenen Natur um Wendungen und Windungen. Die Trope vollziehend, wenden wir uns der Natur zu, als wäre es die Erde, der Urstoff. Wir sind geotrop, physiotrop. Topisch reisen wir der Erde, einem Gemeinplatz, entgegen. Indem wir den Diskurs über die Natur führen, wenden wir uns von Plato und dem Blendstern seines heliotropen Sohnes ab, um etwas anderes zu sehen, eine andere Gestalt. Ich wende mich nicht vom Sehen, der Vision ab, aber ich suche in diesem Sichten der »Science Studies« als »Cultural Studies« etwas anderes als Aufklärung. Die Natur ist ein Thema des öffentlichen Diskurses, um das vieles sich dreht, sogar die Erde.

Ich habe versprochen, in dieser Essay-Reise nach Anderswo die Natur durch einen unnachgiebigen Artefaktizismus hindurchzuwinden, aber was heißt hier Artefaktizismus? Eine erste Bedeutung liegt darin, dass für uns Natur, als Faktum wie als Fiktion, gemacht ist. Wenn Organismen natürliche Gegenstände sind, dann müssen wir uns bewusst sein, dass Organismen nicht geboren werden; vielmehr werden sie in weltverändernden technowissenschaftlichen Praktiken durch bestimmte kollektive Akteur*innen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten hergestellt. Im Bauch des lokalen/globalen Monsters namens postmoderne Welt34, in dem ich heranreife, scheint die globale Technologie alles zu denaturieren, aus allem eine gefügige Materie strategischer Entscheidungen und beweglicher Produktions- und Reproduktionsprozesse zu machen (Hayles 1990). Technologische Dekontextualisierung ist für Hunderte von Millionen, wenn nicht für Milliarden von Menschen wie für andere Organismen eine alltägliche Erfahrung. Meines Erachtens handelt es sich dabei nicht so sehr um eine Denaturierung als vielmehr um eine bestimmte Produktion von Natur. Die Konzentration auf das Produktionsparadigma, die so viele beschränkte westliche Diskurse und Praktiken auszeichnete, scheint sich zu etwas ganz Wundersamem ausgewachsen zu haben: Die ganze Welt wird nach dem Bild der Warenproduktion geformt.35

Wie kann ich angesichts dieses Wunders weiterhin steif und fest behaupten, dass es eine oppositionelle oder besser: eine differenzielle Verortung ist, die Natur als artefaktisch zu betrachten?36 Ist das Beharren auf der Artefaktizität von Natur nicht ein weiterer Beweis dafür, wie schwer eine Natur verletzt wurde, die nichts mit den hochmütigen Verwüstungen unserer technophilen Zivilisation verbindet, einer Zivilisation, die (so haben wir es zumindest gelernt) mit den heliotrop inspirierten Projekten der Aufklärung begann, in denen die Natur mit blendendem, durch optische Technologien fokussiertem Licht beherrscht werden sollte?37 Haben nicht Ökofeministinnen sowie andere multi- und interkulturelle Radikale uns allmählich davon überzeugt, dass die Natur gerade nicht in den Verkleidungen des eurozentrischen Anthropozentrismus und Produktionsparadigmas erblickt werden sollte, von denen die Drohung ausging, buchstäblich die ganze Welt nach dem todbringenden Bild des Immer-Selben, dem Eben-Bild, zu reproduzieren?

Die Antwort auf diese ernsten politischen und analytischen Fragen liegt, so denke ich, in zwei miteinander verbundenen Wendungen: Erstens müssen wir unsere geblendeten Augen von den sonnenanbeterischen Erzählungen über die Geschichte von Wissenschaft und Technologie als Paradigmen des Rationalismus abwenden; und zweitens müssen wir die Akteur*innen in der Konstruktion der ethnospezifischen Kategorien von Natur und Kultur neu bestimmen. Die Akteur*innen, das sind nicht nur »wir«. Wenn die Welt für uns als »Natur« existiert, dann bezeichnet dies eine Art von Beziehung, eine Leistung, an der viele Akteur*innen beteiligt sind. Nicht alle von ihnen sind menschlicher, nicht alle organischer, nicht alle technologischer Provenienz.38 In ihren wissenschaftlichen Verkörperungen wie auch in anderen Formen ist die Natur etwas – jedoch nicht ausschließlich von Menschen – Gemachtes: Sie ist eine gemeinsame Konstruktion von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen.

Diese Sichtweise unterscheidet sich beträchtlich von der postmodernen Beobachtung, die ganze Welt sei denaturiert und werde in Bildern reproduziert oder in Kopien verdoppelt. Diese besondere Art eines gewaltsamen und reduktiven Artefaktizismus, wie er in Form eines Hyper-Produktionismus bereits überall auf dem Planeten praktiziert wird, kann in der Theorie und in anderen Praxisformen angefochten werden, ohne dass man auf einen wiedererwachenden transzendentalen Naturalismus zurückgreifen müsste. Der Hyper-Produktionismus lehnt die geistreiche Täterschaft aller Akteur*innen mit Ausnahme des Einen ab – das ist für jede*n eine gefährliche Strategie. Aber der transzendentale Naturalismus lehnt ebenfalls eine von babylonischen Täterschaften bestimmte Welt ab und setzt auf eine spiegelförmige Gleichheit des Selben, die Unterschiede nur vortäuscht. Die Gemeinplatz-Natur, die ich suche, eine öffentliche Kultur, hat viele Häuser mit vielen Bewohner*innen, die die Erde neu gestalten können. Vielleicht sind jene anderen – nichtmenschlichen – Akteure/Aktanten unsere organischen und anorganischen Hausgötter.39

Diese fast unzulässige Anerkennung der merkwürdigen Agenten und Akteure, die wir in die Narration des kollektiven Lebens (unter Einschluss der Natur) eintreten lassen müssen, hat Konsequenzen: Erstens führt sie uns ganz entschieden von den modernen und postmodernen Prämissen ab, deren Aussagen über Natur und Kultur, über das Soziale und das Technische, über Wissenschaft und Gesellschaft aus der Aufklärung stammen; und zugleich rettet sie uns damit zweitens vor der tödlichen Perspektive des Produktionsparadigmas. Dieses Paradigma und seine logische Folge, der Humanismus, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: »Der Mensch schafft alles, einschließlich seiner selbst, aus der Welt heraus, die lediglich Ressource und Potenzial für sein Projekt und sein aktives Handeln sein kann.«40 Dieses Produktionsparadigma handelt vom Menschen als Werkzeugmacher und -benutzer, dessen höchste technische Produktion er selbst darstellt; kurz, es ist die Geschichte, wie sie der Phallogozentrismus erzählt. Zugang zu dieser wundersamen Technologie verschafft sich der Mensch, indem er in die Sprache, das Licht, das Gesetz eingeht und dabei das Subjekt konstituiert, das Selbst aufschiebt und spaltet. Von der Sonne geblendet, im Bann des Vaters, nach dem heiligen Ebenbild gemodelt, liegt seine Belohnung darin, dass er aus sich selbst sich gebar; darin, eine Kopie zu sein, die ihren Zweck in sich selbst trägt. Das ist der Mythos der aufklärerischen Transzendenz.

Kehren wir kurz zu meiner Bemerkung zurück, Organismen würden nicht geboren, sondern gemacht. Das ist natürlich eine Ver/wendung von Simone de Beauvoirs Satz, dass wir nicht als Frauen geboren werden – aber was für eine Arbeit verrichtet diese Behauptung darüber hinaus in diesem Essay, der darauf zielt, einem unnachgiebigen differenziellen/oppositionellen Artefaktizismus Ausdruck zu verleihen?