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Ben lebt in einem kleinen Küstenort in Andalusien. Als er arbeitslos wird, nimmt er seine Ersparnisse und zieht in einen Wohnwagen, um ein Buch zu schreiben. Inspiration findet er in den Gesprächen mit seiner neunjährigen Tochter Lucía, die ihn jeden Montag besucht und ihm Fragen über das Leben stellt.
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Seitenzahl: 205
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Für Paloma
1. Einleitung
2. Warum wohnst du in einem Wohnwagen?
3. Glaubst du an den Weihnachtsmann?
4. Warum sprechen nicht alle die gleiche Sprache?
5. Warum bist du nicht mehr mit Mama zusammen?
6. Warum essen wir Hühner?
7. Bist du für Barça oder Madrid?
8. Warum sieht der Papst so traurig aus?
9. Warum muss ich Hausaufgaben machen?
10. Warum darf Tatiana nicht in Spanien bleiben?
11. Warum schmeißen die Leute Müll auf die Straße?
12. Warum raucht meine Mama?
13. Wann ist die Krise vorbei?
14. Warum lachst du heute nicht?
15. Warum stirbt man?
16. Wann kommst du zurück?
Es heißt, ein Mensch kann drei Dinge tun, um sich unsterblich zu machen: ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen und ein Buch schreiben. Welch hoffnungsvoller, ja Mut machender Gedanke! Etwas schaffen und hinterlassen, das weiterlebt, wenn man eines Tages selbst nicht mehr da ist. Dem Tod eins auswischen und die eigene Angst vor der Endlichkeit mindern. Die Frage ist nur – kann Unsterblichkeit glücklich machen?
Ben konnte bereits zwei Punkte von der Liste abhaken: Er hatte eine neunjährige Tochter und vor einigen Jahren hatte er sieben neue Kiefern in einem abgebrannten Waldstück gepflanzt. Was ihm fehlte, war das eigene Buch. Er war quasi ein Drittel entfernt von vollkommener Unsterblichkeit. Allerdings wusste er davon nichts.
Ben war ein lebensfroher Mensch. Stets versuchte er, zufrieden zu sein mit dem, was er hatte. Er durchlebte viele Höhen und Tiefen und fand das auch gut so. Manchmal fiel es ihm nicht leicht, schlechte Zeiten zu akzeptieren, aber er wusste, dass sie einfach zum Leben dazu gehörten. Denn ohne die traurigen Momente hätte er auch auf ihr Gegenteil verzichten müssen – das Gefühl, wenn er vor lauter Glück die ganze Welt umarmen konnte. Ohne Täler, keine Berge.
Eigentlich hieß er nicht Ben, sondern Benjamin, aber er hatte den Namen schon als Kind nicht wirklich gemocht. An seinem achtzehnten Geburtstag hatte er daher beschlossen, die letzten fünf Buchstaben einfach zu streichen.
Ben hatte einen runden Kopf, dicke Augenbrauen und eine etwas zu groß geratene Nase. Meistens trug er einen Hut. Warum wusste er nicht – er trug einfach gerne Hüte. Er war mittelgroß, schlank und sah aus wie Ende zwanzig. In Wahrheit ging er aber bereits auf die Vierzig zu.
Ursprünglich kam Ben aus einem kleinen Ort am linken Niederrhein. Seine Kindheit war glücklich, aber auch recht unspektakulär gewesen. Er hatte immer alles gehabt, was er für ein unbeschwertes Leben gebraucht hatte. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, hatte er schon von klein auf ein ganz klares Ziel verfolgt: raus aus der deutschen Provinz! Seitdem er denken konnte, hatte er von der großen, weiten Welt geträumt. Folglich hatte es niemanden überrascht, als er nach dem letzten Schultag im Alter von neunzehn Jahren Deutschland den Rücken gekehrt hatte.
Fast ein ganzes Jahrzehnt war er unterwegs gewesen, getrieben von Neugierde und seinem Verlangen nach ständiger Veränderung. Zuerst sechs Monate in Australien, dann acht Monate in Südostasien, dann zurück nach Deutschland, um mit Taxifahren die Reisekasse aufzufüllen. Danach folgte ein Jahr in Indien, dann Südamerika, zwischendurch wieder Taxifahren, dann Mittelamerika, nochmal nach Indien, Nordafrika, Osteuropa… Es wäre vielleicht ewig so weitergegangen, wenn er nicht eines Tages versehentlich eine Spanierin geschwängert hätte. Einmal nicht aufgepasst und schon war die Reise zu Ende gewesen. So kam es, dass er plötzlich ein nie gewolltes Zuhause gefunden hatte; wie aus dem Nichts war es direkt vor ihm aufgetaucht: Estepona, eine verschlafene Küstenstadt in Andalusien.
Neun Monate nach seiner Ankunft in Südspanien wurde seine Tochter Lucía geboren. Nur sechs Monate später ging seine Beziehung mit Lucías Mutter, Carmen, in die Brüche. Ben begann wieder, von langen Reisen in die Ferne zu träumen, doch schnell wurde ihm klar, dass es dieses Mal bei Träumen bleiben würde. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, seine Tochter alleine bei ihrer verrückten Mutter zu lassen. Also hatte er sich eine eigene Zwei-Zimmer-Wohnung am Rande von Estepona gesucht und war geblieben.
Die Jahre vergingen. Nachdem er sich anfangs noch mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hatte, fand Ben schließlich eine langfristige Anstellung als Fotograf bei der Lokalzeitung. Routine kehrte ein. Jede Woche fuhr er fünf Tage lang durch die Gegend und machte Fotos – von Unfällen, Politikern und öffentlichen Feiern. Von all den Dingen, die jeden Morgen in der Zeitung standen. Manchmal langweilte er sich, denn nach einiger Zeit schien sich alles zu wiederholen, selbst die Unfälle boten nur wenig Abwechslung. Da er aber gerne fotografierte und der Job relativ gut bezahlt war, änderte er nichts. Seine freien Tage verbrachte er meistens mit Lucía, und in den Ferien fuhren sie gemeinsam gen Norden, um ihre deutsche Familie zu besuchen.
Ben mochte das Leben in Andalusien, aber er wäre wahrscheinlich freiwillig nie so lange dort geblieben. Der Hauptgrund, warum er in Estepona lebte, war Lucía. Und obwohl er die große, weite Welt hatte opfern müssen, war er doch glücklich, weil er als Vater regelmäßig Zeit mit seiner Tochter verbringen konnte.
Es gab weiterhin Höhen und Tiefen in seinem Leben, hier und da kleine Umwege, die ihn kurzfristig vom Wege abbrachten. An eine große Kreuzung, an der er rechts oder links abbiegen konnte, war er allerdings schon lange nicht mehr gekommen – seit geraumer Zeit ging es immer nur geradeaus. Eigentlich schon viel zu lange…
Wir schreiben das Jahr 2011, Ben war achtunddreißig. Fast alle Länder der Welt litten unter der Wirtschaftskrise, die Zahl der Arbeitslosen stieg rasant. Spanien war mit am härtesten betroffen.
Überall mussten Einsparungen gemacht werden, auch bei der Lokalzeitung in Estepona. Eine Weile hatte Ben Hoffnung gehegt, dass es ihn nicht treffen würde, doch Anfang November war es dann soweit: Er verlor seinen Job. Das Dumme an der Sache war, dass Ben die ganze Zeit als freiberuflicher Fotograf gearbeitet hatte, und somit hatte er kein Anrecht auf Arbeitslosengeld. Was ihm blieb, waren seine Ersparnisse – gerade mal genug, um zwei oder drei Monate ohne Einkommen durchzuhalten. Was nun?
Im Winter war es schwierig im vom Tourismus abhängigen Andalusien eine halbwegs vernünftige Arbeit zu finden. Eigentlich war es sogar fast unmöglich, überhaupt irgendeinen Job zu ergattern. Die ganze Zeit Lebensläufe verschicken und Absagen lesen, nur rumsitzen? Dazu hatte er keine Lust.
Ben begann, nach Alternativen zu suchen.
Für eine richtige Reise fehlte ihm das Geld. Sollte er vielleicht einfach einen Job in Nordeuropa suchen, wo die wirtschaftliche Situation besser war? Auf der einen Seite ja, warum nicht? Eine Veränderung hätte ihm sicher gut getan. Aber dann war da natürlich noch Lucía… Er wusste, dass er aus finanzieller Sicht einen großen Schritt nach vorne machen konnte, wenn er Andalusien verlassen würde. Doch die Angst vor einer möglichen Trennung von seiner Tochter war viel größer als die Not, so schnell wie möglich bezahlte Arbeit finden zu müssen. Gab es also noch eine andere Möglichkeit?
Langfristig brauchte Ben wieder einen Job, soviel war klar. Aber kurzfristig? Vielleicht konnte er die gewonnene Zeit ja für etwas anderes nutzen?
Ben war eine Art Hobbyphilosoph: Jemand, der es liebte, aus verschiedenen Richtungen das Leben zu betrachten und darüber nachzudenken. Er hatte schon oft mit der Idee gespielt, einige seiner Gedanken in Buchform zu bringen. Die letzten zehn Jahre war er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, nun hatte er jedoch auf einmal Zeit. Die Gelegenheit war da – er musste nur nach ihr greifen. Er überlegte ein paar Tage, fand allerdings keine Ausreden oder bessere Optionen. Was hatte er schon zu verlieren?
Ben griff zu.
Damit sein Geld möglichst lange reichen würde, kündigte er seine Wohnung und zog in einen Wohnwagen. Ein befreundetes Ehepaar hatte ihm angeboten, für eine kleine Miete in ihrem alten VW-Bus zu leben.
Blieb einzig die Frage, worüber er ein Buch schreiben sollte?
Fotografie war das Thema, mit dem er sich aus beruflicher Sicht am besten auskannte. Aber er wollte weder ein technisches Buch schreiben, noch einen Bildband veröffentlichen. Er überlegte, was er sonst noch für Erfahrungen hatte – Erfahrungen, die er irgendwie verwerten konnte. Alsbald stachen zwei Bereiche hervor: Reisen und Vaterschaft.
Während Ben also seine Wohnung auflöste, Möbel unterstellte und den alten Wohnwagen sauber machte, begann er, Ideen für eine Geschichte zu sammeln. Zu seiner Überraschung dauerte es nicht lange, bis sein Buch Form annahm: Eine abenteuerliche Reise durch Indien sollte es werden, gefüllt mit bewegenden Gesprächen der beiden Protagonisten – Vater und Tochter.
Um die fiktive Geschichte mit etwas Realität anzureichern, beschloss Ben, seine eigene neunjährige Tochter mit einzubinden. Er bat sie, sich jede Woche eine Frage zu überlegen, und ihre Fragen wollte er dann in seinem Buch verarbeiten.
Als er Lucía das erste Mal von seiner Idee erzählt hatte, war sie recht skeptisch gewesen. ‚Mein Papa, ein Buch schreiben? Wieso das denn? Kann der das überhaupt?’ Doch als sie merkte, dass er es ernst meinte, willigte sie ein. Wenn es ihren Vater glücklich machte, warum nicht? Außerdem konnte sie auf diese Weise vielleicht den einen oder anderen Kinobesuch aushandeln.
Bens Buch konnte beginnen.
Sein Körper zuckte zusammen, als er den Bus plötzlich vor sich sah. Ben konnte noch gerade seine Zigarette wegwerfen, bevor die Tür aufging und Lucía mitsamt ihren Schulsachen raussprang. Sie wusste nicht, dass ihr Vater rauchte, und er wollte auch nicht, dass sie es wusste.
„Hey Schatz, wie geht’s dir?“
„Gut.“
„Wie war die Schule?“
„Gut.“
„Viele Hausaufgaben auf?“
„Nö.“
Lucía liebte einsilbige Antworten.
Ihre Schule war ungefähr 40 Kilometer entfernt, hoch oben auf einem Berg gelegen. Jedes Mal, wenn sie morgens den Bus verpassten und Ben sie fahren musste, überhitzte sein Wagen auf dem steilen Weg hinauf. Er fragte sich, wer die glorreiche Idee gehabt hatte, eine Schule auf einem Berg zu bauen?
Ben hatte mit Carmen vereinbart, dass Lucía ab sofort jeden Montag zu ihm kommen würde. Bisher hatten sie keinen festen Tag gehabt, da seine Arbeit viel Flexibilität gefordert hatte. Lucía lebte die meiste Zeit mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder in einem anderen Ort, ungefähr eine Autostunde von Estepona entfernt. Zu weit, um nachmittags spontan mit dem Fahrrad vorbeizukommen, aber glücklicherweise nah genug, um regelmäßig Kontakt zu haben.
Montags war also von nun an ihr gemeinsamer Tag.
Ben und Lucía fuhren im Auto die fünf Minuten von der Bushaltestelle zu ihrem neuen Zuhause. Das Grundstück, auf dem der Wohnwagen stand, lag ein paar Kilometer außerhalb von Estepona auf dem Land.
Sie stiegen aus, öffneten ein großes, grünes Tor und betraten das Reich von John und Sue. Ben kannte die beiden schon seit einigen Jahren – ein sympathisches Ehepaar Mitte fünfzig, ursprünglich aus England und von Beruf Selbstversorger. Seit Anfang der Achtziger lebten sie in Südspanien. John hatte kurz nach seinem Studium ein vegetarisches Restaurant aufgemacht, ganz in der Nähe vom Londoner Finanzviertel. Nach vier Jahren harter und erfolgreicher Arbeit hatte er allerdings keine Lust mehr gehabt, weiterhin in der hektischen Großstadt zu leben. Er fand einen Käufer für sein Restaurant, nahm das Geld und setzte sich mit seiner Frau nach Andalusien ab. Im Süden angekommen, kauften sie eine alte Finca mit genügend Land für ein kleines Getreidefeld, einen großen Gemüsegarten und einen Hühnerstall – der Traum aller Hippies! Gelegentlich machten die beiden einige Nebenjobs, meistens waren sie aber irgendwo zwischen Küche und Garten zu finden.
Lucía kannte John und Sue bereits, aber trotzdem versteckte sie sich hinter dem Rücken ihres Vaters, als sie zusammen um das Haus herumgingen. Sie war von Natur aus schüchtern, wie viele Mädchen in ihrem Alter. Ihre funkelnden, braunen Augen ließen jedoch erahnen, dass es hinter der Fassade des braven Kindes auch einen Frechdachs gab – ein neunjähriges Mädchen, das genau wusste, was es machen musste, um die Erwachsenen nach ihren Wünschen tanzen zu lassen. Ein unschuldiger Blick genügte, und ihr wurden alle Türen geöffnet. Ben wollte gar nicht daran denken, wie es erst werden würde, wenn sie in der Pubertät war.
Nachdem sie von den drei Haushunden euphorisch begrüßt worden waren, gingen sie an der Terrasse vorbei und spazierten einen kleinen Abhang herunter. Rechts von ihnen befand sich ein kleiner Olivenwald, links Orangen- und Zitronenbäume und im Hintergrund die Berge der Sierra Bermeja. Dazu blauer Himmel und Sonnenschein – obwohl es mitten im Winter war, lag bereits ein Hauch von Frühling in der Luft. Unten angekommen, mussten sie nur noch an einem riesigen Feigenbaum vorbei und dann hatten sie ihr Ziel erreicht: der Wohnwagen.
Der alte VW-Bus war zwar sichtlich in die Jahre gekommen, aber er hatte nichts von seinem spätsechziger Charme verloren: Er war knallrot, mit vielen kleinen Fenstern rund herum, silbernen Radkappen und zwei großen verrosteten Außenspiegeln. Über dem rechten Vorderrad war noch der verblasste Aufkleber einer weißen Taube zu erkennen.
„Und, was meinst du?“
Beide blieben stehen und betrachteten das alte Hippiemobil. Lucía wusste noch nicht so genau, was sie von dem Umzug in einen Wohnwagen halten sollte. Ein eigenes Zimmer konnte sie sich wohl von der Backe putzen, und normaler machte die neue Situation ihren Vater auch nicht.
„Cool, oder?“
„Ist okay.“
„Ist okay? Ay, der ist ja wohl super! Ich weiß, du hättest lieber einen rosafarbenen gehabt, aber das Rot ist doch auch schön. Komm, guck ihn dir mal drinnen an.“
Lucía stellte ihren Schulranzen ab und folgte ihrem Vater durch die Seitentür hinein.
Es gab einen kleinen Tisch, einige Holzfächer als Stauraum, ein Bett und einen Minikühlschrank.
„Und wo gehe ich aufs Klo?“
„Draußen, unter einem der Bäume.“
Lucía schaute ihren Vater erschrocken an. ‚Ich soll unter einem Baum pinkeln?’
Für einen Moment schaffte es Ben, ernst zu bleiben, doch dann konnte er ein Lächeln nicht mehr zurückhalten.
„Keine Bange, wir können das Badezimmer vom Haus mitbenutzen.“
Lucía atmete erleichtert auf. Sie hätte es wissen müssen, ihr Vater machte ständig solche dummen Witze.
„Jetzt komm schon, so schlimm ist das doch nicht, oder? Wir werden hier ja nicht ewig bleiben.“
Ben wusste, dass seine Tochter lieber in der netten Wohnung im Ort geblieben wäre, aber da sie die meiste Zeit sowieso bei ihrer Mutter lebte, hatte er die Entscheidung einfach ohne sie getroffen. Man musste seinen Kindern schließlich nicht bei allem volles Mitspracherecht geben.
Lucía blieb skeptisch. Da sie aber nichts an der Situation ändern konnte, zuckte sie einfach mit den Schultern und gab sich relativ gleichgültig. Ihr Magen knurrte.
„Kann ich was essen?“
„Na klar.“
Zusammen gingen sie an den Obstbäumen vorbei zum Haus hinauf, um in der Küche von John und Sue zu kochen. Naja, was hieß kochen? Ein Käsebrot in den Ofen schieben und darauf warten, dass es schön knusprig wurde.
Es war ein sonniger Nachmittag Mitte Dezember. Nach dem Essen kehrten sie zum Wohnwagen zurück und machten es sich gemütlich – und zwar draußen auf zwei Korbstühlen direkt unter den kleinen Fenstern. Manchmal hatte es seine Vorzüge, im Süden zu leben. Ben musste an Deutschland denken: Bei minus acht Grad gab es dort um diese Jahreszeit nur noch die Eisbären im Zoo, die freiwillig an der frischen Luft blieben.
Lucía breitete ihre Schulhefte auf einem runden Glastisch aus, der zwischen den beiden Korbstühlen stand. Obwohl sie erst in der dritten Klasse war und meistens gerne in die Schule ging, fand sie es schrecklich doof, Hausaufgaben machen zu müssen. Aber was sollte sie schon sagen? Noch so eine Sache, an der sie nichts ändern konnte.
Ben saß ihr gegenüber und kritzelte in einem Notizbuch. Er sammelte Ideen für seine Geschichte.
„Hey, hast du dir eigentlich eine Frage überlegt?“
Lucía schaute von ihrem Matheheft hoch und starrte ihren Vater an. ‚Mist’, daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Sie kniff ihre Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
„Ich kann mir aber schnell eine ausdenken.“
„Kein Problem, mach ruhig erst deine Hausaufgaben zu Ende.“
Doch Lucía hatte bereits begonnen, nach einer Frage zu suchen. Es war eine willkommene Ablenkung von ihren Multiplikationsübungen. Während Ben sich wieder seinem Notizbuch zuwendete, dachte sie nach. Einige Minuten ließ sie ihren Blick umher schweifen, dann tauchte auf einmal eine Frage direkt vor ihren Augen auf.
„Papa, warum wohnst du in einem Wohnwagen?“
Ben guckte sie überrascht an.
Als er die Entscheidung getroffen hatte, seine Wohnung aufzugeben und vorerst in den alten VW-Bus zu ziehen, hatte er Lucía von dem bevorstehenden Umzug berichtet. Natürlich war der Wohnwagen ein Rückschritt, was Komfort anging. Aber Ben wollte einfach nicht seine gesamten Ersparnisse dafür ausgeben, die nächsten Monate deprimiert in einer Wohnung zu sitzen. Eine Wohnung, die ohnehin viel zu groß für ihn gewesen war. Er hatte kalkuliert, dass er durch die geringeren Kosten mindestens sechs Monate auskommen würde. Vier Monate als Schriftsteller, und dann noch zwei Monate, um einen neuen Job zu finden.
„Das hab ich dir doch erzählt, oder?“
„Was, dass du kein Geld hast?“
„Naja, ich habe schon etwas Geld, aber ich gebe es momentan lieber für etwas anderes aus als für eine teure Wohnung. Ich kaufe mir quasi Zeit, um ein Buch schreiben zu können.“
Lucía verstand, was er sagte. Ihre Frage war jedoch eine andere.
„Ja, aber warum ein Wohnwagen? Du könntest dir doch auch ein kleines Zimmer mieten.“
„Klar könnte ich das. Aber weißt du, das hat sich einfach so ergeben. Und da ich noch nie in einem Wohnwagen gewohnt habe, und du übrigens auch nicht, dachte ich, wir könnten das mal ausprobieren.“
Ben probierte gerne neue Sachen aus. Er fand, das Leben war zu vielseitig, um immer das Gleiche zu machen. Insofern war er sogar froh, dass die Zeitung ihm gekündigt hatte.
Sie guckten sich einen Moment schweigend an. Lucía wollte etwas sagen, zögerte aber. ‚Vielleicht ist das keine gute Idee…’, dachte sie. Doch dann hörte sie auf, nachzudenken, und machte einfach den Mund auf:
„Mama sagt, du spinnst.“
Zack!, das hatte gesessen. Da war er also, der wahre Grund für ihre Frage. Ben riss sich zusammen und blieb ruhig – seiner Tochter zuliebe.
„Ach, tut sie das?“
Lucía nickte verlegen. Ihr Vater starrte sie mit leichtem Entsetzen an. Er war sich bewusst, dass die spanischen Familienmitglieder seiner Tochter die Nase gerümpft haben mussten, als sie von seiner Absicht gehört hatten. ‚Ein Buch schreiben? In einem Wohnwagen? Der Idiot hat sie doch nicht mehr alle!’ Ben konnte förmlich sehen, wie Carmen die Augen verdreht hatte. Und Lucía mittendrin.
„Vielleicht hat sie ja Recht. Sie spinnt ja schließlich auch manchmal. Und weißt du was? Das ist auch gar nicht schlimm. Ich finde, jeder sollte mal spinnen dürfen. Ich tue ja keinem weh. Und nur weil deine Mutter nicht in einen Wohnwagen ziehen würde, heißt das ja noch lange nicht, dass das schlecht sein muss. Oder?“
Lucía hörte aufmerksam zu. Was ihr Vater sagte, machte Sinn. Aber das Wichtigste für sie war, dass er nicht böse geworden war. Obwohl er fast nie böse wurde, war sie sich in manchen Situationen nicht sicher, wie er reagieren würde. Das gerade war so eine Situation gewesen.
„Könnte doch sogar ganz lustig werden, in einem Wohnwagen zu leben.“
Ben zeigte keinerlei Anzeichen von Verärgerung. Lucía war erleichtert. Ihre Mutter verlor leider viel zu schnell ihr spanisches Temperament, bestimmte Dinge erzählte sie ihr deswegen gar nicht mehr. Mit ihrem Vater war das alles einfacher.
„Weißt du Papa, die Mama spinnt echt manchmal. Ihr spinnt beide!“
Sie mussten lachen.
Ben begann, zu überlegen – irgendwie musste er seiner Tochter das Leben in einem Wohnwagen doch schmackhaft machen können.
„Hey, das Gute ist zum Beispiel, dass man hier nie lange suchen muss, wenn man etwas braucht – kann ja nicht weit weg sein! Und aufräumen muss man auch nicht viel.“
„Ja, und man kann sein Haus überall hin mitnehmen.“
„Klar.“
„Wie eine Schnecke“, stellte Lucía fest.
„Genau, wie eine Schnecke.“
Blieb nur zu hoffen, dass der Motor noch funktionsfähig war.
Lucía begutachtete das neue Zuhause ihres Vaters. Vielleicht konnte es ja wirklich ganz lustig werden, zumindest für eine Weile.
„Papa, gibt es eigentlich Leute, die immer in einem Wohnwagen leben?“
„Klar, viele Leute machen das.“
„Warum denn? Weil die kein Geld haben?“
Ben schüttelte den Kopf.
„Das Leben in einem Wohnwagen ist ja auch nicht umsonst. Außerdem ist es nicht immer eine Frage des Geldes – manche Leute verreisen halt gerne, und manche sogar so viel, dass so ein Schneckenhaus für sie am besten ist. Es gibt zum Beispiel viele alte Leute, die noch ein Stückchen von der Welt sehen wollen, bevor sie sterben. Also kaufen sie sich einen Wohnwagen und fahren einfach drauf los.“
„Und wo tun die dann ihre ganzen Sachen hin?“
„Was denn für Sachen?“
„Na, Kleider und Bücher und Schuhe…“
Lucía schaute sich um. Es gab überhaupt keinen Platz, um alles, was sie besaß, mitnehmen zu können.
„Tja, da muss man eben mit weniger auskommen. Aber wenn man auf Reisen ist, braucht man ohnehin nicht viel.“
Lucía blieb skeptisch. Sie versuchte, sich vorzustellen, ständig unterwegs zu sein.
„Wie waschen die sich denn dann? Oder waschen die sich etwa nie?“
„Na klar, waschen die sich. Es gibt ja auch viel größere Wohnwagen als den hier, mit Dusche, Küche und sogar Fernsehen.“
„Wow! Warum haben wir nicht so einen?“
„Wozu denn? Wir brauchen doch kein Fernsehen, oder?“
Ben zwinkerte ihr mit einem Auge zu. Natürlich wusste er, dass seine Tochter liebend gerne einen Wohnwagen mit Fernsehgerät gehabt hätte. Aber er selbst guckte so gut wie nie und Lucía bekam ohnehin schon eine tägliche Überdosis bei ihrer spanischen Familie. Das musste reichen.
„Weißt du, es gibt auch Leute, die müssen aus beruflichen Gründen oft den Ort wechseln. Ein Straßenmusiker zum Beispiel. Für den ist es doch viel praktischer, in einem Wohnwagen zu leben.“
Lucía verzog ihr Gesicht.
„Straßenmusiker ist doch kein Beruf!“
„Warum denn nicht? Wenn man gut ist, verdient man da mehr, als wenn man den ganzen Tag im Supermarkt hinter der Kasse steht.“
„Ich glaube, Mama hätte es lieber, wenn du im Supermarkt arbeitest als auf der Straße Musik zu machen.“
„Das kann schon sein.“
„Und in einen Wohnwagen würde sie auch nie ziehen.“
„Ich weiß“, seufzte Ben.
„Papa, irgendwann ziehen wir aber wieder in eine Wohnung, oder?“
Lucía klang leicht besorgt.
„Ja, machen wir. Jetzt sind wir aber erst einmal hier. Also, genieße es! Wer weiß, wie oft du in deinem Leben in einem Wohnwagen wohnen wirst.“
Einige Tage später half Ben seinem neuen Vermieter, dessen Auto zu reparieren. John lag unter seinem uralten Golf und Ben gab ihm das benötigte Werkzeug an. Er selbst verstand von Automechanik ungefähr genau so viel wie die meisten Frauen von Fußball: nichts! Ihn interessierten Autos einfach nicht, er benutzte sie lediglich, um von A nach B zu kommen. Bei John war das anders: Wie es sich für einen guten Selbstversorger gehörte, hatte er den alten Dieselmotor so umgewandelt, dass er mit recyceltem Pflanzenöl fahren konnte. Das war nicht ganz legal, funktionierte aber prima. Anstatt Benzin tankte er also Frittenfett.
„Hammer.“
Ben reichte ihm den Hammer.
„Kreuzschrauber.“
Er wühlte in der Werkzeugkiste rum, fand aber keinen.
„Geht auch ein flacher Schraubenzieher?“
„Nee. Guck mal auf dem Beifahrersitz, vielleicht liegt er da.“
In der Tat, dort lag er. Ben hörte, wie John unter dem Wagen rumhämmerte und hier und da stöhnte. Nur seine Füße guckten raus.
„Gib mir mal die Schlauchklemmenzange?“
„Was?“
„Die Schlauchklemmenzange, mach schon.“
Ben hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte.
„Ähm…“
„Vergiss es!“
John kam herausgekrochen. Sein Gesicht war so schwarz, als wäre er gerade aus einem Guerillakrieg zurückgekehrt.
„Ihr jungen Leute kennt euch wohl nur noch mit dem ganzen Computerscheiß aus.“
Er zündete sich eine Zigarette an.
Ben zuckte mit den Schultern. Mit Computern kannte er sich tatsächlich besser aus.
„Hey John, fährt der Wohnwagen eigentlich noch? Ich glaube, Lucía würde damit gerne mal einen Ausflug machen.“
„Klar. Kann sein, dass die Batterie keinen Saft mehr hat, aber probiers´ einfach. Der Schlüssel steckt.“
„Du lässt einfach den Schlüssel stecken?“
„Wer soll den denn klauen? Ist ja schließlich kein Porsche.“
John schüttelte ungläubig den Kopf. Warum alle immer Angst hatten, dass ihnen jemand etwas wegnehmen könnte.
„Warte, ich komme eben mit.“
Zusammen gingen sie zum Wohnwagen runter und setzten sich vorne rein. John nahm den Gang raus und drehte den Schlüssel. Nichts. Noch ein Versuch, doch wieder blieb es totenstill.
„Tja, hatte ich mir gedacht, die Batterie ist platt. Aber kein Problem, wenn du irgendwann eine Runde drehen willst, sag mir einfach Bescheid, ich habe ein Starterkabel.“
„Danke!“
„Bitte! Und denk dran: Der hier fährt auch mit Frittenfett. Du musst nur aufpassen, wenn Bullen hinter dir sind. Also nicht so viel Gas geben, sonst riecht das, als würde eine Pommesbude vorne weg fahren.“
„Okay.“
Ben klang nicht sonderlich überzeugt. Vielleicht konnte das mit dem Ausflug noch etwas warten.