5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Willkommen im Garten des Lebens!
Niklas, Anfang 30, gerade arbeitslos geworden und irgendwie entwurzelt, entscheidet sich für eine Auszeit in Andalusien. Dort begegnet er Señor Gonzalez, einem alten Gärtner, der seit Jahrzehnten Gemüse auf natürliche Weise anbaut, »immer mit der Natur als Freund und Gehilfe«. Zuerst besucht Niklas den alten Mann hin und wieder, dann hilft er ihm täglich einige Stunden bei der Gartenarbeit. Dabei lernt Niklas nicht nur etwas über den Anbau von Tomaten, sondern vor allem etwas über Gelassenheit und Achtsamkeit. Señor Gonzalez, sein Wissen und seine Weisheit öffnen Niklas die Augen und helfen ihm, sein Leben neu auszurichten.
Dieses Buch wurde bereits unter dem Titel »Señor Gonzalez und der Garten des Lebens« veröffentlicht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 224
CLAUS MIKOSCH wurde Mitte der Siebzigerjahre in Mönchengladbach geboren. Nach dem Abitur reiste er eine Weile um die Welt, studierte Homöopathie in England und arbeitete anschließend viele Jahre als DJ und Fotograf. Heute pendelt er als Schriftsteller und Filmemacher zwischen Deutschland und Spanien.
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
Claus Mikosch
Der kleine Garten am Meer
Eine Erzählung darüber, was im Leben wirklich zählt
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die deutsche Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelSeñor Gonzales und der Garten des Lebens im Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: Favoritbüro Umschlagmotiv: Tending the Garden, Rodko, Konstantin (1908–95) / Private Collection / Bridgeman Images ISBN 978-3-641-25510-7V002www.penguin-verlag.de
Für meine Mutter. Und für unsere Mutter.
Inhalt
Das Alte endet
Wir stürzen, damit wir lernen, aufzustehen
Ankunft in Andalusien
Auf der Suche nach einem Vorbild
Señor Gonzalez
Warum soll ich in Rente gehen?
Zuflucht im Gemüsegarten
Die Natur als Freund
Ostwind
Nichts bleibt wie es ist
Damals und heute
Warum die Zukunft besser werden muss
Grüne Liebe
Das Glück wächst im Jetzt
Hoffnung
Träumen oder aufgeben?
Verbundenheit
Die größte Illusion ist die Illusion der Trennung
Angst
Wenn alles verloren scheint
Die Kunst des Teilens
Niemand überlebt alleine
Versöhnung
Vom Geheimnis, Frieden zu ernten
Allein im Paradies
Der Wunsch nach Liebe
Das Neue beginnt
Wie will ich leben?
Das Alte endet
Wir brauchen Sie nicht mehr.«
Die Worte hallten durch seinen Kopf, immer und immer wieder. Für einen Moment überlegte Niklas, ob es vielleicht ein Witz gewesen war. Aber nein, sein Chef hatte noch nie Witze gemacht. Statt zu lachen sollte er also vielleicht besser aufspringen und diesem aufgeblasenen Zwerg sagen, was er wirklich über ihn dachte. Die Versuchung war da, aber wozu das ganze Theater? In einem Film mag es ja unterhaltsam sein, wenn jemand ausflippt und in einem spontanen Rachefeldzug seinen Chef wild beschimpft, aber das hier war kein Film. Das hier war die nüchterne Realität.
Acht Jahre lang hatte Niklas an einem großen Schreibtisch in einer Bankfiliale gesessen und Kunden beraten. Die meisten waren zu ihm gekommen, weil sie ihr Geld für sich arbeiten lassen wollten. Dabei war diese Idee völlig absurd, denn Geld kann überhaupt nicht arbeiten. Entweder man schuftet selbst, oder man lässt andere für sich schuften. Und wenn man andere die Arbeit machen lässt, kann dies entweder auf faire Art und Weise passieren, oder es wird geherrscht und ausgebeutet. In der Welt, die Niklas in den letzten Jahren kennengelernt hatte, gab es dafür eine einfache Verteilungsformel: Je größer die Gier, desto größer die Ausbeutung. Der eigene Profit war schließlich wichtiger als das Wohl eines Fremden, vor allem eines Fremden in einem fernen Land.
Doch Ausbeutung und Fairness hin oder her – wenn Geld fließt, sind es immer Menschen, die die Arbeit ausführen. Jedenfalls war Niklas bisher davon ausgegangen, dass es so ist.
»Wie meinen Sie das, Sie brauchen mich nicht mehr?«
»So, wie ich es gesagt habe«, gab der Filialleiter ungerührt von sich. »Sie sehen doch selbst, was los ist, oder?«
Niklas ließ seine Augen von dem starren Gesicht seines Vorgesetzten zum Fenster wandern. Es war ein grauer Frühlingsmorgen, kalt und nass und abweisend.
»Die meisten Menschen erledigen ihre Bankgeschäfte heutzutage im Internet. Es macht also keinen Sinn, weiterhin so viele Filialen zu unterhalten.«
»Aber die Leute wollen doch nach wie vor beraten werden«, wandte Niklas ein.
»Natürlich wollen sie das, aber sie können sich auch online beraten lassen.«
»Das sind doch meistens irgendwelche unpersönlichen Programme mit wirren Algorithmen«, wehrte er sich, aber sein Chef zuckte nur mit den Schultern.
»Die arbeiten gut, diese Programme.«
Ihre Blicke trafen sich. Wut und Enttäuschung auf der einen, Leere und Ablehnung auf der anderen Seite.
»Ich kann nichts daran ändern«, sagte der Filialleiter und reichte Niklas die Entlassungspapiere. »Sie können selbst wählen: Entweder Sie gehen sofort und bekommen eine angemessene Abfindung, oder Sie bleiben noch fünf Monate bis zum Ende Ihres Vertrages und verzichten auf weitere Ansprüche.«
Dann drehte er sich zur Seite und nahm eine weitere Akte von dem Stapel, der sich neben ihm auftürmte. Die nächste Kündigung.
»Das war alles?« Stummes Nicken.
Zehn Minuten später war Niklas auf dem Heimweg. Anstatt wie sonst die Straßenbahn zu nehmen, hatte er sich entschieden, zu Fuß zu gehen. Der penetrante Nieselregen durchnässte seinen dunkelblauen Anzug und die persönlichen Unterlagen, die er unter seinem Arm trug. Beides war ihm egal.
Noch vor wenigen Stunden war er wie jeden Morgen bei der Arbeit erschienen, hatte die nette Frau an Schalter vier begrüßt und sich pflichtbewusst dem Alltag gestellt. Nun war das plötzlich alles vorbei. Niklas war zweiunddreißig Jahre alt und hatte sich für den schnellen Tod und die Abfindung entschieden. Was hätte er noch monatelang ausharren sollen, in einem Job, den er schon längst verloren hatte? Nein, dann lieber direkt klare Verhältnisse schaffen, auch wenn eigentlich alles ganz anders geplant gewesen war.
Bis jetzt hatte Niklas gedacht, er hätte im Leben alles richtig gemacht, um eine sichere und erfüllte Zukunft zu haben. Immer hatte er die gut gemeinten Ratschläge seiner Eltern und der Gesellschaft befolgt: Er war ein guter Schüler gewesen, hatte sich ohne Umwege direkt zur Uni begeben, das Studium in Regelzeit abgeschlossen und anschließend den Job bei der Bank angetreten. Er besaß einen Bausparvertrag und hatte sich trotz seiner jungen Jahre bereits um eine private Rentenvorsorge gekümmert. Sein Leben war immer geradeaus verlaufen, ohne Ecken, Kanten und Kurven. Er war der vorbildliche brave Bürger, der nie aufmuckte und alles so machte, wie es sich gehörte. Wirklich glücklich gemacht hatte ihn allerdings nichts von diesen Dingen. Immerhin hatte sein Job ihm ein bequemes Leben ermöglicht, doch dieser Job war nun weg.
Die Kündigung war überraschend gekommen, auch wenn es vorher viele Anzeichen gegeben hatte. So hatte er schon seit geraumer Zeit beobachten können, wie die Kundenzahlen in der Bank in der Tat stetig zurückgegangen waren. Außerdem hatte er in verschiedenen Fernsehtalkshows gehört, wie Philosophen und vorausdenkende Wissenschaftler davor warnten, dass durch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung immer mehr Arbeitsplätze wegfallen würden. Es war eine Entwicklung, die nicht aufgehalten werden konnte, und sie war weder gut noch schlecht – leistungsstarke Computer, das allwissende Internet und geschickte Roboter waren schlicht und einfach Teil des konstanten Wandels, an den man sich anpassen musste. Doch im Nachhinein die Zeichen zu interpretieren, ist natürlich viel einfacher, als sie im Moment ihres Auftauchens klar zu sehen, ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln.
Der Regen wurde stärker. Niklas dachte nicht daran, sich irgendwo unterzustellen, und ging stattdessen wie in Trance weiter den leeren Bürgersteig entlang. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit einem Freund, einige Monate zuvor. Sie hatten genau über diese Probleme gesprochen, über die möglichen Konsequenzen von immer mehr Technologie und klugen Maschinen, die eines Tages den Menschen weitestgehend überflüssig machen würden. Ihnen war bewusst, dass sie in dieser Veränderung schon mitten drin steckten. Trotzdem schien sie noch sehr weit weg zu sein, als würde es noch lange dauern, bis diese ferne Zukunft ihre eigene Gegenwart betreffen würde. Außerdem hatte Niklas sich überhaupt nicht vorstellen können, dass es irgendwann ihn selbst treffen könnte. Die anderen würden ihre Arbeit verlieren und leiden, die anderen würden sich an die neue Welt anpassen müssen. Er selbst hatte doch alles richtig gemacht, was sollte also schief gehen?
An einem kalten Morgen Ende März war er nun eines Besseren belehrt worden. »Viel Glück bei Ihrer weiteren Karriere«, hatte er den Filialleiter beim Rausgehen noch sagen hören. Karriere. Glück.
Der Weg hatte sich inzwischen in ein Meer von Pfützen verwandelt. Niklas passierte einige Schaufenster, eine Bäckerei, dann eine Bushaltestelle. Sein Blick folgte einer jungen Frau, die unter einem roten Regenschirm mit schnellen Schritten die Straße überquerte. Er wollte gerade wieder die Augen nach vorne richten, als er auf der anderen Straßenseite das Logo seiner Bank sah. Abrupt blieb er stehen und betrachtete die Filiale, die kaum von seiner zu unterscheiden war. Niklas stieß einen langen Seufzer aus. Noch vor einer knappen Stunde hatte er ebenfalls einen Platz im Trockenen gehabt. Jetzt stand er draußen im strömenden Regen. Allein.
Er ging weiter und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Weinen, weil er gerade zum ersten Mal in seinem Leben aus dem fahrenden Karrierezug geschmissen worden war, oder lachen, weil er endlich diesen schwachsinnigen Job los war. Denn was hatte er schon Tolles gemacht? Sicher, er half anderen Menschen, ihr Geld zu vermehren und genoss auch selbst ein gutes Einkommen, aber er hatte in keinem Moment das Gefühl, irgendetwas wirklich Sinnvolles zur Welt beizutragen. Er wusste, wo seine Bank das Geld investierte, um möglichst große Gewinne zu erzielen, und so viel stand fest: Es waren keine Investitionen in nachhaltige oder soziale Projekte. Meistens ging es um Waffen, Medikamente und andere dubiose Geschäftspraktiken. Wenn man durch seine tägliche Arbeit indirekt an diesem dunklen Spiel beteiligt war, wie sollte man da Freude an seinem Job entwickeln? Außerdem war es einfach dumm, sich wie Niklas tagtäglich von einem machtbesessenen Chef tyrannisieren zu lassen. Soweit also die positiven Seiten der Kündigung.
Eigentlich Gründe genug, sich nicht aufzuregen, sondern die plötzliche Schicksalswendung als Chance anzusehen. Das Problem war allerdings, dass Niklas weder in der Schule noch in der Universität gelernt hatte, was genau zu tun ist, wenn man aus dem fahrenden Zug geschmissen wurde. Scheitern war bisher nie Teil seines offiziellen Lehrplans gewesen.
Zum Glück gibt es aber noch einen anderen Lehrer, der genau das unterrichtet, was in Klassenzimmern und Hörsälen keinen Platz findet. Es ist das Leben höchstpersönlich! Immer wieder lässt es seine Schüler stürzen, damit sie lernen, aufzustehen.
Niklas erreichte sein Wohnviertel. Verglichen mit dem Rest der Großstadt war es eine ruhige Gegend mit wenig Verkehr. An der letzten Kreuzung vor seiner Wohnung wechselte er die Straßenseite und blieb plötzlich mitten auf der Kreuzung stehen. Es schüttete unaufhörlich und dicke Tropfen fielen von seinen blonden Locken. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Nein, nach dem Sturz liegenzubleiben war für ihn keine Option. Natürlich würde er wieder aufstehen! Die Frage war nur, welche Richtung er jetzt einschlagen sollte.
Er öffnete die Augen und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Wenn er seinem bisherigen Weg folgen würde, würde er sich direkt einen neuen Job suchen, wahrscheinlich wieder bei einer Bank. Er würde sein Gewissen und die Zeichen einer sich wandelnden Arbeitswelt ignorieren, aber zumindest hätte er wieder einen guten Posten. Seine Karriere wäre wieder in der Spur, sein Sicherheitsbedürfnis befriedigt und lästige Fragen seiner Eltern würden gar nicht erst aufkommen. Doch was wäre, wenn er eine andere Richtung wählen würde? Statt nach Hause und in die Gewohnheit zurückzukehren, könnte er auch etwas anderes ausprobieren. Er könnte die hektische Stadt verlassen, eine Weile Abstand gewinnen und irgendwo die grauen Wolken gegen blauen Himmel eintauschen. Dank der Abfindung hatte er ein kleines finanzielles Polster, dennoch machte ihm der Gedanke an diesen Schritt Angst. Neben der Angst hörte er aber noch eine andere Stimme, die tief aus seinem Inneren sprach und ihm leise Mut zuflüsterte: Vielleicht war die Kündigung das Beste, was ihm hatte passieren können ...
Der Regen prasselte weiter auf ihn nieder. Nach einer Weile hörte Niklas auf, sich im Kreis zu drehen und schaute nach unten, direkt in die große Pfütze, in der er stand. Sein verschwommenes Spiegelbild starrte zurück, als wollte es ihm sagen, ›ich kann dir auch nicht helfen‹. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sich an einer dieser berühmt-berüchtigten Weggabelungen befand, an denen alle Menschen im Laufe des Lebens ab und zu vorbeikommen und wo man sich ganz alleine entscheiden muss: links oder rechts entlang? Angst oder Mut? Sicherheit oder Abenteuer?
Das Alte oder das Neue?
Ankunft in Andalusien
Eine Woche später stieg Niklas bei Sonnenschein und angenehmen zwanzig Grad in Málaga aus dem Flugzeug. Oben auf der Treppe hielt er einen Moment inne und atmete tief ein. Es lag ein herrlicher Geruch in der Luft, eine Mischung aus Meer, Zitronen und Gelassenheit. Auch ein Blinder hätte in diesem Moment gewusst, dass er im Süden angekommen ist.
Während er zum Terminal ging, fiel sein Blick auf einen großen Schriftzug, hoch oben auf dem Dach: Aeropuerto Pablo Ruiz Picasso. Er dachte an die Namen einiger anderer Flughäfen, auf denen er im Laufe der Jahre gelandet war. In Frankreich gibt es den Aéroport Lyon Saint Exupéry und in Österreich den Salzburg Airport W.A. Mozart. Große Komponisten, Schriftsteller und Maler – und in Deutschland? Ein paar Politiker, sonst nichts. Irgendwie passte es perfekt zu seiner Gefühlslage: In Köln war er von Konrad Adenauer verabschiedet worden und in Málaga begrüßte ihn nun Pablo Picasso.
Der erste Schritt war getan, und er fühlte sich gut an.
Niklas holte sein Gepäck, durchquerte die Ankunftshalle und kaufte sich ein Busticket nach Estepona, einem kleinen Küstenort auf halber Strecke zwischen Málaga und Gibraltar. Die Frau am Schalter druckte das Ticket aus und reichte ihm in aller Ruhe sein Wechselgeld, Münze für Münze unter einer Trennscheibe hindurch. Dann guckte sie ihn mit großen Augen an und sagte mit schroffer, fast schon vorwurfsvoller Stimme: »Schnell, der Bus fährt gleich ab!« Leicht irritiert stopfte er Geld und Ticket in die Hosentasche und rannte mit seinem großen Koffer über den Vorplatz. Als er am Bus ankam, ging genau vor seiner Nase die Tür zu. Er seufzte und ließ die Schultern sacken. Dann öffnete sich die Tür aber plötzlich wieder und ein dicker Spanier mit rundem Kopf und öligen Haaren nickte ihn freundlich herein.
Er verstaute seinen Koffer und setzte sich auf einen hinteren Fensterplatz. Der Bus fuhr los, Niklas machte es sich auf dem durchgesessenen Sitz bequem, schaute nach draußen und begann, die letzten Tage noch einmal Revue passieren zu lassen.
Nach dem anfänglichen Schock der Kündigung war er schnell in der neuen Realität aufgewacht. Zu Beginn war es ihm schwer gefallen, die Enttäuschung loszulassen. Die Arbeit bei der Bank war zwar alles andere als ein Traumjob gewesen, aber trotzdem ist es nicht sehr aufbauend, wenn man gesagt bekommt, dass man nicht mehr gebraucht wird. Ob er wollte oder nicht, es kratzte an seinem Selbstbewusstsein und hatte ihm einige schlaflose Nächte bereitet. Auch das Mitleid seiner Freunde hatte nicht wirklich geholfen. Doch dann hatte Niklas immer öfter an den nasskalten Moment auf der Kreuzung denken müssen. Er allein und niemand sonst musste entscheiden, wohin sein Weg ging. Für jemanden, der bei Karrierefragen immer dem Rat von anderen gefolgt war, war das eine komplett neue Erfahrung. Links oder rechts? Angst oder Mut?
Letzten Endes hatte er sich weder gegen die Angst noch für den Mut entschieden. Die Sorge, möglicherweise eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, war immer noch da, und besonders mutig war Niklas ja auch noch nie gewesen. Nein, seine Entscheidung hatte mit einer tiefen Unzufriedenheit zu tun, die lange in seinem Inneren herangewachsen war. Er war es einfach satt, immer alles so zu machen, wie es sich ›gehörte‹. Und größer als die Angst, einen Schritt ins Unbekannte zu machen, war die Angst, irgendwann verbittert dazusitzen, alt und grau, und tief im Herzen die Reue zu spüren, sein ganzes Leben nur geradeaus gelebt zu haben. Schule, Uni, Arbeit und der Tod – das konnte doch nicht alles sein.
Seine Seele schrie nach Veränderung! Und da der Bankjob nun ohnehin futsch war, es mit der Liebe gerade auch nicht rosig aussah und das graue Wetter damit drohte, ihn in eine schwere Depression zu stürzen, war es der perfekte Moment gewesen, um abzuhauen. Seine Eltern hatten versucht, ihn umzustimmen, und auch seine Freunde hatten nur wenig Verständnis gezeigt. Doch dieses Mal war seine innere Stimme stärker gewesen als die Meinung der anderen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Von der Bank hatte er eine Abfindung von dreieinhalb Monatsgehältern bekommen. Er hatte also genug Geld, um einige Zeit an einem anderen Ort leben zu können. Kurzfristig hatte er mit dem Gedanken gespielt, nach Asien zu reisen, da man dort günstig leben kann. Aber Asien fühlte sich zu weit weg an, zu anders und viel zu voll. Niklas sehnte sich nach Ruhe – etwas Gesellschaft war ihm zwar willkommen, aber 1,3 Milliarden Inder? Nein, danke. Aus diesem Grund zog es ihn auch nicht in eine Großstadt, wo viel zu viele Menschen auf viel zu kleinem Raum durcheinanderwirbelten. Das Leben in einer Metropole war außerdem zu teuer für einen Arbeitslosen, und er hatte schon sein ganzes bisheriges Leben im Großstadtdschungel verbracht. Selbst als er während des Studiums ein Jahr im Ausland gewesen war, hatte er mit Barcelona eine weitere Millionenstadt gewählt. Weil Barcelona gerade ›in‹ gewesen war. Und weil sein Professor es ihm geraten hatte.
Dank der beiden Auslandssemester sprach er allerdings gut Spanisch und hatte bald über Spanien als mögliches Ziel nachgedacht. Ein Freund an der Uni hatte ihm vor einigen Jahren von einem Ort in Andalusien erzählt, mit 300 Sonnenstunden im Jahr, direkt am Meer gelegen und die Küste von Afrika in Sichtweite. Mit Mango-Plantagen auf den Hügeln und Orangenbäumen neben dem Rathaus. So etwas in der Art, das sollte doch fürs Erste reichen.
Der Bus rollte gemächlich über die Autobahn. Niklas lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und schloss die Augen. Er hatte sich entschieden, herauszufinden, wohin man kommt, wenn man eine neue Richtung einschlägt und einfach losgeht. Natürlich war er aufgeregt, was ihn erwarten würde, aber gleichzeitig spürte er auch eine seltsame Ruhe tief in seinem Inneren. Als hätte er mit einem Teil von sich Frieden geschlossen. Als hätte seine Seele aufgehört, so laut zu schreien.
Er lächelte. Kurz darauf schlief er ein.
Um vier Uhr nachmittags erreichte das Taxi die Adresse, die Niklas von Pedro bekommen hatte. Über ein Onlineportal hatte er sich ein Zimmer in einer WG gemietet und Pedro war einer seiner neuen Mitbewohner.
Niklas zahlte, sammelte seine Sachen zusammen und schaute dem Taxi hinterher, wie es davonbrauste. Dann drehte er sich um und spazierte durch einen mit Mosaik verzierten Torbogen auf einen Innenhof. In U-Form gab es ungefähr zwanzig Wohnungen, verteilt auf zwei Etagen. Mitten auf dem Hof stand ein Zitronenbaum und neben dem Eingangstor blühten zwei große Lavendelbüsche. Niklas machte sich auf den Weg zur hintersten Parterrewohnung, so, wie Pedro es ihm beschrieben hatte. Dabei zog er seinen überfüllten Koffer über den rauen Steinboden. Das laute Rattern der Rollen weckte schnell die Aufmerksamkeit einiger Anwohner, oder besser gesagt ihren Unmut. Gardinen wurden zur Seite gerissen und hier und da kamen dunkle und ernste Gesichter zum Vorschein. Daheim hatte er noch überlegt, den großen Rucksack mitzunehmen, aber in den Koffer hatte einfach viel mehr reingepasst. Egal, jetzt war es eh zu spät. Er versuchte, den Schaden zu begrenzen, indem er den Koffer so langsam wie möglich bewegte, aber dadurch wurde die Situation auch nicht besser. Im Gegenteil: Mit jedem zweiten Klack der Rollen wurde eine weitere Gardine zur Seite gezogen, immer mehr grimmige Gesichter erschienen. In der ersten Etage knallte jemand demonstrativ ein Fenster zu. Niklas blieb einen Moment stehen, dann packte er sich den Koffer und trug ihn so schnell er konnte die restlichen Meter ans Ziel. Von irgendwoher ertönte zynischer Applaus.
Noch bevor er klingeln konnte, wurde die Tür geöffnet, von einem Mann um die vierzig, schlank und für spanische Verhältnisse recht groß.
»Hola, bist du Pedro?«
»Der bin ich. Und du bist bestimmt Niklas.«
»Genau. Den Nachbarn habe ich mich auch schon vorgestellt.«
Pedro grinste und gab ihm die Hand.
»Erste Lektion: Die Siesta ist in Andalusien heilig!«
Er betrachtete den großen Koffer des Neuankömmlings.
»Du scheinst länger bleiben zu wollen.«
»Hatte ich das nicht gesagt?«
»Ich weiß nicht mehr, was du gesagt hattest. Ist aber auch nicht so wichtig, wir haben auf jeden Fall Platz. Komm erst mal rein.«
Niklas bedankte sich, hievte sein Gepäck in die Wohnung und machte die Tür zu.
»Kaffee?«, fragte Pedro aus der Küche.
»Ja bitte. Schwarz und ohne Zucker.«
Niklas schaute sich um. Das Wohnzimmer war genau so hell und einladend, wie es im Internet ausgesehen hatte. Allerdings hatte auf den Fotos nicht so eine Unordnung geherrscht. Überall lag Zeug herum – Bücher, Kassenzettel, Klamotten, leere Tassen, diverse Kabel, Stifte und Kaugummipackungen. Was Sauberkeit betraf, war Niklas nicht sonderlich pingelig, aber Ordnung war ihm schon wichtig. Na ja, er würde sich schon dran gewöhnen, und es war ja nicht für immer.
»Kommst du aus Estepona?«, wollte er von Pedro wissen, als dieser aus der Küche zurückkehrte.
»Nein, ich bin ursprünglich aus Madrid, lebe aber schon lange hier unten im Süden. In der Wohnung bin ich seit knapp zwei Jahren.«
»Und wer wohnt sonst noch hier?«
»Außer mir momentan nur Khadim, ein Freund aus dem Senegal. Zwei Zimmer sind noch frei – eins kannst du haben und für das andere versuche ich eine Frau zu finden, sonst ersaufen wir hier noch irgendwann im Chaos.«
Immerhin war er sich der Unordnung bewusst, dachte Niklas. Sie setzten sich mit ihrem Kaffee aufs Sofa. Pedro zeigte zum Flur.
»Auf der linken Seite sind die beiden freien Zimmer, du kannst dir aussuchen, welches du haben willst. Das Internet-Passwort hängt an der Pinnwand neben der Tür und die Miete ist immer einen Monat im Voraus zu zahlen. In bar. Ah, und die Waschmaschine steht in der Küche und geht nur auf, wenn du einmal kräftig oben drauf haust.« Er überlegte kurz. »Das war alles. Wenn du sonst noch was wissen willst, einfach fragen.«
Niklas sah ihn erstaunt an. So eine kurze und unkomplizierte Wohnungseinführung hatte er noch nie erlebt.
»Khadim und ich arbeiten tagsüber meistens außer Haus, manchmal, so wie heute, sind wir aber mittags ein paar Stunden hier. Ach und schau, wenn man gerade vom Teufel spricht ...«
Ein schwarzer Schatten schlurfte durch das Zimmer. Niklas schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er trug eine graue Jogginghose und ein dunkelblaues Trägerhemd, und sein Oberkörper war so gut durchtrainiert, dass er auch ein afrikanischer Box-Champion hätte sein können.
»Hi«, sagte Khadim im Vorbeigehen und verschwand im Badezimmer.
»Keine Sorge, der redet grundsätzlich nicht viel«, fügte Pedro hinzu.
In einiger Entfernung bellte ein Hund. Die Siesta war offensichtlich zu Ende.
»Was macht ihr eigentlich beruflich?«, erkundigte sich Niklas.
»Auf die Frage habe ich gewartet. Lektion Nummer zwei: Was du für eine Arbeit machst, interessiert die Andalusier eher wenig. Folglich wird auch nicht viel drüber geredet.«
»Aha.«
»Ich installiere Solaranlagen. Khadim hilft mir. Der arme Kerl hat eine heftige Odyssee hinter sich, was Jobs angeht, aber das kann er dir irgendwann selbst erzählen.«
Pedro schaute auf die Uhr.
»Sorry, wir müssen los.«
Er ging zur Tür, nahm einen Schlüssel von einer Holzablage und warf ihn Niklas zu.
»Hier. Falls du ihn mal vergisst, der Marokkaner in dem Kiosk unten an der Ecke hat einen Ersatzschlüssel.«
»Danke.«
»Kein Problem. Fühl dich wie zu Hause!«
Niklas brachte seinen Koffer in das Zimmer mit dem größeren Bett, sprang unter die Dusche und zog sich frische Sachen an. Dann verließ er ebenfalls die Wohnung und machte sich auf, seine neue Heimat zu erkunden.
Er brauchte knapp fünfzehn Minuten zu Fuß bis ins Zentrum. Einst ein winziges Fischerdorf, hatte sich Estepona in den letzten Jahrzehnten dank des blühenden Tourismus an der Costa del Sol in eine kleine Stadt verwandelt – ohne dabei den Charme eines andalusischen Dorfes zu verlieren. Der Ortskern war durchzogen von schmalen Gassen und an den weißen Häuserwänden hingen überall blaue Tontöpfe mit bunten Blumen. Alte Männer saßen auf Holzbänken und plauderten über Fußball, während ihre Frauen sich von Fenster zu Fenster über den neuesten Klatsch unterhielten. Man bekam das Gefühl, dass sich hier jeder kannte, auch wenn es schon lange kein Dorf mehr war.
Eine Weile schlenderte Niklas umher, dann bekam er Durst und betrat einen kleinen Laden, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Der Inhaber stand hinter einem Tresen und unterhielt sich angeregt mit einer Frau und einem anderen Mann. Niklas nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte sich neben die Frau, um zu bezahlen. Und dann geschah etwas Seltsames: Alle drei nahmen Niklas mit einem Kopfnicken zur Kenntnis, bevor sie ganz normal weiterredeten, als wäre er überhaupt nicht da. Er wartete, erst eine Minute, dann zwei, dann drei. Sie sprachen über spanische Politik, immer wieder fielen die Worte corrupción und sin vergüenza. Niklas wartete weiter. Nichts. Irgendwann hatte er genug und räusperte sich vorsichtig.
»Entschuldigung, könnte ich vielleicht bezahlen?«
Der Besitzer gab ihm einen flüchtigen Blick und registrierte die Wasserflasche. »Macht eins-fünfzig«, sagte er, während er dem Gespräch der anderen weiter folgte.
Niklas reichte ihm das Geld und bekam ein freundliches, aber sehr kurzes Lächeln zur Antwort. Dann verabschiedete er sich und ließ die drei mit ihrer Diskussion alleine.
Bald sollte sich herausstellen, dass dies kein außergewöhnliches Ereignis gewesen war. Es hatte auch nichts mit Ignoranz oder Unhöflichkeit zu tun – die Menschen in Südspanien redeten einfach schrecklich gerne und vergaßen dabei schnell die ganze Welt um sich herum.
Es war kurz nach sechs, als Niklas beschloss, endlich dorthin zu gehen, wovon er schon seit Tagen geträumt hatte: ans Meer! Er bog um zwei Ecken, kreuzte eine größere Straße und erreichte die gut besuchte Küstenpromenade. Zu seiner Freude war der Strand fast leer. Sofort entledigte er sich seiner Schuhe und Socken und spazierte mit großen Schritten Richtung Wasser. Keine zehn Meter vom Ufer entfernt blieb er stehen und staunte nicht schlecht: Sein Freund aus dem Studium hatte recht gehabt, die Berge von Nordafrika waren klar zu erkennen. Vom Strand aus auf einen anderen Kontinent zu blicken – es gab nur sehr wenige Orte auf der Welt, die eine so magische Aussicht boten. Er nahm einen tiefen Atemzug und setzte sich im Schneidersitz in den weichen Sand. Eine sanfte Brise wehte über das Meer, sein T-Shirt flatterte leicht und die Sonne wärmte seine Haut. Nicht zu fassen, dass es erst Anfang April war. Was für ein Glück er hatte!
Während sich der Tag langsam dem Ende neigte, saß Niklas einfach nur da und starrte geradeaus. Tausende kleine Wellen tanzten mit dem Wind und ein paar Vögel flogen friedlich am Horizont vorbei. Da war sie, die ersehnte Ruhe! Für einen langen Moment war seine Welt in Harmonie getaucht, es gab keine Sorgen, keine Spur von Anstrengung, keinen Widerstand.
Er ließ sich nach hinten in den Sand fallen, schaute nach oben und begann mit offenen Augen zu träumen. Wolken, die am Himmel vorbeiziehen, das Meer, ein fließender Fluss oder ein schöner Sonnenuntergang – die einfachsten Bilder in der Natur sind besser und spannender als jeder Film! Und trotzdem verbringen wir mehr Zeit damit, auf Bildschirme zu starren als Sonnenuntergänge anzuschauen. Schon seltsam.