Montags könnt ich kotzen - Thomas Ramge - E-Book

Montags könnt ich kotzen E-Book

Thomas Ramge

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

No Bullshit! Lukas Frey soll bei der Konzern AG die Markteinführung eines neuen Produktes begleiten – und seine Kollegen im neuen Marketing-Team haben eine Mission: Angeführt von einem Ex-McKinsey-Berater denken sie vom Ending her, nehmen die kreative Challenge an und entwickeln tight getaktet einen neuen Innovationsapproach. Alle committen sich zeitnah, und gemeinsam added das Team value für alle Stakeholder. Dummerweise kommt ein Change-Prozess dazwischen. Der ist am Ende des Tages für die Results eher kontraproduktiv ... und Lukas lernt, wie moderne Managementmethoden den gesunden Menschenverstand vertreiben. Eine wunderbare Persiflage auf das Leben in der Konzern-Matrix und den ganz normalen Büro-Bullshit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 257

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Ramge

Montags könnt ich kotzen

Vom ganz normalen Bullshit

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoWidmungKICKSTARTER – Kreative SelbstzerstörungMBTI – Die typenindizierte Team-EffectivenessNINE TO FIVE – Das neue Work-Life-Relevant-SetBULLSHITSTORM – Strategie-Sitzung 4.0DER ELEVATOR-PITCH – Jeder hat 60 Sekunden, dann wird evaluatedPENDING JOBSITUATION – Lunch bei VapianoOUT OF THE BOX – Innovationsbeschleunigung mit Design ThinkingRESULTS-ONLY-WORK-ENVIRONMENT – Endlich Schluss mit der PräsenzkulturPEOPLE, PLANET, PROFIT – Mehr Nachhaltigkeit wagenPOOR DOGS – Der CFO und die Portfolio-MatrixPM FORECAST RELIABILITY – Einschränkender Hinweis an die AktionäreORGANIZATION MEN – Hoch identifizierte HochleisterBUY-BUTTON – Auf der Suche nach dem Emotional TriggerPERSONAL BRANDING – Selbstoptimierung auf der VorderbühneDEATH BY POWERPOINT – Mehr Fleisch hinter die BulletsWALK-AROUND-MANAGEMENT – Die Führungskultur der LeitwölfeLUNCH IS FOR LOSERS – Workflow-Optimierung mit McKinseyUP OR OUT! – Work-Life-BullshitSICHTBARER WERDEN – Feedback zur ZielvereinbarungWETTERFESTIGKEIT – Das Risiko der ChanceDIGITAL FIRST – Von Google lernen heißt siegen lernenSHAREHOLDER-VALUE ADDEN – Die synergetische China-StrategieTOWNHALL – Erst talken, dann walkenEXIT-OPTION – No bullshit!EXECUTIVE FORECAST – Wer ist hier im Lead?Nachwort und Danksagung
[zur Inhaltsübersicht]

To whom it may concern …

[zur Inhaltsübersicht]

… und für Ralf, die Nummer 1 auf Yelp in Stuttgart.

[zur Inhaltsübersicht]

KICKSTARTER – Kreative Selbstzerstörung

Wir sind doch alle in unseren Beruf reingescheitert.»

Der Satz stammt von Julia. Es war so ziemlich das Erste, was sie zu mir sagte, als ich von der Agentur zum Konzern wechselte. Drei Monate ist das her. Jetzt sitzt sie mir gegenüber am Konferenztisch und beißt in eine Überraschungs-Ei-Hälfte. Und sie grinst. Nur ganz kurz. Sie ist die Einzige, die ich kenne, die das kann. Kurz grinsen, meine ich. Grinsen braucht ja eigentlich Zeit. Mit Muße kann ich gut grinsen. Dafür ist jetzt nicht die Zeit. Und auch nicht die Stimmung.

Heute früh bin ich fast daran gescheitert, überhaupt ins Büro zu kommen. Wie jeden Montagmorgen bin ich erst einmal liegen geblieben, als der Wecker klingelte. Deshalb hatte ich keine Zeit mehr zu frühstücken. Ich habe trotz dieser bekackten Kälte das Fahrrad genommen. Um Zeit zu sparen. Außerdem ertrage ich die U-Bahn montagmorgens noch schwerer als sonst. Die neue Radspur war wie jeden Morgen mit Lieferwagen zugeparkt. Beim Ausscheren auf die Fahrbahn hat mich ein Taxifahrer fast umgenietet. Und dann auch noch die Faust gezeigt. Immerhin nur die Faust.

Endlich angekommen, hat der Sensor am Drehkreuz am Haupteingang dann meine Chipkarte nicht erkannt, und der Pförtner brauchte satte fünf Minuten, um mir zu glauben, dass die Karte echt ist. Ich bin kurz in mein Büro gehetzt, habe meine Tasche und Jacke in die Ecke geschmissen. Dann habe ich die Treppe genommen, nicht den Aufzug, denn vor dem hatte sich schon eine Traube gebildet. Um 9 Uhr 3 habe ich dann, als Letzter vom Team, die Tür vom kleinen Konfi auf Ebene vier hinter mir zugemacht.

 

Und nun sitze ich also auf dem Stuhl gegenüber von Julia. Das fühlt sich schon fast gewohnt an. Wir teilen uns ein Doppelbüro. Schreibtisch an Schreibtisch. Gesicht zu Gesicht. Meins sieht wohl oft müde aus. Das von Julia fein geschnitten. Italienisch. Das könnte von den dunkelbraunen Augen kommen. Und den Haaren in der exakt gleichen Farbe. Aus unserem Büro sehen wir auf die Glasfassade eines anderen Bürogebäudes. Der Konfi hat keine Fenster. Die Leuchtstoffröhren sirren in ihren Reflektoren. Nicht zu laut. Man gewöhnt sich relativ schnell dran. Der Konferenztisch sieht aus wie von Ikea und hat einen leichten Gelbstich.

«Du bist so Neunziger», hat Julia neulich gesagt. Nicht zu mir, sondern zu dem Tisch. Dann haben wir länger darüber diskutiert, ob dieser leichte Gelbstich von Anfang an da war oder erst mit der Zeit kam.

«Patina qua Lichtmangel», war meine Vermutung.

«Design für alle», meinte Julia. Ich starre auf den Tisch.

Gerade grinst sie noch einmal kurz rüber. Nun muss ich doch kurz lächeln.

Vor mir, auf der Tischplatte mit Gelbstich, steht ein kleines hellblaues Nilpferd. Fetter als Elvis gegen Ende in Las Vegas, mit einem Anzug wie Elvis, nur nicht in Weiß, sondern in Gold. Dazu hält es eine rosa Rose in der Tatze, und eine rosa Krawatte, lose gebunden, liegt quer über dem Plastikbauch.

Die Frage an jeden von uns lautet: Warum bin ich genau das? Kein Witz. Und natürlich doch irgendwie. Wir machen gerade «die Ü-Ei-Exercise», wie unser neuer Chef Dr. Jan-Phillip Wendenschloss das nennt. Man könnte wohl auch Kennenlern-Spiel dazu sagen.

Wir, das sind sechs Erwachsene der Abteilung Marketing II, New Products, sitzen zum ersten Mal in dieser Runde zusammen. Seit dem ersten Januar ist Dr. Wendenschloss als E2er bei uns. E2 steht für zwei Führungsebenen unter Vorstand. Ich bin E5.

Beim Einstellungsgespräch hieß es, dass E4 bei guten Bewertungen für «Newbies mit Agenturerfahrung» wie mich allenfalls eine Sache von einem Jahr sei. Ich bin gespannt. Das Projekt ist jedenfalls spannend. Wir sind das Team für das neue Produkt. DAS neue Produkt. Der Vorstand hat gegenüber unserem E1er, Dr. Jörg Meyerbeer, unmissverständlich klargemacht: Time to market ist mission critical. Unser Team darf sich nicht viele Fehler erlauben.

 

Mission. Der Begriff fällt immer wieder. Er kommt wohl direkt vom Vorstand. Kaskadisch, so würde es wohl unser neuer Chef sagen, hat er sich die Hierarchie-Ebenen heruntergearbeitet. Susanne Stiefel, unsere supernette Abteilungsassistentin, redet von nichts anderem mehr. Susanne ist Ende vierzig. Kinder hat sie keine. «Ich habe immer den falschen Mann zum falschen Zeitpunkt erwischt», hat sie mal zu Julia gesagt. Das ist verdammt ungerecht. Susanne versucht es immer allen recht zu machen. Und sie ist immer da, wenn man Unterstützung braucht. Früher hätte sie wohl den Ehren-Titel Chefsekretärin gehabt. Der Titel wurde abgeschafft. Die Funktion nicht. Dr. Meyerbeer nennt sie «unsere gute Seele». Ich habe Susanne nicht gefragt, ob das ihrem Selbstbild entspricht. Ich habe allerdings große Zweifel, dass der Begriff Mission die Sache trifft.

Mission klingt nach Apollo. Nach Kennedy. Landing a man on the moon and returning him safely to the earth by the end of the decade und so. Ein etwas schiefes Bild, wenn man mich fragen würde. Ein Produkt im Einkaufswagen des Kunden landen, das geht ja noch. Aber wieder sicher zurück? Ende der Dekade wäre hingegen keine schlechte Sache. Aber Kennedy-Zitate helfen uns auch nicht. Weil time to market nun einmal mission critical ist, muss das Produkt in spätestens sechs Monaten beim Händler sein. Im Grunde wissen alle: Das ist keine Mission, sondern ein Himmelfahrtskommando. Zumindest bei nüchterner Betrachtung der Sachlage.

Denn es gibt zwar ein Produkt mittlerer technischer Komplexität. Die Ingenieure der Produktentwicklung fanden es auch toll. Nur leider ist es bei den ersten Fokusgruppentests komplett durchgefallen, da niemand es bedienen konnte. Auch in der Dimension «funktionaler Mehrwert» war die häufigste Antwort ein Fragezeichen.

Der Vorstand hat bei der Entwicklung «auf reset gedrückt», wie er sagt. Wenn wir Glück haben, sehen wir in zwei Monaten einen verbesserten Prototyp. Wenn wir noch mehr Glück haben, hat er weniger Funktionen, aber mehr funktionalen Mehrwert.

Unabhängig davon sagt die Rechtsabteilung: «Wir haben erhebliche Bedenken bei Produkthaftungsthemen.» Die würden uns auch beim Zulassungsverfahren noch erheblich zu schaffen machen. Das sagen die Kollegen Juristen zwar immer, weil sie den Verhinderungsmodus genetisch eincodiert haben. Aber diesmal scheinen sie es leider ernst zu meinen.

Das Produkt muss auf jeden Fall noch in die Product-Clinic. Die Marktforschung klassisch muss auch noch einmal ran, um uns endlich ein wenig Futter für die Marketingstrategie zu liefern. Die Kampagne werden wir am Ende schon irgendwie hinbekommen. Aber natürlich wäre es nicht schlecht, wenn einer von uns schon mal eine halbwegs diskussionswürdige Idee für die Stoßrichtung der Kampagne oder gar einen Claim gehabt hätte. Hatte aber niemand. Und dann wäre da ja noch die Restrukturierung, die unser Konzern gerade durchläuft …

Ich bin ja noch nicht lange dabei, aber die anderen reden nicht gerade freundlich über die sechs jungen Typen von McKinsey, die sich im Keller eingeschlossen haben und an der Verschlankung der Prozesse arbeiten. Der Vorstand hat klargestellt:

«Auf unser daily business hat das erst einmal keine Auswirkung.»

Was für mich in etwa klingt wie ein Pilot, der in heftigen Turbulenzen beim Landeanflug sagt: «Sie brauchen keine Angst haben.»

Die Chefredakteure des Flurfunks sagen, dass die Bruchlandung bei diesem Management eine sichere Sache ist. Eine andere populäre Headline ist: Die Bombe tickt. Der Flurfunk jammert natürlich immer. Das war in der Agentur nicht anders. Totgefürchtet ist auch gestorben. Und vielleicht hat Dr. Wendenschloss ja recht, wenn er sagt: «Der Change ist systemisch geworden. Aber das bringt für uns alle auch große Chancen mit sich. Aber nur, wenn wir der kollektiven Kreativität den Turbo zuschalten.»

Nun kann man nicht behaupten, dass in Agenturen wenig Bullshit geredet wird. Mit den Texter-Kollegen hatten wir eine Zeitlang einen Wettbewerb laufen: Wer findet das Unwort der Woche? Aber Konzerne spielen bei sprachlichem Bullshit dann wohl doch noch in einer anderen Liga. Und offenbar auch in Sachen Kennenlern-Spiele.

 

Vor jedem von uns liegt also ein aufgeschlagenes Überraschungsei, die gelben Plastikkapseln rausgepellt. Jan-Phillip Wendenschloss kommt übrigens selbst von McKinsey. Er erklärt die Ü-Ei-Exercise in einem Dreischritt:

«Erstens: Ihr habt zwei Minuten Zeit, eure Spielzeuge zusammenzubauen. Zweitens: Sagt uns bitte, warum ihr das genau seid, was ihr da in der Hand habt. Oder drittens: Ihr erklärt uns, warum ihr das gerade nicht seid!»

Er sagt auch noch, dass wir für den Tag einen Timekeeper brauchen, der darauf achtet, dass wir bei keinem Workshop-Modul überziehen. Ich melde mich freiwillig. Und dass zu der Auswertung der MBTI-Persönlichkeitstests dann später Frau Jung vom Frankfurt Coaching Center dazukommen würde.

Wendenschloss’ schwarzer Anzug scheint noch aus McKinsey-Zeiten. Schwarze Brille, schwarzes Haar, Figur wie mindestens dreimal die Woche Holmes Place. Verdacht auf Personal Trainer begründet. Da passt schon viel zusammen. Er ist in etwa so, wie Daniel gerne wäre. Der hängt übrigens die ganze Zeit an seinen Lippen.

Daniel trägt wie immer einen hellbraunen Anzug, wie immer farblich abgestimmt auf sein bleiches Gesicht und die hellen Haare, die irgendwie gar keine Farbe haben. Daniel ordnet gerade das Wirrwarr aus Reifen, Verbindungsstangen und Mini-Aufklebern, das in seiner gelben Plastikkapsel steckte. 30 Sekunden später hat er alles zu einem ziemlich coolen Rennwagen zusammengesteckt, Baujahr circa 2030. Wendenschloss knipst derweil in souveräner Haltung, eine Spur kindlichen Spieltriebs vortäuschend, eine Abschussrampe zusammen und fummelt mit einem Gummi-Ring rum.

Ich muss nichts zusammenbauen. Das dicke, blaue Elvis-Nilpferd ist ja schon fertig. Also habe ich Zeit, den Beipackzettel zu lesen. Da steht, dass es sich um Hansi Herzschmerz aus der HappyHippo-Talentshow handelt. Die Marketing-Kollegen von Ferrero haben ganze Humor-Arbeit geleistet. Hippo-Hansi, «eigentlich Hans-Rüdiger», hat einen Fragebogen ausgefüllt:

Beschreibe dich in drei Worten: «Immer gut drauf.»

Dein Lebensmotto? «Im Dunkeln ist gut schunkeln.»

Lieblingssong: «Weine nicht, kleines Nilpferd» von den Hippers.

Ich habe noch 60 Sekunden Zeit, um sicherzustellen, dass meine Kreativ-Selbstvorstellung nicht zur kreativen Selbstzerstörung gerät. Verdammte Hacke. Das bin ich nicht.

Äh. Noch 50 Sekunden.

Julia beginnt. In ihrem Ei war ein Clown, der mit dem Rücken an einer Wand steht. Sie hält das Männchen in die Runde, drückt auf einen Knopf, und der Clown dreht sich fünfmal um die eigene Achse.

«Das bin so was von ich, weil ich auf Knopfdruck unfassbar lustig sein kann.»

Wie die bei Ferrero, denke ich und lache mit den anderen mit. Wobei: Das ist unfair. Julia ist nun einmal wirklich unfassbar lustig. Was ja bei hübschen Mädchen unfassbar selten ist.

Vermutlich ist Julia die Einzige bei uns in der Abteilung, die wirklich weiß, was sie will. Außer gut auszusehen, meine ich, und jeden Tag eine neue, dezente Lippenstift-Farbabstufung vorzuführen. Hierarchieabwärts weiß jeder, dass sie sich gerade mit ihrem E4er-Gehalt ein finanzielles Polster für ihr Start-up anlegt. Freude am Sparen nennt sie es. Der Businessplan für die Gründung steht wohl schon. Damit meint sie es ernst. Im Konzern sieht Julia hingegen alles als großes Spiel.

Womit sie in etwa das exakte Gegenmodell zu Daniel fährt. Der Ausbruch aus der Konzern-Matrix wäre für ihn undenkbar. Sein Trainee-Programm hat er leider mit unterdurchschnittlichen Bewertungen abgeschlossen. Seitdem dreht er am Rad. Nächstes Jahr wird er dreißig, und trotz Schleimspur von der Pforte bis in die Vorstandsetage ist er nur als E4er im Marketing gelandet.

Zu Julia hat er mal gesagt: «Seien wir mal ehrlich. Am Ende des Tages setzt sich Leistung immer durch. Ich denke grundsätzlich langfristig.»

In der Abteilung hat er sich den Ruf erworben, mit deutlich mehr Energie an seiner persönlichen Profilierung zu arbeiten als an der Sache. Gerne auch mal auf Kosten anderer nach dem Motto: Wenn was gut läuft, hat er angeblich Nächte durchgearbeitet. Wenn was schiefgeht, fehlte die Unterstützung im Team. Wobei er dann im direkten Gespräch mit E2 oder E3 wohl auch gerne Namen nennt.

Auf eine entfernte Art und Weise tut Daniel mir fast leid. Zum Beispiel jetzt, wenn er sich beim neuen Chef anbiedert. Und den Spielzeug-Motor seines Rennwagens aufheulen lässt. Mit quietschenden Reifen zieht er eine mittelgroße Acht auf dem Konferenztisch und parkt seinen Sportwagen der Zukunft genau in der Mitte. Er schaut erst Wendenschloss an, dann die Runde, dann wieder Wendenschloss.

«Sie können es ja, im Unterschied zu den anderen hier im Raum, noch nicht wissen, aber das bin in der Tat genau ich. Denn ich verbinde Geschwindigkeit, Präzision, Design und Emotion in einer Weise, wie man es heute noch nicht für möglich hält. Insofern bin ich am Ende des Tages meiner Zeit rund zwanzig Jahre voraus.»

Wendenschloss lacht etwas lauter als nötig. Sebastian, unser Vorzeige-Papa im Team mit 80-Prozent-Stelle, wirft ein: «Dein einziges Problem bleibt, dass du viel zu bescheiden bist.» Sebastian. Er kam in der Woche aus dem Vaterschaftsurlaub zurück, als ich im Konzern anfing. Auch er nimmt sich immer Zeit für mich, wenn ich irgendeine Frage habe.

Wendenschloss findet den Witz mit der zu großen Bescheidenheit offenkundig extrem komisch. Er wiehert fast. Und hält als Zwischenstand fest: «Ich sehe, hier ist viel Vertrauen im Raum. Nur dann können Teams miteinander lachen.» Einige lachen weiter, was Wendenschloss kurz irritiert. Das war dann wohl kein Witz. Jetzt ist er dran.

Vor dem neuen E2er steht eine rot-weiße Mondrakete, die von Tim und Struppi für Plagiat-Amateure und ohne Tim und Struppi. Die Lizenzen waren Ferrero sicher zu teuer. Vermutlich würden die Lizenz-Inhaber auch nie zulassen, dass die Hochwertigkeit ihrer Marke durch ehemalige McKinsey-Berater verwässert werden könnte, die in Kick-off-Meetings Tim und Struppi und ihre Rakete für Kennenlern-Kreativspiele missbrauchen. Mal ganz davon abgesehen, dass sich viele im Raum schon seit Jahren kennen.

Alle schauen auf die Rakete. Wendenschloss holt Luft. Kunstpause.

«Hey, ich habe mir die Rakete nicht ausgesucht. Aber die passt natürlich hervorragend zu mir.»

Ich lache wieder mit. Er löst einen kleinen Hebel unten an der Startrampe, und die Rakete wird hochgeschleudert. Sehr hoch schafft es das Drei-Cent-Produktionskosten-Plagiat nicht, vielleicht fünfzig Zentimeter. Es schlägt kurz hinter Daniels Zukunftsgefährt ein. Drohnen sind noch schlechter als ihr Ruf, denke ich, während Wendenschloss zu einer der vermutlich längsten Ü-Ei-Kreativübung-Selbstdarstellungen der Welt ansetzt. Die beginnt allerdings in der Tat mit einem Treffer:

«Wie ihr alle seht, bin ich genau wie diese Rakete. Denn ich bin ein insecure overachiever. Mit nicht allzu hoher Flughöhe und eher schlechter Trefferquote.»

Diesmal lache ich als Einziger. Vermutlich bin ich auch der Einzige, der in der vorletzten Ausgabe des manager magazin den überfreundlichen Artikel über Unternehmensberater gelesen hat. In dem Artikel stand sinngemäß, Unternehmensberater hätten in den letzten Jahren bei den «social skills» sehr viel dazugelernt und seien eben nicht mehr «insecure overachiever» – will heißen: charakterlich eher wenig ausgebildete Schlauköpfe, die, frisch aus St. Gallen kommend, Berater werden, damit sie auf keinen Fall für eigene Entscheidungen geradestehen müssen. Was noch zu beweisen wäre. Die These mit den verbesserten social skills, meine ich.

Wendenschloss holt aus: «Wie die meisten von euch wissen, komme ich ja von McKinsey und habe dort vier Jahre lang querbeet durch Fast-Moving-Consumer-Goods Klienten im strategischen Marketing beraten.»

Ich rechne kurz nach: Der Typ muss unter dreißig sein. Also mindestens sechs Jahre jünger als ich und schon E2. Es folgen Ausführungen über Sinn und Unsinn, meistens Sinn von Beratungsprojekten. Ich denke an den Satz eines Studienfreundes, der damals bei Roland Berger war: «Beratung ist wie Wurstwettessen. Und der erste Preis ist noch mehr Wurst.»

Wendenschloss redet derweil über Hotelzimmer, viele Hotelzimmer, noch mehr Hotelzimmer. Und dass er, nach ausgiebigen Gesprächen mit Herrn Dr. Meyerbeer, dem E1er und ebenfalls ein Ex-McKinsey-Kollege, was viele von uns ja ebenfalls wüssten, oder auch nicht, zu folgendem Ergebnis gekommen sei:

«Hier ist ein so interessanter Change-Prozess im Gange, dass ich mich jetzt auf der Implementierungsseite voll committen möchte. Der Wandel will nicht nur strategisch geplant werden. Man muss ihn gestalten. Dazu sind Sie alle herzlich eingeladen.»

Danke. Ich schaue auf die Uhr. Ich bin schließlich der Timekeeper. Ich traue mich nicht dazwischenzugehen. Aber zu meiner Überraschung ist die aktuelle Kunstpause von Dr. Wendenschloss gar keine. Er lächelt Susanne an. «Sie sind dran.»

Susanne und Sebastian machen es kurz und schmerzlos. Susanne ist genau wie Schlumpfinchen, Sebastian wie der gutgelaunte Androide. Währenddessen denke ich darüber nach, was eigentlich genau der Unterschied zwischen einem Change-Prozess und einer Restrukturierung ist. Oder ob das vielleicht nicht doch eher Synonyme sind. Ich nehme mir vor, diesbezüglich mal meinen Ex-Kommilitonen von Roland Berger anzupingen. Und ich merke relativ spät, dass Wendenschloss schon eine ganze Weile abwechselnd mich und meinen HappyHippo-Nilpferd-Elvis anschaut und dann auch ziemlich bestimmt sagt:

«Herr Frey. Sie waren noch nicht.»

Ich überlege, ob ich nicht doch als Einziger Option zwei ziehen soll. Dass ich sage: «Ich bin gar nicht wie dieses Nilpferd. Ganz und gar nicht. Und das aus vielen Gründen. Ich bin nicht hellblau. Ich trage keine goldenen Anzüge und auch keine rosa Krawatten. Ich heiße Lukas und nicht Hans-Rüdiger. Mein Lieblingslied heißt ‹Heul doch, kleines Nilpferd›! Und wenn mich jemand im Dunkeln anschunkelt, haue ich ihm umgehend eins auf die Fresse.»

Ich fürchte, Julia wäre die Einzige im Raum, die das witzig fände. Ich fürchte auch, dass es noch nicht genug Vertrauen in der Gruppe gibt, wie der neue E2er wohl sagen würde, um hier aus der erwarteten Rolle zu fallen.

Ich nehme das dicke Nilpferd mit seinem goldenen Anzug und seiner rosafarbenen Krawatte in die Hand, strecke den Arm aus wie die Freiheitsstatue, lächle in die Runde und sage:

«Ich heiße zwar nicht Hans-Rüdiger, aber im Grunde bin ich doch wie er. Denn ich habe als Marketeer verstanden: Du musst dich spitz positionieren, um auf dem Markt erfolgreich zu sein.»

Ich warte auf das Lachen. Es passiert nichts. Erst einmal. Dann sagt Daniel: «Hört, hört.» Nicht einmal böse. Tastend. Julia schaut mich fragend an. Susanne ebenfalls, nur dass ich ihren Blick besser deuten kann. Der dürfte dann wohl ‹Kann ich dich irgendwie unterstützen?› heißen. Sebastian schaut unsicher zu Wendenschloss. Was passiert hier? Habe ich mich im Ton vergriffen, weil ich innerlich noch bei der Sarkasmus-Variante war? Und hey: Das war doch eine lockere Kreativ-Übung. Oder etwa nicht?

Es passiert immer noch nichts. Wendenschloss lehnt sich zurück. Er schaut mich an. Klatscht gemächlich dreimal in die Hände. Und grinst. Lang, nicht kurz.

«Differentiate or die! Großartig, Herr Frey. In solchen Momenten merkt man, wer Marketing verinnerlicht hat.»

Ich stelle Hans-Rüdiger auf die Tischplatte mit Gelbstich.

«Auf Ihr MBTI-Profil bin ich wirklich gespannt», sagt Dr. Wendenschloss noch.

Ich auch.

[zur Inhaltsübersicht]

MBTI – Die typenindizierte Team-Effectiveness

Wer braucht eine biologische Pause?», fragt Dr. Wendenschloss. «Wir haben noch etwas Zeit, bis Claudia und Mathias kommen.» Die anderen gehen aufs Klo. Ich bleibe im Meetingraum. Als Einziger. Ich habe kein so gutes Gefühl bezüglich des MBTI-Tests. Ich muss an den Sonntagabend vor zwei Wochen denken. Das war vermutlich kein guter Zeitpunkt, einen Persönlichkeitstest zu machen. Zumindest nicht einen Test, der herausfinden soll, für welche Rolle man im Team geeignet ist. Und vermutlich ist es auch nicht von Vorteil für so einen Test, wenn man noch leichte körperliche und geistige Leistungseinbußen von der Nacht davor hat.

Ich war mit ein paar Jungs aus gewesen, die in einem Spin-off meiner Agentur hier in der Stadt arbeiten. Kein schlechter Einstieg ins hiesige Nachtleben. Um neun Uhr abends haben wir uns beim Vietnamesen getroffen. Immer an die Elektrolyte denken. Vietnamesische Rindfleischsuppen schaffen da erstaunliche Grundlagen. Dann war alles wie zu Hause mit den eigenen Jungs. Zwei, drei Bars. Und ab in einen Club. Und vermutlich war so etwas wie höhere Gerechtigkeit im Spiel: «Tiefschwarz» hat aufgelegt. Ich habe zwar nie ganz verstanden, warum Techno jetzt Elektro heißt. Aber die Kombination von Tiefschwarz-Beats und drei bis sieben Gin Tonic führt mit annähernd einhundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dazu, dass ich mich frei fühle. Auch als Single. Oder gerade als? Keine Höhen ohne Tiefen. Das weiß ich selbst. Samstagnachts finde ich das gut. Sonntagabends weniger.

Wie stark beeinflusst ein ausgewachsener Sonntagabend-Blues wohl wissenschaftliche Befragungsmethoden? Quantitativ und qualitativ? Selbst wenn man nachmittags laufen war und die beiden alkoholfreien Weizenbiere danach ziemlich gutgetan haben?

Ich saß also auf dem Sofa in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Natürlich mag auch ich lieber Altbau. Aber es musste vor drei Monaten schnell gehen, als ich beim Konzern anfing. Und Wohnungssuche aus der Distanz ist die Hölle. Den grauen Teppichboden finde ich nicht so schlimm. Er ist auch wirklich nicht so schlimm, wie Julia behauptet. Und der Schnitt der Wohnung ist echt gut. Die Bude wirkt deutlich größer als 55 Quadratmeter. Zur U-Bahn sind es keine fünf Minuten. Und nur sechs Stationen zur Arbeit. Viel mehr würde ich auch nicht ertragen. Sebastian muss immer den Regional-Express zu seinem Einfamilienhaus im Neubaugebiet seiner Kleinstadt nehmen. Dreißig Minuten hin und dreißig Minuten zurück. Das wäre Folter für mich. Schon wegen der Melodie, bevor die Tür schließt. Ob die Bahn weiß, was sie Pendlern antut, die zehnmal am Tag die ersten acht Töne von «Freude schöner Götterfunken» hören müssen? Die offenbar auf einer Bontempi-Heimorgel aus dem Jahr 1980 eingespielt wurden!

In meiner alten Stadt konnte ich zur Arbeit laufen. Das war gut. Am Ende war es aber auch so ziemlich das einzig Gute. Nach sieben Jahren war ich froh, die Agentur zu verlassen. Oder genauer: die Agentur-Welt hinter mir zu lassen. Die Großmäuligkeit nach innen. Und das Geschleime beim Kunden, von dem du als Dienstleister abhängig bist. Der ständige Zeitdruck. Die durchgearbeiteten Nächte vor den Pitches. Die unendlichen Abstimmungsschleifen mit dem Kunden, solltest du den Pitch gewonnen haben und tatsächlich eine Kampagne machen. Die Verwässerung der Ideen in diesen Abstimmungsschleifen. Dann natürlich die in der Beziehung Konzern – Kunde fest eingebaute Sündenbockrolle. Wenn was schiefgeht, ist immer die Agentur schuld. Und das alles bei einer Bezahlung irgendwo zwischen mies und geht so.

Nein, es ist mir nicht schwergefallen, aus dieser Welt auszuchecken. Ich war offen gesagt ganz schön stolz, als ich den Arbeitsvertrag der Konzern AG unterschrieben in den Rückumschlag steckte. Mit locker dreißig Prozent mehr Gehalt und den ganzen Extra-Sozialleistungen, die ein großes Unternehmen so bietet. Da wusste ich freilich noch nicht, dass mich ein Ex-McKinsey-Berater zu einem Persönlichkeitstest zwingen würde. Und den dann auch noch «Starting-Point im Team-Finding-Prozess» nennen würde.

 

Ich saß also am Sonntagabend vor zwei Wochen mit meinem Firmenlaptop auf den Knien auf meinem Sofa und suchte nach Wendenschloss’ E-Mail mit dem Betreff «Herzlich willkommen und MBTI». Es war die erste Mail, die der neue Chef allen im Team geschickt hatte. Sie war im Ton sehr freundlich, und sehr bestimmt, was den Psycho-Online-Fragebogen anging.

«Damit wir die Ressourcen in unserem Team optimal nutzen können, müssen wir uns systematisch kennenlernen», stand da.

Ich klickte auf den Link. Im Browser erschien die Webseite des Frankfurt Coaching Center. Ich gab die Login-Daten ein, die Susanne uns in einer separaten Mail geschickt hatte. Das funktionierte sogar. Mein Alkoholfreies vor mir auf dem Couchtisch war leer. Ich überlegte noch kurz, ob ich auf richtiges Bier umsteigen sollte. Was mir als echt kluger Gedanke erschien, als die erste Frage auf dem Bildschirm aufschlug:

Wozu neigen Sie eher:

Kreisen?

Quadraten?

Äh, was? Ob das ein Witz ist? Und wer hat gesagt, es gibt keine dummen Fragen? Ich holte mir ein Bier. Ein echtes. Ich schaute wieder auf den Bildschirm. Das Runde muss ins Eckige, aber wozu neige ich eher? Wurscht. b)! Nächste Frage.

Welches der beiden Wörter bevorzugen Sie:

Entscheidung?

Impuls?

Impuls-Vorträge nerven. a)!

Ist Liebe für Sie eher:

ein anspruchsvolles, wünschenswertes Gefühl?

eine vernünftig zu treffende Entscheidung?

Je nun, wenn ich mir meine Kontakt-Historie auf Friendscout24 anschaue, dann wohl eher b).

Was würden Sie mit mehr Engagement tun, wenn Sie das dafür nötige Kleingeld hätten?

Sich die Zeit nehmen, um das Haus, das Sie schon lange im Kopf haben, zu bauen?

Sich die Zeit nehmen, um das Buch, das Sie schon lange im Kopf haben, zu schreiben?

Selbst wenn ich das nötige Kleingeld hätte, hätte ich weder ein Haus noch ein Buch im Kopf. Egal. a)!

Welche Tätigkeit ist für Sie mit angenehmeren Erinnerungen verknüpft:

Tanzen?

Joggen?

Okay, da kann ich ja mal ehrlich sein. b)!

Es folgten noch rund 50 Fragen ähnlicher Natur. Eigentlich hätte man sich wohl eine Stunde Zeit für den Test nehmen sollen. Nach einer halben Stunde war ich fertig. Der Fragebogen fragte nach, ob ich Korrekturen vornehmen möchte. Danke, aber nein danke. Ich drückte auf Senden. Und ging ins Bett.

 

Das war, wie gesagt, vor zwei Wochen. Jetzt sind wieder alle von der Toilette zurück. Diesmal macht Dr. Jan-Phillip Wendenschloss als Letzter die Tür hinter sich zu.

«Die Frage nach der Neigung zu Kreisen oder Quadraten ist keineswegs so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint», sagt er. «Aber ich will nicht zu viel vorwegnehmen.»

Mir wird immer mulmiger. Bei der Kreativ-Ü-Ei-Übung hatte ich keinen schlechten Start. Verdammte Hacke, warum habe ich den Test nicht irgendwann an einem ruhigen Mittwochnachmittag im Büro gemacht?

An der Scheibe neben der Tür erscheint in diesem Moment ein rundes Gesicht. Das wird Frau Jung vom Coaching Center sein. Frau Jung klopft gegen die Scheibe. Wendenschloss läuft zur Tür, macht sie mit großer Geste auf und umarmt die liebe Claudia.

«Wir haben schon in McKinsey-Zusammenhängen gerne, oft und extremst produktiv zusammengearbeitet», sagt Wendenschloss.

Das sieht man. Zumindest das gerne und oft. Claudia lächelt uns freundlich an.

«Danke, dass wir hier sein dürfen», sagt sie. Sie sieht nicht so aus, als ob sie regelmäßig joggt. Eher tanzt, und zwar immer so, als ob keiner zuschaut. Sie trägt einen grauen Hosenanzug und eine weiße Bluse, gekontert von Ethno-Brosche und Holzohrringen. Neben ihr steht ihr Assistent Mathias, der in seiner weichen Art irgendwie authentisch aussieht. Nicht schwul, aber wie einer, der Yoga macht. Und zwar gerade wegen der hohen Frauenquote.

Mathias lächelt auch und sagt nichts, was allerdings auch schwierig wäre, da unser neuer Chef seine Begeisterung mit dem Team teilen möchte. Große Begeisterung. Nicht nur über den anstehenden Workshop:

«Die liebe Claudia hat mir vieles über mich selbst nähergebracht.

Zu stark left-brain-dominated bin ich gewesen. Also viel zu rational unterwegs. Meine rechte Gehirnhälfte, die ja Emotionen, die Sprache, die Bilder verarbeitet, musste sich immer der linken Hälfte, dem Logikzentrum, unterordnen. Was natürlich nicht heißt, dass ein gutes Excel-Sheet, sind wir mal ehrlich, am Ende des Tages nach wie vor die Basis für gute Company-Performance ist. Aber Innovation purzelt eben nicht automatisiert aus Excel-Sheets heraus, sondern dazu braucht es nun einmal die Verbindung von linker und rechter Gehirnhälfte.» Der neue Chef findet: «Da bin ich auf einem guten Lernpfad, und ich hoffe, wie gesagt, vieles davon mit euch teilen zu können.» Und er sagt auch noch: «Kollaboration ist nicht nur hinreichende, sondern auch notwendige Bedingung moderner Führung.»

Eigentlich fand ich das bis hierhin ganz interessant. Aber der letzte Satz haut mich dann doch gedanklich raus. Bei Kollaboration muss ich ja immer an Vichy denken. Und was könnte Teilen mit moderner Führung zu tun haben? Klar ist: Um über den grundsätzlichen Unterschied zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen nachzudenken, bleibt jetzt keine Zeit. Zumal ich das noch nie so recht verstanden habe. Immerhin: Wendenschloss legt bei den Zielen moderner Führung nach.

«Kreativität ist heute immer kollektiv. Teamwork am Neuen. Genau darum geht es ja bei unserem neuen Produkt.»

Daniel, der Schleimer, sieht ihn neugierig an. Das kann er. Das muss man zugeben. Ich schaue auf die Uhr. Ich bin schließlich immer noch der Timekeeper. Wendenschloss sieht das. Er nickt kurz zu mir rüber. Und lächelt Richtung Coach-Team:

«Aber jetzt gebe ich wirklich an euch ab, liebe Claudia.»

Wendenschloss setzt sich an den Konferenztisch.

Claudia übernimmt seinen Platz neben dem Flipchart. In der einen Hand hat sie bunte Moderationskarten. Auf die schaut sie allerdings nicht. Die ist echt selbstsicher. Sie steht gerade, aber nicht verkrampft. Die Beine sind leicht gespreizt. Beide Arme hängen locker am Körper runter. Sie lächelt immer noch. Sie schaut jeden von uns an. Sie nimmt einen roten Edding und schreibt die Buchstaben M B T I untereinander auf das große, karierte Blatt auf dem Chart, lächelt noch einmal durch die Runde. Und ergänzt:

M yers

B riggs

T ype

I ndicator

Sie dreht sich zu uns.

«Katherine Cook Briggs und ihre Tochter Isabel Briggs Myers waren amerikanische Psychoanalytikerinnen.»

Das müssten wir uns nicht merken. Alles andere wäre auch unfair. Im Gegensatz zum MBTI:

«Der sagt nichts darüber aus, ob ihr gut oder schlecht arbeitet, sondern nur darüber, wie ihr arbeitet. Der Test hilft euch zu verstehen, wo eure Stärken liegen. Und wie ihr eure Stärken voll ins Team einbringen könnt.»

Zum Umgang mit Herausforderungen und persönlichen Themen jedes Einzelnen kämen wir später noch. Vorher wolle sie jedoch zusammen mit Mathias die innere Logik der Testergebnisse kurz darstellen. Und sie hätten sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dies in verteilten Rollen zu tun.

Claudia: «Ich bin extravertiert. Ich bin kontaktfreudig und handlungsorientiert. In meinem Profil taucht das E auf.»

Mathias: «Ich bin introvertiert. Ich bin konzentriert und intensiv. Ich bin ein I.»

Ich hatte mir fest vorgenommen, aufgeschlossen zu sein. Mein Studienfreund Jens hatte mir zwar am Abend zuvor erklärt, warum es sich mit Coaches wie mit Psychologen verhalte: Die meisten wollen Psychologe werden, weil sie selbst ihre Macken heilen wollen. Analog coachen Coaches, weil sie in ihrem Job davor wenig bis nix hinbekommen haben und nun glauben, aus ihrem Scheitern heraus anderen erklären zu können, wie sie Erfolg haben. Es ist, wie es ist. Claudia und Mathias machen es mir mit ihrem Rollenspiel echt schwer, offen zu bleiben.

Julia scheint es ähnlich zu gehen. Sie zieht die Humor-Option und ruft in die Runde: «Ich kaufe zwei E.»

Claudia sagt: «Komisch. Bei Marketeers kommt an der Stelle immer dieser Spruch.»

Kein schlechter Konter.

Weiter geht es im Business-Didaktik-Dialog. Claudia und Mathias kaspern die Stereotypen ab: S meint Sensing – «Ich verarbeite Daten exakt und effizient» –, während N für iNtuition steht – «Ich verlasse mich auf meinen sechsten Sinn». Über der Kategorie «Art und Weise der Entscheidungsfindung» steht P übrigens für Perceiving und F für Feeling.