6,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,49 €
Wird der alte Menschheitstraum vom ewigen Leben bald wahr? Molekularbiologen und Genetiker verstehen den Bauplan des Lebens immer besser. Doch was hieße ein extrem langes Leben oder gar Unsterblichkeit für uns: ein Vielfaches an Lebenschancen und Erfahrungen? Oder Überbevölkerung und unendliche Langeweile? Ramge beschreibt in seinem Essay sachkundig und verständlich die Wege, auf denen die Wissenschaft den Tod besiegen will. Er hinterfragt, ob und unter welchen Bedingungen dies ein wünschenswertes Szenario für den Einzelnen oder ganze Gesellschaften sein könnte – oder ob Schopenhauer doch Recht behält, dass die so oft beklagte Kürze des Lebens vielleicht das Beste am Leben sei.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 71
Thomas Ramge
Vom Segen der Biotechnologie und Fluch der Unsterblichkeit
Reclam
E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.
2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962135-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014352-0
www.reclam.de
1 Wollt ihr ewig leben?
2 Wie könnten Molekularbiologie und Biotechnologie medizinische Durchbrüche gelingen?
3 Wäre ein langes Leben sterbenslangweilig?
4 Was hieße Langlebigkeit für Gerechtigkeit, Gesellschaften und Überbevölkerung der Erde?
5 Was bedeutet das alles?
Literaturhinweise
Über den Autor
Danksagung
»Das Leben war eine der interessantesten Beschäftigungen, trotz alledem.«
Erich Kästner, Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Machen wir gemeinsam ein Gedankenexperiment. Der Arzt Ihres Vertrauens bietet Ihnen morgen drei Pillen zur Auswahl an: eine weiße, eine gelbe oder eine grüne.
Die weiße Pille ermöglicht es Ihnen, bei guter Gesundheit zwischen 90 und 100 Jahre, mit Glück und guten Genen auch 110 Jahre alt zu werden. Kein Krebs, keine Schmerzen, kein Alzheimer. Sie werden dann am Ende so sterben, wie es sich die meisten von uns heute wünschen, ohne langes Leiden, angstfrei, ohne zu wissen, wann genau der Tod eintritt.
Wenn Sie die gelbe Pille wählen, werden Sie ebenfalls bei bester Gesundheit rund 200 Jahre alt, also mindestens so alt wie eine Riesenschildkröte Wenn es besonders gut läuft, könnten Sie auch das Alter eines Grönlandhais schaffen, also zwischen 400 und 500 Jahre.
Ihr Körper wird dabei während der Jahrhunderte kaum altern. Sie werden sich immer gut fühlen und über die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit verfügen, wie heute im zweiten Lebensviertel zwischen 20 und 40. Sollten erste Alterungserscheinungen auftreten, bekommen Sie eine weitere gelbe Pille. Doch wie die Riesenschildkröte oder der Grönlandhai werden sie trotz allem irgendwann sterben. Auch dieser Tod wäre friedlich.
Das grüne Medikament verschafft Ihnen ewiges physisches Leben. Dass Sie irgendwann einen Unfalltod sterben, lässt sich zwar nicht mit Sicherheit ausschließen, wird aber dank technischen Fortschritts und wachsender menschlicher Vernunft immer unwahrscheinlicher. Sie werden in einer Welt leben, in der medizinischer Fortschritt schneller voranschreitet als der natürliche Alterungsprozess. Die neue Medizin ist in diesem Szenario auch mächtiger als neue Krankheiten, die in der Biosphäre Erde entstehen. Es herrscht »longevity escape velocity«, wie es der Bioinformatiker Aubrey de Grey nennt: Die Lebenserwartung des (einzelnen) Menschen steigt jedes Jahr um mehr als ein Jahr. Der Tod ist besiegt. Wir können ewig leben, müssen es aber nicht.
Wie im zweiten Szenario, dürfen Sie auch bei der grünen Pille den Suizid als Exit-Option wählen. Sie sind also nicht gefangen in einem im Wortsinn unsterblichen Körper und müssen sich daher auch nicht tödlich langweilen in unendlichen Wiederholungsschleifen wie Raymond Fosca, der unsterbliche und unglückliche Held in Simone de Beauvoirs Roman Tous les hommes sont mortels (Alle Menschen sind sterblich) von 1946. Ich nenne dieses Szenario ›Highlander mit Suizid-Option‹. Die (nach heutigen Maßstäben) Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht an den Titelsong des Films Highlander von der Gruppe Queen: »Who Wants to Live Forever?« Der Sänger Freddy Mercury starb wenig später am HI-Virus, den die Evolution erst kurz zuvor hervorgebracht hatte.
Für welche Option würden Sie sich entscheiden?
Für ›wie heute, nur besser‹?
Für das ›Grönlandhai-Szenario‹?
Oder wählen Sie ›Highlander-mit-Suizid-Option‹?
Dieses Gedankenexperiment spiele ich bei meinen Vorträgen und in Workshops mit Teilnehmern immer wieder durch. Sie müssen möglichst schnell wählen. Die eigene Intuition soll (mit-)entscheidend sein.
Fast immer votiert die Mehrheit für das Bekannte und leicht Vorstellbare: Bitte die weiße Pille! Nummer sicher. Mit 95 noch gesund zu erleben, wie die Enkel ihren Weg ins Leben finden, vielleicht noch ein Urenkel im Arm zu halten, und dann sanft zu entschlafen – das wäre es.
In den meisten dieser Gruppen wählen mehr Menschen die Option Grönlandhai als die Ewigkeit. Die Überlegung dahinter dürfte lauten: Das Leben ist zu kurz. Weiter über den Tellerrand der Zeit würde man schon gerne schauen dürfen, aber irgendwann ist es dann auch mal gut. Viele Teilnehmer sagen auch: Die Schildkröten-Zeit reicht eigentlich aus, es müssen gar nicht 400 Jahre werden.
Im Sinne rein rationaler Entscheidungsfindung ergibt die Auswahl des Grönlandhai-Szenarios eigentlich keinen Sinn. Der Unsterbliche mit Möglichkeit zum Suizid kann sein Leben jederzeit auf Szenario 2 zurückstufen. Doch selbst im Gedankenexperiment ist eine Entscheidung über Lebensmöglichkeiten und Tod natürlich keine rein rationale Entscheidung. Die Vorstellung, sich selbst zu töten, weckt bei vielen Menschen unheimliche Gefühle, auch wenn der Suizid noch viele Jahrhunderte in der Zukunft liegen mag. Wer weiß, ob man dann überhaupt den Mut findet, das Leben zu beenden, selbst wenn der Leidensdruck hoch sein sollte? Es ist weniger schwer, die letzte Entscheidung dem Schicksal bzw. der Biologie zu überlassen.
Für Szenario 3 entscheiden sich in der Regel Teilnehmer, die sich selbst als besonders optimistisch charakterisieren. Oft sind sie Science-Fiction-Fans, mögen Bücher, Filme und Computerspiele, in denen die alten Mythen von Jungbrunnen und Steinen der Weisen in der Zukunft dank Wissenschaft und Technik zumindest in der Fiktion Wirklichkeit werden. Viele von diesen Technik-Optimisten wissen: Unsterblichkeit, ob mit oder ohne Exit-Option, ist trotz aller Fortschritte in der Biotechnologie zumindest noch heute Science-Fiction.
Niemand kann hundertprozentig ausschließen, dass in unbestimmter Zukunft tatsächlich eine grüne Pille erfunden werden wird. Es liegt in der Natur radikaler Innovationen, dass solche Fortschritte im Wortsinn unberechenbar sind. Wir wissen als denkende und forschende Wesen schließlich nicht, was wir nicht wissen können, was aber ein Genie unserer Gattung – oder wahrscheinlicher ein Team aus wissenschaftlichen Genies – irgendwann einmal herausfinden könnte. Die grüne Pille ist theoretisch möglich. Doch existieren, Stand heute, keine erkennbaren wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungspfade, die Unsterblichkeit auch nur annähernd wahrscheinlich erscheinen lassen. Für die Szenarien 1 und 2 gilt dies nicht mehr. Es ist plausibel vorstellbar, dass sie zu unseren Lebzeiten Wirklichkeit werden.
Molekularbiologen und Biomediziner, Genetiker und Gerontologen verstehen, unterstützt von Informatikern und KI-Wissenschaftlern, den Bauplan des Lebens immer besser. Sie vermehren ihr Wissen, warum und wie Zellen, Organe und Organismus als Gesamtsystem altern und wie sich dieser Alterungsprozess erheblich verlangsamen, mitunter stoppen und in einigen Experimenten und für bestimmte Zelltypen sogar umkehren lässt. Die Lebenswissenschaften werden als Ganzes genommen in den kommenden Jahrzehnten die realistische Chance erhöhen, den Tod, wie wir ihn kennen, zurückzudrängen. Mit etwas Glück, Geschick und vielen Forschungsmilliarden kann es gelingen, die altersbedingten Krankheiten, die so bösartigen Vorboten des Todes, radikal zu schwächen und zum Teil sogar zu besiegen. Zu den plausiblen Szenarien gehört auch, dass die Glasdecke des menschlichen Lebensalters von rund 120 Jahren durchbrochen werden könnte und Menschen noch einige Jahrzehnte gesund weiterleben könnten.
Mögliche Wirkstoffe von weißen und gelben Pillen unseres Gedankenexperiments wirken bereits in Tieren und werden teilweise sogar klinisch am Menschen erprobt. Zugelassene Gentherapien erhöhen die Wissensgrundlage für Langlebigkeitsmedizin rasant. Das bedeutet natürlich noch lange nicht, dass entscheidende Durchbrüche unmittelbar bevorstehen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die medizinischen Fortschritte gegen das Altern länger auf sich warten lassen, als die Gründer und Risiko-Kapitalgeber der entsprechenden Biotech-Start-ups behaupten. Ähnliches war in der Vergangenheit oft zu beobachten, wenn neue Technologien sich ihren mühsamen Weg in die Welt bahnten und deren Entwickler und Financiers den Marketinglautsprecher möglichst laut aufdrehten. Gelegentlich setzen wissenschaftlich-technologische Innovationen jedoch auch schneller zu großen Gegenwartsveränderungen an, als viele Experten vermuteten. Beim Kunstdünger war es so, aber auch bei Penicillin oder dem Großrechner.
»Der einzige Weg, die Grenzen des Möglichen zu finden, ist, ein klein wenig über diese hinaus in das Unmögliche vorzustoßen«, schreibt der Science-Fiction Autor Arthur M. Clarke. In den Lebenswissenschaften sind in den letzten beiden Jahrzehnten wissenschaftliche Grenzen durchbrochen worden, von denen vor 40 oder 50 Jahren noch niemand wusste, dass diese Grenzen überhaupt existieren. Es ist an der Zeit, dass wir uns als Einzelne und Gesellschaften in Breite und Tiefe mit dem biomedizinischen Fortschritt für die Langlebigkeit, von Experten meist englisch »Longevity« genannt, auseinandersetzen. Denn die Medizin schaltet zurzeit um vom Defensiv- in den Angriffsmodus gegen den Tod. Was ist damit gemeint?
In den letzten 150 Jahren hat sich unsere durchschnittliche Lebenserwartung in der westlichen Welt mehr als verdoppelt. Die Lebenserwartung eines deutschen Kindes, das im Jahrzehnt nach Bismarcks Reichsgründung 1871 geboren wurde, betrug weniger als 40, für Jungen gerade mal 35 Jahre und damit kaum mehr als in der Steinzeit oder im Mittelalter. Deutsche haben heute eine statistische Lebenserwartung von 81 Jahren, Franzosen und Italiener von 82, Spanier von 83