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Wie lässt sich Montessori-Pädagogik im häuslichen Bereich, in der Familie umsetzen? Wie läßt sich Montessori-Pädagogik, seit langem fester Bestandteil der Kindergarten- und Grundschulerziehung und ursprünglich nur für diese konzipiert, im häuslichen Umfeld, in der Familie umsetzen? Diese Frage beantwortet Claudia Schäfer in ihrem pragmatischen und kompetenten Ratgeber. Sie erläutert Menschenbild und Erziehungsziele der Montessori-Pädagogik und gibt konkrete methodische Vorschläge für den familiären Erziehungsalltag. Ihr umfassender Blick beachtet Möglichkeiten und Grenzen des montessorischen Erziehungskonzepts und zeigt dessen Aktualität und besondere Tauglichkeit für die heutige Kleinfamilie auf.
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Seitenzahl: 194
Claudia Schäfer
Montessori für zu Hause
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2010
© 2002Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41210-0 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-36273-3
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de/ebooks
Einführung
Das Leben einer willensstarken und talentierten Frau: Maria Montessori
Lebensbedingungen und Kindheit zur Zeit von Maria Montessori
Die erste promovierte Ärztin Italiens
Die Entstehungsgeschichte der Montessori-Pädagogik
Die revolutionäre Sicht: Das Kind im Mittelpunkt
Die Verbreitung der Montessori-Pädagogik
Ist die Montessori-Pädagogik heute noch aktuell?
Erziehung – eine echte Herausforderung
Erziehung, was ist das eigentlich?
Erziehung aus der Sicht Maria Montessoris
Die drei wesentlichen Bereiche der Erziehung
Das Menschenbild der Montessori-Pädagogik
»Kinder sind anders«: Der geheimnisvolle innere Bauplan
Die sensiblen Phasen
Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen
Die vermeintlichen Launen unserer Kinder
Einladung zu einem Perspektivewechsel
Welche Verantwortung haben Eltern?
Die Erziehungsziele in der Montessori-Pädagogik
Methodische Ideen für zu Hause
Die Gestaltung der familiären Umgebung zur vorbereiteten Umgebung
Montessori-Materialien
Grundsätzliche Anforderungen an Montessori-Materialien
Einführung in Übungen und Materialien
Ich-Botschaften und die Sprache der Annahme
Einige Materialien und Übungen für zu Hause
Die kosmische Erziehung
»Montessorische« Antworten auf grundlegende Erziehungsfragen
Umgang mit Fernseher und Computer
Belohnen und Bestrafen
Ordnung
Zeit
Freiheit und Grenzen
Die Rolle der Mutter und des Vaters
»Bin ich eine gute Mutter/ein guter Vater?«
Müssen Eltern perfekt sein?
Was tun, wenn unser Kind anders will als wir?
Grenzen der Montessori-Pädagogik und Ausblick
Wie wähle ich die richtige Schule für mein Kind?
Adressen für Montessori-Interessierte
Literaturvorschläge
Für Mirka und Larissa, stellvertretend für alle Kinder
Wir alle kennen das: Da geben wir uns als Eltern die größte Mühe, um es in der Erziehung mit unseren Kindern richtig zu machen, doch letztendlich weiß niemand genau, was das Richtige ist. Obwohl es mittlerweile viele Bücher über Erziehung gibt, wissen wir im konkreten Familienalltag nicht immer die richtige Antwort auf die Fragen, die uns da begegnen: Mein Kind schreit so laut, bis es seinen Willen bekommt, und tyrannisiert damit die ganze Familie– machen wir etwas falsch? Welches Spielzeug ist in welchem Alter gut? Müssen Kinder um acht Uhr schlafen? Was kann ich tun, wenn mein Kind nur herumsitzt?
Diese und viele weitere Fragen haben auch die Eltern in meinen Seminaren und Diskussionen formuliert. Dabei stellten wir fest, wie schwierig es ist, Antworten zu finden, die für die eigene Familie und das eigene Kind hilfreich sind. Woher sollen wir Eltern das Wissen für die Erziehung nehmen? Wo uns doch niemand auf die konkreten Aufgaben innerhalb der Familie vorbereitet hat. Für alles Mögliche müssen wir uns weiterbilden und eine Prüfung ablegen: vor allem im Berufsleben, um notwendige Fertigkeiten und entsprechende Sozialkompetenzen zu erlernen. Wer aber bildet uns Eltern aus? Haben wir nicht auch das Recht auf angemessene Ausbildung, auf angemessenes Wissen für eine der größten Aufgaben der Menschheit, nämlich der Erziehung? Wohl schon, vor allem weil die Erziehung in der Familie mittlerweile eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit geworden ist.
Nicht zuletzt auch, weil sich die Familien- und die Lebenssituationen rasant verändern und die Erziehung sich immer widersprüchlicheren |10|Anforderungen stellen muss: Da hören wir, Kinder brauchen geordnete und sichere Verhältnisse, aber jede dritte Ehe wird geschieden und ist immer seltener ein Ort der Sicherheit. Da heißt es, wir Eltern sollen mehr Zeit für unsere Kinder haben, andererseits sind unsere Lebenshaltungskosten so hoch, dass in der Regel beide Elternteile arbeiten und zudem viel leisten müssen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Da sollen Eltern ruhig und geduldig mit ihren Kindern umgehen, leben aber selber in Hast und Eile und sind manchmal einfach angespannt und müde.
Warum wird die Erziehung so wenig als Arbeit anerkannt? Eine Arbeit, die man erlernen muss und die einen Rahmen braucht. Zum Beispiel durch einen angemessenen Lohn– immerhin erziehen die Eltern die neuen Gesellschaftsmitglieder. Eine Arbeit, bei der man ein Recht auf Ferien von der Familie haben sollte. Und eine Arbeit, für die man angemessene Fortbildung erhalten sollte.
Jeden Tag haben wir Eltern die unterschiedlichsten Aufgaben zu erfüllen: Zeitmanagement, Kochen, Gesundheits- und Krankenpflege, Trösten, Spielen und Unterhalten, das »Team« leiten und organisieren, Streit schlichten, Hausaufgaben betreuen und vieles, vieles mehr. Wir Eltern sollen diese Aufgaben übernehmen, doch woher haben wir die dafür notwendigen Kompetenzen? Da reicht es nicht aus, dass man selber mal erzogen wurde und entweder das Gleiche wiederholt oder versucht, genau das Gegenteil von dem zu machen, was unsere Eltern gemacht haben. Und auch der mütterliche Instinkt, von dem man gar nicht weiß, ob und inwiefern es ihn überhaupt gibt, genügt nicht. Ebenfalls reicht unsere Liebe, von der wir immer wieder lesen und hören und die wir unseren Kindern gegenüber empfinden, nicht aus.
Dabei stellt sich die Frage, ob diese Liebe bei Müttern und Vätern von vornherein da ist oder ob sie nicht erst wachsen muss? |11|Hinzu kommt, »LIEBE alleine genügt nicht«1in der Kindererziehung und in der Familie insgesamt. Um was also geht es in der Erziehung? Maria Montessori meint: »Wir müssen Kinder lieben, aber das genügt nicht, wir müssen ihnen zu tun geben.«
Anstatt auf die elterlichen Instinkte, die Liebe und die vielen Alltagstheorien zu hören, ist es wichtiger, nach passenden Techniken und angemessenen Methoden zu fragen. Diese können wir Eltern erlernen und damit einen Rahmen schaffen, in dem unsere elterliche Liebe– und die des Kindes– wachsen kann. Bevor wir Eltern daran verzweifeln, ob wir dieser großen Verantwortung überhaupt gewachsen sind, sollten wir nachforschen, wo unsere individuellen Stärken und Schwächen liegen und, daran anknüpfend, in kleinen Schritten die uns noch fehlenden notwendigen Techniken der Kindererziehung erlernen.2
Warum es nicht so wie in der Berufsvorbereitung machen? Denn die Techniken der Säuglingspflege, der menschlichen Kommunikation und der »Vorbereitung der kindlichen Umgebung« sind bereits formuliert, und sie sind erlernbar. Einige davon möchte dieses Buch vorstellen und damit neue Perspektiven in der Erziehung eröffnen. Vielleicht macht es Mut, unsere teilweise übertriebenen Verantwortungsgefühle und »alten« Verhaltensmuster zu verändern und darauf zu vertrauen, dass unsere eigenen Kinder uns den Weg in der Erziehung zeigen können. Ich möchte allerdings aus eigener Erfahrung vorausschicken, dass dies nicht von heute auf morgen gelingt, sondern ein lebenslanger Lernprozess ist. Und damit sind auch nicht alle Probleme in der Familie vom |12|Tisch. Doch einzelne Techniken sind gar nicht so schwer zu erlernen und verbessern unsere Beziehung zum Kind.
Wir lassen niemanden eine Firma leiten, der nicht vorher sein »Handwerk« erlernt hat. Lassen Sie uns deshalb auch die »Leitung« der Familie und die Erziehung erlernen.
Nach wie vor reichen die zahlreich erschienenen Bücher über Erziehung kaum aus, nicht zuletzt auch, weil viele davon eher allgemein oder wissenschaftlich und nicht konkret und praktisch genug formuliert sind. Denn jedes Kind und jede Familie ist so unterschiedlich, dass uns allgemeine Formulierungen nicht weiterhelfen. Deshalb will dieser Ratgeber versuchen, ein pädagogisches Konzept auf konkrete Erziehungssituationen zu übertragen.
Was sagt das Montessori-Konzept zu den Fragen, die wir Eltern haben? Können wir in dieser Pädagogik konkrete, praktische Anregungen finden, die ursprünglich für Institutionen, das heißt Kinderhäuser und Grundschulen, konzipiert wurden? Es war mir wichtiger, einige der vielen Fragen aus Familiensituationen aufzugreifen, als dem Anspruch gerecht zu werden, die Montessori-Pädagogik in ihrer Gesamtheit vorzustellen (zu der es bereits ausführliche Bücher gibt: Vgl. die Literaturangaben im Schlussteil).
Zum Aufbau dieses Buches:
Zur Information und zum besseren Verständnis wird im ersten Kapitel die Biografie Maria Montessoris kurz vorgestellt, die eng mit dem Montessori-Konzept verbunden ist. Im Anschluss daran stellen wir uns die Frage, ob diese bereits vor ca. hundert Jahren konzipierte Pädagogik auch heute noch aktuell ist. Im dritten Kapitel befassen wir uns mit der Frage, was Erziehung eigentlich ist, denn es geht in diesem Ratgeber nicht in erster Linie um die Montessori-Pädagogik, sondern um unseren Erziehungsalltag. Daran anschließend ist dargestellt, was die Montessori-Pädagogik |13|zu den verschiedenen grundsätzlichen Bereichen der Erziehung vorschlägt. Dabei sind jene Anregungen ausgewählt, die sich auf unseren Familienalltag übertragen lassen. Im letzten Kapitel wird die Wahl der Schule besprochen, da dies viele Fragen in der Familie aufwirft. Auch wenn es viele praktische Anregungen und überzeugende Perspektiven in der Montessori-Pädagogik gibt, finden Sie im Schlussteil die Grenzen dieses Konzeptes benannt. Sie sollen dazu einladen, einzelne Aspekte dieser Pädagogik mit moderneren »Techniken« und mit unseren persönlichen Bedürfnissen zu verbinden.
Am Ende dieses Ratgebers haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sicher noch mehr Fragen oder auch andere Antworten und Ideen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Ihrer Nähe Eltern und PädagogInnen finden, mit denen Sie sich austauschen und bestärken können.
Bevor ich zu den Inhalten übergehe, möchte ich an dieser Stelle einigen Menschen ganz herzlich für ihre Anregung und Unterstützung danken: So allen meinen KursteilnehmerInnen (leider waren in all den Jahren nur drei Männer dabei) für die interessanten Fragen und Diskussionen sowie meinen Freundinnen für die wichtigen Gespräche und anerkennenden Worte. Ich danke auch den vielen Kindern und Jugendlichen, die mich den pädagogischen Alltag lehren und meine Ideale auf ein realistisches Maß bringen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen zwei Töchtern, von denen ich täglich viel »lerne«, sowie meinem Mann, der mich immer wieder bestärkt hat, dieses Buch zu schreiben. Außerdem danke ich meinen Eltern, die uns vier Kinder immer gut unterstützen. Und ich danke meiner Lektorin und dem dtv sehr für das mir entgegengebrachte Vertrauen bereits vor der Fertigstellung meines Buches.
Maria Montessori ist eine der bekanntesten Pädagoginnen des 20.Jahrhunderts und ihre pädagogischen Prinzipien beeinflussen weltweit die Erziehung in Kindergärten und Schulen. Aber ihr pädagogisches Werk und ihre Biografie sind bei weitem nicht so vertraut wie ihr Name.
Wer war diese Frau, welche Talente hatte sie, die versuchte, eine neue Erziehungswissenschaft zu begründen?
Maria Montessori wurde am 31.August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona geboren. Es war eine Zeit der politischen Veränderungen (die Nation Italien wurde ausgerufen) und des technischen Wandels. Für den Großteil der italienischen Bevölkerung brachte dies jedoch nicht direkt eine Verbesserung der Lebenssituation. Nach wie vor lebten sie als kleine Bauern oder FabrikarbeiterInnen in Abhängigkeit und Elend. Selbst die vielen Menschen, die in die Städte zogen und hofften, dort Arbeit in den neuen Fabriken zu finden, landeten häufig in den wachsenden Elendsvierteln. Bald schon waren die Städte übervölkert. Nur ca. fünf Prozent der männlichen Bevölkerung besaßen das Wahlrecht und nur wenige verfügten über Besitz und Bildung und damit über Rechte und Macht.
|16|Im Jahr 1860 waren noch über drei Viertel aller Einwohner Italiens Analphabeten. Denn die meisten Kinder mussten früh für den Unterhalt der Familie mitsorgen, so dass sie für einen Schulbesuch keine Zeit hatten. Diejenigen, die der (seit 1856) allgemeinen Schulpflicht nachkommen konnten, waren einem starren und strengen Schulalltag ausgesetzt. Es galt, Wissen auswendig zu lernen, züchtig und bewegungslos in den schreberischen3Schulbänken zu sitzen, und auch in den Familien herrschte ein strenger, patriarchalischer Ton. Denn Kinder wurden als minderwertige Noch-Nicht-Erwachsene gesehen, die von Eltern und ErzieherInnen zu formen seien.4Für Mädchen war eine höhere Schulbildung nicht vorgesehen, nur einigen wenigen aus reichem Elternhaus war es möglich, ein LehrerInnenseminar zu besuchen.
Hinzu kam, dass im 19.Jahrhundert die meisten Familien weit mehr Kinder hatten als wir heute und dass viele Kinder nicht als Wunschkinder auf die Welt kamen. So empfanden etliche Eltern (laut Briefen und Schriften aus dieser Zeit) die Kinder oftmals eher als Last denn als Freude.5
Um die Jahrhundertwende, in der Zeit des allgemeinen Wandels, gerieten denn auch das kasernenhafte Schulsystem, die starren Lehrverfahren und der schematische Lehrplan ebenso wie die traditionellen bürgerlichen Erziehungsvorstellungen in die Krise. Man rief plötzlich das »Jahrhundert des Kindes« aus, und viele |17|»Reformpädagogen« (Kerschensteiner, Litt, Petersen usw.) setzten sich für eine Pädagogik ein, die vom Kind ausging. Ja sogar die gesamte Kultur der damaligen Zeit wurde infrage gestellt, und es wurde nach neuen Werten und Lebensvorstellungen gesucht.
Auch Maria Montessori setzte sich in ihrem Leben zunehmend mit diesen Fragen auseinander und schuf viele pädagogische Antworten, indem sie eine kindgerechte Methode entwickelte.
Maria Montessori wuchs als einzige Tochter einer bürgerlich-katholischen Familie auf. Ihr Vater war Finanzbeamter und ihre Mutter Tochter eines Gutsbesitzers. Zwar war der Vater für politische Neuerungen eingetreten, aber im Alltag war es wohl eher Maria Montessoris Mutter, die sich Neuem gegenüber aufgeschlossen zeigte.
Bald nachdem die Familie Montessori nach Rom umgezogen war, kam Maria Montessori in die Schule, die noch den alten Lehrplan mit starren Lehrverfahren vermittelte. Bereits hier zeigte sie selbstständiges und kritisches Denken: Sie wehrte sich bald gegen die Schranken zwischen Jungen und Mädchen und gegen das unreflektierte Auswendiglernen. Ihre Grundeinstellung, der sie ihr Leben lang treu blieb, lautete: Veränderung ist möglich. Wir müssen sie nur machen. Mit dieser Einstellung setzte sie später sogar revolutionäre Forderungen durch.
Früh zeigte sich das besondere Interesse von Maria Montessori an Mathematik. Schon ihr Vater hatte Mathematik studiert. Obwohl dieses Fach den Jungen vorbehalten war, entschied sie sich nach ihren sechs Grundschuljahren für eine technisch-mathematisch orientierte Schule und plante, Ingenieurin zu werden. Das naturwissenschaftlich-logische Denken spiegelt sich in ihren |18|späteren Erziehungsprinzipien und in den Montessori-Materialien wider.
Doch neben diesem logischen Denken schien diese Frau auch über ein großes Vertrauen in sich und ihre Intuition zu verfügen. Wie in ihrer Biografie berichtet wird, fällte sie einige ihrer Lebensentscheidungen völlig spontan. So überraschte sie eines Tages ihre Eltern damit, dass sie nun Medizin studieren wolle. Ein Studium, zu dem Frauen in Italien bis dahin eigentlich nicht zugelassen wurden. Bei ihrer ersten Anmeldung erhielt sie eine Ablehnung. Deshalb schrieb sie sich für Physik, Mathematik und Naturwissenschaften ein und bestand zwei Jahre später erfolgreich die Prüfungen.
Beharrlich setzte sie sich anschließend wieder für ihr geplantes Medizinstudium ein, suchte gar bei öffentlichen Stellen Unterstützung. Sogar Papst Leo XIII. soll ihr geholfen haben, und so wurde sie als Medizinstudentin angenommen. Mit Ausdauer, Können und Kraft bewährte sie sich in dieser Männerdomäne. Selbst die Tatsache, dass sie als Frau nur alleine abends Leichen sezieren durfte, schreckte sie nicht. 1896 schloss sie ihr Studium erfolgreich ab, nachdem sie kurz zuvor in einem Fachvortrag die männlichen Skeptiker und auch ihren bis dahin kritischen Vater überzeugt hatte. Als erster Frau Italiens wurde ihr der Doktortitel im Fach Medizin verliehen. Dadurch erlangte sie in ganz Italien Popularität.
Im gleichen Jahr reiste sie als gewählte Vertreterin Italiens nach Berlin, wo sie eine Rede auf dem ersten internationalen Frauenkongress hielt. Maria Montessori engagierte sich hier für die Rechte der Frauen, ohne sich jedoch in feministische Denkschablonen einordnen zu lassen.
Nach Abschluss des Studiums begann sie als Ärztin in einer eigenen Praxis und u.a. an der psychiatrischen Universitätsklinik in Rom zu arbeiten. Eine ihrer dortigen Aufgaben war es, andere psychiatrischen Kliniken zu besuchen. In einer Anstalt für geistig |19|behinderte Kinder– damals als »Idiotenasyl« bezeichnet– beobachtete sie etwas, das ihr pädagogisches Interesse weckte: Sie wurde in einen Raum geführt, in dem behinderte Kinder untätig herumsaßen. Die Anstaltswärterinnen beschwerten sich bei Dr.Montessori über eine Angewohnheit dieser Kinder. Sie würden mit dem Brot, das sie zu essen bekamen, herumspielen, dreckige Brotstücke vom Boden aufheben, es in den Händen zerquetschen und im Mund hin und her bewegen. Nachdem Maria Montessori sich in dem leeren, kargen Raum umgeschaut hatte, verstand sie den »Spielhunger« dieser Anstaltskinder. Es gab dort nichts, was sie berühren, befühlen und woran sie ihre Augen, Hände und Ohren hätten üben können.
Mit einigen dieser Kinder begann Maria Montessori zu arbeiten und widerlegte das damals immer noch vorherrschende Vorurteil, dass geistig behinderte Kinder nicht lernfähig seien. Sie beschäftigte sich mit den wichtigsten pädagogischen Schriften der letzten Jahrhunderte (Perrera, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel) und fand vor allem in den Werken der Franzosen Jean-Marc Itard (1774–1834)6und seinem Schüler Edouard Seguin (1812–1880) vieles, was auch sie aufgrund eigener Beobachtungen für beachtenswert hielt.
Bereits Seguin hatte Materialien entwickelt, mit denen sich geistig behinderte Kinder sinnvoll beschäftigen und sogar selber kontrollieren konnten, ob sie es richtig gemacht hatten. Zum Beispiel geometrische Körper, die in passende Aussparungen zu legen waren, Übungen für das Auf- und Zuknöpfen, Materialien, die sensorische Eindrücke wie auch motorische Fertigkeiten für Verrichtungen im täglichen Leben trainierten. Seguins Arbeit hatte bestätigt, dass es möglich war, behinderte Kinder zu bilden.
|20|In der Zeitschrift ›Roma‹ veröffentlichte Maria Montessori 1898 ihre Erkenntnisse und setzte sich auf dem Turiner Pädagogik-Kongress vor ca. 3000TeilnehmerInnen für Erneuerungen in der Erziehung geistig behinderter Kinder ein. Sie regte an, neue Sonderschulen mit veränderter pädagogischer Methode einzurichten und besondere Ausbildungskurse für ErzieherInnen und LehrerInnen durchzuführen. Auch hier überzeugte Maria Montessori durch rhetorische und fachliche Brillanz.
Im darauf folgenden Jahr gründete die »Nationale Liga für die Erziehung behinderter Kinder« eine Modellschule, an der LehrerInnen ausgebildet und gleichzeitig behinderte Kinder unterrichtet wurden. Man übertrug Maria Montessori die Leitung dieser Einrichtung. Hier hatte sie die Möglichkeit, die Materialien von Seguin intensiv weiterzuentwickeln.
Einige der behinderten Kinder, mit denen Maria Montessori gearbeitet hatte, bestanden im Lesen und Schreiben die Prüfungen an der staatlichen Grundschule– und bestanden sie zum Teil sogar besser als die »normalen« Kinder. Woraufhin Maria Montessori sich die Frage stellte, wie sich dann erst normal begabte Kinder entwickeln würden, wenn auch sie eine entsprechende Förderung erhielten. Ihr Wunsch, diese neue Methode mit Grundschulkindern zu erproben, wuchs.
Während dieser Zeit entwickelte sich zwischen Maria Montessori und einem Kollegen, Dr.Montesano, eine Liebesbeziehung, aus der im März 1898 ihr Sohn Mario hervorging. Da es nicht zur Heirat kam, verheimlichte die katholische Frau ihren Sohn. Er wuchs bei einer Amme auf dem Land auf. Maria Montessori besuchte ihn regelmäßig. Oft wird kritisch angemerkt, warum die große Pädagogin ihr eigenes Kind weggab. Für sie als Frau hätte es in der damaligen Zeit auf jeden Fall das Ende ihrer hart erkämpften Karriere bedeutet. Zumal sie mit der Verantwortung für den Sohn vom Vater allein gelassen wurde.
|21|Übrigens haben andere große Pädagogen ihre Kinder gar nicht angenommen, Rousseau z.B. hat alle seine fünf Kinder ins Findelhaus gegeben. Erstaunlicherweise sorgt dies seltener für Kritik.
Trotz ihrer Erfolge in der Medizin gab Maria Montessori 1901 plötzlich alle ihre Tätigkeiten auf und studierte Erziehungsphilosophie und Anthropologie.
Als 1906 das römische Stadtviertel San Lorenzo saniert wurde, störten etwa 50 herumstreunende Kinder die Bauarbeiten, wobei auch einiges kaputt ging. Ihre Eltern gingen tagsüber in die Fabriken und mussten ihre Kinder sich selbst überlassen. Die Bauherren suchten Rat bei Maria Montessori, und zum Erstaunen vieler war sie bereit, dort ein Projekt durchzuführen. Auch hier folgte sie ihrer inneren Stimme und hielt den Kritiken aus medizinischen Kollegenkreisen stand.
In diesem ersten Kinderhaus, Casa dei Bambini, konnte sie endlich die Materialien, die zuvor bereits bei geistig behinderten Kindern Erfolg gehabt hatten, normal begabten Kindern anbieten. Es entstand eine Art »Laboratorium«, in dem die Naturwissenschaftlerin die Kinder genau und mit großem Einfühlungsvermögen für deren Bedürfnisse beobachtete. Hier konnte sie außerdem die Materialien sinnvoll erweitern. Ein wichtiges Gebot, an das sich Maria Montessori und ihre Helferin hielten, besagte, dass die Kinder sich frei und ungehindert in dem Raum bewegen durften.
Die zuerst mürrischen, aggressiven und teilweise scheuen Kinder zeigten schon nach wenigen Wochen Interesse für die Materialien. Sie ließen dafür sogar anderes Spielzeug und die Malsachen liegen.
Eines Tages beobachtete Maria Montessori etwas Besonderes, das als das »Montessori-Phänomen« in die Geschichte der Pädagogik eingegangen ist: Ein kleines Mädchen beschäftigte sich lange und konzentriert mit einem Material, den Einsatzzylindern. Es ließ sich durch nichts dabei stören. Selbst als Maria Montessori das Mädchen samt seinem Stuhl auf den Tisch hob, steckte es die Einsatzzylinder weiter unbeirrt in die entsprechenden Aussparungen der Holzblöcke. Als es mit seiner Tätigkeit aufhörte, wirkte es zufrieden und wach, gar nicht angestrengt.
Die dort beobachtete Konzentration, die so genannte »Polarisation der Aufmerksamkeit«, bezeichnete Maria Montessori als den Schlüssel zur Lösung aller Erziehungsprobleme. Und das Wiederholen der Übung erkannte sie als einen wesentlichen Zug der kindlichen Betätigung. Sie suchte nach einer neuen Erziehungswissenschaft, die das Kind in den Mittelpunkt stellte, und nach einer Methode, die dieser kindlichen Tätigkeit, diesem natürlichen Interesse gerecht wurde.
Bald schon wurde das zweite Kinderhaus in San Lorenzo eröffnet, und die Erfolge der neuen pädagogischen Arbeit verbreiteten sich zunehmend. Hierzu sei eine kleine Geschichte erzählt: Die Tochter des italienischen Ministerpräsidenten begleitete eines Morgens den argentinischen Botschafter ins Kinderhaus. Ihr Besuch war nicht angekündigt gewesen, um die Kinder nicht befangen zu machen. Doch bei ihrer Ankunft erfuhren die Besucher, dass das Kinderhaus an diesem Tag geschlossen sei. Ein kleiner Junge löste dieses Problem jedoch ganz unkompliziert. Er erklärte, der Hausmeister |23|habe ja den Schlüssel für die »Schule«, und alle Kinder im Haus seien schnell zusammengerufen. Also schloss der Hausmeister die Tür auf und die Kinder begannen spontan und eigenständig ihre Arbeiten.
Solche Erlebnisse stellten (und stellen sogar heute noch) die Vorstellung infrage, Kinder müssten mit Strenge und äußerlicher Disziplin zum Lernen angehalten werden. Im Gegenteil, irgendwann baten vier- und fünfjährige Kinder Maria Montessori, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen. Für solche Situationen versuchte sie Materialien zu entwickeln, mit denen die Kinder einen für sie schweren Sachverhalt lernen und üben konnten. Insgesamt wurden die Kinder ruhiger und waren interessiert tätig. Dabei beobachtete Maria Montessori, dass die Tätigkeiten für die Kinder wichtiger waren als das Ergebnis.
Maria Montessori begann, ihre zum Teil revolutionär wirkenden Erkenntnisse und Beobachtungen zu publizieren. Ihr Werk ›Il Metodo‹ wurde schnell in über zwanzig Sprachen übersetzt– es erregte in aller Welt Neugier. Immer mehr Besucher aus verschiedensten Berufsgruppen kamen in die Kinderhäuser und waren begeistert. Sie nahmen die dort gewonnenen neuen Vorstellungen mit in ihre Heimatländer, nach Amerika, England, Australien, und gründeten Montessori-Gesellschaften, errichteten teilweise in ihren Privatwohnungen Kinderhäuser und finanzierten Ausbildungskurse. Die erste von Maria Montessori durchgeführte Ausbildung fand im Jahr 1909 statt.
Obwohl die Eigentümergesellschaft in San Lorenzo Maria Montessori mittlerweile wegen Differenzen ausgeschlossen hatte, ließ sie sich im darauffolgenden Jahr von der Ärzteliste streichen, um sich ganz für ihre Pädagogik einzusetzen. Was zunächst natürlich finanzielle Einbußen mit sich brachte. Aber sie bewies immer wieder ihr hervorragendes Talent als Organisatorin: Beispielsweise fand sie Arbeitslose, die ihre Materialien günstig herstellten.
|24|In diesen Jahren wurden weitere Kinderhäuser gegründet und nicht mehr nur in Armenvierteln wie San Lorenzo, sondern auch in den Wohnvierteln der Mittel- und Oberschicht, wie etwa im Haus des englischen Botschafters.
Nachdem 1912 ihr Buch ›Il Metodo‹ in den USA erschienen war, wurden auch dort in rascher Folge Kinderhäuser gegründet. Doch es stellte sich die Frage, wer die Ausbildungskurse leiten sollte, damit ihre neue Methode unverändert weitergegeben werden konnte. Maria Montessori begann zu reisen und ihre Methode in Vorträgen und Seminaren weiterzutragen. Ihr Anspruch, die alleinige Vertreterin der Montessori-Pädagogik zu sein, erschwerte jedoch die Zusammenarbeit mit ihr. Manche der Montessori-Gesellschaften zerfielen deshalb schnell wieder.
Nach ihrer Rückkehr aus Amerika lebte die Pädagogin zwanzig Jahre in Barcelona. Auch ihr Sohn Mario zog nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Familie dort hin. Sie arbeitete viel, reiste weiterhin umher, schrieb ihre Gedanken nieder und überzeugte immer wieder Menschen durch ihre– oft frei gehaltenen